Aus allen diesen Parteien bildete sich gerade zu der Zeit, als Fürst Andrei zur Armee kam, noch eine neunte Partei, die ihre Stimme zu erheben begann. Dies war die Partei der alten, vernünftigen Männer, die im Staatswesen Erfahrung besaßen, und ohne eine der sich bekämpfenden Meinungen zu teilen, imstande waren, alles, was beim Stab des Hauptquartiers vorging, vorurteilslos zu betrachten und auf Mittel zu sinnen, um aus dieser Unbestimmtheit, Unentschlossenheit, Verwirrung und Schwäche herauszukommen. Die Männer dieser Partei sagten und glaubten, die Übelstände kämen vorzugsweise davon her, daß der Kaiser mit seinem militärischen Hofstaat bei der Armee anwesend sei. So sei jene schwankende Unsicherheit der Beziehungen, die bei Hof am Platz sein möge, auf die Armee übertragen worden, wo sie nur schädlich wirken könne; der Kaiser müsse regieren, aber nicht die Truppen befehligen; der einzige Ausweg aus dieser Lage sei die Abreise des Kaisers mit seinem Hofstaat von der Armee; schon die bloße Anwesenheit des Kaisers fessele fünfzigtausend Mann, die zur Sicherung seiner Person nötig seien; der schlechteste, aber unabhängige Oberkommandierende werde besser sein als der beste, der durch die Anwesenheit und Obergewalt des Kaisers gebunden sei.

Gerade in der Zeit, als sich Fürst Andrei noch ohne bestimmte Tätigkeit im Lager an der Drissa aufhielt, schrieb der Staatssekretär Schischkow, einer der Hauptvertreter dieser Partei, an den Kaiser einen Brief, welchen Balaschow und Araktschejew mit unterzeichneten. In diesem Brief machte Schischkow von der Erlaubnis Gebrauch, die ihm der Kaiser gegeben hatte, sein Urteil über den allgemeinen Gang der Dinge auszusprechen, und unterbreitete dem Kaiser in aller Ehrfurcht und unter dem Vorwand, es sei erforderlich, daß der Kaiser die hauptstädtische Bevölkerung für den Krieg begeistere, den Vorschlag, die Armee zu verlassen.

Daß er das Volk für den Krieg begeistern und zur Verteidigung des Vaterlandes aufrufen möge, wurde dem Kaiser gegenüber als Vorwand gebraucht, damit er (wie er es auch tat) den Vorschlag, das Heer zu verlassen, annähme. Und dieselbe Begeisterung (insofern sie durch des Kaisers persönliche Anwesenheit in Moskau hervorgerufen war) war nachher die wichtigste Ursache des Sieges Rußlands.

X


Dieser Brief war dem Kaiser noch nicht übergeben worden, als Barclay beim Mittagessen dem Fürsten Andrei mitteilte, der Kaiser wünsche ihn persönlich zu sprechen, um ihn nach dem Stand der Dinge in der Türkei zu befragen; er solle um sechs Uhr abends sich in Bennigsens Quartier einstellen.

An ebendiesem Tag war in dem kaiserlichen Quartier die Nachricht von einer neuen Bewegung Napoleons eingegangen, und man fürchtete, diese Bewegung könne für unsere Armee gefährlich werden (die Nachricht stellte sich aber später als falsch heraus). Und an demselben Vormittag hatte der Oberst Michaud mit dem Kaiser die Befestigungen an der Drissa abgeritten und dem Kaiser bewiesen, daß dieses von Pfuel eingerichtete befestigte Lager, das bisher für ein Meisterstück der Taktik gegolten hatte, an welchem Napoleon seinen Untergang finden müsse, in Wirklichkeit ein Wahnwitz sei und der russischen Armee zum Verderben gereichen werde.

