Boris wohnte mit einem andern Adjutanten, einem polnischen Grafen Zilinski, zusammen. Zilinski hatte seine Erziehung in Paris erhalten, besaß großen Reichtum und war ein leidenschaftlicher Franzosenfreund; während des Aufenthalts in Tilsit kamen fast täglich nicht wenige französische Offiziere von der Garde und vom Hauptquartier bei Zilinski und Boris zum Frühstück und zum Mittagessen zusammen.

Am 24. Juni gab Graf Zilinski, Boris’ Quartiergenosse, seinen französischen Bekannten ein Abendessen. Der vornehmste Gast war dabei ein Adjutant Napoleons; außerdem waren mehrere französische Gardeoffiziere und ein jugendlicher Page Napoleons, ein Abkömmling eines alten französischen Adelsgeschlechtes, zugegen. Gerade an diesem Abend traf Rostow, der, um nicht erkannt zu werden, die Dunkelheit benutzte und Zivilkleidung trug, in Tilsit ein und begab sich nach dem Quartier, wo Zilinski und Boris wohnten.

In Rostows Seele hatte sich, ebenso wie in der ganzen Armee, von der er herkam, in bezug auf Napoleon und die Franzosen, die nun auf einmal aus Feinden Freunde geworden waren, noch keineswegs jener Umschwung vollzogen, der im Hauptquartier und in Boris’ Seele bereits vorgegangen war. In der Armee behielten alle diesem Bonaparte und den Franzosen gegenüber immer noch das frühere aus Grimm, Geringschätzung und Furcht gemischte Gefühl bei. Noch unlängst hatte Rostow mit einem Kosakenoffizier des Platowschen Korps debattiert und die Behauptung verfochten, wenn Napoleon gefangengenommen würde, so müsse er nicht als Kaiser, sondern als Verbrecher behandelt werden. Und eben erst hatte Rostow unterwegs, als er mit einem verwundeten französischen Obersten zusammengetroffen war, sich sehr ereifert, indem er diesem zu beweisen suchte, daß ein Friede zwischen dem legitimen Kaiser und dem Verbrecher Bonaparte unmöglich sei. Daher war es für Rostow eine seltsame Überraschung, bei Boris französische Offiziere in jenen selben Uniformen zu erblicken, die er von der Vorpostenkette aus in ganz anderer Weise anzusehen gewohnt war. Als er gleich beim Eintritt in Boris’ Quartier eines französischen Offiziers ansichtig wurde, der gerade aus der Tür herauskam, überfiel ihn plötzlich jenes Gefühl kriegerischen Grimmes, das er immer beim Anblick des Feindes empfand. Er blieb auf der Schwelle stehen und fragte auf russisch, ob hier Drubezkoi wohne. Boris, der eine fremde Stimme im Vorzimmer hörte, kam heraus, um zu sehen, wer da sei. Als er Rostow erkannte, nahm sein Gesicht im ersten Augenblick einen ärgerlichen Ausdruck an.

»Ah, du bist es; ich freue mich sehr, dich wiederzusehen; sehr freue ich mich«, sagte er jedoch und trat lächelnd auf ihn zu. Aber Rostow hatte die erste Bewegung in seinem Gesicht bemerkt.

»Ich komme wohl zu ungelegener Zeit«, sagte er in kühlem Ton, »und ich wäre auch nicht gekommen, aber es führt mich eine wichtige Angelegenheit her.«

»Aber nicht doch; ich wundere mich nur, wie du von deinem Regiment auf einmal hierherkommst. – In einem Augenblick stehe ich Ihnen zu Diensten«, antwortete er jemandem, der aus dem Zimmer nach ihm rief.

»Ich sehe, daß ich zu ungelegener Zeit gekommen bin«, sagte Rostow noch einmal.

Der Ausdruck des Ärgers war bereits von Boris’ Gesicht verschwunden. Er hatte offenbar überlegt und war sich über sein weiteres Verhalten schlüssig geworden. So faßte er nun mit großer Ruhe Rostow an beiden Händen und führte ihn in das anstoßende Zimmer. Seine Augen blickten Rostow ruhig und fest an, machten aber den Eindruck, als ob sie mit irgend etwas bedeckt seien, als ob sie eine Schutzvorrichtung, die blaue Brille des gesellschaftlichen Lebens, trügen. Das war wenigstens Rostows Empfindung.

»Aber ich bitte dich, höre doch damit auf; du kannst nie ungelegen kommen«, erwiderte Boris.

Boris führte ihn in das Zimmer, wo der Tisch zum Souper gedeckt war, und machte ihn mit den Anwesenden bekannt, indem er Rostows Namen nannte und mitteilte, daß er nicht Zivilist, sondern Husarenoffizier und ein alter Freund von ihm sei.

»Graf Zilinski, Graf N.N., Hauptmann S.S.«, nannte er den Wirt und die Gäste. Rostow blickte die Franzosen finster an, verbeugte sich nur widerwillig und schwieg.

Zilinski empfing dieses neue russische Gesicht offenbar ohne sonderliche Freude in seinem Zirkel und sagte nichts zu Rostow. Boris schien die Gezwungenheit, die durch den neuen Gast in die Gesellschaft gekommen war, nicht zu bemerken und war mit derselben freundlichen Ruhe und jener bildlichen Schutzbrille, mit denen er Rostow empfangen hatte, bemüht, das Gespräch zu beleben. Einer der Franzosen wandte sich mit der geläufigen französischen Höflichkeit an den hartnäckig schweigenden Rostow und sagte zu ihm, er wäre wahrscheinlich nach Tilsit gekommen, um den Kaiser zu sehen.

»Nein, ich habe ein Geschäft«, antwortete Rostow kurz.

Rostow war sofort in üble Stimmung geraten, als er das Mißvergnügen auf Boris’ Gesicht bemerkt hatte, und wie es mißgestimmten Leuten immer geht, hatte er nun die Vorstellung, daß alle ihn mit unfreundlichen Blicken ansähen und daß er allen störend sei. Auch störte er wirklich alle und blieb als der einzige unbeteiligt an dem allgemeinen Gespräch, das wieder neu in Gang kam. »Warum sitzt denn der eigentlich hier?« fragten die Blicke, die die Tischgenossen auf ihn richteten. Er stand auf und trat zu Boris.

»Aber ich bin dir hier unbequem«, sagte er leise zu ihm. »Komm beiseite, damit wir über meine Angelegenheit reden können, und dann will ich wieder gehen.«

»Aber nicht doch, durchaus nicht«, erwiderte Boris. »Wenn du jedoch müde bist, so komm in mein Zimmer, lege dich hin und ruhe dich aus.«

»Nein, wirklich …«

Sie gingen in ein kleines Zimmerchen, das Boris als Schlafzimmer benutzte. Rostow begann, ohne sich zu setzen, sogleich in gereiztem Ton, als ob Boris ihn beleidigt hätte, ihm Denisows Angelegenheit zu erzählen, und fragte ihn, ob er imstande und bereit sei, auf seinen General dahin einzuwirken, daß dieser dem Kaiser die Bittschrift übergebe und für Denisow Fürsprache einlege. Bei diesem Gespräch unter vier Augen merkte Rostow, was ihm vorher noch nicht zum Bewußtsein gekommen war, daß es ihm unbehaglich war, Boris in die Augen zu sehen. Boris, der ein Bein über das andere geschlagen hatte und mit der linken Hand leise über die schmalen Finger der rechten hinstrich, hörte Rostow in derselben Weise an, wie ein General den Bericht eines Untergebenen anhört, indem er bald zur Seite blickte, bald durch jene bildliche Schutzbrille hindurch dem sprechenden Rostow gerade in die Augen sah. Dabei hatte Rostow jedesmal ein peinliches Gefühl und schlug die Augen nieder.

»Ich habe von solchen Sachen gehört«, sagte Boris zur Erwiderung, »und weiß, daß der Kaiser in derartigen Fällen sehr streng ist. Ich meine, man sollte sich damit nicht an Seine Majestät wenden. Meiner Ansicht nach ist es ratsamer, das Bittgesuch an den Korpskommandeur zu richten … Aber ich glaube überhaupt …«

»Also du willst nichts tun; dann sage es doch offen heraus!« rief Rostow überlaut, ohne dabei Boris anzusehen.

Boris lächelte.

»Im Gegenteil, ich werde tun, was ich kann; ich meinte nur …«

In diesem Augenblick wurde an der Tür die Stimme Zilinskis vernehmbar, der Boris rief.

»Nun, dann geh zu ihnen, geh, geh …«, sagte Rostow, lehnte die Teilnahme an dem Souper ab und blieb allein in dem kleinen Zimmerchen; lange ging er hier auf und ab und hörte, wie im Nebenzimmer eine muntere französische Unterhaltung geführt wurde.

XX


Der Tag, an welchem Rostow nach Tilsit kam, war der ungünstigste, den er hätte treffen können, um etwas für Denisow zu tun. Er selbst konnte nicht zu dem General du jour gehen, da er Zivilkleidung, den Frack, trug und ohne Erlaubnis seines Kommandeurs nach Tilsit gekommen war; und auch Boris konnte, selbst wenn er gewollt hätte, dies am Tag nach Rostows Ankunft nicht tun. An diesem Tag, dem 27. Juni, wurden die Friedenspräliminarien unterzeichnet. Die Kaiser tauschten miteinander Orden aus: Alexander erhielt die Ehrenlegion, Napoleon den Andreasorden erster Klasse; auch war für diesen Tag ein Festessen angesetzt, welches ein Bataillon der französischen Garde einem Bataillon des Preobraschenski-Regiments gab. Die Kaiser sollten diesem Bankett beiwohnen.

Es war Rostow so unbehaglich und unangenehm, mit Boris zu verkehren, daß er, als Boris nach dem Souper zu ihm hereinblickte, sich schlafend stellte und am andern Tag frühmorgens, unter Vermeidung einer nochmaligen Begegnung, das Haus verließ. Im Frack und Zylinderhut trieb sich Nikolai in der Stadt umher; er besah sich die Franzosen und ihre Uniformen sowie die Straßen und Häuser, wo die Kaiser von Rußland und Frankreich wohnten. Auf dem Marktplatz sah er die aufgestellten Tische und die Vorbereitungen zu dem Festessen, auf den Straßen die quer herübergezogenenen Girlanden mit Fahnen in den russischen und französischen Farben und mit den riesigen Initialen A und N. An den Fenstern der Häuser waren ebenfalls Fahnen und Initialen angebracht.

»Boris will mir nicht helfen, und ich mag mich auch gar nicht noch einmal an ihn wenden«, dachte Nikolai. »Soviel steht fest: zwischen uns ist alles aus. Aber ich will von hier nicht weggehen, ohne für Denisow alles getan zu haben, was in meinen Kräften steht, und vor allem nicht, ohne dem Kaiser den Brief übergeben zu haben. Dem Kaiser?! Hier ist er!« sprach Rostow bei sich und näherte sich unwillkürlich wieder dem Haus, in welchem Alexander wohnte.

Vor diesem Haus standen Reitpferde, und das Gefolge versammelte sich und machte sich offenbar bereit, den Kaiser, der auszureiten beabsichtigte, zu begleiten.

»Jeden Augenblick kann er kommen«, dachte Rostow. »Wenn ich ihm nur den Brief persönlich überreichen und ihm alles sagen könnte! Ob ich wohl wegen des Fracks arretiert würde! Unmöglich! Er würde einsehen, auf wessen Seite das Recht ist. Er versteht alles, weiß alles. Wer kann gerechter und großmütiger sein als er? Na, und selbst, wenn ich dafür arretiert würde, daß ich hier bin, was wäre das für ein Unglück?« dachte er und blickte nach einem Offizier hin, der in das vom Kaiser bewohnte Haus hineinging. »Da gehen ja doch auch andere Leute hinein. Ach was! Es ist alles dummes Zeug. Ich will hingehen und den Brief selbst dem Kaiser überreichen: die Schuld trägt Drubezkoi, der mich in diese Notlage versetzt hat.« Und plötzlich ging Rostow mit einer Entschlossenheit, die er sich selbst nicht zugetraut hatte, nachdem er noch nach dem Brief in seiner Tasche gefühlt hatte, geradewegs auf das Haus los, wo der Kaiser Quartier genommen hatte.

»Nein, jetzt will ich mir die Gelegenheit nicht wieder entgehen lassen wie damals nach der Schlacht bei Austerlitz«, dachte er, indem er jeden Augenblick dem Kaiser zu begegnen erwartete und fühlte, wie ihm bei diesem Gedanken alles Blut zum Herzen strömte. »Ich will ihm zu Füßen fallen und ihn bitten; er wird mich aufheben, mich anhören und mir sogar noch danken.« – ›Ich bin glücklich, wenn ich Gutes tun kann; aber eine Ungerechtigkeit wiedergutzumachen, das ist das allergrößte Glück‹, so stellte sich Rostow die Worte vor, die der Kaiser zu ihm sagen werde. Und an den dort Stehenden vorbei, die ihn neugierig anblickten, stieg er die Stufen vor dem Portal des Hauses hinan.

Von dem Portal führte im Innern eine breite Treppe geradeaus nach oben; rechts war dort eine geschlossene Tür zu sehen. Unten führte unter der Treppe eine Tür in das Erdgeschoß.

»Zu wem wollen Sie?« fragte ihn jemand.

»Ich möchte einen Brief überreichen, eine Bittschrift an Seine Majestät«, antwortete Nikolai mit zitternder Stimme.

»Eine Bittschrift … Wollen Sie sich an den Offizier du jour wenden; bitte dort!« (Der Redende wies auf die Tür unten.) »Aber Sie werden jetzt von Seiner Majestät nicht empfangen werden.«

Als Rostow diese gleichmütige Stimme hörte, bekam er einen Schreck über sein Vorhaben; der Gedanke, vielleicht im nächsten Augenblick dem Kaiser gegenüberzustehen, hatte für ihn etwas so Verführerisches und eben darum etwas so Furchtbares, daß er nahe daran war, davonzulaufen; aber der Kammerfourier, der ihn soeben in Empfang genommen hatte, öffnete ihm die Tür zu dem Dienstzimmer, und Rostow trat ein.

Ein kleiner, wohlbeleibter Mann von etwa dreißig Jahren, in weißen Beinkleidern, Reitstiefeln und einem augenscheinlich soeben erst angezogenen Batisthemd stand in diesem Zimmer; ein Kammerdiener knöpfte ihm von hinten ein Paar schöne, neue, mit Seide gestickte Hosenträger an, die sonderbarerweise Rostows Aufmerksamkeit erregten. Dieser Mann unterhielt sich mit jemand, der in einem anderen Zimmer war.

»Sie hat eine schöne Gestalt und die ganze Taufrische der Jugend«, sagte er; als er Rostow erblickte, brach er ab und zog die Augenbrauen zusammen.

»Was steht zu Ihren Diensten? Eine Bittschrift?«

»Was gibt es denn?« fragte jemand aus dem anstoßenden Zimmer.

»Noch ein Bittsteller«, antwortete der Mann mit den Hosenträgern.

»Sagen Sie ihm, daß es zu spät ist. Der Kaiser wird gleich herunterkommen; wir müssen wegreiten.«

»Ein andermal, ein andermal, morgen! Jetzt ist es zu spät …«

Rostow drehte sich um und wollte hinausgehen; aber der Mann mit den Hosenträgern hielt ihn zurück.

»Von wem ist denn die Bittschrift? Und wer sind Sie?«

»Von dem Major Denisow«, antwortete Rostow.

»Und wer sind Sie? Offizier?«

»Leutnant, Graf Rostow.«

»Welch eine Dreistigkeit! Überreichen Sie doch die Bittschrift auf dem vorschriftsmäßigen Weg durch die Vorgesetzten! Und nun gehen Sie, gehen Sie!« – Er zog sich die Uniform an, die ihm der Kammerdiener reichte.

Rostow ging wieder auf den Flur hinaus und bemerkte, daß vor dem Portal bereits eine Menge Offiziere und Generäle in voller Paradeuniform standen, an denen er vorbeigehen mußte.

Er verwünschte seine Dreistigkeit und wurde ganz starr bei dem Gedanken, daß er jeden Augenblick dem Kaiser begegnen und in dessen Gegenwart schmählich gescholten und in Arrest geschickt werden könne; er begriff die Ungehörigkeit seines Verhaltens in ihrem ganzen Umfang und empfand darüber ernstliche Reue. In dieser Stimmung schlich sich Rostow mit niedergeschlagenen Augen aus dem Haus, dessen Portal die glänzende Suite in dichtem Schwarm umdrängte, da rief ihn eine ihm bekannt klingende Stimme an, und er fühlte sich von einer Hand festgehalten.

»Nun, lieber Freund, was tun Sie denn hier im Frack?« fragte ihn diese Baßstimme.

Es war ein Kavalleriegeneral, der sich in diesem Feldzug die besondere Gunst des Kaisers erworben hatte, der frühere Kommandeur der Division, bei welcher Rostow stand.

Erschrocken begann Rostow sich zu entschuldigen; aber als er die gutmütige Miene des Generals gewahrte, trat er mit ihm an die Seite, trug ihm in aufgeregtem Ton die ganze Angelegenheit vor und bat ihn, für Denisow, der dem General bekannt war, Fürsprache einzulegen. Als der General Rostow angehört hatte, wiegte er ernst den Kopf hin und her.

»Schade, jammerschade um den braven Menschen; geben Sie den Brief her.«

Kaum hatte Rostow die Angelegenheit Denisows erzählt und den Brief übergeben, als von der Treppe her schnelle Schritte und Sporenklirren ertönten; der General trat von Rostow weg und ging zum Portal. Die Herren der nächsten Umgebung des Kaisers kamen die Treppe herabgeeilt und begaben sich zu ihren Pferden. Der Stallmeister Ainé, derselbe, der bei Austerlitz mit dabeigewesen war, führte das Pferd des Kaisers vor, und nun ließen sich auf der Treppe mit leisem Stiefelknarren Schritte vernehmen, die Rostow sofort erkannte. Er vergaß die Gefahr, erkannt zu werden, trat mit einigen neugierigen Ortsbewohnern dicht an das Portal heran und erblickte wieder nach einer Zwischenzeit von zwei Jahren dieselben von ihm angebeteten Züge, dasselbe Gesicht, denselben Blick, denselben Gang, dieselbe Vereinigung von Majestät und Milde. Und das Gefühl enthusiastischer Liebe zum Kaiser lebte in Rostows Seele wieder mit der früheren Kraft auf. Der Kaiser trug die Uniform des Preobraschenski-Regiments, weiße Lederhosen und hohe Reitstiefel, auf der Brust einen Ordensstern, den Rostow nicht kannte (es war die Ehrenlegion); so trat er vor das Portal, den Hut unter dem Arm haltend und damit beschäftigt, sich den einen Handschuh anzuziehen. Er blieb stehen und blickte um sich, und es war, als ob er alles ringsum mit seinem Blick erleuchtete. Zu einem und dem andern der Generale sagte er ein paar Worte. Auch den ehemaligen Kommandeur von Rostows Division erkannte er, lächelte ihm zu und rief ihn zu sich heran.

Das ganze Gefolge trat zurück, und Rostow sah, daß der General ziemlich lange dem Kaiser etwas vortrug.

Der Kaiser sagte einige Worte zu ihm und ging dann einen Schritt weiter, um zu seinem Pferd zu gelangen. Der Haufe des Gefolges und der Haufe des Straßenpublikums, zu welchem letzteren auch Rostow gehörte, rückte wieder näher an den Kaiser heran. Bei seinem Pferd stehenbleibend und mit der Hand den Sattel anfassend, wandte sich der Kaiser nochmals zum Kavalleriegeneral und sagte laut, augenscheinlich in der Absicht, von allen gehört zu werden:

»Ich kann es nicht, General, und zwar kann ich es deshalb nicht, weil das Gesetz stärker ist als ich.« Dann setzte er den Fuß in den Steigbügel.

Der General neigte ehrerbietig den Kopf; der Kaiser schwang sich auf und ritt im Galopp die Straße entlang. Rostow, der vor Begeisterung kaum von sich selbst wußte, lief mit dem Menschenschwarm hinter ihm her.

XXI


Auf dem Marktplatz, wohin der Kaiser ritt, standen, Front gegen Front, rechts ein Bataillon Preobraschenzen, links ein Bataillon der französischen Garde in Bärenmützen einander gegenüber.

In dem Augenblick, als der Kaiser sich dem einen Flügel der präsentierenden Bataillone näherte, sprengte zu dem entgegengesetzten Flügel eine andere Reiterschar heran, und an ihrer Spitze erkannte Rostow Napoleon. Es konnte kein anderer sein. Er saß auf einem grauen arabischen Pferd von außerordentlich edler Rasse, auf einer karmesinroten, goldgestickten Schabracke, und ritt Galopp; er trug einen kleinen Hut, über der Schulter das Band des Andreasordens, einen offenstehenden blauen Uniformrock und darunter eine weiße Weste. Als er sich dem Kaiser Alexander näherte, lüftete er den Hut, und bei dieser Bewegung konnte es dem Kavalleristenauge Rostows nicht entgehen, daß Napoleon schlecht und unsicher zu Pferde saß. Die beiden Bataillone schrien »Hurra!« und »Vive l’empereur!«. Napoleon sagte etwas zu Alexander. Beide Kaiser stiegen von den Pferden und reichten einander die Hände. Auf Napoleons Gesicht lag ein gekünsteltes, unangenehm wirkendes Lächeln. Alexander sagte mit freundlicher Miene etwas zu ihm.

Obgleich die französischen Gendarmen ihre Pferde hin und her stampfen ließen, um die Menge zurückzudrängen, verfolgte Rostow doch mit unverwandten Blicken jede Bewegung Alexanders und Bonapartes. Auffallend war ihm als etwas Unerwartetes, daß Alexander sich benahm, als wären er und Bonaparte einander gleichgestellt, und daß Bonaparte völlig ungezwungen, als ob eine solche nahe Berührung mit einem Kaiser ihm etwas ganz Natürliches und Gewöhnliches wäre, mit dem russischen Zaren wie ein Gleichgestellter verkehrte.

Alexander und Napoleon gingen samt dem langen Schweif ihres Gefolges zum rechten Flügel des Preobraschenski-Bataillons, gerade auf den Menschenhaufen los, der dort stand. Die Menge befand sich auf einmal unerwarteterweise in solcher Nähe der Kaiser, daß Rostow, der in den ersten Reihen stand, erkannt zu werden fürchtete.

»Sire, ich bitte Sie um die Erlaubnis, dem tapfersten Ihrer Soldaten die Ehrenlegion verleihen zu dürfen«, sagte eine scharfe, klare Stimme, die jeden Buchstaben deutlich aussprach.

Diese Worte kamen aus dem Mund des kleinen Bonaparte, der von unten her dem Kaiser Alexander gerade in die Augen blickte. Alexander hörte aufmerksam an, was Bonaparte ihm sagte, neigte den Kopf und lächelte freundlich.

»Demjenigen, der in diesem letzten Krieg die größte Tapferkeit bewiesen hat«, fügte Napoleon hinzu, indem er jedes Wort mit einer für Rostow empörenden Ruhe und Selbstgewißheit markierte und seinen Blick durch die Reihen der russischen Soldaten schweifen ließ, die in streng militärischer Haltung vor ihm standen, immer noch präsentierten und, ohne sich zu rühren, nach dem Gesicht ihres Kaisers blickten.

»Wollen Euer Majestät mir erlauben, den Obersten um seine Meinung zu fragen?« erwiderte Alexander und trat mit einigen schnellen Schritten zu dem Fürsten Koslowski hin, der das Bataillon kommandierte.

Bonaparte zog unterdessen von seiner kleinen, weißen Hand den Handschuh herunter und warf ihn, da er dabei zerriß, zur Erde. Ein Adjutant stürzte eilig von hinten herzu und hob ihn auf.

»Wem soll es gegeben werden?« fragte Kaiser Alexander den Obersten halblaut auf russisch.

»Wem Euer Majestät befehlen.«

Der Kaiser runzelte unzufrieden die Stirn und sagte, indem er sich umsah: »Ich muß ihm doch eine Antwort geben.«

Koslowski musterte mit festem Blick die Reihen und traf mit diesem Blick auch Rostow.

»Er wird doch nicht gar mich nehmen?« dachte Rostow.

»Lasarew!« kommandierte der Oberst mit finsterer Miene, und der größte der Soldaten, der Flügelmann Lasarew, trat mit strammem Schritt vor.

»Wo willst du hin? Bleib doch da stehen!« wurde ihm, der nicht wußte, wohin er gehen sollte, von seinen Kameraden zugeflüstert. Lasarew blieb stehen und schielte erschrocken zum Obersten hin; sein Gesicht zuckte, wie meistens bei Soldaten, die vor die Front gerufen werden.

Napoleon drehte kaum den Kopf nach rückwärts und hielt nur seine kleine, dicke Hand nach hinten, wie wenn er etwas in Empfang nehmen wollte. Die Herren von seiner Suite errieten sofort, um was es sich handelte, gerieten in eifrige Bewegung, flüsterten miteinander und reichten einander etwas von Hand zu Hand weiter; ein Page, derselbe, welchen Rostow am Abend bei Boris gesehen hatte, lief vor, und indem er sich ehrerbietig über die ausgestreckte Hand beugte und sie auch nicht eine Sekunde zu lange warten ließ, legte er einen Orden an einem roten Band hinein. Napoleon drückte, ohne hinzublicken, zwei Finger zusammen; der Orden befand sich zwischen ihnen. Napoleon trat zu Lasarew heran, der, die Augen hervorpressend, hartnäckig immer noch nur seinen Kaiser ansah, und blickte nach dem Kaiser Alexander hin, um dadurch zu verstehen zu geben, daß das, was er jetzt tue, ein Akt der Liebenswürdigkeit gegen seinen Verbündeten sei. Die kleine, weiße Hand mit dem Orden berührte einen Knopf des Soldaten Lasarew. Und Napoleon schien überzeugt zu sein, daß, wenn seine, Napoleons Hand die Brust dieses Soldaten einer Berührung würdigte, schon allein dadurch dieser Soldat für immer glücklich und vor allen Menschen in der Welt belohnt und ausgezeichnet sei. Napoleon hielt das Kreuz nur an Lasarews Brust, und die Hand wieder sinken lassend, wandte er sich zu Alexander, wie wenn er wüßte, daß das Kreuz an Lasarews Brust haftenbleiben müsse. Und das Kreuz blieb wirklich haften.

Russische und französische dienstfertige Hände ergriffen im selben Augenblick das Kreuz und befestigten es an der Uniform. Lasarew, welcher finster auf den kleinen Mann mit den weißen Händen geblickt hatte, als dieser irgend etwas mit ihm vornahm, sah nun wieder, indem er fortfuhr regungslos das Gewehr zu präsentieren, dem Kaiser Alexander gerade in die Augen, wie wenn er ihn fragen wollte, ob er noch länger da stehen solle, oder ob man ihm befehle, jetzt umherzumarschieren oder vielleicht sonst irgend etwas zu tun. Aber es wurde ihm nichts befohlen, und er blieb ziemlich lange in dieser Haltung stehen, ohne sich zu rühren.

Die Kaiser stiegen zu Pferd und ritten weg. Die Preobraschenzen lösten ihre Reihen auf, mischten sich mit den französischen Gardisten und setzten sich an die für sie bereitstehenden Tische.

Lasarew saß auf dem Ehrenplatz; russische und französische Offiziere umarmten ihn, beglückwünschten ihn und drückten ihm die Hand. Scharen von Offizieren und Ortsbewohnern kamen hinzu, nur um Lasarew zu sehen. Lautes Geschwirr russischer und französischer Gespräche und munteres Gelächter ertönte auf dem Marktplatz um die Tische herum. Zwei Offiziere, lustig und vergnügt, mit geröteten Gesichtern, kamen an Rostow vorüber.

»Was sagst du zu so einer Bewirtung, Bruder? Alles auf Silber!« sagte der eine. »Hast du Lasarew gesehen?«

»Ja, ich habe ihn gesehen.«

»Es heißt, morgen werden die Preobraschenzen den Franzosen ein Essen geben.«

»Nein, was hat dieser Lasarew für ein Glück! Zwölfhundert Francs lebenslängliche Pension!«

»Na, das ist mal eine Mütze, Kinder!« rief ein Preobraschenze, indem er sich die zottige Mütze eines Franzosen aufsetzte.

»Wundervoll! Ganz prächtig!«

»Hast du die Parole gehört?« fragte ein Gardeoffizier einen andern. »Vorgestern hieß sie: Napoleon, Frankreich, Tapferkeit; gestern: Alexander, Rußland, Größe. Einen Tag gibt unser Kaiser die Parole, den andern Tag Napoleon. Morgen wird der Kaiser dem tapfersten französischen Gardisten ein Georgskreuz verleihen. Das geht nicht anders! Er muß die Liebenswürdigkeit in derselben Form erwidern.«

Auch Boris war mit seinem Kameraden Zilinski hingegangen, um sich das Bankett der Preobraschenzen anzusehen. Auf dem Rückweg bemerkte Boris Rostow, der an der Ecke eines Hauses stand.

»Guten Tag, Rostow! Wir haben uns ja heute noch gar nicht gesehen«, sagte er zu ihm und konnte sich nicht enthalten, ihn zu fragen, was ihm fehle: eine so sonderbar finstere, verstörte Miene zeigte Rostows Gesicht.

»Nichts, nichts«, antwortete Rostow.

»Du kommst doch noch einmal zu mir heran?«

»Ja, ich werde kommen.«

Rostow stand lange an der Ecke und betrachtete von weitem die Schmausenden. In seinem Kopf ging eine qualvolle Gedankenarbeit vor, die er schlechterdings nicht imstande war zu einem befriedigenden Ende zu führen. Entsetzliche Zweifel waren in seiner Seele wach geworden. Bald dachte er an Denisow und an dessen veränderten Gesichtsausdruck und schließliche Unterwerfung und an das ganze Lazarett mit all diesen verkrüppelten Soldaten, mit seinem Schmutz und seinen Krankheiten. Er glaubte mit solcher Bestimmtheit, in diesem Augenblick den Leichengeruch des Lazaretts zu spüren, daß er sich umsah, um festzustellen, woher dieser Geruch kommen könne. Bald trat ihm dieser selbstzufriedene Bonaparte mit seiner kleinen, weißen Hand vor die Seele, der jetzt Kaiser war und den der Kaiser Alexander liebte und verehrte. Welchen Zweck hatten denn nun all die abgeschossenen Arme und Beine und die getöteten Menschen? Dann wieder dachte er an den dekorierten Lasarew und an den bestraften und nicht begnadigten Denisow. Er ertappte sich auf so seltsamen Gedanken, daß er über sie geradezu erschrak.

Der Speisengeruch von dem Festessen der Preobraschenzen und der französischen Gardisten und der ihm zum Bewußtsein kommende Hunger weckten ihn aus diesem Zustand der Versunkenheit: vor seiner Abreise mußte er notwendig etwas essen. Er ging in ein Gasthaus, das er am Morgen bemerkt hatte. In diesem Gasthaus traf er so viel Gäste, namentlich Offiziere, die ebenso wie er in Zivil nach Tilsit gekommen waren, daß er nur mit Mühe zu einem Mittagessen gelangen konnte. Zwei Offiziere, die mit ihm derselben Division angehörten, gesellten sich zu ihm. Es war nur natürlich, daß die Rede auf den Friedensschluß kam. Diese beiden Kameraden Rostows waren, wie der größte Teil der Armee, unzufrieden mit dem Friedensschluß, der auf die Schlacht bei Friedland gefolgt war. Die allgemeine Ansicht war, wir hätten uns nur noch ein Weilchen zu halten brauchen, dann wäre Napoleon verloren gewesen, da er weder Proviant noch Munition mehr für seine Truppen gehabt habe. Nikolai beschäftigte sich schweigend damit, zu essen und vor allem zu trinken. Er hatte allein schon zwei Flaschen Wein geleert. Jene innerliche Gedankenarbeit, die in seinem Kopf in Gang gekommen, aber nicht zum Abschluß gelangt war, quälte ihn noch immer in gleicher Weise. Er fürchtete sich davor, sich seinen Gedanken zu überlassen, und war doch nicht imstande, sich von ihnen loszumachen. Da äußerte einer der beiden Offiziere, es errege einem die Galle, jetzt auf einmal die Franzosen als Freunde ansehen zu müssen; und nun schrie Rostow plötzlich mit einer jähen Heftigkeit los, die durch nichts gerechtfertigt war und daher die Offiziere in das größte Erstaunen versetzte.

»Wie können Sie darüber urteilen, was das beste sein würde!« schrie er mit dunkelrotem Kopf. »Wie können Sie über die Handlungen des Kaisers urteilen? Welches Recht haben wir zu kritisieren? Wir können weder die Absichten noch die Handlungen des Kaisers verstehen!«

»Aber ich habe ja kein Wort vom Kaiser gesagt«, erwiderte der Offizier zu seiner Rechtfertigung; er konnte sich Rostows Jähzorn nur durch die Annahme erklären, daß er betrunken sei.

Aber Rostow hörte gar nicht auf ihn.

»Wir sind keine Diplomaten; wir sind Soldaten und weiter nichts«, fuhr er fort. »Wenn uns befohlen wird, zu sterben, so sterben wir; und wenn man uns bestraft, dann haben wir es eben verdient; uns steht darüber kein Urteil zu. Wenn es unserm Kaiser beliebt, Bonaparte als Kaiser anzuerkennen und mit ihm ein Bündnis zu schließen, dann wird das eben notwendig sein. Aber wenn wir anfangen wollen über alles zu urteilen und alles zu kritisieren, dann bleibt bald nichts Heiliges mehr übrig. Dann kommen wir dahin, zu sagen, daß es keinen Gott und überhaupt nichts gibt!« schrie Nikolai und schlug mit der Faust auf den Tisch; was er da sagte, war sehr unmotiviert nach der Auffassung seiner Tischgenossen, bildete aber das folgerichtige Resultat seines Gedankenganges. »Wir haben einfach, ohne zu überlegen, unsere Pflicht zu tun und mit dem Feind zu kämpfen, weiter nichts!« schloß er.

»Und zu trinken«, fügte einer der Offiziere hinzu, der dem Streit ein Ende zu machen wünschte.

»Jawohl, und zu trinken!« stimmte ihm Nikolai bei. »He, du! Noch eine Flasche!« rief er.

Sechster Teil


I

Im Jahre 1808 begab sich Kaiser Alexander zu einer neuen Zusammenkunft mit dem Kaiser Napoleon nach Erfurt, und in den höchsten Petersburger Gesellschaftskreisen wurde viel über die großartige Pracht dieses festlichen Zusammenseins gesprochen.

Im Jahre 1809 war die Annäherung der beiden Weltherrscher, wie man Napoleon und Alexander zu nennen pflegte, bereits so weit fortgeschritten, daß, als Napoleon in diesem Jahr Österreich den Krieg erklärte, ein russisches Korps an die Grenze rückte, um unseren früheren Feind Bonaparte gegen unsern früheren Verbündeten, den Kaiser von Österreich, zu unterstützen; ja, sie war so weit fortgeschritten, daß in den höchsten Kreisen die Möglichkeit einer Heirat zwischen Napoleon und einer der Schwestern Kaiser Alexanders erörtert wurde. Aber neben solchen der äußeren Politik angehörigen Kombinationen richtete sich damals das Interesse der russischen Gesellschaft mit besonderer Lebhaftigkeit auf die inneren Reformen, die zu jener Zeit auf allen Gebieten der Staatsverwaltung durchgeführt wurden.

Unterdessen ging das Leben, das wahre, eigentliche Leben der Menschen, mit seinen materiellen Interessen, wie Gesundheit und Krankheit, Arbeit und Erholung, und mit seinen geistigen Interessen, wie Wissenschaft, Poesie, Musik, Liebe, Freundschaft, Haß, Leidenschaften, dieses Leben ging wie immer unabhängig seinen Gang, unbeeinflußt von der politischen Freundschaft oder Feindschaft mit Napoleon Bonaparte und von allen möglichen Reformen.


Fürst Andrei hatte ununterbrochen zwei Jahre lang auf dem Land gelebt.

Alle die Unternehmungen, die Pierre auf seinen Gütern geplant hatte, ohne doch dabei zu einem Resultat zu kommen, da er unaufhörlich von einer Sache zur andern hinübersprang, alle diese Unternehmungen hatte Fürst Andrei, ohne irgend jemandem gegenüber davon viel Wesens zu machen, und ohne auffälligen Aufwand von Mühe auf seinen eigenen Gütern zur Ausführung gebracht.

Er besaß im höchsten Grad jene seinem Freund Pierre abgehende praktische Zähigkeit, mittels deren er ohne übermäßige Kraftentwicklung und Anstrengung eine Sache in Gang brachte und im Gang erhielt.

Auf einem seiner Güter hatte er die Leibeigenen, etwa dreihundert Seelen, zu freien Bauern gemacht (es war dies eines der ersten Beispiele in Rußland); auf anderen Gütern war die Fronarbeit durch Abgaben ersetzt. Nach Bogutscharowo hatte er auf seine Kosten eine gelernte Hebamme kommen lassen, die nun den Gebärerinnen beistand, und der Geistliche unterrichtete für ein bestimmtes Gehalt die Kinder der Bauern und Gutsleute im Lesen und Schreiben.

Die eine Hälfte seiner Zeit verlebte Fürst Andrei in Lysyje-Gory bei seinem Vater und bei seinem Sohn, der noch in der Obhut der Wärterinnen war, die andere Hälfte im Kloster Bogutscharowo, wie sein Vater dieses Gut nannte. Obwohl Fürst Andrei im Gespräch mit Pierre eine große Gleichgültigkeit gegen alle äußeren Weltereignisse bekundet hatte, verfolgte er doch den Gang der Dinge mit vielem Eifer, ließ sich eine Menge Bücher kommen und bemerkte zu seiner Verwunderung, wenn zu ihm oder zu seinem Vater Leute direkt aus Petersburg, diesem Brennpunkt des gesamten geistigen Lebens, zu Besuch kamen, daß diese Leute über alle Vorgänge der äußeren und inneren Politik bei weitem nicht so gut unterrichtet waren wie er, der ohne Unterbrechung still auf dem Land saß.

Außer seiner Tätigkeit an den Gütern und außer der Lektüre von Büchern mannigfaltigen Inhaltes beschäftigte Fürst Andrei sich in dieser Zeit auch noch mit einer Kritik unserer Kriegführung in den beiden letzten unglücklichen Feldzügen, sowie mit der Ausarbeitung eines Projektes, betreffend eine Umgestaltung unserer militärischen Reglements und Instruktionen.

Im Frühling des Jahres 1809 reiste Fürst Andrei nach den Rjasanschen Gütern seines Sohnes, dessen Vormund er war.

Von der Frühlingssonne angenehm erwärmt, saß er im Wagen und betrachtete das junge Gras und die ersten Blättchen der Birken und die ersten weißen, geballten Frühlingswolken, die an dem klaren, blauen Himmel dahinzogen. Er dachte an nichts, sondern blickte nur fröhlich nach rechts und links.

Er passierte den Fluß auf der Fähre, auf der er vor einem Jahr mit Pierre ein bedeutsames Gespräch geführt hatte. Dann fuhr er durch ein schmutziges Dorf, vorbei an Äckern mit Wintersaat, hinab zu einer Brücke, wo noch Schnee zurückgeblieben war, bergan auf ausgewaschenem Lehmweg, vorbei an langen Streifen von Stoppelfeldern und an Buschwerk, das hier und da schon grün wurde, und hinein in einen Birkenwald, der auf beiden Seiten des Weges lag. Im Wald war es beinahe heiß; der Wind war hier nicht zu spüren. Die Birken, die ganz mit grünen, klebrigen Blättchen übersät waren, rührten sich nicht; aus dem vorjährigen Laub, das den Boden bedeckte, kamen, die trockenen Blätter in die Höhe hebend, das erste grüne Gras und lila Blumen hervor. Kleine Tannen, die hier und da im Birkenwald verstreut standen, erweckten durch ihr immerwährendes mattes Grün die unerfreuliche Erinnerung an den Winter. Die Pferde prusteten, als sie in den Wald hineinkamen, und fingen an augenfällig zu schwitzen.

Der Diener Pjotr sagte etwas zum Kutscher, und der Kutscher antwortete bejahend. Aber die Zustimmung des Kutschers genügte dem Diener offenbar noch nicht: er wandte sich auf dem Bock zu seinem Herrn um.

»Eure Durchlaucht, wie nett!« sagte er mit respektvollem Lächeln.

»Was sagst du?«

»Es ist alles so nett, Euer Durchlaucht.«

»Was meint er denn?« dachte Fürst Andrei. »Ach so, gewiß den Frühling«, sagte er sich und blickte nach rechts und links. »Wirklich, alles schon grün … wie schnell das gekommen ist! Die Birke fängt schon an, und der Faulbaum, und die Erle … Eine Eiche ist nicht zu sehen. Aber ja, da ist ja eine, eine Eiche.«

Am Rand des Weges stand eine Eiche. Wahrscheinlich zehnmal so alt wie die Birken, die den Wald bildeten, war sie auch zehnmal so dick und noch einmal so hoch wie jede der Birken. Es war ein gewaltiger Baum, den zwei Männer kaum umspannen konnten; viele Äste waren, augenscheinlich schon seit langer Zeit, abgebrochen, die Borke rissig und mit alten, verwachsenen Narben überzogen. Mit ihren großen, plumpen, unsymmetrisch gewachsenen, krummen Armen und Fingern stand sie wie ein alter, ingrimmiger Krüppel, der die ganze Welt haßt und verachtet, mitten unter den lächelnden Birken da. Außer ihr wollten nur die wie toten, immergrünen, kleinen Tannen, die im Wald verstreut standen, sich dem Zauber des Frühlings nicht fügen und weder den Frühling noch die Sonne sehen.

»Frühling und Liebe und Glück!« schien diese Eiche zu sagen. »Daß ihr dieser stets gleichbleibenden, dummen, sinnlosen Täuschung nicht überdrüssig werdet! Immer ein und dasselbe, und immer Täuschung! Es gibt keinen Frühling, keine Sonne, kein Glück! Da! Seht diese niedergedrückten, erstorbenen Tannen an, deren Aussehen immer gleich bleibt! Und seht mich an! Ich habe meine zerbrochenen, verstümmelten Glieder ausgespreizt, wo sie aus mir herausgewachsen sind: aus dem Rücken, aus den Seiten; wie sie herausgewachsen sind, so stehe ich da und glaube nicht an eure Hoffnungen und Täuschungen.«

Fürst Andrei blickte sich beim Weiterfahren durch den Wald mehrmals nach dieser Eiche um, als ob er von ihr etwas erwartete. Blumen und Gras befanden sich auch unter der Eiche; aber sie stand immer in der gleichen Haltung mitten unter ihnen: finster, unbeweglich, häßlich und eigensinnig.

»Ja, sie hat recht, vollkommen recht, diese Eiche«, dachte Fürst Andrei. »Mögen andere, jüngere Leute sich von neuem dieser Täuschung hingeben; aber wir kennen das Leben; unser Leben ist zu Ende!« Eine ganze neue Reihe hoffnungsloser, aber wehmütig-freundlicher Gedanken zog, im Anschluß an den Anblick dieser Eiche, durch die Seele des Fürsten Andrei. Während dieser Reise überdachte er gewissermaßen von neuem sein ganzes Leben und kam zu demselben beruhigenden, hoffnungslosen Ergebnis wie früher: daß er nichts Neues mehr beginnen dürfe, sondern sein Leben zu Ende führen müsse, ohne Übles zu tun, ohne sich aufzuregen und ohne etwas zu wünschen.

II


In vormundschaftlichen Angelegenheiten eines Rjasaner Gutes mußte Fürst Andrei mit dem Adelsmarschall des Kreises persönliche Rücksprache nehmen. Dieser Adelsmarschall war Graf Ilja Andrejewitsch Rostow, und so fuhr denn Fürst Andrei Mitte Mai zu ihm.

Es war schon die heiße Periode des Frühlings eingetreten. Der Wald war bereits voll belaubt; die Wege waren staubig, und es herrschte eine solche Hitze, daß man, wenn man an einem Wasser vorbeifuhr, Lust bekam zu baden.

In mißmutiger Stimmung und damit beschäftigt, alle die geschäftlichen Fragen zu überlegen, die er dem Adelsmarschall vorzulegen hatte, fuhr Fürst Andrei durch die Gartenallee auf das Rostowsche Gutshaus in Otradnoje zu. Von rechts hinter den Bäumen her hörte er fröhliches Geschrei weiblicher Stimmen und erblickte eine Mädchenschar, die von der Seite auf seinen Wagen zugelaufen kam. Den andern voran, dem Wagen am nächsten, lief ein schwarzhaariges, sehr fein und schlank gebautes, schwarzäugiges Mädchen, in einem gelben Kattunkleid, um den Kopf ein weißes Taschentuch gebunden, unter welchem einzelne Strähnen loser Haare hervorquollen. Das junge Mädchen rief etwas nach dem Wagen zu; aber als sie erkannte, daß ein Fremder darin saß, lief sie, ohne ihn anzusehen, lachend wieder zurück.

Eine schmerzliche Empfindung überkam auf einmal den Fürsten Andrei. Es war ein so schöner Tag, die Sonne schien so hell, ringsum war alles so fröhlich; aber diese schlanke, niedliche Person wußte nicht und wollte gar nicht wissen, daß er überhaupt existierte, und fühlte sich zufrieden und glücklich bei ihrem eigenen, wahrscheinlich törichten, aber heiteren, vergnügten Leben. »Worüber freut sie sich so? Woran denkt sie? Sicherlich nicht an militärische Reglements und an die Neuordnung der Verhältnisse der Rjasaner Zinsbauern. Woran denkt sie? Worüber ist sie so glücklich?« fragte sich Fürst Andrei mit unwillkürlich erwachter Neugierde.

Graf Ilja Andrejewitsch lebte im Jahre 1809 in Otradnoje genau ebenso wie früher, das heißt, er veranstaltete Jagden, Theatervorstellungen, Diners und Konzerte, zu denen sich der ganze Adel des Gouvernements einfand. Wie über jeden neuen Gast freute er sich auch über die Ankunft des Fürsten Andrei und veranlaßte ihn beinahe mit Gewalt, über Nacht zu bleiben.

Diesen ganzen Tag über nahmen Fürst Andrei die älteren Herrschaften in Anspruch, nämlich der Hausherr und die Hausfrau und die vornehmsten der Gäste, von denen aus Anlaß des herankommenden Namenstages das Haus des alten Grafen voll war. Fürst Andrei langweilte sich dabei stark, blickte mehrmals zu Natascha hin, die sich mit der übrigen anwesenden Jugend amüsierte und immer über irgend etwas lachte, und fragte sich: »Woran denkt sie? Worüber freut sie sich so?«

Als er am Abend in dem ihm fremden Zimmer allein war, konnte er lange nicht einschlafen. Er las; dann löschte er die Kerze aus und zündete sie wieder an. In dem Zimmer mit den geschlossenen Innenläden war eine schwüle Luft. Er ärgerte sich über diesen dummen alten Kerl (so nannte er Rostow), der ihn durch die Versicherung zurückgehalten hatte, die erforderlichen Papiere seien in der Stadt, seien noch nicht hergeschickt, und er ärgerte sich über sich selbst, daß er dageblieben war.

Fürst Andrei stand auf und trat ans Fenster, um es zu öffnen. Sowie er die Läden aufgemacht hatte, drang das Mondlicht, als hätte es schon lange am Fenster Wache gestanden und darauf gewartet, ins Zimmer hinein. Er öffnete das Fenster. Es war eine frische, windstille, helle Nacht. Unmittelbar vor dem Fenster stand eine Reihe beschnittener Bäume, die auf der einen Seite schwarz aussahen und auf der andern silbrig beleuchtet waren. Unter den Bäumen befand sich irgendeine saftige, feuchte, krause Pflanzenart, deren Blätter und Stengel stellenweise wie Silber schimmerten. Weiter weg hinter den schwarzen Bäumen war ein Dach sichtbar, das von Tau glänzte, und mehr rechts ein großer, krauser Baum mit Stamm und Ästen von heller, weißer Färbung und über ihm der beinahe volle Mond an dem hellen, fast sternenlosen Frühlingshimmel. Fürst Andrei lehnte sich mit den Ellbogen auf das Fensterbrett und richtete seine Blicke unverwandt nach diesem Himmel.

Das Zimmer des Fürsten Andrei befand sich in der mittleren Etage; auch das darüberliegende Zimmer war bewohnt, und die Insassen schliefen noch nicht. Er hörte oben zwei weibliche Stimmen reden.

»Nur noch ein einziges Mal«, sagte die eine Stimme, welche Fürst Andrei sofort erkannte.

»Aber wann willst du denn eigentlich schlafen?« antwortete die andere Stimme.

»Ich will gar nicht schlafen; ich kann nicht einschlafen; was soll ich machen! Nun also, zum allerletzten Mal!«

Die beiden Stimmen sangen ein Stück einer Melodie, welches das Ende irgendeines Liedes bildete.

»Ach, wie entzückend!«

»Nun, aber jetzt machen wir Schluß; jetzt wird geschlafen!«

»Schlaf du; ich kann nicht schlafen«, antwortete die erste Stimme, die sich dem Fenster genähert hatte. Die betreffende Person bog sich offenbar ganz aus dem Fenster; denn Fürst Andrei hörte das Rascheln ihres Kleides und sogar ihren Atem. Alles war still und regungslos; auch der Mond und der Mondschein und die Schatten. Auch Fürst Andrei scheute sich, eine Bewegung zu machen, um sich nicht als unfreiwilligen Hörer zu verraten.

»Sonja, Sonja!« erscholl wieder die erste Stimme. »Aber wie kannst du nur dabei schlafen! Sieh doch nur, wie reizend alles ist! Ach, wie reizend! So wache doch auf, Sonja!« sagte sie beinahe weinend. »So eine herrliche Nacht hat es ja noch nie, noch nie gegeben!«

Sonja gab verdrossen irgendeine Antwort.

»Nein, sieh doch nur, wie wundervoll der Mond scheint …! Ach, wie entzückend! Komm doch her! Liebste, Beste, komm doch her! Nun, siehst du wohl? So möchte ich mich niederkauern, siehst du wohl, so, und die Hände unter den Knien zusammenlegen, fest, so fest wie möglich, ganz eng und straff, und dann möchte ich losfliegen. Sieh mal: so!«

»Hör auf! Du wirst noch fallen!«

Es war zu hören, daß sie miteinander rangen. Sonja sagte in unzufriedenem Ton: »Es ist ja bald zwei Uhr.«

»Ach, du verdirbst mir immer nur mein Vergnügen. Geh doch, geh doch!«

Wieder wurde alles still; aber Fürst Andrei wußte, daß Natascha immer noch dort saß; er hörte manchmal eine leise Bewegung, mitunter auch einen Seufzer.

»Ach, mein Gott, mein Gott! Wie schön ist das alles!« rief sie plötzlich. »Also jetzt schlafen gehen, wenn’s doch einmal sein muß!« Sie schlug das Fenster zu.

»Es ist ganz gleichgültig, ob ich existiere oder nicht!« dachte Fürst Andrei, während er auf ihre Worte lauschte und aus einem nicht recht verständlichen Grund erwartete und fürchtete, daß sie etwas über ihn selbst sagen werde. »Wieder sie! Als wäre es eine besondere Fügung!« dachte er.

In seiner Seele erhob sich unerwarteterweise ein solcher wirrer Schwarm jugendlicher Gedanken und Hoffnungen, die zu seinem ganzen Leben in schroffem Gegensatz standen, daß er sich unfähig fühlte, über seinen Zustand zur Klarheit zu gelangen. Jedoch schlief er sehr bald ein.

III


Am andern Tag nahm Fürst Andrei, ohne abzuwarten, bis die Damen zum Vorschein kämen, nur vom Grafen Abschied und fuhr nach Hause.

Es war schon Anfang Juni, als Fürst Andrei bei der Rückkehr nach Bogutscharowo wieder in denselben Birkenhain einfuhr, in welchem jene alte, krumm gewachsene Eiche so eigenartige, merkwürdige Gedanken in ihm wachgerufen hatte. Die Glöckchen der Pferde klangen jetzt noch dumpfer im Wald als vor anderthalb Monaten; alles war jetzt voll und dicht und schattig; und die durch den Wald verstreuten jungen Tannen störten die allgemeine Schönheit nicht mehr: denn allgemeinen Charakter des Waldes sich anpassend, trieben auch sie wollige Sprossen von zartgrüner Farbe.

Den ganzen Tag über war es heiß gewesen; jetzt zog sich irgendwo ein Gewitter zusammen; aber vorläufig sandte nur eine kleine Wolke einen Sprühregen auf den Staub des Weges und auf die saftigen Blätter herab. Die linke Seite des Waldes lag im Schatten und war dunkel; die rechte, von der Nässe glänzend, blitzte in der Sonne, indem die Blätter nur leise im Wind schwankten. Alles stand in Blüte; die Nachtigallen schmetterten und flöteten bald nah, bald fern.

»Ja, hier in diesem Wald stand doch jene Eiche, in der ich mein Ebenbild erkannte«, dachte Fürst Andrei. »Ja, wo ist sie nur?« fragte er sich, nach der linken Seite des Weges blickend, und betrachtete bewundernd, ohne es selbst zu wissen, ohne sie zu erkennen, eben jene Eiche, die er suchte. Die alte Eiche, ganz verwandelt, breitete sich jetzt mit ihrem saftigen, dunkelgrünen Laub wie ein Zelt aus und schwelgte, kaum ein Blatt rührend, in den Strahlen der Abendsonne. Weder krumm gewachsene Finger, noch Narben, noch altes Mißtrauen und Leid, nichts derartiges war mehr zu sehen. Quer durch die harte, hundertjährige Borke drangen ohne Äste saftige, grüne Blätter, so daß man kaum glauben mochte, daß diese Greisin sie hervorgebracht habe. »Ja, das ist dieselbe Eiche«, dachte Fürst Andrei, und plötzlich überkam ihn, eigentlich ohne tatsächliche Ursache, ein Frühlingsgefühl der Verjüngung und der Freude. Alle diejenigen Augenblicke seines Lebens, wo wahrhaft gute Empfindungen sein Herz erfüllt hatten, kamen ihm gleichzeitig ins Gedächtnis: Austerlitz mit dem hohen Himmel, und das vorwurfsvolle Antlitz seiner toten Frau, und Pierre auf der Fähre, und das von der Schönheit der Nacht so mächtig erregte junge Mädchen, und diese Nacht selbst und der Mond – das alles war ihm auf einmal wieder gegenwärtig.