Fürst Andrei ritt nach dem Quartier des Generals Bennigsen, der ein kleines Gutshaus dicht am Fluß bewohnte. Weder Bennigsen noch der Kaiser waren schon anwesend; aber der kaiserliche Flügeladjutant Tschernyschow empfing den Fürsten Andrei und teilte ihm mit, der Kaiser besichtige heute schon zum zweitenmal mit dem General Bennigsen und dem Marquis Paulucci die Befestigungen des Lagers an der Drissa, an dessen Zweckmäßigkeit starke Zweifel aufgetaucht seien.

Tschernyschow saß, als Fürst Andrei eintrat, mit einem französischen Roman an einem Fenster des ersten Zimmers. Dieses Zimmer hatte wahrscheinlich früher als Tanzsaal gedient; es stand darin noch eine Art Drehorgel, über die ein paar Teppiche geworfen waren, und in einer Ecke stand das Feldbett des Adjutanten Bennigsens. Dieser Adjutant war anwesend Augenscheinlich ermüdet, sei es von einem Gelage oder vom Arbeiten, saß er auf dem Bett, dessen Oberdecke zurückgeschlagen war, im Halbschlummer. Aus diesem Saal führten zwei Türen: die eine geradeaus in einen großen Salon, die andere nach rechts in ein Arbeitszimmer. Aus der ersten Tür waren Stimmen vernehmbar, die deutsch und mitunter auch französisch sprachen. Dort, in dem ehemaligen Salon, war nicht eigentlich ein Kriegsrat versammelt (der Kaiser liebte das Unbestimmte), sondern eine Anzahl von Personen, deren Meinung er angesichts der bevorstehenden Schwierigkeiten zu hören wünschte. Es war dies kein Kriegsrat, sondern sozusagen eine Versammlung von Männern, die ausgewählt waren, um dem Kaiser persönlich Aufklärung über gewisse Fragen zu geben. Zu diesem Pseudo-Kriegsrat waren eingeladen: der schwedische General Armfelt, der Generaladjutant Wolzogen, Wintzingerode, welchen Napoleon einen entflohenen französischen Untertanen genannt hatte, Michaud, Toll, der Freiherr vom Stein, obwohl er überhaupt kein Militär war, und endlich Pfuel selbst, der, wie Fürst Andrei gehört hatte, die Haupttriebfeder der ganzen Aktion war. Fürst Andrei hatte Gelegenheit, ihn genau zu betrachten, da Pfuel bald nach ihm ankam, durch den Saal nach dem Salon ging und ein Weilchen stehenblieb, um ein paar Worte mit Tschernyschow zu sprechen.

Im ersten Augenblick kam Pfuel in seiner schlecht gearbeiteten russischen Generalsuniform, die ihm so wenig paßte, als ob er sich verkleidet hätte, dem Fürsten Andrei bekannt vor, obwohl er ihn nie gesehen hatte. Er erinnerte in seiner Erscheinung an Weyrother und Mack und Schmidt und viele andere deutsche Theoretiker der Strategie, die Fürst Andrei im Jahre 1805 zu sehen Gelegenheit gehabt hatte; aber er repräsentierte den Typus reiner als diese alle. Einen solchen deutschen Theoretiker, der alle die charakteristischen Züge jener Männer in sich vereinigte, hatte Fürst Andrei noch niemals gesehen.