»Nein, das Leben ist noch nicht abgeschlossen, wenn man einunddreißig Jahre alt ist«, das war das endgültige, unumstößliche Resultat dieser Gedanken. »Es genügt nicht«, dachte Fürst Andrei, »daß ich selbst weiß, was alles in meiner Seele wohnt; auch alle andern sollen es erfahren: Pierre und dieses junge Mädchen, das in den Himmel fliegen wollte; alle sollen sie mich kennenlernen, damit mein Leben nicht für mich allein dahingehe, und damit sie ihr Leben nicht so abgetrennt und unberührt von dem meinigen führen, und damit mein Leben auf sie alle zurückwirke, und damit sie alle mit mir vereint leben!«


Nach der Rückkehr von seiner Reise beschloß Fürst Andrei, im Herbst nach Petersburg zu fahren, und sann sich verschiedene Gründe für diesen Entschluß aus. Er hatte jeden Augenblick eine ganze Reihe logischer Vernunftbeweise zur Verfügung, weshalb er unbedingt nach Petersburg gehen und sogar wieder in den Dienst treten müsse. Ja, es war ihm jetzt ganz unbegreiflich, wie er jemals an der Notwendigkeit, tätigen Anteil am Leben zu nehmen, hatte zweifeln können, gerade wie er einen Monat vorher nicht begriffen hatte, wie ihm der Gedanke in den Sinn kommen könnte, vom Land fortzuziehen. Es schien ihm jetzt ganz klar, daß seine gesamten Lebenserfahrungen nutzlos und vergebliche Mühe sein würden, wenn er sie nicht praktisch verwertete und nicht wieder tätigen Anteil am Leben nähme. Es war ihm jetzt sogar unbegreiflich, wie er früher hatte meinen können (und doch hatte er es aufgrund ebenso armseliger Vernunftbeweise gemeint), daß es seiner unwürdig sei, nach seinen trüben Lebenserfahrungen den Glauben an die Möglichkeit, Nutzen zu stiften, und den Glauben an die Möglichkeit von Glück und Liebe festzuhalten. Jetzt flüsterte ihm seine Vernunft ganz andere Ratschläge zu. Seit seiner Reise hatte Fürst Andrei angefangen, sich auf dem Land zu langweilen, seine früheren Beschäftigungen interessierten ihn nicht mehr, und oft, wenn er allein in seinem Zimmer saß, stand er auf, trat zum Spiegel und blickte lange sein Gesicht an. Dann wandte er sich ab und betrachtete das Porträt der verstorbenen Lisa, die mit à la grecque frisierten Locken ihn freundlich und heiter aus ihrem goldenen Rahmen anblickte. Sie sprach zu ihrem Mann jetzt nicht mehr die früheren furchtbaren Worte; sie blickte ihn harmlos und fröhlich und mit einem Ausdruck von Neugier an. Und Fürst Andrei ging, die Hände auf den Rücken gelegt, lange im Zimmer auf und ab, bald mit finsterer Miene, bald lächelnd, und überließ sich jenen Gedanken, die mit der Vernunft nichts zu tun hatten, die sich mit Worten nicht aussprechen ließen, und die er wie ein Verbrechen geheimhalten zu müssen glaubte, jenen Gedanken, die mit Pierre und mit dem Ruhm und mit dem Mädchen am Fenster und mit der Eiche und mit weiblicher Schönheit und mit der Liebe zusammenhingen und sein ganzes Leben verändert hatten. Und in solchen Augenblicken benahm er sich, wenn jemand zu ihm ins Zimmer trat, besonders trocken, streng und scharf und brachte namentlich in unfreundlicher Weise die Logik zur Anwendung.

»Lieber Bruder«, sagte zum Beispiel einmal Prinzessin Marja, als sie in einem solchen Augenblick hereinkam, »unser kleiner Nikolai kann heute nicht Spazierengehen; es ist sehr kalt.«

»Wenn es warm wäre«, erwiderte Fürst Andrei seiner Schwester in trockenem Ton, »dann würde er im bloßen Hemd ausgehen; da es nun aber kalt ist, so muß man ihm warme Kleidung anziehen, die ja eben zu diesem Zweck erfunden ist. Das also folgt daraus, daß es kalt ist, nicht aber, daß er zu Hause bleiben müßte, obwohl doch ein kleines Kind frische Luft braucht.« So redete er mit besonderer Herauskehrung der Logik, wie wenn er für all die geheime, unlogische Geistestätigkeit, die in ihm vorging, einen andern bestrafen wollte.

Prinzessin Marja dachte in solchen Fällen erstaunt, was für ein trockenes Wesen doch die Männer infolge der geistigen Arbeit bekommen.

IV


Fürst Andrei kam im August 1809 in Petersburg an. Es war die Zeit, wo der Ruhm des jungen Speranski auf seiner höchsten Höhe stand, und wo an den von ihm betriebenen Reformen mit dem größten Eifer gearbeitet wurde. Gerade in diesem Monat war der Kaiser bei einer Wagenfahrt aus dem Wagen gefallen, hatte sich den Fuß beschädigt und blieb nun drei Wochen lang in Peterhof, wo er täglich und ausschließlich mit Speranski konferierte. In dieser Zeit wurden nicht nur zwei sehr bedeutsame und in der höheren Gesellschaft Aufregung hervorrufende Ukase über die Aufhebung von Privilegien der Hofchargen und über die Examina für die Ämter der Kollegienassessoren und Staatsräte fertiggestellt, sondern auch eine vollständige Reichsverfassung, durch welche das ganze bestehende Regierungssystem auf gerichtlichem, administrativem und finanziellem Gebiet vom Reichsrat bis zur Dorfgemeinde eine durchgreifende Veränderung erfahren sollte. Jetzt begannen sich jene unklaren liberalen Ideen zu verwirklichen, mit denen Kaiser Alexander den Thron bestiegen hatte, und die er früher mit Hilfe seiner Mitarbeiter Ezartoryski, Rowosilzew, Kotschubei und Stroganow, die er selbst im Scherz seinen Wohlfahrtsausschuß zu nennen pflegte, durchzuführen bemüht gewesen war.

Jetzt waren sie alle zusammen durch zwei Männer ersetzt worden: durch Speranski in Zivilangelegenheiten und durch Araktschejew in Militärangelegenheiten.

Fürst Andrei war bald nach seiner Ankunft in seiner Eigenschaft als Kammerherr bei Hof und zur Cour erschienen. Aber der Kaiser, dem er dabei zweimal vor Augen gekommen war, hatte ihn keines Wortes gewürdigt. Fürst Andrei hatte schon früher immer den Eindruck gehabt, daß er dem Kaiser unsympathisch sei, daß dem Kaiser sein Gesicht und sein ganzes Wesen nicht zusage. In dem kalten, abweisenden Blick, mit dem ihn der Kaiser jetzt angesehen hatte, fand Fürst Andrei eine neue Bestätigung dieser Vermutung. Die Hofleute dagegen erklärten dem Fürsten Andrei gegenüber diese Nichtbeachtung seitens des Kaisers damit, daß Seine Majestät es übel vermerkt habe, daß Bolkonski seit dem Jahr 1805 nicht mehr im Dienst sei.

»Ich weiß selbst nur zu gut, wie machtlos wir unsern Sympathien und Antipathien gegenüberstehen«, dachte Fürst Andrei, »und daher ist gar nicht daran zu denken, daß ich meine Denkschrift über die militärischen Reglements dem Kaiser persönlich überreichen könnte. Aber die Sache wird für sich selbst sprechen.«

Er machte einem alten Feldmarschall, einem Freund seines Vaters, brieflich von seiner Denkschrift Mitteilung. Der Feldmarschall gab ihm eine Stunde an, empfing ihn freundlich und versprach, dem Kaiser darüber zu berichten. Einige Tage darauf erhielt Fürst Andrei die Weisung, sich beim Kriegsminister, dem Grafen Araktschejew, einzufinden.


An dem festgesetzten Tag um neun Uhr morgens stellte sich Fürst Andrei im Wartezimmer des Grafen Araktschejew ein.

Persönlich kannte Fürst Andrei den Grafen Araktschejew nicht; er hatte ihn nie gesehen; aber alles, was er von ihm wußte, flößte ihm wenig Achtung vor diesem Mann ein.

»Er ist Kriegsminister«, dachte aber Fürst Andrei, »der Vertrauensmann des Kaisers; um seine persönliche Eigenschaften hat sich niemand zu kümmern. Er hat den Auftrag, meine Denkschrift zu prüfen; folglich ist er der einzige Mensch, der meinen Ideen freie Bahn schaffen kann.« Mit solchen Gedanken wartete Fürst Andrei in dem Wartezimmer des Grafen Araktschejew unter vielen anderen Leuten hohen und niederen Ranges.

Fürst Andrei hatte während seiner Dienstzeit, namentlich in seiner Stellung als Adjutant, viele Wartezimmer hoher Persönlichkeiten zu sehen bekommen und kannte den verschiedenen Charakter dieser Wartezimmer recht genau. Aber das Wartezimmer des Grafen Araktschejew repräsentierte einen ganz besonderen Typus. Auf den Gesichtern der geringeren Personen, die hier darauf warteten, daß sie an die Reihe kämen, Audienz zu erhalten, prägte sich eine gewisse Ängstlichkeit und Unterwürfigkeit aus; bei den höhergestellten Personen kam durchweg ein gemeinsames Gefühl der Unbehaglichkeit zum Ausdruck, das sich unter der Maske der Ungeniertheit und des Spottes über sich selbst, über die eigene Situation und über die Persönlichkeit, bei der man auf die Audienz wartete, zu verbergen suchte. Manche gingen, mit ihren Gedanken beschäftigt, hin und her; andere flüsterten und lachten miteinander, und Fürst Andrei hörte den Spitznamen Sila Andrejewitsch1 und die Worte: »Der Onkel wird Ihnen gehörig den Kopf waschen«, die sich auf den Grafen Araktschejew bezogen. Ein General von sehr hohem Rang fühlte sich offenbar dadurch beleidigt, daß er so lange warten mußte; er saß, verächtlich vor sich hinlächelnd, da und legte die Beine bald so, bald so übereinander.

Aber sobald sich die Tür öffnete, zeigte sich auf allen Gesichtern ein und derselbe Ausdruck: der der Furcht. Fürst Andrei bat den diensttuenden Adjutanten schon zum zweitenmal, ihn doch zu melden; aber die Anwesenden blickten ihn spöttisch an, und es wurde ihm gesagt, daß es streng nach der Reihe gehe und er warten müsse, bis er drankomme. Nachdem mehrere andere Personen durch den Adjutanten in das Zimmer des Ministers hineingeführt und wieder herausgeleitet waren, wurde in die schreckliche Tür ein Offizier hineingelassen, der dem Fürsten Andrei durch seine niedergeschlagene, ängstliche Miene auffiel. Die Audienz dieses Offiziers dauerte ziemlich lange. Auf einmal hörte man durch die Tür hindurch das grollende Schelten einer unangenehm klingenden Stimme; der Offizier kam mit blassem Gesicht und zitternden Lippen wieder heraus und ging, sich an den Kopf greifend, durch das Wartezimmer hindurch.

Gleich darauf wurde Fürst Andrei zu der Tür geleitet, und der diensttuende Adjutant flüsterte ihm zu: »Nach rechts, zum Fenster!«

Fürst Andrei trat in das einfach ausgestattete, saubere Arbeitszimmer und erblickte am Tisch einen Mann von etwa vierzig Jahren, mit langer Taille, langem, kurzgeschorenem Kopf, mit dicken Falten auf der Stirn und zusammengezogenen Brauen über braungrünen, stumpfblickenden Augen, und mit einer hängenden roten Nase. Araktschejew wandte den Kopf zu ihm hin, ohne ihn anzusehen.

»Um was bitten Sie?« fragte der Minister.

»Ich bitte um nichts, Euer Erlaucht«, antwortete Fürst Andrei ruhig.

Jetzt richteten sich Araktschejews Augen nach ihm hin.

»Setzen Sie sich«, sagte er. »Fürst Bolkonski?«

»Ich bitte um nichts; aber Seine Majestät der Kaiser haben geruht, Euer Erlaucht eine von mir eingereichte Denkschrift zuzustellen …«

»Ja, sehen Sie, mein Bester, Ihre Denkschrift habe ich gelesen«, unterbrach ihn Araktschejew; er hatte nur die ersten Worte freundlich gesagt, blickte dem Fürsten Andrei nicht mehr ins Gesicht und geriet immer mehr und mehr in einen mürrischen, geringschätzigen Ton hinein. »Sie schlagen neue Militärreglements vor? Reglements haben wir genug, so viele, daß niemand auch nur die alten alle befolgen kann. Heutzutage schreiben alle Leute Reglements; schreiben ist leichter als handeln.«

»Ich bin gemäß der Weisung Seiner Majestät hergekommen, um mich bei Euer Erlaucht zu erkundigen, welche weitere Folge Sie der von mir eingereichten Denkschrift zu geben beabsichtigen«, sagte Fürst Andrei höflich.

»Ich habe ein Urteil über Ihre Denkschrift abgefaßt und diese dem Komitee übersandt. Ich stimme Ihnen nicht bei«, sagte Araktschejew, stand auf und nahm ein Papier vom Schreibtisch. »Hier!« Er reichte das Blatt dem Fürsten Andrei.

Auf dem Blatt war querüber, mit Bleistift, ohne einen großen Anfangsbuchstaben, unorthographisch und ohne Interpunktionszeichen folgendes geschrieben: »Eine ungründliche Arbeit, weil lediglich Nachahmung, abgeschrieben aus dem französischen Militärreglement und von den bestehenden Bestimmungen ohne Not abweichend.«

»Welchem Komitee ist denn die Denkschrift übergeben?« fragte Fürst Andrei.

»Dem Komitee für Militärgesetzgebung, und es ist von mir beantragt worden, Euer Wohlgeboren als Mitglied zu aggregieren. Aber ohne Gehalt.«

Fürst Andrei lächelte.

»Gehalt wünsche ich auch nicht.«

»Als Mitglied ohne Gehalt«, sagte Araktschejew noch einmal. »Ich habe die Ehre … He! Ruf den nächsten! Wer ist noch da?« rief er und machte dem Fürsten Andrei eine Verbeugung.

Fußnoten


1 Graf Rastoptschin veröffentlichte im Jahre 1807 eine Broschüre: »Ein Selbstgespräch auf der Roten Treppe«. In ihr wird als redend der Oberstleutnant a.D. Sila Andrejewitsch Bogatyrjow eingeführt, welcher über die Vorliebe der Russen für französisches Wesen klagt.

Anmerkung des Übersetzers.


V

Während Fürst Andrei eine Benachrichtigung darüber erwartete, daß er dem Komitee als Mitglied aggregiert sei, erneuerte er alte Bekanntschaften, namentlich mit solchen Persönlichkeiten, von denen er wußte, daß sie Einfluß besaßen und ihm nützlich sein konnten. Es erfüllte ihn jetzt in Petersburg ein ähnliches Gefühl wie damals am Tag vor der Schlacht, als ihn eine unruhige Neugier gequält und ihn unwiderstehlich zu jenen höheren Regionen hingezogen hatte, wo die Zukunft vorbereitet wurde, von der das Schicksal von Millionen Menschen abhing. An dem erbitterten Ingrimm der Partei der Älteren, an der Neugier der Uneingeweihten, an der Zurückhaltung der Wissenden, an dem hastigen Treiben und unruhigen Wesen aller, an der zahllosen Menge von Komitees und Kommissionen (täglich hörte er von der Existenz neuer, ihm bisher unbekannter), an alledem merkte er, daß jetzt, im Jahre 1809, hier in Petersburg gewissermaßen eine gewaltige soziale Schlacht vorbereitet wurde, deren Oberkommandierender eine ihm unbekannte, geheimnisvolle, aber genial erscheinende Persönlichkeit war: Speranski.

Sowohl das Reformwerk selbst, das ihm nur in undeutlichen Umrissen bekannt war, als auch die eigentliche Triebfeder desselben, Speranski, begannen ihn so leidenschaftlich zu interessieren, daß die Angelegenheit des Militärreglements bei ihm sehr bald an die zweite Stelle zurücktreten mußte.

Fürst Andrei befand sich in einer außerordentlich günstigen Lage, durch die ihm eine gute Aufnahme in all den so verschiedenartigen Kreisen der damaligen Petersburger Gesellschaft, auch in den höchsten, gesichert wurde. Die Partei der Reformer empfing ihn freudig und suchte ihn für sich zu gewinnen, erstens, weil er in dem Ruf stand, einen guten Verstand und eine große Belesenheit zu besitzen, und zweitens, weil er durch seine Bauernbefreiung sich bereits die Reputation eines Liberalen erworben hatte. Die Partei der unzufriedenen Alten wandte sich an ihn, einfach weil er der Sohn seines Vaters war, und rechnete aus diesem Grund auf seine Zustimmung bei dem Verdammungsurteil über die Reformen. Die weibliche Gesellschaft, die »Welt«, nahm ihn mit Freuden auf, weil er ein reicher, vornehmer Heiratskandidat war und als eine beinahe neue Persönlichkeit, geschmückt mit dem Nimbus, den ihm die romanhafte Geschichte von seinem vermeintlichen Tod und dem tragischen Ende seiner Frau verlieh, in diesen Kreis trat. Außerdem war bei allen, die ihn früher gekannt hatten, nur eine Stimme darüber, daß er sich in diesen fünf Jahren sehr zu seinem Vorteil verändert habe, milder und männlicher geworden sei, nicht mehr das frühere gekünstelte, hochmütige, spöttische Wesen zeige, sondern jene Ruhe gewonnen habe, die dem Menschen die Jahre verleihen. Man fing an, von ihm zu sprechen, man interessierte sich für ihn, und alle wünschten mit ihm umzugehen.

Am Tag nach dem Besuch bei dem Grafen Araktschejew war Fürst Andrei auf einer Abendgesellschaft bei dem Grafen Kotschubei. Er erzählte dem Grafen seine Unterredung mit »Sila Andrejewitsch« (auch Kotschubei nannte den Grafen Araktschejew so mit einer Nuance von Spott über dessen Richtung; dieselbe Nuance hatte Fürst Andrei schon in dem Wartezimmer des Kriegsministers herausgefühlt).

»Mein Lieber«, sagte Kotschubei, »auch in dieser Angelegenheit dürfen Sie Michail Michailowitsch Speranski nicht übergehen. Er ist der große Mann, der alles macht. Ich werde es ihm sagen. Er hat mir versprochen, heute abend herzukommen.«

»Was hat denn Speranski mit dem Militärreglement zu schaffen?« fragte Fürst Andrei.

Kotschubei wiegte lächelnd den Kopf hin und her, wie wenn er sich über Bolkonskis Naivität wunderte.

»Ich habe kürzlich mit ihm über Sie gesprochen«, fuhr Kotschubei fort, »über Ihre freien Bauern …«

»Ja, was haben Sie denn da gemacht, Fürst? Sie haben Ihre Bauern freigelassen?« sagte ein alter, aus der Zeit der Kaiserin Katharina stammender Herr, der sich mit einer Miene geringschätzigen Tadels zu Bolkonski wandte.

»Es handelte sich nur um ein kleines Gut, das nichts einbrachte«, antwortete Bolkonski, der, um den alten Mann nicht unnötig zu ärgern, sich bemühte, ihm gegenüber die Bedeutung seiner Handlungsweise abzuschwächen.

»Sie fürchten wohl, hinter dem Fürsten Bolkonski zurückzubleiben?« sagte der Alte, indem er Kotschubei anblickte.

»Ich begreife nur eines nicht«, fuhr er fort: »Wer wird denn das Land pflügen, wenn man sie freiläßt? Gesetze schreiben ist leicht; aber regieren ist schwer. Das sieht man auch jetzt bei dieser neuen Verordnung: ich frage Sie, Graf, wer wird denn noch Chef einer Gerichts- oder Verwaltungsbehörde werden, wenn alle erst ein Examen machen müssen?«

»Diejenigen, die das Examen bestehen, möchte ich meinen«, antwortete Kotschubei, schlug ein Bein über das andere und sah sich um.

»Da habe ich in meinem Departement einen Beamten, namens Prjanitschnikow; ein prächtiger Mensch, nicht mit Gold zu bezahlen; aber er ist sechzig Jahre alt; wird der noch Examina machen?«

»Ja, Schwierigkeiten hat die Sache, weil eben die Bildung noch sehr wenig Verbreitung gefunden hat; aber …«

Graf Kotschubei sprach seinen Satz nicht zu Ende; er erhob sich, faßte den Fürsten Andrei unter den Arm und ging mit ihm einem soeben eintretenden Herrn entgegen. Es war ein hochgewachsener, kahlköpfiger, blonder Mann von etwa vierzig Jahren, mit großer, offener Stirn und ganz ungewöhnlich blasser Farbe des länglichen Gesichts; er trug einen blauen Frack, einen Orden um den Hals und einen andern auf der linken Brustseite. Dies war Speranski. Fürst Andrei erkannte ihn sofort und fühlte in seinem Innern ein Zucken und Zittern, wie das in wichtigen Augenblicken des Lebens häufig vorkommt. Ob es nun Hochachtung war, oder Neid, oder gespannte Erwartung, er wußte es nicht. Die ganze Erscheinung Speranskis hatte etwas Besonderes an sich, woran man ihn sogleich erkennen konnte. Bei niemandem in den Gesellschaftskreisen, in denen Fürst Andrei lebte, hatte er so ruhige, selbstbewußte und dabei doch unbeholfene, anmutlose Bewegungen gesehen; bei niemandem einen so festen und zugleich weichen Blick der halbgeschlossenen und etwas feuchten Augen, ein so konsequent festgehaltenes, bedeutungsloses Lächeln, eine so feine, gleichmäßige, leise Stimme, und vor allem bei niemandem eine so zarte, weiße Farbe des Gesichts und namentlich auch der etwas breiten, ungewöhnlich fleischigen, zarten Hände. Eine solche Blässe und Zartheit des Gesichts hatte Fürst Andrei nur bei Soldaten gesehen, die lange im Hospital gewesen waren. Das also war Speranski, der Staatssekretär und vortragende Rat des Kaisers, den er auch nach Erfurt begleitet hatte, wo er mehrmals mit Napoleon zusammengetroffen war und mit ihm gesprochen hatte.

Speranski ließ seine Augen nicht von einem zum andern laufen, wie man das beim Eintritt in eine große Gesellschaft oft unwillkürlich tut, und beeilte sich nicht, zu reden. Er sprach leise, offenbar in der sicheren Überzeugung, daß man ihm zuhören werde, und blickte nur denjenigen an, mit dem er sprach.

Fürst Andrei achtete mit besonderer Aufmerksamkeit auf jedes Wort und jede Bewegung Speranskis. Wie es vielen Menschen geht, und namentlich solchen, die über ihre Mitmenschen streng zu urteilen pflegen, gab Fürst Andrei, wenn er einer neuen Persönlichkeit begegnete, und nun gar einem Mann wie Speranski, dessen bedeutenden Ruf er kannte, sich immer der Erwartung hin, in dem Betreffenden den Inbegriff menschlicher Vollkommenheit zu finden.

Speranski äußerte gegen Kotschubei sein Bedauern, daß er nicht habe früher kommen können, da er im Palais noch aufgehalten worden sei. Er sagte nicht, daß es der Kaiser gewesen war, der ihn aufgehalten hatte. Auch diese erkünstelte Bescheidenheit entging dem Fürsten Andrei nicht. Als Kotschubei ihm den Fürsten Andrei vorstellte, ließ Speranski langsam seine Augen zu diesem hinübergleiten und betrachtete ihn schweigend mit demselben Lächeln.

»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen; ich habe von Ihnen gehört; und wer hätte von Ihnen nicht gehört?« sagte er.

Kotschubei sagte einige Worte über den Empfang, den Bolkonski bei Araktschejew gefunden hatte. Speranski lächelte noch mehr als vorher.

»Herr Magnizki, der Direktor des Komitees für Militärgesetzgebung, ist ein guter Freund von mir«, sagte er, indem er jede Silbe und jedes Wort deutlich aussprach, »und wenn Sie es wünschen, kann ich Sie mit ihm bekanntmachen.« (Er machte eine kleine Pause, als ob er zum Schluß dieses Satzes einen Punkt setzte.) »Ich hoffe, Sie werden an ihm einen Mann finden, der sich für alles Vernünftige interessiert und bereit ist, dabei mitzuwirken.«

Um Speranski bildete sich sogleich eine Gruppe; auch der alte Herr, der von seinem Beamten Prjanitschnikow gesprochen hatte, wendete sich mit einer Frage an Speranski.

Fürst Andrei beteiligte sich nicht an dem Gespräch, sondern beobachtete nur alle Bewegungen Speranskis, dieses Mannes, der vor nicht allzu langer Zeit ein unbedeutender Schüler der geistlichen Akademie gewesen war und jetzt in seinen Händen, diesen weißen, fleischigen Händen, das Schicksal Rußlands hielt. Dem Fürsten Andrei imponierte die außerordentliche, geringschätzige Ruhe, mit welcher Speranski dem alten Herrn antwortete. Es machte den Eindruck, als ob er von einer unermeßlichen Höhe herab ein paar leutselige Worte an ihn richtete. Als der alte Herr zu laut zu sprechen begann, bemerkte Speranski lächelnd, jener habe wohl kein zuverlässiges Urteil darüber, ob das, was der Kaiser anordne, nützlich sei oder nicht.

Nachdem Speranski eine Zeitlang in dem allgemeinen Kreis sich an dem Gespräch beteiligt hatte, stand er auf, trat zum Fürsten Andrei und ging mit ihm nach dem andern Ende des Zimmers. Augenscheinlich hielt er es für angemessen, sich mit Bolkonski ganz besonders abzugeben.

»Infolge des lebhaften Gesprächs, in das ich durch diesen ehrenwerten alten Herrn hineingeriet, bin ich noch gar nicht dazu gekommen, Fürst, mit Ihnen zu reden«, sagte er mit einem milden, geringschätzigen Lächeln; durch dieses Lächeln konstatierte er gleichsam, daß er und Fürst Andrei über die Wertlosigkeit jener Leute, mit denen er soeben gesprochen hatte, einer Meinung seien; dieses Benehmen hatte für den Fürsten Andrei etwas Schmeichelhaftes. »Ich kenne Sie schon lange: erstens infolge Ihres Verfahrens mit Ihren Bauern; das ist bei uns das erste Beispiel, und es wäre höchst erwünscht, wenn es recht viele Nachahmer fände; und zweitens, weil Sie einer der wenigen Kammerherren sind, die sich durch den neuen Ukas über die Privilegien der Hofchargen, der so viel böses Blut gemacht hat, nicht beleidigt gefühlt haben.«

»Ja«, erwiderte Fürst Andrei, »mein Vater wollte nicht, daß ich von diesen Privilegien Vorteil zöge; ich habe meine militärische Laufbahn auf den untersten Stufen begonnen.«

»Ihr Herr Vater, ein Mann der alten Zeit, steht augenscheinlich hoch über der heutigen Generation, die über diese Maßnahme ein Verdammungsurteil fällt, obwohl dadurch doch lediglich die natürliche Gerechtigkeit wiederhergestellt wird.«

»Ich möchte indessen doch meinen, daß auch diese ungünstige Beurteilung nicht ohne eine gewisse Begründung ist«, sagte Fürst Andrei, der gegen die ihm fühlbar werdende Wirkung anzukämpfen suchte, die Speranski auf ihn ausübte.

Es war ihm unangenehm, in allen Punkten mit ihm derselben Meinung zu sein: er wollte auch einmal widersprechen. Aber während er sonst gewöhnlich leicht und gut sprach, wurde es ihm jetzt im Gespräch mit Speranski schwer, die richtigen Ausdrücke zu finden. Er war zu sehr damit beschäftigt, die Persönlichkeit des berühmten Mannes zu studieren.

»Eine Begründung aus dem Interesse des persönlichen Ehrgeizes, mag sein«, schaltete Speranski leise und ruhig ein.

»Zum Teil doch auch aus dem Staatsinteresse«, entgegnete Fürst Andrei.

»Wie meinen Sie das?« fragte Speranski und schlug langsam die Augen nieder.

»Ich bin ein Verehrer Montesquieus«, sagte Fürst Andrei, »und sein Satz, daß die Grundlage der Monarchien das Ehrgefühl ist, scheint mir unbestreitbar. Und da scheinen mir gewisse Rechte und Privilegien des Adels geeignete Mittel zu sein, um dieses Gefühl lebendig zu erhalten.« Bei dem Zitat von Montesquieu war er unwillkürlich dazu übergegangen, französisch zu sprechen.

Das Lächeln verschwand auf Speranskis weißem Gesicht, wodurch seine Physiognomie noch bedeutend gewann. Der Gedanke, den Fürst Andrei geäußert hatte, interessierte ihn offenbar.

»Wenn Sie die Sache von diesem Gesichtspunkt aus ansehen«, begann er ebenfalls auf französisch; es wurde ihm offenbar schwer, sich dieser Sprache zu bedienen, und er sprach noch langsamer als vorher, wo sie russisch gesprochen hatten, aber auch jetzt mit vollkommener Ruhe.

Er äußerte sich dahin, das Ehrgefühl könne nicht durch Privilegien lebendig erhalten werden, die dem Interesse des Staatsdienstes zuwiderliefen. Das Ehrgefühl sei entweder ein negativer Begriff, so daß es in der Unterlassung tadelnswerter Handlungen bestehe, oder es sei eine Quelle des Wetteifers, so daß es darauf abziele, Anerkennung und Belohnungen, die äußerlichen Kennzeichen der Ehre, zu erlangen.

»Eine solche Institution«, schloß er, »durch welche dieses Ehrgefühl, die Quelle des Wetteifers, lebendig erhalten wird, ist zum Beispiel die Ehrenlegion des großen Kaisers Napoleon, die den Interessen des Dienstes nicht schädlich, sondern förderlich ist, keineswegs aber Privilegien eines Standes oder der Hofchargen.«

»Das erstere bestreite ich nicht; aber es läßt sich nicht leugnen, daß durch die Privilegien der Hofchargen dasselbe Ziel erreicht worden ist«, sagte Fürst Andrei. »Jeder Hofmann hält sich für verpflichtet, die Stellung, die er vermöge seiner Privilegien erhält, würdig auszufüllen.«

»Und doch haben Sie selbst, Fürst, von diesen Privilegien keinen Gebrauch machen können«, erwiderte Speranski und zeigte durch sein Lächeln, daß er den für seinen Gegner ungünstig stehenden Streit durch eine Liebenswürdigkeit abzubrechen wünschte. »Wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, mich am Mittwoch zu besuchen«, fügte er hinzu, »so werde ich nach vorgängiger Rücksprache mit Magnizki Ihnen alles mitteilen, was Sie interessieren kann, und werde außerdem das Vergnügen haben, mich ausführlicher mit Ihnen zu unterhalten.«

Dann schloß er für einen Moment die Augen, verbeugte sich und verließ auf französische Manier, ohne Abschied zu nehmen, möglichst unauffällig den Saal.

VI


In der ersten Zeit seines Aufenthalts in Petersburg fühlte Fürst Andrei, daß der ganze wohlgeordnete Gedankenschatz, den er sich während seines einsamen Lebens mit vieler Mühe zurechtgemacht hatte, durch die kleinlichen Sorgen, die ihn in Petersburg in Anspruch nahmen, völlig in Verwirrung gebracht wurde.

Wenn er am Abend nach Hause kam, so trug er in sein Notizbuch vier oder fünf notwendige Besuche oder Zusammenkünfte ein, bei denen er zu festgesetzten Stunden zu erscheinen hatte. Die durch das Leben erforderte mechanische Tätigkeit, wobei der ganze Tag kunstvoll so eingeteilt wurde, daß überall ein rechtzeitiges Erscheinen möglich war, absorbierte einen großen Teil der eigentlichen Lebensenergie. Er tat nichts, er dachte nicht einmal an etwas und hatte auch gar keine Zeit zum Denken; er konnte nur, was er vorher auf dem Land durchdacht hatte, vortragen, und das tat er allerdings mit gutem Erfolg.

Er wurde sich mitunter zu seinem Mißvergnügen bewußt, daß es ihm begegnet war, an einem und demselben Tag in verschiedenen Gesellschaften ganz dasselbe zu wiederholen. Aber oft war er ganze Tage lang so beschäftigt, daß er keine Zeit hatte, daran zu denken, daß er nichts dachte.

Wie Speranski auf den Fürsten Andrei bei dem ersten Zusammensein in Kotschubeis Haus einen starken Eindruck gemacht hatte, so auch bald darauf am Mittwoch, als Speranski in seiner eigenen Wohnung den Fürsten Andrei allein empfing und lange und vertraulich mit ihm redete.

Fürst Andrei hielt eine so gewaltige Anzahl von Menschen für verächtliche, geringwertige Geschöpfe und trug ein solches Verlangen, in einem andern die lebendige Verkörperung jener Vollkommenheit zu finden, nach der er selbst strebte, daß sich leicht bei ihm die Überzeugung herausbildete, er habe in Speranski dieses Ideal eines vollkommen klugen, sittlich guten Menschen gefunden. Hätte Speranski durch seine Geburt derselben gesellschaftlichen Sphäre angehört wie Fürst Andrei selbst, wäre er ebenso erzogen worden und hätte er in seinem geistigen Leben dieselben Gewohnheiten gehabt, so würde Fürst Andrei bald seine schwachen, menschlichen, nicht heldenhaften Seiten herausgefunden haben; so aber flößte diese ihm fremde logische Denkweise ihm um so größere Hochachtung ein, als er für sie kein völliges Verständnis hatte. Außerdem kokettierte Speranski (ob nun, weil er die Fähigkeiten des Fürsten Andrei schätzte, oder weil er für nötig hielt, ihn für sich zu gewinnen) vor dem Fürsten Andrei mit seinem unparteiischen, ruhig abwägenden Verstand und brachte dem Fürsten Andrei gegenüber jene feine Art der Schmeichelei zur Anwendung, die mit Selbstbewußtsein verbunden ist und darin besteht, stillschweigend anzuerkennen, daß der andere, neben einem selbst, der einzige Mensch sei, der die Fähigkeit besitze, die ganze Dummheit aller übrigen Menschen und die Verständigkeit und Tiefe der Gedanken, die man selbst ausspricht, zu begreifen.

Im Laufe ihrer langen Unterredung am Mittwoch abend gebrauchte Speranski wiederholt Wendungen von folgender Art: »Wenn wir etwas sagen oder tun, was sich über das allgemeine Niveau eingewurzelter Gewohnheiten erhebt, so wird das mißgünstig angesehen«, oder mit einem Lächeln: »Aber wir möchten, daß sowohl die Wölfe satt werden als auch die Schafe heil bleiben«, oder: »Das können die Leute nicht begreifen«, und immer mit demselben Ausdruck, welcher besagte: »Wir, das sind Sie und ich; wir beide wissen, was an den andern dran ist, und wer wir sind.«

Dieses erste lange Gespräch mit Speranski verstärkte lediglich beim Fürsten Andrei die Empfindung, die er schon bei der ersten Begegnung mit ihm gehabt hatte. Er sah in ihm einen klugen Mann, von ernster Gesinnung und gewaltigem Verstand, der durch Energie und Beharrlichkeit zur Macht gelangt war und diese Macht nun ausschließlich zum Wohl Rußlands benutzte. Speranski war in den Augen des Fürsten Andrei genau der Mann, der er, Andrei, selbst so lebhaft zu sein wünschte: ein Mann, der alle Erscheinungen des Lebens mit dem Verstand zu erklären imstande war, nur das, was verständig war, gelten ließ und an alles den Maßstab des Verstandes anzulegen wußte. In Speranskis Darlegungen erschien alles so einfach und so klar, daß Fürst Andrei ihm unwillkürlich in allen Stücken beistimmte. Wenn er widersprach und disputierte, so tat er das nur, weil er absichtlich selbständig zu bleiben und sich den Ansichten Speranskis nicht vollständig unterzuordnen wünschte. Alles war an Speranski, wie es sein sollte; alles war gut und schön; nur eines störte den Fürsten Andrei: das war Speranskis kalter, spiegelartiger Blick, der kein Eindringen in die Seele gestattete, und seine weiße, zarte Hand, die Fürst Andrei oft unwillkürlich betrachtete, so wie man es gewöhnlich mit den Händen von Machthabern tut. Der spiegelnde Blick und diese zarte Hand hatten eigentümlicherweise die Wirkung, den Fürsten Andrei nervös zu machen. Unangenehm fiel dem Fürsten Andrei auch noch die übermäßige Geringschätzung der anderen Menschen auf, die er bei Speranski wahrnahm, und ferner dessen bunt wechselndes Verfahren bei den Beweisen, die er zur Unterstützung seiner Ansichten vorbrachte. Er gebrauchte, mit Ausnahme von Bildern und Vergleichen, alle möglichen Waffen aus der Rüstkammer des Geistes und ging allzu kühn, wie es dem Fürsten Andrei vorkam, von einer Waffe zur andern über. Bald stellte er sich auf den Boden des praktischen Handelns und brach den Stab über die theoretischen Träumer; bald ergriff er die Geißel des Satirikers und verspottete seine Gegner mit beißender Ironie; bald stellte er sich als strengen Logiker dar; bald schwang er sich in das Reich der Metaphysik hinauf. (Dieser letzten Kampfart bediente er sich bei der Beweisführung besonders oft.) Er spielte dann die Streitfrage in die hohen metaphysischen Regionen hinüber, ließ sich auf die Definitionen des Raumes, der Zeit und des Denkens ein und stieg, nachdem er sich dort mit Widerlegungsgründen versehen hatte, wieder auf den eigentlichen Boden der Debatte herab.

Aber ein Zug in Speranskis Geist imponierte dem Fürsten Andrei ganz besonders: das war dessen zweifelsfreier, unerschütterlicher Glaube an die unbedingte Macht und gesetzmäßige Oberherrschaft des Verstandes. Offenbar konnte in Speranskis Kopf niemals der dem Fürsten Andrei ganz geläufige Gedanke Eingang finden, daß man denn doch nicht alles, was man denkt, auszudrücken vermöge, und niemals wurde bei ihm ein Zweifel rege: »Ist nicht vielleicht alles, was ich denke, und alles, was ich glaube, dummes Zeug?« Und gerade diese Denkweise Speranskis übte auf den Fürsten Andrei die größte Anziehungskraft aus.

Während der ersten Zeit seiner Bekanntschaft mit Speranski hegte Fürst Andrei für ihn ein enthusiastisches Gefühl der Bewunderung, ähnlich dem, das er früher für Bonaparte empfunden hatte. Der Umstand, daß Speranski der Sohn eines Geistlichen war und viele dumme Leute meinten, ihn als linkischen Popensohn und beschränkten Zögling einer geistlichen Anstalt geringschätzen zu dürfen, dieser Umstand veranlaßte den Fürsten Andrei, ihn besonders schonend zu beurteilen, und so wurde die Empfindung, die er ihm gegenüber hatte, unbewußt noch verstärkt.

An jenem ersten Abend, den Bolkonski in Speranskis Haus verlebte, erzählte Speranski, als von der Kommission für Gesetzgebung die Rede war, dem Fürsten Andrei mit bitterer Ironie, diese Kommission bestehe schon hundertfünfzig Jahre lang, habe bereits Millionen gekostet und nichts geleistet, als daß Rosenkampf alle Kapitel einer vergleichenden Zusammenstellung von Gesetzen mit Etiketten beklebt habe. »Das ist die ganze Leistung, für die das Reich Millionen gezahlt hat!« sagte er.

»Wir möchten«, fuhr er dann fort, »gern dem Senat eine neue richterliche Gewalt geben; aber wir haben keine Gesetze. Deshalb ist es für Männer wie Sie, Fürst, jetzt geradezu eine Sünde, sich vom Staatsdienst fernzuhalten.«

Fürst Andrei erwiderte, daß hierzu eine juristische Bildung erforderlich sei, die er nicht besitze.

»Aber die besitzt ja niemand; also haben Sie keinen Grund. Nein, das ist ein Circulus vitiosus, aus dem man mit Gewalt herauskommen muß.«


Eine Woche darauf war Fürst Andrei Mitglied des Komitees zur Abfassung des Militärreglements und, was er in keiner Weise erwartet hatte, Abteilungsvorsteher in der Kommission zur Herstellung eines Gesetzbuches. Auf Speranskis Bitte übernahm er den ersten Teil des in der Ausarbeitung begriffenen Bürgerlichen Gesetzbuches und arbeitete mit Hilfe des »Code Napoléon« und des Justinianischen »Corpus juris« an der Fertigstellung des Abschnittes: Das Personenrecht.

VII


Vor ungefähr zwei Jahren, im Jahre 1808, war Pierre, nachdem er von der Reise zur Revision seiner Güter wieder nach Petersburg zurückgekehrt war, ohne es zu wollen, in den Vorstand der Petersburger Freimaurerei gewählt worden. In dieser Eigenschaft veranstaltete er Tafellogen und Trauerlogen, warb neue Mitglieder und bemühte sich, eine Vereinigung verschiedener Logen zustande zu bringen und Originalurkunden zu erwerben. Er gab aus eigener Tasche Geld zur Ausstattung der Logenräume und erhöhte, soweit er konnte, den Betrag der Almosensammlungen, bei denen die Mehrzahl der Mitglieder sich geizig und säumig zeigte. Das Armenhaus, das der Orden in Petersburg errichtet hatte, erhielt er fast ganz allein aus seinen Mitteln.

Sein Leben verlief dabei in derselben Weise wie früher: unter denselben Genüssen und Ausschweifungen. Er liebte es, gut zu dinieren und stark zu trinken, und obgleich er es für unmoralisch und unwürdig hielt, war er nicht imstande, sich von den Vergnügungen der Junggesellen fernzuhalten, in deren Gesellschaft er lebte.

Trotz der Benommenheit, in die diese Beschäftigungen und diese Genüsse ihn versetzten, begann Pierre dennoch nach Verlauf eines Jahres zu fühlen, daß der Boden der Freimaurerei, auf dem er stand, um so mehr unter seinen Füßen wich, je fester er auf ihm zu fußen bemüht war. Und gleichzeitig fühlte er, daß, je tiefer der Boden unter seinen Füßen wich, es um so weniger von seinem Willen abhing, von diesem Boden loszukommen. Mit seinem Eintritt in die Freimaurerei war es ihm gegangen wie jemandem, der vertrauensvoll einen Fuß auf die ebene Oberfläche eines Sumpfes setzt. Er war mit dem Fuß, den er daraufgesetzt hatte, eingesunken. In dem Wunsch, sich völlig davon zu überzeugen, daß der Boden doch fest sei, hatte er auch den anderen Fuß daraufgesetzt, war mit diesem noch tiefer hineingefahren und watete nun, ohne sich heraushelfen zu können, bis an die Knie im Sumpf.

Osip Alexejewitsch war nicht in Petersburg. (Er hatte sich in der letzten Zeit von den Angelegenheiten der Petersburger Logen zurückgezogen und lebte jetzt ständig in Moskau.) Alle Logenbrüder waren Männer, die Pierre im gewöhnlichen Leben kannte, und es wurde ihm schwer, in ihnen nur Freimaurerbrüder und nicht den Fürsten B. und Iwan Wasiljewitsch D. und andere zu sehen, die er im gewöhnlichen Leben großenteils als schwache, geringwertige Menschen kannte. Unter den freimaurerischen Schürzen und Abzeichen glaubte er bei diesen Leuten ihre Uniformen zu erblicken und die Orden, die im äußeren Leben das Ziel ihres eifrigen Strebens bildeten. Oft, wenn er Almosen sammelte und von zehn Mitgliedern, von denen die Hälfte ebenso reich war wie er, im ganzen nur zwanzig bis dreißig Rubel, noch dazu größtenteils auf Kredit, in der Liste eingetragen fand, mußte Pierre an den Freimaurereid denken, in welchem jeder Bruder sein ganzes Vermögen für den Nächsten hinzugeben versprach; und in seiner Seele wurden Zweifel rege, die er ohne rechten Erfolg zu verscheuchen suchte.

Alle Brüder, die er kannte, teilte er in vier Klassen ein. Zu der ersten Klasse rechnete er diejenigen Brüder, die weder an der eigentlichen Logenarbeit noch an der menschenfreundlichen Tätigkeit der Loge aktiven Anteil nahmen, sondern sich ausschließlich mit den Geheimnissen der Ordenswissenschaft beschäftigten: mit Untersuchungen über die dreifache Benennung Gottes, oder über die drei Urelemente der Dinge, Schwefel, Quecksilber und Salz, oder über die Bedeutung des Quadrates und aller Figuren des salomonischen Tempels. Pierre hegte zwar Achtung vor dieser Klasse der Brüder Freimaurer, zu welcher namentlich die älteren Brüder gehörten und auch, nach Pierres Meinung, Osip Alexejewitsch selbst; aber er teilte ihre Interessen nicht. Seine Herzensneigung galt nicht der mystischen Seite der Freimaurerei.

Zu der zweiten Klasse zählte Pierre sich selbst und die ihm ähnlichen Brüder. Das waren diejenigen, die noch suchten, noch schwankenden Schrittes gingen und noch nicht den geraden deutlichen Weg in der Freimaurerei gefunden hatten, aber ihn zu finden hofften.

Zur dritten Klasse rechnete er diejenigen Brüder (und sie bildeten die größte Zahl), die in der Freimaurerei nichts sahen als äußerliche Formen und Zeremonien und auf die genaue Einhaltung dieser äußeren Formen großen Wert legten, ohne sich um ihren Inhalt und um ihre Bedeutung zu kümmern. Von dieser Art war zum Beispiel Willarski, ja sogar der Meister vom Stuhl der Hauptloge.

Zu der vierten Klasse endlich zählte er eine gleichfalls große Anzahl von Brüdern, namentlich viele, die in der letzten Zeit in die Bruderschaft eingetreten waren. Das waren Leute, die nach Pierres Beobachtungen an nichts glaubten, sich für die Bestrebungen der Freimaurerei nicht interessierten und sich in die Loge nur deswegen hatten aufnehmen lassen, um mit jungen, reichen, durch Konnexionen und Rang einflußreichen Brüdern, deren sehr viele der Loge angehörten, in nähere Beziehung zu kommen.

Pierre begann sich von seiner Tätigkeit unbefriedigt zu fühlen. Es wollte ihm mitunter scheinen, als ob die Freimaurerei, oder wenigstens diejenige Freimaurerei, die er hier kennengelernt hatte, nur in Äußerlichkeiten bestehe. Er ließ sich nicht beikommen, an der Freimaurerei selbst zu zweifeln; aber er argwöhnte, daß die russische Freimaurerei auf einen falschen Weg geraten und von ihrer ursprünglichen Tendenz abgekommen sei. Und darum reiste Pierre gegen Ende des Jahres ins Ausland, um sich in die höheren Geheimnisse des Ordens einweihen zu lassen.


Gegen Ende des Sommers 1809 kehrte Pierre wieder nach Petersburg zurück. Durch die Korrespondenz, die unsere Freimaurer mit denen des Auslandes unterhielten, war bekannt geworden, daß Besuchow sich im Ausland das Vertrauen vieler hochgestellter Persönlichkeiten erworben habe, in viele Geheimnisse eingedrungen und zum höchsten Grad befördert sei und vieles mitbringe, wodurch das Gedeihen der gesamten Freimaurerei in Rußland gefördert werden könne. Die Petersburger Freimaurer kamen sämtlich zu ihm, um sich bei ihm in Gunst zu setzen, und alle gewannen dabei den Eindruck, daß er etwas verberge und für eine besondere Gelegenheit in Bereitschaft setze.

Es wurde eine feierliche Logensitzung des zweiten Grades angesetzt, und Pierre versprach, in dieser Sitzung das mitzuteilen, was er den Petersburger Brüdern von den höchsten Leitern des Ordens auszurichten habe. Die Sitzung war stark besucht. Nach den gewöhnlichen Zeremonien stand Pierre auf und begann seine Rede.

»Liebe Brüder!« begann er, errötend und stotternd, mit dem Manuskript in der Hand. »Es ist nicht genug, daß wir in der Stille der Loge unsere Geheimnisse hüten; wir müssen wirken … wirken. Wir haben uns von Schläfrigkeit überwältigen lassen; aber wir müssen wirken.« Pierre nahm sein Heft und fing an vorzulesen.

»Um die reine Wahrheit auszubreiten und der Tugend zum Sieg zu verhelfen«, las er, »müssen wir die Menschen von Vorurteilen befreien, müssen Grundsätze verbreiten, die mit dem Geist der Zeit im Einklang stehen, und müssen uns der Erziehung der Jugend annehmen. Wir müssen uns durch unzerreißbare Bande mit den verständigsten Männern vereinigen, müssen Aberglauben, Unglauben und Dummheit kühn und zugleich mit Überlegung überwinden und müssen aus der Zahl unserer Anhänger Menschen heranbilden, die durch die Einheitlichkeit des Zieles fest verbunden sind und dadurch Macht und Einfluß besitzen.

Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir der Tugend das Übergewicht über das Laster verschaffen; wir müssen dahin streben, daß der ehrenhafte Mensch schon auf dieser Welt einen lebenslänglichen Lohn für seine Tugend erhalte. Aber bei der Verfolgung dieser hohen Ziele werden wir durch die äußeren politischen Einrichtungen stark behindert. Was sollen wir bei dieser Lage der Dinge tun? Sollen wir die Revolutionen begünstigen, alles umstürzen, Gewalt mit Gewalt vertreiben? … Nein, von einem solchen Verfahren sind wir weit entfernt. Jede gewaltsame Reform ist tadelnswert, weil sie das Übel nicht bessern wird, solange die Menschen so bleiben, wie sie sind, und weil die Weisheit nicht der Gewalt bedarf.

Das ganze Streben des Ordens muß darauf gerichtet sein, charakterfeste, tugendhafte Menschen heranzubilden; alle aber müssen verbunden sein durch die Einheitlichkeit des Zieles, welches darin besteht, überall und mit allen Kräften das Laster und die Dummheit zu verfolgen, die Talente und die Tugend zu beschützen, würdige Männer aus dem Staub heraufzuheben und zu Mitgliedern unserer Bruderschaft zu machen. Nur dann wird unser Orden die Macht haben, den Beschützern der Unordnung unmerklich die Hände zu binden und sie zu zügeln und zu leiten, ohne daß sie selbst sich dessen bewußt werden. Mit einem Wort, es ist notwendig, eine allumfassende Regierungsform zu schaffen, welche sich über die ganze Welt ausdehnen muß, ohne doch die bürgerlichen Bande zu zerstören, und bei welcher alle übrigen Regierungen in ihrer gewohnten Ordnung werden fortbestehen und alles wie bisher werden tun können, mit einziger Ausnahme solcher Handlungen, die dem hohen Ziel unseres Ordens widerstreiten, das darin besteht, der Tugend zum Sieg über das Laster zu verhelfen. Dieses Ziel hat sich schon das Christentum gesetzt. Es hat die Menschen gelehrt, weise und gut zu sein und zu ihrem eigenen Heil dem Beispiel und den Mahnungen der besten und weisesten Menschen zu folgen.

Damals, als alles in Finsternis begraben lag, konnte allerdings die Predigt allein als ausreichend betrachtet werden; die Neuheit der Wahrheit verlieh der Wahrheit eine besondere Kraft; aber heutzutage bedürfen wir weit stärkerer Mittel. Jetzt ist erforderlich, daß der Mensch, der sich ja durch das Streben nach Genuß leiten läßt, in der Tugend den Reiz des Genusses finde. Die Leidenschaften auszurotten ist unmöglich; wir müssen nur darauf bedacht sein, sie auf ein edles Ziel zu lenken, und daher ist notwendig, daß ein jeder seine Leidenschaften in den Grenzen der Tugend befriedigen kann, und daß unser Orden ihm dazu die Mittel an die Hand gibt.

Wenn wir erst eine gewisse Zahl würdiger Männer in jedem Staat haben werden und jeder von ihnen wieder ein paar andere heranbilden wird und sie alle eng untereinander verbunden sein werden, dann wird unserm Orden, der im stillen schon so viel für das Wohl der Menschheit getan hat, alles möglich sein, ja, alles.«

Diese Rede machte in der Loge nicht nur einen starken Eindruck, sondern sie rief sogar eine gewaltige Aufregung hervor. Die Mehrzahl der Brüder erblickte in dieser Rede die gefährlichen Ideen des Illuminatentums und nahm Pierres Rede mit einer Kälte auf, die ihn in Staunen versetzte. Der Meister vom Stuhl begann Einwendungen vorzubringen. Pierre entwickelte seine Gedanken mit immer größerer Wärme. Seit langer Zeit hatte keine Sitzung einen so stürmischen Verlauf genommen. Es bildeten sich Parteien: die einen griffen Pierre an und beschuldigten ihn des Illuminatentums; die andern standen ihm bei. Zum erstenmal drängte sich ihm bei dieser Versammlung überraschend die Tatsache auf, daß die Menschenköpfe von einer unendlichen Mannigfaltigkeit sind, welche bewirkt, daß keine Wahrheit sich auch nur zwei Menschen auf die gleiche Weise darstellt. Sogar diejenigen Mitglieder, die anscheinend auf seiner Seite standen, faßten seine Idee jeder auf seine besondere Art auf, mit Einschränkungen und Abweichungen, denen Pierre nicht zustimmen konnte, da er gerade darauf besonderen Wert legte, seine Idee genau so weiterzuverbreiten, wie er selbst sie auffaßte.

Gegen den Schluß der Sitzung richtete der Meister vom Stuhl in übelwollendem, ironischem Ton an Pierre eine tadelnde Bemerkung: er sei zu hitzig geworden und habe sich bei der Debatte nicht lediglich von Liebe zur Tugend, sondern auch von seiner Kampflust leiten lassen. Pierre gab ihm darauf keine Antwort, sondern fragte nur kurz, ob sein Antrag Annahme finden werde. Es wurde ihm erwidert, dies werde nicht der Fall sein, und Pierre verließ die Loge, ohne die üblichen Formalitäten abzuwarten, und fuhr nach Hause.

VIII


Über Pierre kam nun wieder jene Schwermut, die er so sehr fürchtete. Nachdem er in der Loge seine Rede gehalten hatte, lag er drei Tage lang zu Hause auf dem Sofa; er empfing niemand und besuchte niemand.

In dieser Zeit erhielt er einen Brief von seiner Frau, die ihn inständig um eine Unterredung bat und schrieb, wie sehr sie sich nach ihm sehne und ihm ihr ganzes Leben zu weihen wünsche.

Am Schluß des Briefes teilte sie ihm mit, daß sie in den nächsten Tagen aus dem Ausland wieder in Petersburg eintreffen werde.

Bald nachdem Pierre diesen Brief empfangen hatte, drang ein Bruder Maurer, den Pierre nicht sonderlich schätzte, zu ihm in seine Einsamkeit, leitete das Gespräch auf Pierres eheliche Verhältnisse und sagte ihm in Form eines brüderlichen Rates, seine Strenge gegen seine Frau sei ungerecht, und Pierre verstoße gegen die ersten Grundsätze der Freimaurerei, wenn er der Reuigen nicht verzeihe.