Pfuel war von mäßiger Größe, sehr mager, aber starkknochig, von derbem, gesundem Körperbau, mit breitem Becken und vorstehenden Schulterblättern. Sein Gesicht war sehr runzlig, die Augen lagen tief in den Höhlungen. Die Haare waren vorn an den Schläfen augenscheinlich in Eile mit einer Bürste glattgestrichen, ragten aber hinten in einzelnen Büscheln in die Höhe, was einen komischen Eindruck machte. Unruhig und ärgerlich um sich blickend, trat er in den Saal, als ob er in dem großen Salon, nach dem er hinging, alles mögliche Schlimme erwartete. Mit einer linkischen Bewegung den Degen anhebend, wandte er sich an Tschernyschow und fragte ihn auf deutsch, wo der Kaiser sei. Es lag ihm offenbar daran, möglichst schnell seinen Weg durch die Zimmer zurückzulegen und mit den Verbeugungen und Begrüßungen fertigzuwerden, um sich zur Arbeit an die Landkarte setzen zu können, wo er sich an seinem Platz fühlte. Er nickte rasch mit dem Kopf und lächelte ironisch, als er Tschernyschows Antwort hörte, der Kaiser besichtige die Befestigungen, die er, Pfuel, selbst nach Maßgabe seiner Theorie angelegt hatte. Mit seiner Baßstimme und in jenem barschen Ton, dessen sich selbstbewußte Deutsche gern bedienen, brummte er vor sich hin: »Dummheiten … die ganze Geschichte haben sie verdorben …‘s wird was Gescheites draus werden.« Fürst Andrei hörte nicht darauf hin und wollte vorbeigehen; aber Tschernyschow stellte ihn Pfuel vor und bemerkte dazu, Fürst Andrei komme aus der Türkei, wo der Krieg so glücklich beendet sei. Pfuel sah nicht sowohl den Fürsten Andrei an als vielmehr über ihn hin und äußerte lächelnd: »Das muß ein schöner taktischer Krieg gewesen sein!« Und verächtlich auflachend ging er weiter nach dem Salon, aus dem die Stimmen herausklangen.

Offenbar war Pfuel, der auch sonst stets zu gereizten, ironischen Äußerungen neigte, an diesem Tag besonders erregt, weil man gewagt hatte, ohne ihn hinzuzuziehen, sein Lager zu besichtigen und zu kritisieren. Fürst Andrei konnte sich, dank seinen Austerlitzer Erinnerungen, schon aufgrund dieser einen kurzen Begegnung mit Pfuel ein klares Bild von dem Charakter dieses Mannes machen. Pfuel war von einem unerschütterlichen, unheilbaren, geradezu fanatischen Selbstbewußtsein erfüllt, wie es eben nur bei den Deutschen vorkommt, und zwar besonders deswegen, weil nur die Deutschen aufgrund einer abstrakten Idee selbstbewußt sind, aufgrund der Wissenschaft, d.h. einer vermeintlichen Kenntnis der vollkommenen Wahrheit. Der Franzose ist selbstbewußt, weil er meint, daß seine Persönlichkeit sowohl durch geistige als durch körperliche Vorzüge auf Männer und Frauen unwiderstehlich bezaubernd wirkt. Der Engländer ist selbstbewußt aufgrund der Tatsache, daß er ein Bürger des besteingerichteten Staates der Welt ist, und weil er als Engländer immer weiß, was er zu tun hat, und weiß, daß alles, was er als Engländer tut, zweifellos das Richtige ist. Der Italiener ist selbstbewußt, weil er ein aufgeregter Mensch ist und leicht sich und andere vergißt. Der Russe ist besonders deswegen selbstbewußt, weil er nichts weiß und auch nichts wissen will, da er nicht an die Möglichkeit glaubt, daß man etwas wissen könne. Aber bei dem Deutschen ist das Selbstbewußtsein schlimmer, hartnäckiger und widerwärtiger als bei allen andern, weil er sich einbildet, die Wahrheit zu kennen, nämlich die Wissenschaft, die er sich selbst ausgedacht hat, die aber für ihn die absolute Wahrheit ist.

Ein solcher Mensch war offenbar Pfuel. Er war im Besitz der Wissenschaft, d.h. einer Theorie der schrägen Bewegung; diese Theorie hatte er sich aus der Geschichte der Kriege Friedrichs des Großen abgeleitet, und alles, was ihm in der neueren Kriegsgeschichte vorkam, erschien ihm als Unsinn, als Barbarei, als wüste Rauferei, wobei von beiden Seiten so viele Fehler begangen seien, daß diese Kriege gar nicht Kriege genannt werden könnten; sie fügten sich nicht in die Theorie und konnten nicht als Objekt der Wissenschaft dienen.