Um dieselbe Zeit schickte seine Schwiegermutter, die Frau des Fürsten Wasili, zu Pierre und ersuchte ihn dringend, sie wenigstens auf ein paar Minuten zu besuchen, da sie mit ihm über eine sehr wichtige Angelegenheit zu reden habe. Pierre sah, daß eine Verabredung gegen ihn bestand und man ihn wieder mit seiner Frau zusammenbringen wollte, und dies war ihm in dem Zustand, in dem er sich jetzt befand, nicht einmal unangenehm. Ihm war alles gleich: nichts im Leben erschien ihm wichtig, und unter dem Einfluß der Schwermut, die ihn in ihrem Bann hielt, legte er weder auf seine eigene Freiheit Wert noch auf eine hartnäckige Fortsetzung der Bestrafung seiner Frau.

»Niemand hat recht, niemand ist schuldig; also ist auch sie nicht schuldig«, dachte er.

Wenn Pierre nicht sofort seine Zustimmung zu seiner Wiedervereinigung mit seiner Frau aussprach, so unterließ er dies nur deswegen, weil er in dem Zustand von Schwermut, in dem er sich befand, überhaupt nicht die Kraft hatte, irgend etwas zu tun. Wäre seine Frau zu ihm gekommen, so hätte er sie jetzt nicht von sich gewiesen. War es denn im Vergleich mit dem, was ihn beschäftigte, nicht ganz gleichgültig, ob er mit seiner Frau zusammenlebte oder nicht?

Ohne seiner Frau oder seiner Schwiegermutter zu antworten, machte sich Pierre eines Abends reisefertig und fuhr nach Moskau, um Osip Alexejewitsch aufzusuchen. Über diesen Besuch trug Pierre in sein Tagebuch folgendes ein:


»Moskau, den 17. November.


Soeben komme ich von meinem Wohltäter zurück und beeile mich, alles zu notieren, was ich bei ihm gesehen und gehört habe. Osip Alexejewitsch lebt ärmlich und leidet schon seit mehr als zwei Jahren an einer schmerzhaften Blasenkrankheit. Aber nie hat jemand aus seinem Mund einen Seufzer oder ein Wort der Klage gehört. Er ist vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hinein, mit einziger Ausnahme der Zeiten, wo er seine einfachen Mahlzeiten zu sich nimmt, mit wissenschaftlicher Arbeit beschäftigt. Er nahm mich freundlich auf und lud mich ein, mich auf das Bett zu setzen, auf dem er lag; ich machte ihm das Zeichen der Ritter vom Orient und von Jerusalem; er antwortete mir mit demselben Zeichen und befragte mich mit einem milden Lächeln nach dem, was ich in den preußischen und schottischen Logen erfahren und erworben hätte. Ich erzählte ihm alles, so gut ich es vermochte, ich teilte ihm die Leitgedanken mit, die ich in unserer Petersburger Loge in Vorschlag gebracht hatte, und berichtete ihm von der üblen Aufnahme, die ich dabei gefunden hatte, und von dem Bruch, der zwischen mir und den Brüdern erfolgt war. Osip Alexejewitsch schwieg längere Zeit und dachte nach; dann setzte er mir über alles dies seine Ansicht auseinander, die mir in einem Moment die gesamte Vergangenheit und den ganzen in der Zukunft vor mir liegenden Weg beleuchtete. Er setzte mich in Verwunderung durch die Frage, ob ich mich wohl erinnere, worin das dreifache Ziel des Ordens bestehe: 1. in der Bewahrung und Erkenntnis des Geheimnisses, 2. in der Läuterung und Besserung unseres eigenen Selbst, um jenes aufnehmen zu können, und 3. in der Besserung des Menschengeschlechts durch das Streben nach einer solchen Läuterung. Welches sei nun das erste und wichtigste Ziel unter diesen dreien? Gewiß doch die eigene Besserung und Läuterung. Nur nach diesem Ziel seien wir imstande immer zu streben, unabhängig von allen äußeren Umständen. Aber gleichzeitig verlange gerade dieses Ziel von uns die allergrößte Anstrengung, und daher ließen wir, von unserm Dünkel auf einen Irrweg geleitet, gern dieses Ziel beiseite und nähmen entweder das Geheimnis in Angriff, das wir doch wegen unserer Unreinheit nicht würdig seien in uns aufzunehmen, oder die Besserung des Menschengeschlechts, obgleich wir doch den Menschen in unserer eigenen Person ein Beispiel von Schändlichkeit und Sittenlosigkeit gäben. Das Illuminatentum könne namentlich deswegen nicht als die reine Lehre betrachtet werden, weil es sich zu einer politischen Tätigkeit habe verleiten lassen und in einen falschen Dünkel hineingeraten sei. Aufgrund dieser Anschauung tadelte Osip Alexejewitsch meine Rede und meine ganze Tätigkeit. Ich stimmte ihm in der Tiefe meiner Seele zu. Als das Gespräch sich meinen Familienangelegenheiten zuwandte, sagte er zu mir: ›Die wichtigste Pflicht eines wahren Freimaurers besteht, wie ich Ihnen schon sagte, in der Vervollkommnung des eigenen Selbst. Aber wir denken oft, wir könnten dadurch, daß wir alle Schwierigkeiten des Lebens von uns fernhalten, dieses Ziel leichter erreichen. Das Gegenteil ist richtig, mein Herr! Nur inmitten der Erregungen, die das Leben in der Welt mit sich bringt, können wir die drei Hauptziele erreichen: 1. Selbsterkenntnis; denn der Mensch kann sich selbst nur durch Vergleich erkennen, 2. Vervollkommnung; denn zu dieser gelangt man nur durch Kampf, und 3. die Haupttugend: Liebe zum Tod; denn nur die Widerwärtigkeiten des Lebens können uns von der Wertlosigkeit des Lebens überzeugen und so die uns angeborene Sehnsucht nach dem Tod oder nach einer Wiedergeburt zu einem neuen Leben verstärken.‹ Diese Worte sind um so bemerkenswerter, da Osip Alexejewitsch trotz seiner schweren körperlichen Leiden sich nie durch das Leben bedrückt fühlt, aber den Tod liebt, für den er trotz aller Reinheit und Erhabenheit seines inneren Menschen noch nicht genügend vorbereitet zu sein glaubt. Dann erklärte mir mein edler Freund in vollem Umfang die Bedeutung des großen Quadrates der Schöpfung und wies darauf hin, daß die Dreizahl und die Siebenzahl die Grundlage von allem sind. Er riet mir, mich nicht von der Gemeinschaft mit den Petersburger Brüdern zurückzuziehen und, da ich ja in der Loge nur die Pflichten des zweiten Grades zu erfüllen hätte, nach besten Kräften die Brüder vor den Verlockungen des Dünkels zu bewahren und sie auf den richtigen Weg der Selbsterkenntnis und Vervollkommnung zu leiten. Außerdem riet er mir, zu meinem eigenen Besten vor allen Dingen mich selbst zu beobachten, und gab mir zu diesem Zweck ein Heft, eben das, in welches ich schreibe, und in dem ich auch künftig alle meine Handlungen aufzeichnen werde.«


»Petersburg, den 23. November.


Ich lebe wieder mit meiner Frau zusammen. Meine Schwiegermutter kam in Tränen zu mir und sagte, Helene wäre hier und bäte mich inständig, sie anzuhören; sie sei schuldlos, sie sei unglücklich darüber, daß ich mich von ihr getrennt hätte, und vieles andere. Ich sah voraus, daß, wenn ich in ein Wiedersehen willigte, ich nicht imstande sein würde, ihr die Erfüllung ihres Wunsches länger zu versagen. In meinem Zweifel wußte ich nicht, an wen ich mich um Rat und Hilfe wenden sollte. Wäre mein Wohltäter hier, so hätte er mir das Richtige gesagt. Ich zog mich in mein Zimmer zurück, las die früheren Briefe Osip Alexejewitschs durch, rief mir die Gespräche mit ihm ins Gedächtnis zurück und kam aus alledem zu dem Resultat, daß ich einen Bittenden nicht abweisen darf, und daß ich verpflichtet bin, einem jeden die helfende Hand zu reichen, einem jeden und um wieviel mehr jemandem, der so eng mit mir verbunden ist, und daß ich verpflichtet bin, mein Kreuz zu tragen. Aber wenn ich ihr um der Tugend willen verziehen habe, so soll auch meine Wiedervereinigung mit ihr nur einen geistigen Zweck haben. Das war die Entscheidung, zu der ich gelangte, und das schrieb ich auch an Osip Alexejewitsch. Ich sagte meiner Frau, ich bäte sie, alles Vergangene zu vergessen und mir das zu verzeihen, worin ich etwa ihr gegenüber gefehlt hätte; ich meinerseits hätte ihr nichts zu verzeihen. Es machte mir Freude, ihr das zu sagen. Sie soll nicht erfahren, wie schwer es mir geworden ist, sie wiederzusehen. Ich habe mich in dem großen Haus in den Zimmern des oberen Stockwerks einquartiert und empfinde das beglückende Gefühl der geistigen Wiedergeburt.«

IX


Wie immer, teilte sich auch damals die höhere Gesellschaft, die bei Hof und auf großen Bällen zusammenkam, in mehrere Kreise, von denen ein jeder seine besondere Färbung hatte. Unter diesen Kreisen war der größte der französische Kreis, der durch seine Zusammensetzung die Allianz mit Napoleon zur Anschauung brachte, und an dessen Spitze der Reichskanzler Graf Rumjanzew und der französische Gesandte Graf Caulaincourt standen. In diesem Kreis nahm Helene, seit sie wieder bei ihrem Mann in Petersburg wohnte, eine sehr bedeutende Stellung ein. In ihrem Salon verkehrten die Herren von der französischen Gesandtschaft und eine große Anzahl als geistreich und liebenswürdig bekannter Männer, die dieser Richtung angehörten.

Helene war in Erfurt zur Zeit der berühmten Kaiserzusammenkunft gewesen und hatte diese Beziehungen zu allen napoleonischen Notabilitäten Europas von dort mitgebracht. In Erfurt hatte sie einen glänzenden Erfolg gehabt. Napoleon selbst, dem sie im Theater aufgefallen war, hatte von ihr gesagt: »Ein großartiger Leib!« Über ihren Erfolg als schöne, elegante Frau wunderte Pierre sich nicht, da sie mit den Jahren noch schöner geworden war als früher. Aber etwas anderes setzte ihn in Erstaunen: daß seine Frau in diesen zwei Jahren den Ruf »einer anziehenden, ebenso geistvollen wie schönen Frau« erworben hatte. Der bekannte Fürst von Ligne schrieb ihr acht Seiten lange Briefe; Bilibin hielt seine Witzworte zurück, um sie im Salon der Gräfin Besuchowa zum erstenmal von sich zu geben. In dem Salon der Gräfin Besuchowa empfangen zu werden galt als eine Art von urkundlichem Beleg dafür, daß man ein Mann von Geist sei. Die jungen Männer studierten vor Helenes Abendgesellschaften allerlei Bücher durch, um Stoff zu haben, über den sie in ihrem Salon sprechen könnten, und die Gesandtschaftssekretäre, ja sogar die Gesandten selbst vertrauten ihr diplomatische Geheimnisse an, so daß Helene in gewissem Sinn eine Macht war. Pierre, welcher wußte, daß sie sehr dumm war, empfand mitunter ein seltsames Gefühl von Staunen und Angst, wenn er bei ihren Soireen und Diners zugegen war und dabei über Politik, Poesie und Philosophie gesprochen wurde. Es war ihm bei solchen Gelegenheiten ungefähr wie einem Taschenspieler zumute, der jeden Augenblick erwarten muß, daß ein Betrug zutage kommt. Aber mochte es nun daher kommen, daß gerade eine Portion Dummheit dazu nötig ist, um einen solchen Salon zu halten, oder daher, daß die Betrogenen selbst an dem Betrug Vergnügen fanden: genug, der Betrug wurde nicht aufgedeckt, und der Ruf der Gräfin Jelena Wasiljewna Besuchowa als einer interessanten, geistvollen Frau stand so unerschütterlich fest, daß sie die ärgsten Plattheiten und Dummheiten sagen konnte und doch alle Leute von jedem ihrer Worte entzückt waren und darin einen tiefen Sinn suchten, von dem sie selbst keine Ahnung hatten.

Pierre war gerade der Gatte, den diese glänzende Weltdame brauchte. Er war ein zerstreuter Sonderling und als Ehemann ein Grandseigneur, der niemand störte und nicht nur den allgemeinen Eindruck des erstklassigen Salons nicht verdarb, sondern der Eleganz und dem Takt seiner Frau durch sein ganz entgegengesetztes Verhalten als vorteilhafter Hintergrund diente. Pierre, der sich in diesen zwei Jahren beständig und angelegentlich nur mit nichtmateriellen Interessen beschäftigt hatte und alles übrige herzlich geringschätzte, redete in den ihm sehr uninteressanten Gesellschaften seiner Frau mit allen in jenem gleichgültigen, lässigen, wohlwollenden Ton, den man sich nicht künstlich aneignen kann, und der eben darum dem Hörer unwillkürlich Achtung abzwingt. Er ging in den Salon seiner Frau wie ins Theater, war mit allen bekannt, sprach allen in gleicher Weise seine Freude aus, sie zu sehen, und ließ alle in gleicher Weise merken, daß sie ihm völlig gleichgültig waren. Manchmal, wenn ihn ein Gespräch interessierte, beteiligte er sich daran und sprach dann ohne Rücksicht darauf, ob die Herren von der Gesandtschaft anwesend waren oder nicht, in seiner lispelnden Manier seine Ansichten aus, die mit dem Ton, der zu der betreffenden Zeit der herrschende war, oft recht wenig harmonierten. Aber das Urteil über den wunderlichen Gatten der distinguiertesten Frau von ganz Petersburg stand bereits so fest, daß niemand seine schroffen Auslassungen ernst nahm.

Unter den vielen jungen Männern, die nach Helenes Rückkehr aus Erfurt täglich in ihrem Haus aus und ein gingen, konnte Boris Drubezkoi, der es in seiner dienstlichen Laufbahn schon recht weit gebracht hatte, als der intimste Freund des Besuchowschen Hauses betrachtet werden. Helene nannte ihn »mein Page« und behandelte ihn wie einen Knaben. Ihr Lächeln im Verkehr mit ihm war dasselbe wie allen gegenüber; aber manchmal hatte Pierre eine unangenehme Empfindung, wenn er dieses Lächeln sah. Boris benahm sich gegen Pierre mit besonderem Respekt, der etwas Würdevolles, Trübes an sich hatte. Diese besondere Nuance der Respektsbezeigung hatte gleichfalls die Wirkung, Pierre zu beunruhigen. Pierre hatte drei Jahre vorher so schwer unter der Kränkung gelitten, die ihm seine Frau angetan hatte, daß er sich jetzt vor der Möglichkeit einer ähnlichen Kränkung erstens dadurch zu retten suchte, daß er nicht der Mann seiner Frau war, und zweitens dadurch, daß er absichtlich jeden Verdacht von vornherein zurückwies.

»Nein, jetzt, wo sie ein Blaustrumpf geworden ist, hat sie den früheren Gelüsten für immer Valet gesagt«, dachte er. »Es hat noch nie ein Beispiel gegeben, daß Blaustrümpfe sinnliche Regungen gehabt hätten«, fügte er im stillen hinzu; aber woher er diese Regel, an die er fest glaubte, eigentlich entnommen hatte, das war nicht zu sagen. Trotzdem jedoch übte Boris’ Anwesenheit in dem Salon seiner Frau (und Boris war fast beständig dort) auf Pierre eine merkwürdige physische Wirkung aus: alle seine Glieder waren wie gefesselt, und seine Bewegungen hörten auf, frei und unbewußt zu sein.

»Eine seltsame Antipathie!« dachte Pierre. »Und früher hat er mir doch sogar ganz gut gefallen!«

In den Augen der Welt war Pierre ein großer Herr, der etwas blinde, komische Gatte einer berühmten Frau, ein intelligenter Sonderling, der nichts Nützliches tat, aber auch niemandem schadete, von Charakter ein braver, guter Mensch. Aber in Pierres Innerem ging während dieser ganzen Zeit ein komplizierter, schwieriger seelischer Entwicklungsprozeß vor, der ihn vieles verstehen lehrte und ihn durch Zweifel hindurch zu schönen Freuden führte.

X


Er führte sein Tagebuch fort und trug in dieser Zeit folgendes ein:


»Den 24. November.


Ich stand um acht Uhr auf und las in der Heiligen Schrift; dann ging ich zum Dienst« (auf den Rat seines edlen Freundes war Pierre in den Staatsdienst getreten, und zwar als Mitglied einer der Kommissionen), »kam zum Mittagessen nach Hause und speiste allein (bei der Gräfin waren viele Gäste, die mir nicht gefielen). Ich aß und trank mäßig und machte nach dem Mittagessen Abschriften einiger Schriftstücke für die Brüder. Am Abend ging ich zu der Gräfin hinunter und erzählte eine komische Geschichte über Herrn B., und erst als alle schon laut lachten, kam es mir zum Bewußtsein, daß ich die Geschichte nicht hätte erzählen sollen.

Jetzt lege ich mich in glücklicher, ruhiger Gemütsstimmung schlafen. Großer Gott, hilf mir, auf Deinen Wegen wandeln, damit ich 1. den Zorn durch Sanftmut und Bedächtigkeit überwinde, 2. die Lüsternheit durch Selbstbeherrschung und Abscheu, 3. mich von nichtigem Treiben fernhalte, ohne doch zu verabsäumen: a) die Tätigkeit im Staatsdienst, b) die Sorge für die Familie, c) den Umgang mit Freunden und d) die wirtschaftliche Tätigkeit.«


»Den 27. November.


Spät aufgestanden; ich hatte nach dem Aufwachen noch lange im Bett gelegen und mich der Trägheit überlassen. Mein Gott! Hilf mir und stärke mich, damit ich auf Deinen Wegen gehen kann. Ich las in der Heiligen Schrift, aber ohne die richtige Empfindung. Es kam Bruder Urusow, und wir unterhielten uns über das nichtige Treiben der Welt. Er erzählte von neuen Plänen des Kaisers. Ich wollte schon anfangen, sie zu tadeln; aber ich dachte noch rechtzeitig an meine Grundsätze und an die Worte meines Wohltäters, daß der richtige Freimaurer ein eifriger Arbeiter im Staatsdienst sein müsse, sobald seine Mitwirkung verlangt werde, und ein ruhiger Beobachter dessen, woran mitzuarbeiten er nicht berufen sei. Meine Zunge ist mein Feind. Die Brüder G., W. und O. besuchten mich; es fand eine Vorbesprechung über die Aufnahme eines neuen Bruders statt. Sie fordern mich auf, dabei die Obliegenheiten des Bruder Redners zu übernehmen. Aber ich fühle mich zu schwach und unwürdig. Dann kam die Rede auf die Erklärung der sieben Säulen und Stufen des Tempels. Sieben Wissenschaften, sieben Tugenden, sieben Laster, sieben Gaben des Heiligen Geistes. Bruder O. setzte das alles in schöner Rede auseinander. Am Abend wurde die Aufnahme vollzogen. Die neue Ausstattung der Räumlichkeiten trug viel zu dem würdigen Eindruck der Feierlichkeit bei. Der Aufgenommene war Boris Drubezkoi. Ich habe ihn vorgeschlagen und bin auch der Bruder Redner gewesen. Ein seltsames Gefühl beunruhigte mich die ganze Zeit über, als ich mit ihm in dem dunklen Gemach war. Ich bemerkte in mir eine Empfindung des Hasses gegen ihn, die ich vergebens zu überwinden suchte. Gerade deshalb wünschte ich aufrichtig, ihn vom Bösen zu retten und ihn auf den Weg der Wahrheit zu leiten; aber die argen Gedanken in betreff seiner wollten nicht von mir weichen. Es schien mir, als bestände seine Absicht beim Eintritt in die Bruderschaft nur darin, mit hochgestellten Männern, die zu unserer Loge gehören, in nähere Beziehung zu treten und ihre Gunst zu gewinnen. Er erkundigte sich einige Male bei mir, ob nicht die Herren N. und S. Mitglieder unserer Loge seien (worauf ich ihm nicht antworten durfte); auch ist er nach meinen Beobachtungen nicht fähig, eine wirkliche Hochachtung gegen unsern heiligen Orden zu empfinden, er ist zu sehr mit seinem äußeren Menschen beschäftigt und zu sehr mit diesem zufrieden, als daß er den Wunsch nach einer geistigen Veredelung hegen könnte; aber von diesen Gründen abgesehen, hatte ich keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß er zur Aufnahme geeignet ist; nur machte er mir den Eindruck, als sei er nicht aufrichtig, und die ganze Zeit über, während ich mit ihm in dem dunklen Gemach unter vier Augen war, schien es mir, als lächle er geringschätzig über das, was ich sagte, und es kam mir wirklich die Lust an, seine nackte Brust mit dem Degen zu durchbohren, den ich gegen sie gerichtet hielt. Ich war nicht imstande, gewandt und schön zu sprechen und konnte mich nicht entschließen, meinen Zweifel den Brüdern und dem Meister vom Stuhl offen mitzuteilen. Oh, großer Baumeister der Natur, hilf mir die richtigen Wege finden, die aus dem Labyrinth der Lüge hinausführen!«


Dahinter waren in dem Tagebuch drei Blätter freigelassen; dann war folgendes eingetragen:


»Ich hatte ein langes, lehrreiches Gespräch unter vier Augen mit Bruder W., der mir den Rat gab, mich an Bruder A. anzuschließen. Es wurde mir trotz meiner Unwürdigkeit vieles enthüllt. Adonai ist der Name des Weltschöpfers. Elohim ist der Name dessen, der alles regiert. Der dritte Name ist unaussprechlich und bedeutet das All. Die Unterredungen mit Bruder W. stärken, erfrischen und kräftigen mich bei der Wanderung auf dem Weg zur Tugend. Wenn er anwesend ist, ist kein Raum für einen Zweifel. Der Unterschied der armseligen Lehre der profanen Wissenschaften von unserer heiligen, alles umfassenden Lehre ist mir klar: die menschlichen Wissenschaften zergliedern alles, um es zu begreifen; sie töten alles, um es zu betrachten; in der heiligen Wissenschaft unseres Ordens dagegen ist alles einheitlich, alles wird in seiner Zusammengehörigkeit und im Zustand des Lebens erkannt. Die Dreieinigkeit – drei Urelemente der Dinge – Schwefel, Quecksilber und Salz. Der Schwefel ist von öliger und feuriger Beschaffenheit; in Verbindung mit dem Salz ruft er durch seine feurige Natur in dem Salz ein heißes Verlangen hervor, mittels dessen das Salz das Quecksilber anzieht, erfaßt, festhält und mit ihm vereint neue, eigenartige Körper hervorbringt. Das Quecksilber ist eine flüssige, flüchtige, geistige Substanz. – Christus, der Heilige Geist, Er.«


»Den 3. Dezember.


Ich wachte erst spät auf und las in der Heiligen Schrift, aber ohne rechte Empfindung. Dann verließ ich mein Schlafzimmer und ging im Saal auf und ab. Ich wollte nachdenken; aber statt dessen stellte mir meine Einbildungskraft ein Begebnis wieder vor Augen, das schon vier Jahre zurückliegt. Als Herr Dolochow nach meinem Duell mit ihm mir einmal in Moskau begegnete, sagte er zu mir, er hoffe, daß ich mich jetzt trotz der Abwesenheit meiner Gattin in vollständiger Seelenruhe befände. Ich antwortete ihm damals nicht. Jetzt nun erinnerte ich mich an alle Einzelheiten dieser Begegnung und gab ihm im Geist die bösesten, bissigsten Antworten. Erst als ich merkte, daß ich in heftigen Zorn geraten war, kam ich zur Besinnung und verscheuchte diesen Gedanken; aber ich bereute diese Verirrung nicht in hinreichendem Maß. Nachher kam Boris Drubezkoi und begann allerlei Tagesereignisse zu erzählen; ich war gleich von seinem Eintritt an mißgestimmt über seinen Besuch und sagte ihm einige unfreundliche Worte. Er erwiderte etwas darauf. Ich brauste auf und sagte ihm eine Menge Unartigkeiten und sogar Grobheiten. Er schwieg jetzt, und nun erst, wo es zu spät war, erkannte ich den von mir begangenen Fehler. O Gott, ich verstehe schlechterdings nicht, mit ihm umzugehen. Die Ursache davon ist meine Eigenliebe. Ich glaube über ihm zu stehen und werde dadurch weit schlechter als er; denn er zeigt meiner Grobheit gegenüber eine freundliche Nachsicht, ich dagegen nähre gegen ihn eine arge Geringschätzung. O Gott, gib, daß ich in seiner Anwesenheit mehr Erkenntnis für meine Schlechtigkeit habe und mich so benehme, daß auch er davon Nutzen haben kann. Nach dem Mittagessen legte ich mich zum Schlafen hin, und in dem Augenblick, als ich einschlief, hörte ich deutlich eine Stimme, die mir in das linke Ohr sagte: ›Dein Tag.‹

Ich träumte, daß ich im Dunkeln ginge und plötzlich von Hunden umringt sei; aber ich ging ohne Furcht weiter; plötzlich packte mich ein kleiner Hund mit den Zähnen am linken Schenkel und ließ mich nicht los. Ich begann ihn mit den Händen zu würgen. Aber kaum hatte ich ihn losgelassen, als mich ein anderer, größerer, biß. Ich hob ihn in die Höhe, und je höher ich ihn hob, um so größer und schwerer wurde er. Und auf einmal kam Bruder A., faßte mich unter den Arm, nahm mich mit sich fort und führte mich zu einem Gebäude; um in dieses Gebäude hineinzugelangen, mußte man über ein schmales Brett gehen. Ich trat darauf; das Brett bog sich, rutschte ab und fiel, und ich versuchte auf einen Zaun zu klettern, an dessen obere Kante ich nur so eben mit den Händen heranreichte. Nach großen Anstrengungen zog ich meinen Körper so herüber, daß die Beine auf der einen Seite hingen und der Oberkörper auf der andern. Ich blickte um mich und sah, daß Bruder A. auf dem Zaun stand und auf eine große Allee und einen Garten hinwies; und in dem Garten war ein großes, schönes Gebäude. Ich erwachte. Herr Gott, großer Baumeister der Natur! Hilf mir, die Hunde, meine Leidenschaften, abzuschütteln und namentlich die letzte von ihnen, die die Kräfte aller früheren in sich vereinigt, und hilf mir, daß ich in jenen Tempel der Tugend eintrete, dessen Anblick ich im Traum genießen durfte.«


»Den 7. Dezember.


Mir träumte, Osip Alexejewitsch saß bei mir in meinem Haus, und ich freute mich darüber sehr und wollte ihn bewirten. Ich plauderte ohne Unterbrechung mit fremden Leuten, und auf einmal fiel mir ein, daß ihm das nicht gefallen könne, und ich wollte an ihn herantreten und ihn umarmen. Aber sowie ich näher herankam, sah ich, daß sein Gesicht sich verwandelte und jung wurde, und er sagte leise etwas zu mir aus der Ordenslehre, so leise, daß ich es nicht verstehen konnte. Dann gingen wir alle aus dem Zimmer hinaus, und hier begab sich nun etwas Wunderliches: wir saßen oder lagen auf dem Fußboden. Er sagte etwas zu mir. Aber ich wollte ihm gern meine tiefe Empfindung zeigen und begann, ohne auf seine Reden hinzuhören, mir den Zustand meines inneren Menschen vorzustellen, und wie mich die Gnade Gottes überschattete. Und die Tränen traten mir in die Augen, und es war mir angenehm, daß er das bemerkte. Aber er blickte mich zornig an und sprang, seine Rede abbrechend, auf. Ich wurde ängstlich und fragte, ob das, was er gesagt habe, sich auf mich bezogen hätte; aber er antwortete nichts und zeigte mir wieder ein freundliches Gesicht, und nun befanden wir uns auf einmal in meinem Schlafzimmer, wo das zweischläfrige Bett steht. Er legte sich auf den Rand des Bettes, und in mir wurde ein brennendes Verlangen rege, ihn zu liebkosen und mich ebenfalls dort hinzulegen. Und er fragte mich: ›Sagen Sie wahrheitsgemäß: welches ist die größte Leidenschaft, die Sie besitzen? Haben Sie sie erkannt? Ich glaube, daß Sie sie schon erkannt haben.‹ Ich wurde über diese Frage verlegen und antwortete, meine größte Leidenschaft sei die Trägheit. Er schüttelte mißtrauisch den Kopf. Meine Verlegenheit wurde noch größer, und ich antwortete ihm, ich lebte zwar nach seinem Rat wieder mit meiner Frau zusammen, aber wir lebten nicht als Mann und Frau. Darauf erwiderte er, ich dürfe meine Frau meiner Liebkosungen nicht berauben, und gab mir zu verstehen, daß das meine Pflicht sei. Aber ich antwortete, daß ich mich schämte, das zu tun, und auf einmal war alles verschwunden. Und ich wachte auf und mußte an die Worte der Heiligen Schrift denken: ›Das Leben war das Licht der Menschen, und das Licht scheinet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen.‹ Osip Alexejewitschs Gesicht war ganz jugendlich und hell gewesen. An diesem Tag erhielt ich einen Brief von meinem Wohltäter, in dem er mir von den Pflichten der Ehe schreibt.«


»Den 9. Dezember.


Ich hatte einen Traum, aus dem ich mit bebendem Herzen erwachte. Mir träumte, ich wäre in Moskau, in meinem Haus, im großen Sofazimmer, und aus dem Salon kam Osip Alexejewitsch zu mir herein. Ich erkannte sofort, daß mit ihm bereits der Vorgang der Wiedergeburt stattgefunden hatte, und eilte ihm entgegen. Ich küßte sein Gesicht und seine Hände; aber er sagte: ›Hast du wohl bemerkt, daß ich ein anderes Gesicht habe?‹ Ich betrachtete ihn, ohne ihn aus meinen Armen zu lassen, und sah, daß sein Gesicht jugendlich war, daß er aber keine Haare auf dem Kopf hatte und seine Gesichtszüge vollständig verändert waren. Ich sagte zu ihm: ›Ich hätte Sie trotzdem erkannt, wenn ich Ihnen zufällig begegnet wäre‹, und dachte dabei: ›Habe ich damit auch die Wahrheit gesagt?‹ Und plötzlich sah ich, daß er wie ein Toter dalag; dann kam er allmählich wieder zu sich und ging mit mir in das große Arbeitszimmer; in der Hand hatte er ein großes Buch, geschrieben, in Folio. Ich sagte zu ihm: ›Das habe ich geschrieben.‹ Und er antwortete mir durch eine Neigung des Kopfes. Ich schlug das Buch auf und fand in ihm auf allen Seiten schöne Zeichnungen. Und ich wußte, daß diese Bilder das Liebesleben der Seele und ihres Geliebten darstellten. Und ich erblickte auf diesen Seiten das schöne Bild eines zu den Wolken auffliegenden Mädchens in durchsichtigem Kleid und mit durchsichtigem Körper. Und ich wußte, daß dieses Mädchen nichts anderes war als eine Darstellung des Hohen Liedes. Und während ich diese Zeichnungen betrachtete, hatte ich das Gefühl, daß ich damit etwas Schlechtes beginge; aber ich konnte mich von ihnen nicht losreißen. O Gott! Hilf mir! O mein Gott! Wenn es Dein Werk ist, daß ich Dir so fern bin, so geschehe Dein Wille; wenn ich dies aber selbst verschuldet habe, so lehre mich, was ich tun soll. Ich muß an meiner Lasterhaftigkeit zugrunde gehen, wenn Du mich ganz verläßt!«

XI


Die finanziellen Verhältnisse der Familie Rostow hatten sich während der zwei Jahre, die sie auf dem Land verlebt hatte, nicht gebessert.

Obwohl Nikolai Rostow, seinem Vorsatz getreu, still bei seinem Regiment in der entlegenen kleinen Garnison weiterdiente und verhältnismäßig wenig Geld ausgab, war doch der ganze Zuschnitt des Lebens in Otradnoje derart, daß die Schulden in jedem Jahr unaufhaltsam wuchsen; ganz besonders wirkte übrigens zu diesem bedauerlichen Resultat auch die Art mit, in welcher Dmitri die Geschäfte führte. Die einzige Rettung, die sich dem alten Grafen noch darbot, war augenscheinlich der Staatsdienst, und so reiste er denn nach Petersburg, um sich eine Stelle zu suchen, und nahm auch gleich seine Familie mit, um während des Stellensuchens gleichzeitig seinen Mädchen, wie er sich ausdrückte, zum letztenmal ein bißchen Amüsement zu verschaffen.

Bald nach der Ankunft der Familie Rostow in Petersburg hielt Berg um Wjeras Hand an, und sein Antrag wurde angenommen.

Obwohl Rostows in Moskau zur besten Gesellschaft gehörten, übrigens ohne selbst zu wissen und darüber nachzudenken, zu welcher Gesellschaft sie gehörten, war doch in Petersburg ihr Gesellschaftskreis ein gemischter und nicht streng begrenzter. In Petersburg waren sie Provinzler, und dieselben Leute, welche die Familie Rostow in Moskau gastfreundlich aufgenommen hatte, ohne ihre Gäste nach deren Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gesellschaftskreis zu fragen, trugen nun in Petersburg Bedenken, sich zu der Familie Rostow herabzulassen.

Rostows lebten in Petersburg ebenso gastfrei wie in Moskau, und ihre Soupers bildeten einen Sammelpunkt für die verschiedenartigsten Persönlichkeiten; da kamen Nachbarn aus der Gegend von Otradnoje, alte, unbemittelte Gutsbesitzer mit Töchtern, ein Hoffräulein namens Peronskaja, Pierre Besuchow und der in Petersburg angestellte Sohn eines Kreispostmeisters. Von den männlichen Gästen wurden einige im Rostowschen Haus in Petersburg sehr bald Hausfreunde: erstens Boris, ferner Pierre, den der alte Graf zuerst auf der Straße getroffen und mit sich nach Hause geschleppt hatte, und drittens Berg, der ganze Tage bei Rostows zubrachte und der ältesten Komtesse Wjera alle die Aufmerksamkeiten erwies, die ein junger Mann überhaupt einer jungen Dame erweisen kann, um deren Hand er anzuhalten beabsichtigt.

Berg hatte wirklich etwas dadurch erreicht, daß er allen Leuten seine bei Austerlitz verwundete rechte Hand zeigte und dabei erzählte, wie er den (in Wirklichkeit völlig unnützen) Degen in die Linke genommen habe. Er hatte dieses Ereignis allen mit solcher Beharrlichkeit und mit so bedeutsamem Ernst berichtet, daß alle an die Zweckmäßigkeit und Verdienstlichkeit dieser Tat glaubten und Berg für Austerlitz zwei Auszeichnungen erhielt.

Auch im Finnischen Krieg war es ihm geglückt, sich hervorzutun. Er hatte einen Granatsplitter, der einen Adjutanten in der Nähe des Oberkommandierenden getötet hatte, aufgehoben und diesen Granatsplitter dem hohen Vorgesetzten gebracht. Ebenso wie nach Austerlitz erzählte er auch von diesem Ereignis allen so lange und so beharrlich, daß auch hierbei alle von der Notwendigkeit und Nützlichkeit dieser Handlungsweise überzeugt waren und Berg auch für den Finnländischen Krieg mit zwei Auszeichnungen bedacht wurde. Im Jahre 1809 war er Hauptmann bei der Garde, hatte mehrere Orden und übte in Petersburg einige besonders einträgliche Funktionen aus.

Obgleich einige Ungläubige lächelten, wenn man ihnen gegenüber von Bergs Verdiensten sprach, so mußte doch jeder zugeben, daß Berg ein pflichttreuer, tapferer, bei seinen Vorgesetzten vorzüglich angeschriebener Offizier war, ein ehrenhafter junger Mann, der eine glänzende Laufbahn vor sich hatte und in der Gesellschaft sogar schon jetzt eine gesicherte Stellung einnahm.

Vier Jahre zuvor hatte Berg einmal im Parkett des Theaters in Moskau einen deutschen Kameraden getroffen, diesem Wjera Rostowa gezeigt und zu ihm auf deutsch gesagt: »Die soll meine Frau werden«, und von dem Augenblick an hatte auch sein Entschluß festgestanden, sie zu heiraten. Jetzt nun in Petersburg stellte er Erwägungen an über die Situation der Familie Rostow und über die seinige, gelangte zu dem Resultat, daß der richtige Zeitpunkt gekommen sei, und machte seinen Antrag.

Bergs Antrag wurde zunächst mit einem Erstaunen aufgenommen, das für ihn nicht schmeichelhaft war. Anfangs erschien es den Rostows sonderbar, daß der Sohn eines geringen livländischen Edelmannes um die Hand einer Komtesse Rostowa anhielt; aber die hervorragendste Charaktereigenschaft Bergs bestand in einer so naiven, gutherzigen Selbstgefälligkeit, daß die Rostows unwillkürlich zu dem Gedanken kamen, dies müsse wohl für Wjera eine gute Partie sein, da er selbst so fest davon überzeugt sei, daß das junge Mädchen an ihm eine gute, eine sehr gute Partie mache. Außerdem waren die Vermögensverhältnisse der Rostows stark zerrüttet (das konnte dem Bewerber ja nicht unbekannt sein), und was die Hauptsache war: Wjera war schon vierundzwanzig Jahre alt; sie hatte alle möglichen Bälle und Gesellschaften besucht; aber obwohl sie unstreitig ein schönes, kluges Mädchen war, hatte sich bisher noch niemand um sie beworben. So wurde denn Bergs Antrag angenommen.

»Sehen Sie wohl«, sagte Berg zu seinem Kameraden, den er nur deshalb seinen Freund nannte, weil er wußte, daß alle Menschen Freunde haben. »Sehen Sie wohl, ich habe alles sorgfältig erwogen und würde nicht heiraten, wenn ich nicht alles bedacht hätte und irgend etwas dagegen spräche. Aber es ist alles in Ordnung: mein Papa und meine Mama sind jetzt versorgt; ich habe ihnen eine Pacht in den Ostseeprovinzen verschafft; und ich werde in Petersburg bei meiner Sparsamkeit ganz gut auskommen, da ich mein Gehalt habe und meine künftige Frau ihr Vermögen. Wir werden ganz gut leben können. Ich heirate nicht um des Geldes willen; das würde ich für eine unanständige Denkungsart halten; aber das ist erforderlich, daß die Frau etwas in die Ehe mitbringt und ebenso der Mann. Ich habe mein Gehalt und sie ihre Konnexionen und einige, wenn auch nicht bedeutende Mittel. Das fällt in unserer Zeit schon einigermaßen ins Gewicht, nicht wahr? Aber die Hauptsache ist doch: sie ist ein schönes, achtbares Mädchen und liebt mich …«

Berg errötete und lächelte.

»Ich liebe sie gleichfalls, weil sie einen vortrefflichen Verstand und einen sehr guten Charakter besitzt. Sehen Sie, da ist die andere Schwester … aus derselben Familie, aber ein ganz anderes Wesen, ein unangenehmer Charakter, auch nicht verständig genug; und sie hat so etwas … wissen Sie, mir sagt sie nicht zu … Aber meine Braut … Nun, kommen Sie nur später zu uns …«, fuhr Berg fort; er wollte sagen: »zum Mittagessen«, besann sich aber noch eines andern und sagte: »zum Tee«; und dann ließ er schnell einen runden, kleinen Rauchring, den er durch Hindurchstoßen der Zunge bildete, aus dem Mund aufsteigen, wie wenn er seine Glücksträumereien dadurch verkörpern wollte.

Nach dem ersten Erstaunen, das Bergs Antrag bei den Eltern hervorgerufen hatte, geriet die Familie in die in solchen Fällen gewöhnliche festliche, freudige Stimmung; aber diese Freude war keine aufrichtige, sondern eine mehr äußerliche. Aus dem Verhalten der Verwandten hinsichtlich dieser Heirat konnte man eine gewisse Verlegenheit, eine Art Schamgefühl herausmerken. Sie schienen sich gleichsam jetzt zu schämen, daß sie Wjera so wenig liebten und sie so leichten Herzens hingaben. Am verlegensten von allen war der alte Graf. Er wäre wahrscheinlich nicht imstande gewesen, die eigentliche Ursache seiner Verlegenheit deutlich zu bezeichnen; aber diese Ursache war seine pekuniäre Lage. Er wußte schlechterdings nicht, wieviel er noch besaß, wieviel Schulden er hatte, und wieviel er seiner Tochter Wjera würde mitgeben können. Als die Töchter geboren wurden, hatte er einer jeden von ihnen dreihundert Seelen als Mitgift bestimmt; aber das eine dieser Dörfer war bereits verkauft und das andere verpfändet, und da der Zahlungstermin nicht innegehalten war, so mußte auch dieses verkauft werden; ein Gut konnte also Wjera nicht mitgegeben werden. Bares Geld war auch nicht vorhanden.

Berg und Wjera waren schon über einen Monat verlobt, und es war nur noch eine Woche bis zur Hochzeit; aber der Graf war über die Frage der Mitgift mit sich immer noch nicht ins reine gekommen, hatte auch mit seiner Frau noch nicht darüber gesprochen. Bald wollte er Wjera einen Teil des Rjasanschen Gutes geben, bald einen Wald verkaufen, bald Geld auf Wechsel aufnehmen. Einige Tage vor der Hochzeit suchte Berg einmal frühmorgens den Graf in dessen Zimmer auf und bat mit einem liebenswürdigen Lächeln respektvoll seinen künftigen Schwiegervater, ihm mitzuteilen, welche Mitgift Komtesse Wjera erhalten werde. Obwohl der Graf diese Frage schon lange vorhergesehen hatte, setzte sie ihn doch so in Verwirrung, daß er ohne zu überlegen das erste beste antwortete, was ihm in den Mund kam.

»Das gefällt mir, daß du auch an dein Budget denkst, das gefällt mir; nun, du wirst zufrieden sein …«

Er klopfte Berg auf die Schulter und stand auf, mit dem Wunsch, dieses Gespräch damit abzubrechen. Aber Berg erklärte mit liebenswürdigem Lächeln, wenn er nicht zuverlässig erführe, wieviel Wjera mitbekomme, und nicht wenigstens einen Teil des ihr Zugedachten im voraus erhielte, so sähe er sich genötigt zurückzutreten.

»Denn das werden Sie zugeben, Graf: wenn ich mich jetzt erdreistete zu heiraten, ohne die sicheren Mittel zum Unterhalt meiner Frau zu haben, so wäre das meinerseits nicht ehrenhaft gehandelt …«

Das Gespräch endete damit, daß der Graf, in dem Wunsch, sich großherzig zu zeigen und mit weiteren Forderungen verschont zu werden, einen Wechsel über achtzigtausend Rubel als Mitgift zu geben versprach. Berg lächelte freundlich, küßte den Grafen auf die Schulter und sagte, er sei sehr dankbar, könne aber für das bevorstehende neue Leben nicht die nötigen Einrichtungen treffen, wenn er nicht dreißigtausend Rubel bar erhalte.

»Oder wenigstens zwanzigtausend, Graf«, fügte er hinzu. »Und dann einen Wechsel nur über sechzigtausend.«

»Ja, ja, schön!« erwiderte der Graf hastig. »Aber wenn’s dir recht ist, lieber Freund, so will ich dir die zwanzigtausend geben und außerdem einen Wechsel über achtzigtausend. Also abgemacht! Gib mir einen Kuß!«

XII


Natascha war nun sechzehn Jahre alt, und man schrieb jetzt das Jahr 1809, eben das Jahr, bis zu welchem sie vier Jahre vorher bei dem Zusammensein mit Boris an den Fingern gezählt hatte, nachdem sie ihn geküßt hatte. Sie hatte ihn seitdem kein einziges Mal mehr gesehen. Wenn im Gespräch mit Sonja oder der Mutter die Rede auf Boris kam, pflegte Natascha, wie wenn die Sache völlig abgetan wäre, frei heraus zu sagen, daß alles, was früher stattgefunden hätte, nur eine Kinderei gewesen sei, von der es gar nicht der Mühe wert sei zu reden, und die längst vergessen sei. Aber in der geheimsten Tiefe ihres Herzens quälte sie sich mit der Frage, ob die Verabredung mit Boris nur ein Scherz gewesen sei oder ein ernstes, bindendes Versprechen.

In der ganzen Zeit, seit Boris im Jahr 1805 von Moskau zur Armee gereist war, hatte er Rostows nicht besucht. Er war mehrere Male in Moskau gewesen, war auch mitunter nicht weit von Otradnoje vorbeigekommen, hatte sich aber nie bei Rostows blicken lassen.

Natascha kam mitunter auf den Gedanken, Boris vermeide absichtlich ein Wiedersehen mit ihr, und in dieser Vermutung fühlte sie sich bestärkt durch den trüben Ton, in welchem die Eltern von ihm zu sprechen pflegten.

»Heutzutage ist es nicht mehr Sitte, sich an alte Freunde zu erinnern«, sagte die Gräfin einmal, als Boris erwähnt worden war.

Auch Anna Michailowna, die in der letzten Zeit weniger im Rostowschen Haus verkehrte, beobachtete eine eigentümlich würdevolle Haltung und sprach jedesmal mit enthusiastischen Lobeserhebungen von den vortrefflichen Eigenschaften ihres Sohnes und von der glänzenden Laufbahn, in der er begriffen sei. Als Rostows nach Petersburg gezogen waren, machte ihnen Boris einen Besuch.

Während er zu ihnen hinfuhr, befand er sich in ziemlicher Aufregung. Die Erinnerung an Natascha war die poetischste, die ihm seine ganze Vergangenheit darbot. Aber trotzdem fuhr er mit der festen Absicht hin, ihr und den Ihrigen deutlich zu verstehen zu geben, daß die Beziehungen zwischen ihm und Natascha aus der Kinderzeit weder für sie noch für ihn bindend sein könnten. Er hatte dank dem näheren Umgang mit der Gräfin Besuchowa eine glänzende Position in der Gesellschaft, und ebenso dank der Protektion einer hochgestellten Persönlichkeit, deren volles Vertrauen er besaß, eine glänzende Position in dienstlicher Hinsicht, und im stillen keimte bei ihm der Plan, eines der reichsten jungen Mädchen Petersburgs zu heiraten, ein Plan, dessen Verwirklichung sehr wohl im Bereich der Möglichkeiten lag.

Als Boris im Rostowschen Haus in den Salon trat, war Natascha auf ihrem Zimmer. Sobald sie von seiner Ankunft gehört hatte, kam sie errötend in den Salon beinah hereingelaufen; auf ihrem Gesicht strahlte ein mehr als freundliches Lächeln.

Boris hatte noch jene Natascha im Gedächtnis, die er vor vier Jahren gekannt hatte: mit dem kurzen Kleid, den glänzenden Augen unter dem lockigen Haar und dem ausgelassenen, kindlichen Lachen, und daher geriet er, als nun eine ganz andere Natascha ins Zimmer trat, in Verwirrung, und auf seinem Gesicht malte sich staunende Bewunderung. Über diesen Ausdruck seines Gesichts empfand Natascha eine nicht geringe Freude.

»Nun, erkennst du deine frühere kleine Freundin, die wilde Hummel, wieder?« fragte die Gräfin.

Boris küßte Natascha die Hand und erwiderte, er sei erstaunt über die Veränderung, die mit ihr vorgegangen sei. »Wie schön Sie geworden sind!« schloß er.

»Das möchte ich meinen!« antworteten Nataschas lachende Augen.

»Finden Sie, daß Papa älter geworden ist?« fragte sie. Dann setzte sie sich, und ohne sich an dem Gespräch zwischen Boris und der Mutter zu beteiligen, musterte sie schweigend ihren Bräutigam aus der Kinderzeit bis auf die kleinsten Einzelheiten. Er glaubte eine Art von Druck zu fühlen, als dieser freundliche Blick so beharrlich auf seiner Person ruhte, und blickte ab und zu nach ihr hin.

Uniform, Sporen, Halsbinde und Haartracht, alles war bei Boris hübsch modern und comme il faut. Das hatte Natascha sofort bemerkt. Er saß ein wenig zur Seite gewandt auf einem Sessel neben der Gräfin, brachte mit der rechten Hand den schneeweißen Glacéhandschuh an der linken in Ordnung, sprach mit einer besonders feinen Art, die Lippen einzuziehen, über die Vergnügungen der höchsten Petersburger Gesellschaftskreise und gedachte mit einem Anflug freundlichen Spottes der früheren Moskauer Zeiten und der Moskauer Bekannten. Nicht ohne Absicht (Natascha merkte das sehr wohl) erwähnte er, als er von der höchsten Aristokratie sprach, den Ball beim französischen Gesandten, auf dem er gewesen sei, und die Einladungen bei N.N. und S.S.

Natascha saß die ganze Zeit über schweigend da und blickte ihn, den Kopf etwas neigend, von unten her an. Dieser Blick machte Boris immer unruhiger und setzte ihn in Verwirrung. Er sah häufiger zu Natascha hin und stockte in seinen Erzählungen. Er blieb nur zehn Minuten sitzen; dann stand er auf und empfahl sich. Immer noch schauten ihn dieselben neugierigen, herausfordernden und ein wenig spöttischen Augen an.

Nach diesem seinem ersten Besuch sagte sich Boris, daß Natascha auf ihn noch genau dieselbe Anziehungskraft ausübe wie früher, daß er sich aber diesem Gefühl nicht überlassen dürfe, weil eine Heirat mit ihr, einem fast vermögenslosen Mädchen, für seine Karriere verhängnisvoll werden müßte, eine Erneuerung der früheren Beziehungen aber ohne die Absicht einer Heirat eine unehrenhafte Handlungsweise sein würde. Boris faßte daher bei sich den Entschluß, fernere Begegnungen mit Natascha zu vermeiden; aber trotz dieses Entschlusses kam er nach einigen Tagen wieder und begann nun sich häufiger einzustellen und ganze Tage bei Rostows zu verleben. Er war der Ansicht, daß er sich notwendig mit Natascha aussprechen und ihr sagen müsse, sie müßten beide alles Vergangene der Vergessenheit übergeben; sie könne trotz allem nicht seine Frau werden; er habe kein Vermögen, und daher würden ihre Eltern sie ihm nie zur Frau geben. Aber es bot sich ihm nie eine rechte Gelegenheit zu einer Aussprache, und es war ihm auch gar zu peinlich, ihr diese Mitteilung zu machen. Mit jedem Tag fühlte er sich mehr gefesselt. Natascha ihrerseits schien, soweit es die Mutter und Sonja beobachten konnten, in Boris noch ebenso verliebt zu sein wie ehemals. Sie sang ihm seine Lieblingslieder, zeigte ihm ihr Album und veranlaßte ihn, ihr etwas hineinzuschreiben; aber sie ließ nicht zu, daß er von alten Zeiten redete, sondern gab ihm zu verstehen, wie schön die Gegenwart sei. Und täglich, wenn er wegging, war es ihm wie ein Nebel vor den Augen, und er hatte das nicht gesagt, was zu sagen er doch beabsichtigt hatte, und wußte selbst nicht, was er tat, und zu welchem Zweck er kam, und wie das alles enden sollte. Er hörte auf, bei Helene zu verkehren; er erhielt zwar von ihr alle Tage vorwurfsvolle Billetts, verlebte aber trotzdem ganze Tage bei Rostows.

XIII


Eines Abends, als die alte Gräfin unter vielem Seufzen und starkem Räuspern, in Nachthaube und Nachtjacke, ohne ihre falschen Locken, nur mit ihren eigenen armseligen Haarsträhnen, die unter der weißen baumwollenen Nachthaube hervorkamen, auf dem Teppich vor dem Bett kniend unter tiefen Verbeugungen ihr Abendgebet sprach, da knarrte die Tür, und mit Pantoffeln an den bloßen Füßen, ebenfalls in der Nachtjacke und mit Papilloten, kam Natascha hereingelaufen. Die Gräfin sah sich um und runzelte die Stirn. Sie sprach ihr letztes Gebet zu Ende: »Wird vielleicht dieses Lager heute mein Totenbett werden?«, aber ihre Gebetsstimmung war dahin. Natascha, deren Gesicht von lebhafter Erregung gerötet war, blieb, als sie sah, daß die Mutter betete, plötzlich mitten im Lauf stehen, kauerte sich nieder und streckte unwillkürlich die Zunge heraus, wie um sich selbst zu bedrohen. Als sie merkte, daß die Mutter weiterbetete, lief sie auf den Zehen, mit einem Fuß schnell gegen den andern schlitternd, zum Bett hin, warf die Pantoffeln ab und hüpfte auf eben das Lager, von dem die Gräfin gefürchtet hatte, daß es heute ihr Totenbett werden würde. Dieses Lager war ein hohes Federbett mit fünf immer kleiner werdenden Kopfkissen. Natascha sprang hinein, versank ganz darin, rückte nach der Wand hin und begann nun unter der Bettdecke allerlei Mutwillen zu treiben: einmal streckte sie sich lang aus, dann zog sie die gebogenen Knie bis ans Kinn, dann strampelte sie mit den Beinen und lachte fast unhörbar, wobei sie bald den Kopf unter der Decke versteckte, bald nach der Mutter hinblickte. Sobald die Gräfin ihr Gebet beendet hatte, näherte sie sich dem Bett mit strenger Miene; aber als sie sah, daß Natascha mit dem Kopf unter die Decke gekrochen war, lächelte sie in ihrer gutmütigen, nachsichtigen Art.

»Aber, aber!« sagte die Mutter.

»Mama, kann ich ein bißchen mit Ihnen plaudern? Ja?« fragte Natascha. »Nun also, einen Kuß auf das Halsgrübchen, und noch einen, und dann genug!« Sie schlang ihre Arme um den Hals der Mutter und küßte sie unter das Kinn. Im Verkehr mit der Mutter zeigte Natascha zwar äußerlich eine gewisse Derbheit der Manieren; aber sie benahm sich dabei doch taktvoll und geschickt und wußte, wie sie auch die Mutter mit den Händen anfassen mochte, es doch immer so zu tun, daß es der Mutter weder weh tat noch unangenehm oder hinderlich war.

»Nun, worüber willst du denn heute reden?« fragte die Mutter, nachdem sie sich auf den Kissen zurechtgelegt und gewartet hatte, bis Natascha sich zweimal um sich selbst gedreht, die Arme auf die Bettdecke gelegt, eine ernste Miene angenommen hatte und nun still neben ihr unter der Decke lag.

Diese nächtlichen Besuche Nataschas, die vor der Heimkehr des Grafen aus dem Klub stattzufinden pflegten, waren ein ganz besonderes Vergnügen für Mutter und Tochter.

»Worüber willst du denn heute reden? Ich muß dir sagen …«

Natascha hielt der Mutter mit der Hand den Mund zu.

»Sie wollen von Boris reden … Ich weiß«, sagte sie ernsthaft. »Eben deswegen bin ich ja auch gekommen. Reden Sie nicht; ich weiß alles. Aber nein, sagen Sie« (sie nahm die Hand weg), »sagen Sie, Mama: ist er nicht ein netter Mensch?«

»Natascha, du bist sechzehn Jahre alt; in deinem Alter war ich schon verheiratet. Du sagst, daß Boris nett ist. Er ist sehr nett, und ich habe ihn lieb wie einen Sohn; aber was hast du denn vor? Was denkst du eigentlich? Du hast ihm ganz den Kopf verdreht, das sehe ich wohl …«

Bei diesen Worten blickte die Gräfin zu ihrer Tochter hin. Natascha lag ruhig da und hielt die Augen unverwandt gerade vor sich hin auf eine der Sphinxe gerichtet, die, aus Mahagoniholz geschnitzt, an den Ecken der Bettstelle angebracht waren, so daß die Gräfin nur das Profil ihrer Tochter sah. Nataschas Gesicht überraschte die Gräfin durch seinen auffallend ernsten, nachdenklichen Ausdruck.

Natascha hörte zu und überlegte.

»Nun, und was ist dabei?« fragte sie.

»Du hast ihm ganz den Kopf verdreht«, sagte die Gräfin noch einmal. »Wozu das? Was willst du von ihm? Du weißt, daß du ihn nicht heiraten kannst.«

»Warum nicht?« erwiderte Natascha, ohne ihre Lage zu verändern.

»Weil er zu jung ist, weil er arm ist, weil er mit dir verwandt ist … weil du selbst ihn gar nicht einmal wahrhaft liebst.«

»Aber warum meinen Sie das?«

»Ich weiß es. Das führt zu nichts Gutem, mein Kind.«

»Aber wenn ich will …«, begann Natascha.

»Rede nicht solche Torheiten«, sagte die Gräfin.

»Aber wenn ich will …«

»Natascha, ich bitte dich in allem Ernst …«

Natascha ließ sie nicht zu Ende sprechen; sie zog die große Hand der Gräfin zu sich heran und küßte sie auf die Oberseite, dann in die Handfläche, dann drehte sie sie wieder herum und küßte sie auf den Knöchel des obersten Gelenkes eines Fingers, dann in die daneben befindliche Vertiefung, dann auf den folgenden Knöchel und so weiter, wobei sie flüsterte: »Januar, Februar, März, April, Mai.« – »Reden Sie doch, Mama; warum schweigen Sie denn? Reden Sie doch«, bat sie und sah ihre Mutter an, die mit zärtlichem Blick ihre Tochter betrachtete und, in diese Betrachtung versenkt, alles vergessen zu haben schien, was sie hatte sagen wollen.

»Das führt zu nichts Gutem, liebes Kind. Nicht alle Leute werden für euer kindliches Freundschaftsverhältnis Verständnis haben; und wenn man sieht, daß er so viel mit dir verkehrt, so kann dir das in den Augen der anderen jungen Männer, die zu uns kommen, schaden, und was die Hauptsache ist: es ist für ihn eine zwecklose Pein. Er hatte vielleicht schon eine für ihn passende reiche Partie gefunden, und nun kommt er hier um seinen Verstand.«

»Er kommt um seinen Verstand?« fragte Natascha.

»Ich will dir etwas von mir selbst erzählen. Ich hatte einen Vetter …«

»Ich weiß: Kirill Matwjejewitsch; aber der ist ja doch ein alter Mann?«

»Er ist nicht immer ein alter Mann gewesen. Aber weißt du was, Natascha? Ich werde mit Boris reden. Er soll nicht so oft herkommen …«

»Warum soll er nicht, wenn er es doch gern tut?«

»Weil ich weiß, daß doch nichts daraus wird.«

»Woher wissen Sie das? Nein, Mama, reden Sie nicht mit ihm. Was sind das für Dummheiten!« rief Natascha im Ton eines Menschen, dem jemand sein Eigentum wegnehmen will. »Nun, wenn ich ihn auch nicht heirate, darum kann er doch herkommen, wenn es ihm und mir Vergnügen macht.« Natascha blickte die Mutter lächelnd an.

»Wenn ich ihn auch nicht heirate; aber bloß so«, sagte sie noch einmal.

»Was meinst du damit, mein Kind?«

»Nun, bloß so. Ich brauche ihn ja nicht zu heiraten, aber … bloß so.«

»Bloß so, bloß so!« sprach ihr die Gräfin nach und brach plötzlich nach Art alter Frauen in ein gutmütiges Gelächter aus, so daß ihr ganzer Leib schütterte.

»Lachen Sie doch nicht so; hören Sie auf!« rief Natascha. »Das ganze Bett wackelt ja davon. Sie haben furchtbare Ähnlichkeit mit mir; Sie sind gerade so ein lachlustiges Ding wie ich … Warten Sie mal …« Sie ergriff beide Hände der Gräfin und küßte an der einen die Vertiefung beim kleinen Finger und den Knöchel desselben, wobei sie sagte: »Juni, Juli«, und küßte dann an der anderen Hand weiter: »August.« – »Mama, ist er sehr in mich verliebt? Wie urteilen Sie darüber? Sind die jungen Männer in Sie auch so verliebt gewesen? Er ist sehr nett, sehr, sehr nett! Nur nicht ganz nach meinem Geschmack: er ist so schmal wie eine Standuhr … Verstehen Sie mich nicht …? Schmal, wissen Sie, grau, hellgrau …«

»Was redest du für Unsinn!« sagte die Gräfin.

Natascha fuhr fort:

»Verstehen Sie mich wirklich nicht? Nikolai würde mich gleich verstehen … Besuchow, das ist so ein Blauer, dunkelblau mit Rot, dabei aber viereckig.«

»Mit dem kokettierst du auch«, sagte die Gräfin lachend.

»Nein, er ist ein Freimaurer, wie ich erfahren habe. Er ist ein braver Mensch, dunkelblau mit Rot … Wie soll ich es Ihnen nur deutlich machen …«

»Liebe Gräfin«, hörten sie den Grafen vor der Tür sagen. »Schläfst du noch nicht?« Natascha sprang auf, nahm ihre Pantoffeln in die Hand und lief barfuß nach ihrem Zimmer.

Sie konnte lange Zeit nicht einschlafen. Sie dachte immerzu daran, daß niemand all das verstand, was ihr selbst doch so verständlich war: ihre eigenen Empfindungen.

»Ob Sonja?« dachte sie, während sie das schlafende, zusammengerollte Kätzchen mit der dicken, langen Haarflechte betrachtete. »Nein, wie sollte sie das können! Sie ist zu tugendhaft. Sie hat sich in Nikolai verliebt und will nun von nichts weiter wissen. Auch Mama versteht mich nicht. Es ist erstaunlich, wie klug ich bin, und wie … nett sie ist«, fuhr sie fort, indem sie von sich selbst in der dritten Person sprach und sich vorstellte, daß das irgendein sehr kluger Mann, der allerklügste und allerbeste, von ihr sage. »Sie besitzt alle erdenklichen Vorzüge«, fuhr dieser Mann fort, »sie ist klug, außerordentlich nett, ferner schön, außerordentlich schön, und gewandt: sie schwimmt und reitet vorzüglich; und nun erst die Stimme! Man kann sagen: eine bewundernswerte Stimme!«

Sie sang ihre Lieblingsmelodie aus einer Cherubinischen Oper, lachte vor Freude bei dem Gedanken, daß sie nun gleich einschlafen werde, und rief Dunjascha, damit sie die Kerze auslösche; und wirklich war Dunjascha noch nicht aus dem Zimmer, als Natascha bereits in eine andere, noch glücklichere Welt, die Welt der Träume, übergegangen war, wo alles ebenso schön und wohlig war wie in der Wirklichkeit, aber insofern noch besser, als es andersartig war.

Am andern Tag ließ die Gräfin Boris auf ihr Zimmer bitten und redete mit ihm, und von diesem Tag an stellte er seine Besuche bei Rostows ein.

XIV


Am 31. Dezember, dem Silvesterabend vor Beginn des Jahres 1810, fand bei einem der Großen aus der Zeit der Kaiserin Katharina ein Ball statt. Zu diesem Ball war auch das ganze diplomatische Korps eingeladen, und auch der Kaiser hatte sein Erscheinen zugesagt.

Auf dem Englischen Kai erstrahlte das berühmte Haus des Großwürdenträgers vom Schein unzähliger Lichter. An dem hellerleuchteten Portal war der Fußboden mit rotem Tuch belegt. Dort an der Auffahrt stand Polizei, nicht nur gewöhnliche Gendarmen, sondern der Polizeimeister selbst und ein Dutzend Polizeioffiziere.

Sowie eine Equipage wegfuhr, folgte auch schon wieder eine neue, mit Lakaien in roten Livreen und Federhüten. Aus den Equipagen stiegen Männer in Uniformen, mit Ordenssternen und Ordensbändern; Damen in Atlas und Hermelin stiegen vorsichtig über die geräuschvoll herabgeschlagenen Wagentritte hinab und schritten eilig und lautlos über das Tuch in das Portal hinein.

Fast jedesmal, wenn eine neue Equipage vorfuhr, lief ein Flüstern durch die Menge, und alle nahmen die Mützen ab.

»Der Kaiser …? Nein, ein Minister … ein Prinz … ein Gesandter … Siehst du wohl den Federbusch?« hieß es im Schwarm der Zuschauer.

Einer aus der Menge, der besser gekleidet war als die andern, schien alle Anfahrenden zu kennen und nannte den übrigen die Namen der vornehmsten Großen jener Zeit.

Schon hatte sich der dritte Teil der Gäste zu diesem Ball eingefunden; aber bei Rostows, die ebenfalls eingeladen waren und den Ball besuchen wollten, waren die Damen noch in größter Eile dabei, sich anzukleiden.

Um dieses Balles willen hatten in der Familie Rostow viele Erörterungen stattgefunden, und viele Vorbereitungen waren getroffen worden, und viele Befürchtungen hatten Unruhe erregt: würden sie auch eine Einladung erhalten, und würden die Kleider rechtzeitig fertig werden, und würde an diesen auch alles nach Wunsch ausgefallen sein?

Mit Rostows zusammen sollte Marja Ignatjewna Peronskaja auf den Ball fahren, eine Freundin und Verwandte der Gräfin, eine hagere, gelbliche Hofdame des alten Hofes, die den Provinzlern Rostow in den höchsten Petersburger Gesellschaftskreisen als Führerin und Ratgeberin diente.

Um zehn Uhr abends sollten Rostows die Hofdame vom Taurischen Garten abholen; aber jetzt waren es schon fünf Minuten vor zehn, und die jungen Mädchen waren noch nicht angekleidet.

Es war der erste große Ball, den Natascha in ihrem Leben besuchte. Sie war an diesem Tag um acht Uhr morgens aufgestanden und hatte sich den ganzen Tag über in fieberhafter Unruhe und Tätigkeit befunden. Alle ihre Kräfte waren vom frühen Morgen an darauf gerichtet gewesen, daß sie alle drei, sie selbst und die Mama und Sonja, auch wirklich recht schön gekleidet wären. Sonja und die Gräfin hatten sich in dieser Hinsicht völlig in Nataschas Hände gegeben. Die Gräfin sollte ein dunkelrotes Samtkleid tragen und die beiden jungen Mädchen weiße Kreppkleider über rosaseidenen Unterkleidern, mit Rosen am Mieder. Die Haare sollten à la grecque frisiert sein.

Alles Wesentliche war bereits getan: Füße, Arme, Hals und Ohren waren schon mit besonderer Sorgfalt ballmäßig gewaschen, parfümiert und gepudert; die durchbrochenen seidenen Strümpfe und die weißen Atlasschuhe mit den Bandschleifen waren schon angezogen, die Frisuren fast fertig. Sonja brachte an ihrem Anzug nur noch die letzten Kleinigkeiten in Ordnung, die Gräfin ebenfalls; aber Natascha, die sich mit allen geschäftig abgemüht hatte, war noch weit zurück. Sie saß noch, mit dem Frisiermantel um die mageren Schultern, vor dem Spiegel. Sonja stand, schon angekleidet, mitten im Zimmer und steckte, mit ihrem feinen Finger so stark zudrückend, daß er ihr weh tat, das unter der Stecknadel knirschende letzte Band fest.

»Nicht so, nicht so, Sonja!« rief Natascha; sie drehte dabei den Kopf, der gerade frisiert wurde, und griff sich dann mit den Händen nach den Haaren, da das Stubenmädchen, das diese festhielt, sie nicht so schnell hatte loslassen können. »Nicht so die Schleife; komm mal her!«

Sonja kauerte sich vor ihr nieder. Natascha steckte ihr das Band anders.

»Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, aber so kann ich Sie wirklich nicht frisieren«, sagte das Stubenmädchen, das Nataschas Haar in den Händen hatte.

»Ach, mein Gott, gleich, gleich! Siehst du, so, Sonja!«

»Seid ihr bald soweit?« fragte die Gräfin vom Nebenzimmer aus. »Es ist gleich zehn.«

»Im Augenblick! Sind Sie denn fertig, Mama?«

»Ich habe mir nur noch die Toque anzustecken.«

»Tun Sie es ja nicht ohne mich!« rief Natascha. »Sie verstehen das nicht ordentlich.«

»Aber es ist schon zehn Uhr.«

Sie hatten gerechnet, daß sie um halb elf auf dem Ball sein wollten, und nun mußte Natascha sich erst noch anziehen, und dann mußten sie noch nach dem Taurischen Garten fahren.

Sowie die Frisur fertig war, lief Natascha im kurzen Unterkleid, unter dem die Ballschuhe zu sehen waren, und in einer Nachtjacke, die ihrer Mutter gehörte, zu Sonja hin, musterte sie von allen Seiten und eilte dann zur Mutter. Indem sie ihr den Kopf hin und her drehte, steckte sie ihr die Toque fest; sie ließ sich kaum Zeit, ihr einen Kuß auf das graue Haar zu drücken, und lief wieder zu den Stubenmädchen hin, die ihr den Rock des Kreppkleides kürzer nähten.

Denn es war noch ein Hemmnis zu beseitigen: Nataschas Kleiderrock war zu lang. Zwei Mädchen waren damit beschäftigt, ihn kürzer zu nähen, wobei sie eilig die Fäden abbissen. Eine dritte, mit Stecknadeln zwischen den Lippen und Zähnen, kam aus dem Zimmer der Gräfin zu der mithelfenden Sonja gelaufen; die vierte hielt das Kreppkleid, an dem genäht wurde, in der hochgehobenen Hand.

»Mawruscha, bitte, recht schnell, Liebe, Gute!«

»Reichen Sie mir von da den Fingerhut, gnädiges Fräulein!«

»Na, seid ihr endlich soweit?« fragte der Graf hinter der angelehnten Tür. »Was habt ihr aber für schönes Parfüm! Die Peronskaja wartet gewiß schon ungeduldig.«

»Fertig, gnädiges Fräulein«, sagte das eine Stubenmädchen, hob das verkürzte Kreppkleid mit zwei Fingern in die Höhe, indem sie dagegen blies und es schüttelte, wie wenn sie dadurch ihre Freude über die Duftigkeit und Sauberkeit dessen, was sie da hielt, zum Ausdruck bringen wollte.

Natascha machte sich daran, das Kleid anzuziehen.

»Gleich, gleich! Komm jetzt nicht herein, Papa!« rief sie, noch unter dem Krepprock hervor, der ihr Gesicht verdeckte, dem Vater zu, der im Begriff war, die Tür zu öffnen.

Sonja schlug die Tür zu. Eine Minute darauf wurde der Graf hereingelassen. Er war in blauem Frack, Kniestrümpfen und Schuhen, parfümiert und pomadisiert.

»Ach, Papa, wie hübsch du aussiehst! Ganz entzückend!« rief Natascha, die mitten im Zimmer stand und die Falten des Kreppkleides ordnete.

»Erlauben Sie, gnädiges Fräulein, erlauben Sie!« sagte eines der Stubenmädchen, das neben Natascha kniete, das Kleid zurechtzupfte und die Stecknadeln mit der Zunge von einer Seite des Mundes nach der anderen schob.

»Nimm’s mir nicht übel!« rief Sonja ganz verzweifelt, indem sie Nataschas Kleid betrachtete, »nimm’s mir nicht übel, aber es ist noch zu lang!«

Natascha trat etwas weiter zurück, um sich im Trumeau sehen zu können. Das Kleid war zu lang.

»Bei Gott, gnädiges Fräulein, es ist nicht zu lang«, beteuerte Mawruscha, die auf dem Fußboden hinter Natascha herrutschte.

»Nun, wenn es zu lang ist, nähen wir es noch weiter um; damit sind wir in einer Minute fertig«, sagte die resolute Dunjascha, zog eine Nähnadel aus ihrem Brusttuch und machte sich von neuem auf dem Fußboden an die Arbeit.

In diesem Augenblick trat, in Samtkleid und Toque, mit leisen Schritten, wie verschämt, die Gräfin ins Zimmer.

»Ei, ei! Meine schöne Frau!« rief der Graf. »Sie ist schöner als ihr alle zusammen!« Er wollte sie umarmen; aber sie trat errötend zurück, um sich nichts zerdrücken zu lassen.

»Mama, die Toque muß mehr seitwärts sitzen!« rief Natascha. »Ich werde sie Ihnen zurechtstecken.« Mit diesen Worten lief sie vorwärts auf die Mutter zu; aber die Mädchen, die das Kleid verkürzten, konnten ihr nicht so schnell nachkommen, und es riß ein Stückchen Krepp ab.

»O mein Gott!« rief Natascha erschrocken. »Was war das? Ich kann wahrhaftig nichts dafür …«

»Das tut nichts«, tröstete Dunjascha. »Ich nähe es wieder an; dann sieht es kein Mensch.«

»Ach, wie wunderschön! Mein Prachtkind!« sagte von der Tür aus die eintretende Kinderfrau. »Und unsere liebe Sonja! Nun, das sind einmal zwei allerliebste junge Damen …!«

Um ein Viertel auf elf setzten sich endlich alle in die beiden Equipagen und fuhren fort. Aber sie mußten noch nach dem Taurischen Garten fahren.

Fräulein Peronskaja war schon bereit. Trotz ihres Alters und ihrer Häßlichkeit hatte sie dieselben Zurüstungen mit sich vorgenommen wie die Rostowschen Damen, wiewohl nicht mit solcher Unruhe und Hast (für sie war ein solcher Ball etwas Gewöhnliches); aber sie hatte ihren alten, unschönen Körper ebenso gewaschen, parfümiert und gepudert und sich ebenso sorgsam hinter den Ohren gesäubert; ja es hatte sogar, ganz ebenso wie bei Rostows, die bejahrte Kammerfrau voll Entzücken die Toilette der alten Hofdame bewundert, als diese im gelben Kleid, mit dem Namenszug der Kaiserin als Abzeichen ihrer Stellung, in den Salon getreten war.

Fräulein Peronskaja lobte die Toiletten der Rostowschen Damen. Die Rostowschen Damen ihrerseits lobten den auserlesenen Geschmack und die Eleganz der Toilette der Hofdame, und sorgfältig darauf bedacht, ihre Frisuren und Kleider nicht zu verderben, nahmen sie endlich alle um elf Uhr ihre Plätze in den Equipagen ein und fuhren zum Ball.

XV


Natascha hatte an diesem Tag vom frühen Morgen an auch nicht einen Augenblick lang freie Zeit gehabt und war nicht ein einziges Mal dazu gekommen, über das, was ihr bevorstand, nachzudenken.

In der feuchten, kalten Luft, der Enge und dem Halbdunkel des schaukelnden Wagens stellte sie sich zum erstenmal lebhaft das vor, was ihrer dort, auf dem Ball, in den hellerleuchteten Sälen, wartete: Musik, Blumen, Tänze, der Kaiser, die ganze glänzende Jugend Petersburgs. Das, was ihrer wartete, war so schön, daß sie nicht einmal daran glauben konnte, daß es Wirklichkeit werden würde – so wenig stand es mit ihren jetzigen Empfindungen im Einklang: mit der Kälte, Enge und Dunkelheit des Wagens. Alles das, was ihrer wartete, kam ihr erst dann recht zum Verständnis, als sie über das rote Tuch am Portal gegangen war und nun in den Flur eintrat, den Pelz ablegte und neben Sonja vor der Mutter her zwischen Blumen die hellerleuchtete Treppe hinanstieg. Da erst begann sie zu überlegen, wie sie sich auf dem Ball benehmen müsse, und bemühte sich, das majestätische Wesen anzunehmen, welches sie für ein junges Mädchen auf einem Ball für notwendig erachtete. Aber zu ihrem Glück mußte sie merken, daß ihre Augen unwillkürlich umherliefen; sie vermochte nichts deutlich zu sehen; ihr Puls hatte hundert Schläge in der Minute, und das Blut in ihrem Herzen fing gewaltig zu klopfen an. Sie war nicht imstande, jenes Wesen anzunehmen, durch das sie sich lächerlich gemacht haben würde, und ging vorwärts halb bewußtlos vor Aufregung und mit allen Kräften bemüht, diese Aufregung zu verbergen. Und gerade dies war dasjenige Wesen, das ihr am allerbesten stand. Vor ihnen und hinter ihnen gingen, gleichfalls im Ballanzug, leise miteinander redend, andere Gäste. Die Spiegel auf der Treppe warfen die Bilder der Damen in weißen, blauen und rosa Kleidern, mit Brillanten und Perlen an den entblößten Armen und Hälsen, zurück.

Natascha blickte in die Spiegel, konnte aber darin ihr eigenes Bild nicht aus denen der anderen herausfinden. Alles floß zu einer einzigen glänzenden Prozession zusammen. Beim Eintritt in den ersten Saal wurde Natascha durch das gleichmäßige Getöse der Stimmen, der Schritte und der Begrüßungen ganz betäubt; Licht und Glanz blendeten sie noch mehr als vorher. Der Hausherr und die Hausfrau, die schon seit einer halben Stunde an der Eingangstür standen und zu den Eintretenden immer ein und dieselben Worte sagten: »Wir sind entzückt, Sie zu sehen«, begrüßten ebenso auch Rostows und Fräulein Peronskaja.

Die beiden jungen Mädchen, beide in den gleichen weißen Kleidern, mit den gleichen Rosen im schwarzen Haar, machten in gleicher Weise ihren Knicks; aber unwillkürlich ließ die Hausfrau ihren Blick länger auf der schlanken Natascha ruhen. Sie betrachtete sie mit Interesse und lächelte ihr allein besonders zu, noch über das Lächeln hinaus, das sie als Hausfrau allen zu zeigen hatte. Beim Anblick dieses jungen Mädchens erinnerte sie sich vielleicht an ihre eigene goldene, nie wiederkehrende Mädchenzeit und an ihren ersten Ball. Auch der Hausherr folgte Natascha mit den Augen und fragte den Grafen, welches seine Tochter sei.

»Allerliebst!« sagte er und küßte seine Fingerspitzen.

Im Saal erwarteten die Gäste, an der Eingangstür zusammengedrängt, stehend den Kaiser. Die Gräfin mit den Ihrigen stellte sich in die vordersten Reihen dieser Menge. Natascha hörte und merkte an den Blicken, daß manche der Umstehenden nach ihr fragten und sie betrachteten. Sie wußte, daß sie denen gefiel, die ihr ihre Aufmerksamkeit zuwandten, und diese Wahrnehmung diente dazu, sie einigermaßen zu beruhigen.

»Hier sind manche von derselben Art wie wir und manche, die nicht so gut aussehen wie wir«, dachte sie.

Fräulein Peronskaja nannte der Gräfin die berühmtesten der auf dem Ball anwesenden Persönlichkeiten.

»Dort, das ist der holländische Gesandte, sehen Sie wohl, der Graukopf«, sagte Fräulein Peronskaja, indem sie auf einen alten Herrn mit noch vollem, lockigem, silbergrauem Haar wies, der von Damen umgeben war, die er durch irgendwelche Späße zum Lachen brachte.

»Und da ist sie, die Königin von Petersburg, die Gräfin Besuchowa«, sagte sie und zeigte auf die eintretende Helene. »Wie schön sie ist! Sie gibt Marja Antonowna nichts nach; sehen Sie nur, wie die jungen und alten Herren ihr den Hof machen. Sie ist beides: schön und klug. Es heißt, daß Prinz« (sie nannte den Namen) »ganz wahnsinnig in sie verliebt ist. Und hier diese zwei Damen, wenn sie auch nicht schön sind, werden sogar noch mehr umschwärmt.« Sie zeigte auf eine Mutter und deren recht häßliche Tochter, die durch den Saal gingen.

»Das junge Mädchen hat viele Millionen«, sagte Fräulein Peronskaja. »Und nun sehen Sie nur diese Anzahl von Bewerbern!«

»Das ist ein Bruder der Gräfin Besuchowa, Anatol Kuragin«, erklärte sie weiter, indem sie auf einen schönen Chevaliergardisten wies, der an ihnen vorbeiging und mit hocherhobenem Kopf über alle Damen weg ins Unbestimmte blickte. »Welch ein schöner Mann! Nicht wahr? Man sagt, er wird dieses reiche Mädchen bekommen. Auch Ihr Verwandter, Drubezkoi, bemüht sich stark um sie. Sie soll Millionen mitbekommen. Gewiß, das ist der französische Gesandte«, antwortete sie mit Bezug auf Caulaincourt auf eine Frage der Gräfin, wer das sei. »Sehen Sie nur, wie ein regierender Herrscher! Und doch sind die Franzosen so liebenswürdig, so überaus liebenswürdig. Im gesellschaftlichen Leben kann man sich gar nichts Liebenswürdigeres denken. Und da ist auch sie! Nein, die Schönste von allen ist doch unsere Marja Antonowna! Und wie einfach sie angezogen ist! Entzückend! – Und dieser Dicke da mit der Brille, das ist ein kosmopolitischer Freimaurer«, sagte Fräulein Peronskaja, auf Besuchow zeigend. »Halten Sie ihn einmal neben seine Frau dort: der reine Hanswurst!«

Pierre schritt, die Menge teilend, vorwärts, indem er seinen dicken Körper hin und her wiegte und so lässig und gutmütig nach rechts und links nickte, als wenn er durch den Menschenschwarm auf einem Markt ginge. An der Art, wie er sich durch die Menge weiterschob, konnte man sehen, daß er jemand suchte.

Natascha freute sich sehr, das bekannte Gesicht Pierres, dieses Hanswurstes, wie ihn Fräulein Peronskaja genannt hatte, zu erblicken; sie wußte, daß Pierre nach ihnen und namentlich nach ihr in der Menge suchte. Pierre hatte ihr versprochen, zu dem Ball zu kommen und ihr Herren vorzustellen.

Aber ehe Pierre noch zu ihnen hingelangt war, blieb er bei einem nur mäßig großen, sehr schönen, brünetten Offizier in weißer Uniform stehen, der am Fenster stand und mit einem andern, hochgewachsenen Herrn mit Ordensstern und Ordensband im Gespräch begriffen war. Natascha erkannte den kleineren jungen Mann in der weißen Uniform auf den ersten Blick: es war Bolkonski, und es wollte ihr scheinen, als sei er bedeutend jünger, heiterer und schöner geworden.

»Da ist noch ein Bekannter, Mama; sehen Sie ihn? Bolkonski«, sagte Natascha, auf den Fürsten Andrei weisend. »Besinnen Sie sich? Er hat einmal bei uns in Otradnoje eine Nacht logiert.«

»Ah, Sie kennen ihn?« sagte Fräulein Peronskaja. »Ich kann ihn nicht ausstehen. Er hat in den höheren Regionen jetzt großen Einfluß: er macht sozusagen Regen und Sonnenschein. Und dabei besitzt er einen Hochmut, der grenzenlos ist! Er artet ganz nach seinem Vater. Er hat sich jetzt mit Speranski liiert, und sie verfassen zusammen allerlei Reformprojekte. Sehen Sie nur, wie er mit den Damen verkehrt! Da redet eine mit ihm, und er wendet sich von ihr fort!« sagte sie, empört nach ihm hindeutend. »Ich würde es ihm gehörig geben, wenn er sich gegen mich so benehmen wollte, wie gegen diese Damen.«

XVI


Plötzlich kam alles in Bewegung; ein Gemurmel ging durch die Menge; sie drängte vorwärts, dann teilte sie sich wieder, nach beiden Seiten zurücktretend, und zwischen diesen Reihen trat unter den Klängen des schmetternd einsetzenden Orchesters der Kaiser ein. Hinter ihm gingen der Hausherr und die Hausfrau. Im Gehen verbeugte sich der Kaiser eilig bald nach rechts, bald nach links, wie wenn er über diesen ersten Augenblick der Begrüßung recht schnell hinwegzukommen suchte. Die Musik spielte eine Polonaise, die damals wegen des dazu gedichteten Textes sehr bekannt war. Dieser Text begann: »Edler Kaiser Alexander, den wir voll Entzücken schauen, Kaiserin Jelisaweta, allerholdeste der Frauen …« Der Kaiser begab sich in den Salon; die Menge strömte zur Tür; einige Personen gingen eilig in den Salon hinein und kehrten bald darauf mit verändertem Gesichtsausdruck von dort zurück. Nun strömte die Menge wieder von der Tür des Salons zurück, da in dieser der Kaiser, im Gespräch mit der Hausfrau, erschien. Ein junger Mann trat mit verlegener Miene auf die Damen zu und bat sie, weiter zurückzutreten; aber einige Damen schienen, nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, alle Regeln des gesellschaftlichen Verkehrs vollständig vergessen zu haben und drängten ohne Rücksicht auf ihre dabei zu Schaden kommenden Toiletten vorwärts. Die Herren begannen sich den Damen zu nähern und sich mit ihnen paarweise zur Polonaise aufzustellen.

Alles wich auseinander, und der Kaiser trat, die Hausfrau am Arm führend, aus der Tür des Salons; er schritt mit lächelndem Gesicht einher, ohne den Takt der Musik zu beachten. Hinter ihm kam der Hausherr mit der schönen Fürstin Marja Antonowna Naryschkina, dann die Gesandten, die Minister und verschiedene Generale; Fräulein Peronskaja nannte der Gräfin Rostowa unermüdlich die Namen der Vorübergehenden. Mehr als die Hälfte der auf dem Ball anwesenden Damen hatten Kavaliere und gingen in der Polonaise mit oder waren im Begriff einzutreten. Natascha merkte, daß sie nebst der Mutter und Sonja unter der Minderzahl derjenigen Damen blieb, die nicht zur Polonaise aufgefordert, sondern an die Wand gedrängt wurden. Sie stand da und ließ ihre mageren Arme herunterhängen; ihr noch kaum entwickelter Busen hob sich in gemessenen Zeiträumen, zwischen denen sie den Atem anhielt; mit glänzenden, erschrockenen Augen blickte sie vor sich hin; man konnte ihr ansehen, daß sie darauf wartete, ob ihr die höchste Freude oder das größte Leid zuteil werden würde. Es interessierte sie weder der Kaiser noch all die hohen Persönlichkeiten, auf welche Fräulein Peronskaja hinwies; sie hatte nur einen Gedanken: »Wird denn wirklich niemand zu mir kommen? Werde ich denn wirklich diesen ersten Tanz nicht mittanzen? Werden mich denn wirklich alle diese Herren unbeachtet lassen, die mich jetzt nicht einmal zu sehen scheinen, sondern, wenn sie nach mir hinblicken, es mit einem Ausdruck tun, wie wenn sie sagen wollten: ›Ach, das ist nicht die Richtige; es hat keinen Zweck, da noch hinzublicken!‹ Nein, es ist nicht möglich!« dachte sie. »Sie müssen doch wissen, wie gern ich tanzen möchte, und wie vorzüglich ich tanze, und wieviel Vergnügen es ihnen machen würde, mit mir zu tanzen.«

Die Töne der Polonaise, die ziemlich lange dauerte, bekamen für Nataschas Ohren schon eine traurige Klangfärbung, wie die Erinnerung an etwas unwiederbringlich Verlorenes. Sie kämpfte mit dem Weinen. Fräulein Peronskaja war von ihnen weggegangen. Der Graf befand sich am andern Ende des Saales; die Gräfin, Sonja und sie standen allein wie in einem Wald in dieser fremden Menschenmenge: niemand kümmerte sich um sie, niemand hatte sie nötig. Fürst Andrei ging mit einer Dame neben ihnen vorbei, erkannte sie aber augenscheinlich nicht. Der schöne Anatol sagte lächelnd etwas zu der Dame, die er führte, und blickte dabei Natascha in derselben Art ins Gesicht, wie man eine Wand anblickt. Boris kam zweimal bei ihnen vorüber, wandte sich aber jedesmal ab. Berg und seine Frau, welche nicht tanzten, traten zu ihnen.

Natascha hatte die Empfindung, daß es etwas Demütigendes habe, wenn sich die Familie hier auf dem Ball so zusammenschließe; als ob es für Familiengespräche nicht andere Orte gäbe als gerade einen Ball. Wjera erzählte ihr etwas von ihrem grünen Kleid; aber Natascha hörte ihr nicht zu und sah sie nicht an.

Endlich blieb der Kaiser neben seiner letzten Dame stehen (er hatte mit drei Damen getanzt); die Musik schwieg. Ein übereifriger Adjutant kam zu Rostows hingelaufen und bat sie, beiseite zu treten, obwohl sie bereits dicht an der Wand standen, und vom Orchester erklangen, noch langsam und piano, aber klar und bestimmt, die Töne eines Walzers mit ihrem lockenden Rhythmus. Der Kaiser sah sich lächelnd im Saal um. Es verging eine Minute; aber noch niemand tanzte. Ein Adjutant, der das Amt eines Vortänzers versah, trat zur Gräfin Besuchowa und forderte sie auf. Lächelnd hob sie den Arm in die Höhe und legte ihn auf die Schulter des Adjutanten, ohne diesen anzublicken. Der Vortänzer, ein Meister in seinem Fach, schlang im Bewußtsein seiner Kunstfertigkeit mit einer ruhigen, abgemessenen Bewegung seinen Arm fest um seine Dame, flog zuerst mit ihr in einer Glissade am Rand des Kreises hin, ergriff bei der Ecke des Saales ihre linke Hand, drehte seine Tänzerin herum, und nun hörte man durch die immer schneller werdenden Klänge der Musik hindurch nur das taktmäßige Sporenklirren von den flinken, behenden Beinen des Adjutanten, während an einer bestimmten Stelle des Dreivierteltaktes, bei der Schwenkung, das Samtkleid seiner Dame, gleichsam explodierend, sich blähte. Natascha blickte nach dem Paar hin und war nahe daran zu weinen, weil es ihr nicht vergönnt war, diesen ersten Walzer mitzutanzen.

Fürst Andrei in seiner weißen Uniform als Kavallerieoberst, in Strümpfen und Schuhen, stand in den vordersten Reihen des Kreises nicht weit von den Rostowschen Damen und befand sich in angeregter, fröhlicher Stimmung. Der Baron Vierhof redete mit ihm über die auf den nächsten Tag angesetzte erste Sitzung des Reichsrates. Da Fürst Andrei nahe Beziehungen zu Speranski hatte und an den Arbeiten der gesetzgebenden Kommission teilnahm, so war er in der Lage, zuverlässige Mitteilungen über die morgige Sitzung zu machen, über welche sehr verschiedenartige Gerüchte in Umlauf waren. Aber er hörte nicht zu, was ihm Vierhof sagte, und blickte bald nach dem Kaiser, bald nach den Kavalieren, die zu tanzen beabsichtigten, aber sich nicht entschließen konnten, in den Kreis zu treten.

Fürst Andrei beobachtete mit Interesse diese Herren, welche die Anwesenheit des Kaisers so schüchtern machte, und die Damen, die vor Sehnsucht, aufgefordert zu werden, fast vergingen.

Pierre trat an den Fürsten Andrei heran und faßte ihn bei der Hand.

»Sie tanzen ja sonst immer. Es ist eine junge Dame hier, die ich protegiere, ein Fräulein Rostowa; fordern Sie die doch auf«, sagte er.

»Wo ist sie?« fragte Bolkonski. »Pardon«, sagte er, sich zu dem Baron wendend, »wir wollen dieses Gespräch an anderm Ort zu Ende führen; auf einem Ball muß man tanzen.« Er trat aus den Reihen der Zuschauenden heraus und schlug die Richtung ein, die ihm Pierre gewiesen hatte. Nataschas unglückliches, verzweifeltes Gesicht fiel ihm sofort auf. Er erkannte sie, erriet ihre Empfindungen, sagte sich, daß sie wohl auf ihrem ersten Ball sei, erinnerte sich an ihr Gespräch am Fenster und begrüßte mit heiterer Miene die Gräfin Rostowa.

»Gestatten Sie, daß ich Sie mit meiner Tochter bekanntmache«, sagte die Gräfin errötend.

»Ich habe bereits das Vergnügen bekanntzusein, wenn die Komtesse sich meiner erinnert«, erwiderte Fürst Andrei. Mit einer tiefen, höflichen Verbeugung, die zu Fräulein Peronskajas Bemerkung über seine Ungezogenheit im vollsten Widerspruch stand, trat er zu Natascha heran und hob den Arm, um ihre Taille zu umfassen, noch bevor er die Aufforderung zum Tanz vollständig ausgesprochen hatte. Er bat um eine Walzertour. Der angstvolle Ausdruck auf Nataschas Gesicht, der in gleicher Weise bereit war, in Verzweiflung und in Entzücken überzugehen, wich plötzlich einem glückseligen, dankbaren, kindlichen Lächeln.

»Ich habe schon lange auf dich gewartet«, schien dieses vor Glückseligkeit ganz erschrockene Mädchen mit dem Lächeln zu sagen, das hinter den nahestehenden Tränen zum Vorschein kam, und hob ihre Hand auf die Schulter des Fürsten Andrei. Sie waren das zweite Paar, das in den Kreis trat. Fürst Andrei war einer der besten Tänzer seiner Zeit, und Natascha tanzte vorzüglich. Ihre Füßchen in den atlassenen Ballschuhen verrichteten das, was sie zu tun hatten, schnell, leicht und gleichsam unabhängig von Nataschas Willen, und ihr Gesicht strahlte vor Wonne und Glückseligkeit. Ihre entblößten Körperteile waren unschön im Vergleich mit denen der Gräfin Helene: ihre Schultern waren mager, der Busen unentwickelt, die Arme dünn. Aber Helenes Körper hatten die vielen tausend Blicke, die bereits über ihn hingeglitten waren, sozusagen schon mit einem Lack überzogen; Natascha dagegen sah aus wie ein Mädchen, das man zum erstenmal entblößt hat, und das sich darüber sehr schämen würde, wenn man ihm nicht versichert hätte, daß das notwendigerweise so sein müsse.

Fürst Andrei tanzte überhaupt gern, und in dem Wunsch, recht schnell von den klugen, politischen Gesprächen loszukommen, mit denen sich alle an ihn wandten, und ferner in dem Wunsch, recht schnell jenen ihm widerwärtigen Bann der Verlegenheit zu brechen, in welchen die Gegenwart des Kaisers alles schlug, hatte er sich entschlossen zu tanzen und hatte Natascha gewählt, weil gerade auf diese Pierre ihn hingewiesen hatte, und weil sie das erste schöne weibliche Wesen war, das ihm in die Augen gefallen war; aber sobald er diesen schlanken, geschmeidigen Körper umfaßte und sie sich so nahe an ihm zu bewegen begann und ihn aus solcher Nähe anlächelte, da fühlte er sich von ihrem Reiz wie von einem starken Wein benommen; er kam sich neu belebt und verjüngt vor, als er sie losgelassen hatte, Atem schöpfte und nun dastand und dem Tanz zuschaute.

XVII


Nach dem Fürsten Andrei trat Boris zu Natascha heran, um sie zum Tanz aufzufordern; es kam auch jener Adjutant, der als Vortänzer den Ball eröffnet hatte, und noch viele andere junge Leute, und Natascha, die ihre überzähligen Kavaliere an Sonja abgab, hörte, glückselig und mit gerötetem Gesicht, den ganzen Abend über nicht auf zu tanzen. Sie merkte und sah nichts von dem, was alle auf diesem Ball interessierte. Sie bemerkte nicht, daß der Kaiser lange mit dem französischen Gesandten sprach, daß er sich besonders gnädig mit einer bestimmten Dame unterhielt, daß dieser und jener Prinz dies und das sagte und tat, daß Helene einen großen Erfolg hatte und von irgendeiner hohen Persönlichkeit besonderer Beachtung gewürdigt wurde; sie sah den Kaiser überhaupt nicht und merkte, daß er sich entfernt hatte, erst daran, daß nach seinem Weggang der Ball einen munteren Charakter annahm. Einen der lustigen Kotillons vor dem Souper tanzte Fürst Andrei wieder mit Natascha. Er erinnerte sie an ihr erstes Zusammentreffen in der Allee von Otradnoje und erzählte, wie er in der mondhellen Nacht nicht habe einschlafen können und unfreiwillig ihr Gespräch mitangehört habe. Natascha errötete bei dieser Erinnerung und suchte sich zu rechtfertigen, als ob in diesem Gefühl, bei welchem Fürst Andrei sie, ohne es zu wollen, belauscht hatte, etwas läge, dessen sie sich zu schämen habe.

Wie alle Leute, die in den höheren Kreisen groß geworden sind, freute Fürst Andrei sich jedesmal, wenn er in diesen Kreisen auf etwas traf, was von dem allgemeinen Typus dieser Gesellschaftsschicht abwich. Und von der Art war Natascha, mit ihrer naiven Verwunderung, ihrer harmlosen Freude, ihrer kindlichen Schüchternheit und sogar mit ihren Fehlern im Französischsprechen. Er legte in der Art, wie er sie behandelte und mit ihr redete, eine besondere Zartheit und Behutsamkeit an den Tag. Während er neben ihr saß und mit ihr von den gewöhnlichsten, unbedeutendsten Dingen plauderte, betrachtete er mit innigem Vergnügen das freudige Leuchten ihrer Augen und ihr heiteres Lächeln, ein Ausdruck, der nicht durch die Gegenstände des Gesprächs, sondern durch die innere Glückseligkeit des jungen Mädchens hervorgerufen wurde. Und wenn Natascha aufgefordert wurde, sich lächelnd erhob und tanzend durch den Saal schwebte, so bewunderte Fürst Andrei ganz besonders ihre schüchterne, liebliche Anmut. Mitten im Kotillon kehrte Natascha nach Beendigung einer Figur, noch schweratmend, zu ihrem Platz zurück; da wurde sie schon wieder von einem neuen Kavalier aufgefordert. Sie war müde und glühte und dachte offenbar einen Augenblick daran, abzulehnen; aber gleich darauf legte sie doch wieder mit fröhlichem Gesicht ihre Hand auf die Schulter des Kavaliers und lächelte dem Fürsten Andrei zu.

»Ich würde mich freuen, wenn ich mich erholen und neben Ihnen sitzenbleiben dürfte; aber Sie sehen, wie ich fortwährend aufgefordert werde, und ich freue mich darüber, und es macht mich glücklich, und ich liebe alle Menschen, und Sie haben mit mir Verständnis für das alles«, dies und noch vieles, vieles andere sagte dieses Lächeln. Als der Kavalier sie losließ, hatte Natascha die Aufgabe, durch den Saal zu eilen, um zwei Damen zu der Figur heranzuholen.

»Wenn sie zuerst zu ihrer Kusine geht und dann erst zu einer andern Dame, so soll sie meine Frau werden«, sagte Fürst Andrei, nach ihr hinblickend, bei sich und war selbst von diesem Gedanken ganz überrascht. Sie ging zuerst zu ihrer Kusine.

»Was für ein Unsinn einem doch manchmal durch den Kopf geht!« dachte Fürst Andrei. »Aber soviel ist sicher: dieses junge Mädchen ist so liebenswürdig und so eigenartig, daß sie hier in Petersburg nicht einen Monat tanzen wird, dann ist sie verheiratet. So ein Mädchen ist hier eine Seltenheit«, dachte er, als Natascha zurückkam, eine Rose, die sich von ihrem Mieder loslöste, in Ordnung brachte und sich wieder neben ihn setzte.

Gegen Ende des Kotillons kam der alte Graf in seinem blauen Frack zu dem tanzenden Paar. Er lud den Fürsten Andrei zu einem Besuch bei sich zu Hause ein und fragte seine Tochter, ob sie sich gut amüsiere. Natascha antwortete ihm zunächst nicht, sondern lächelte ihm nur in einer Weise zu, als ob sie vorwurfsvoll sagte: »Wie kann man nur so fragen?«

»So gut wie noch nie in meinem Leben!« antwortete sie dann, und Fürst Andrei bemerkte, wie sich ihre mageren Arme schnell heben wollten, um den Vater zu umarmen, aber sofort wieder herabsanken. Natascha fühlte sich wirklich so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Sie befand sich auf jener höchsten Stufe des Glückes, wo der Mensch vollkommen gut und edel wird und nicht an die Möglichkeit glaubt, daß es in der Welt auch Schlimmes und Unglück und Kummer gebe.


Pierre empfand auf diesem Ball zum erstenmal die Stellung, welche seine Frau in den höheren Gesellschaftskreisen einnahm, als eine Beleidigung für sich selbst. Er war ingrimmig und zerstreut. Quer über seine Stirn zog sich eine breite Falte; am Fenster stehend, blickte er durch seine Brille, ohne überhaupt jemand zu sehen.

Natascha kam, als sie sich zum Souper begab, bei ihm vorbei.

Pierres finsteres, unglückliches Gesicht fiel ihr auf. Sie blieb vor ihm stehen. Sie hätte ihm gern geholfen, ihm gern von dem Übermaß ihres Glückes etwas abgegeben.

»Wie lustig es hier zugeht, Graf«, sagte sie, »nicht wahr?«

Pierre lächelte zerstreut; er hatte offenbar gar nicht verstanden, was sie gesagt hatte.

»Ja, ich freue mich sehr«, erwiderte er.

»Wie kann nur jemand mit etwas unzufrieden sein«, dachte Natascha. »Namentlich ein so guter Mensch wie dieser Besuchow.«

In Nataschas Augen waren alle auf dem Ball Anwesenden insgesamt gute, liebenswürdige, prächtige Menschen und liebten einander von Herzen. Niemand war imstande, einen anderen zu kränken, und somit mußten sie alle glücklich sein.

XVIII


Am andern Tag erinnerte sich Fürst Andrei zwar an den gestrigen Ball; aber er verweilte mit seinen Gedanken nicht lange dabei. »Ja, es war ein recht glänzender Ball. Und es war doch noch etwas … ja, richtig, Fräulein Rostowa ist allerliebst. Sie besitzt so eine eigene Frische, wie man sie sonst in Petersburg nicht findet; dadurch zeichnet sie sich aus.« Das war alles, was er über den gestrigen Ball dachte; und dann trank er Tee und setzte sich an die Arbeit.

Aber da er infolge der schlaflos verbrachten Nacht matt und müde war, ging an diesem Tag die Arbeit nicht recht vonstatten, und Fürst Andrei war außerstande etwas Ordentliches zu schaffen; fortwährend verwarf er (wie er das übrigens nicht selten tat) sofort selbst wieder, was er gemacht hatte, und war froh, als er jemand kommen hörte.

Der Besucher war ein Herr Bizki, der in verschiedenen Kommissionen mitarbeitete und in allen gesellschaftlichen Kreisen Petersburgs verkehrte, ein leidenschaftlicher Anhänger der neuen Ideen und persönlicher Verehrer Speranskis, der eifrigste Neuigkeitsjäger von ganz Petersburg, einer von den Menschen, die sich ihre politische Meinung gerade wie einen Anzug nach der Mode aussuchen, die aber eben darum sich als die eifrigsten Parteigänger ihrer jedesmaligen Richtung gebärden. Geschäftig kam er, nachdem er sich kaum Zeit gelassen hatte, den Hut abzulegen, zum Fürsten Andrei ins Zimmer gelaufen und begann sogleich zu reden. Er hatte soeben Einzelheiten über die am Vormittag dieses Tages stattgefundene Sitzung des Reichsrates gehört, die der Kaiser selbst eröffnet hatte, und erzählte davon in enthusiastischen Ausdrücken. Die Rede des Kaisers war von ganz ungewöhnlicher Art gewesen. Es war eine Rede gewesen, wie sie eigentlich nur konstitutionelle Monarchen halten. »Der Kaiser hat geradezu gesagt, der Reichsrat und der Senat seien staatliche Körperschaften; er hat gesagt, die Regierung dürfe nicht nach Willkür verfahren, sondern müsse ihrem Handeln feste Prinzipien zugrunde legen. Der Kaiser hat gesagt, das Finanzwesen müsse reorganisiert werden, und es solle ein Rechenschaftsbericht publiziert werden«, berichtete Bizki, wobei er einzelne Worte stark betonte und in bedeutsamer Weise die Augen weit öffnete.

»Ja, das heutige Ereignis ist der Beginn einer neuen Ära, der größten Ära in unserer Geschichte«, schloß er.

Fürst Andrei hörte den Bericht über die Eröffnung des Reichsrates, die er mit solcher Ungeduld erwartet und der er eine solche Bedeutung beigemessen hatte, und war erstaunt, daß dieses Ereignis jetzt, wo es sich vollzogen hatte, auf ihn gar keinen besonderen Eindruck machte, ja sogar ihm ganz unwichtig erschien. Er hörte Bizkis begeisterte Erzählung mit einem leisen spöttischen Lächeln. Ein überaus einfacher Gedanke ging ihm durch den Kopf: »Was geht das mich und Bizki an? Was haben wir beide davon, daß der Kaiser geruht hat dies und das im Reichsrat zu sagen? Kann mich das etwa glücklicher und besser machen?«

Und diese einfache Erwägung vernichtete plötzlich bei dem Fürsten Andrei das ganze Interesse, das er früher an den im Werk begriffenen Reformen genommen hatte. An diesem selben Tag sollte er bei Speranski dinieren, »im engsten Kreis«, wie ihm der Hausherr bei der Einladung gesagt hatte. Eine solche Einladung zu einem Diner im Familien- und Freundeskreis bei einem Mann, von dem er so begeistert war, hätte noch vor kurzem für den Fürsten Andrei großen Reiz gehabt, um so mehr, da er Speranski bisher noch nie in seiner Häuslichkeit gesehen hatte; aber jetzt hatte er eigentlich gar keine Lust hinzufahren.

Indes betrat Fürst Andrei dennoch zu der Zeit, auf die das Diner angesetzt war, Speranskis eigenes kleines Haus beim Taurischen Garten. Dieses Häuschen zeichnete sich durch eine ganz außerordentliche Sauberkeit aus, die an die Sauberkeit erinnerte, wie sie in Klöstern zu herrschen pflegt. In dem mit Parkett ausgelegten Speisezimmer fand Fürst Andrei, der sich ein wenig verspätet hatte, um fünf Uhr bereits sämtliche Teilnehmer dieses intimen Diners, nähere Bekannte Speranskis, versammelt. Damen waren nicht dabei, außer der kleinen Tochter Speranskis, deren langes Gesicht an den Vater erinnerte, und ihrer Gouvernante. Die Gäste waren: Gervais, Magnizki und Stolypin. Schon als er noch im Vorzimmer war, hörte Fürst Andrei laute Stimmen und helltönendes, deutlich artikuliertes Lachen, ein Lachen ähnlich dem der Schauspieler auf der Bühne. Mit einer Stimme, die der Stimme Speranskis glich, rief jemand deutlich: »Ha … ha … ha …« Fürst Andrei hatte Speranski noch nie lachen hören, und dieses helle, deutliche Lachen des Staatsmannes berührte ihn sonderbar.

Fürst Andrei trat in das Speisezimmer. Die ganze Gesellschaft stand zwischen zwei Fenstern an einem kleinen Tisch mit kalten Vorspeisen. Speranski, in einem grauen Frack mit einem Orden und augenscheinlich noch mit derselben weißen Weste und derselben hohen, weißen Halsbinde, die er in der denkwürdigen Sitzung des Reichsrates getragen hatte, stand mit vergnügtem Gesicht am Tisch und die Gäste um ihn herum. Magnizki erzählte, zu dem Hausherrn gewendet, eine Anekdote; Speranski hörte zu und lachte immer schon im voraus über das, was Magnizki sagen wollte. In dem Augenblick, als Fürst Andrei ins Zimmer trat, wurden gerade wieder Magnizkis Worte durch Gelächter übertönt. Stolypin, der an einem Stück Brot mit Käse kaute, lachte laut und in tiefen Tönen, Gervais leise und zischend und Speranski hell und deutlich.

Speranski reichte, immer noch lachend, dem Fürsten Andrei seine weiße, zarte Hand.

»Ich freue mich sehr, Sie zu sehen, Fürst«, sagte er. »Ein Augenblickchen!« wandte er sich an Magnizki, dessen Erzählung unterbrechend. »Bei uns gilt heute als Gesetz: beim Essen nur vergnügt zu sein und kein Wort von geschäftlichen Dingen zu reden.«

Fürst Andrei hörte und sah mit Erstaunen und schmerzlicher Enttäuschung, wie Speranski lachte. Das war, wie es ihm schien, gar nicht Speranski, sondern ein anderer Mensch. Alles, was ihm vorher an Speranski geheimnisvoll und anziehend erschienen war, war ihm jetzt nur zu klar geworden und hatte für ihn allen Reiz verloren.

Bei Tisch verstummte das Gespräch keinen Augenblick und bestand eigentlich aus einer ununterbrochenen Kette komischer Anekdoten. Kaum hatte Magnizki seine Erzählung beendet, als sich schon ein anderer anheischig machte, etwas noch Komischeres zu erzählen. Die Anekdoten betrafen größtenteils wenn nicht die Staatsverwaltung selbst, so doch die Personen der Beamten. Die völlige Wertlosigkeit der Beamten schien in dieser Gesellschaft so sehr als feststehende Tatsache betrachtet zu werden, daß man glaubte, von dieser Menschenklasse nur mit gutmütiger Ironie sprechen zu dürfen. Speranski erzählte, daß am Vormittag in der Reichsratssitzung ein tauber hochgestellter Beamter auf die Frage nach seiner Meinung beziehungslos geantwortet habe, er sei derselben Meinung. Gervais gab eine längere Geschichte von einer Revision zum besten, bei der der Unverstand aller Beteiligten großartig gewesen sei. Stotternd beteiligte sich nun auch Stolypin an dem Gespräch und begann mit Heftigkeit über die Mißstände des früheren Regimes zu reden, wodurch das Gespräch einen ernsten Charakter anzunehmen drohte. Aber Magnizki machte sich über Stolypins Heftigkeit lustig, und Gervais fiel mit einem Scherz ein: so kam die Unterhaltung wieder in das frühere Fahrwasser der Lustigkeit.

Augenscheinlich liebte es Speranski, sich nach der Arbeit zu erholen und sich im Freundeskreis zu erheitern, und alle seine Gäste kannten diesen seinen Wunsch und waren bemüht, ihn und sich selbst zu amüsieren. Aber diese Heiterkeit schien dem Fürsten Andrei etwas Forciertes zu haben und keine echte zu sein. Der helle Klang von Speranskis Stimme machte ihm einen unangenehmen Eindruck, und das nie verstummende Lachen hatte durch die herauszuhörende Unechtheit für das Gefühl des Fürsten Andrei etwas Verletzendes. Fürst Andrei lachte nicht mit und fürchtete, in dieser Gesellschaft durch sein ernstes Wesen Anstoß zu erregen. Aber niemand bemerkte, daß er nicht mit der allgemeinen Stimmung harmonierte. Alle schienen äußerst vergnügt zu sein.

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