Im Jahre 1806 hatte Pfuel an der Aufstellung des Feldzugsplanes für jenen Krieg mitgearbeitet, der mit Jena und Auerstedt endete; aber in dem Ausgang dieses Krieges sah er nicht den geringsten Beweis für die Unrichtigkeit seiner Theorie. Im Gegenteil waren nach seiner Anschauung die einzige Ursache des ganzen Mißlingens die Abweichungen, die man sich von seiner Theorie gestattet hatte, und mit der ihm eigenen ironischen Freude äußerte er: »Ich sagte ja vorher, daß die ganze Geschichte zum Teufel gehen werde.« Pfuel gehörte zu den Theoretikern, die in ihre Theorie so verliebt sind, daß sie den Zweck der Theorie, ihre Anwendung auf die Praxis, vergessen; in seiner Liebe zur Theorie haßte er jede Praxis und wollte von ihr nichts wissen. Er freute sich sogar über einen Mißerfolg; denn der Mißerfolg, da er von den Abweichungen herrührte, die man sich in der Praxis von der Theorie erlaubt hatte, bewies ihm lediglich die Richtigkeit seiner Theorie.

Die paar Worte, die er vor den Ohren des Fürsten Andrei und Tschernyschows über den jetzigen Krieg hingeworfen hatte, waren in einer Art gesprochen, als wisse er im voraus, daß alles schiefgehen werde, und sei damit gar nicht einmal unzufrieden. Selbst die auf dem Hinterkopf aufstarrenden ungekämmten Haarbüschel und die eilig zurechtgebürsteten Schläfenhaare schienen das gewissermaßen klar und deutlich auszusprechen.

Er ging in das andere Zimmer, den Salon, und es ließen sich von dort sogleich die tiefen, mürrischen Töne seiner Stimme vernehmen.

XI


Kaum hatte Fürst Andrei den hinausgehenden Pfuel mit den Augen bis an die Tür begleitet, als Graf Bennigsen eilig in den Saal trat; er nickte dem Fürsten Andrei zu, gab, ohne stehenzubleiben, seinem Adjutanten einige Befehle und ging in das Arbeitszimmer. Der Kaiser mußte gleich hinter ihm kommen; Bennigsen war ihm schnell vorangeritten, um noch einiges vorzubereiten und dann zum Empfang des Kaisers bereit zu sein. Tschernyschow und Fürst Andrei traten auf die Freitreppe vor der Haustür hinaus. Der Kaiser, dessen Gesicht eine starke Ermüdung bekundete, stieg soeben vom Pferd; der Marquis Paulucci sagte etwas zu ihm. Der Kaiser, den Kopf nach der linken Seite neigend, hörte mit unzufriedener Miene dem Marquis zu, der mit auffälliger Hitze redete. Der Kaiser ging vorwärts und wünschte sichtlich, das Gespräch zu beenden; aber der Italiener, der vor Erregung einen ganz roten Kopf bekommen hatte, vergaß die Regeln des Anstandes und redete, hinter ihm hergehend, immer weiter.

»Was denjenigen anlangt, der zu diesem Lager, dem Lager an der Drissa, geraten hat«, sagte Paulucci gerade in dem Augenblick, als der Kaiser die Stufen hinanstieg, den Fürsten Andrei bemerkte und dessen ihm unbekanntes Gesicht betrachtete. »Was diesen Menschen anlangt, Sire«, fuhr Paulucci, der sich anscheinend gar nicht mehr beherrschen konnte, grimmig fort, »so hat man meines Erachtens für ihn keine andere Wahl als das Irrenhaus oder den Galgen.«

Als ob er die Worte des Italieners gar nicht hörte, wandte der Kaiser, ohne das Ende von dessen Rede abzuwarten, sich gnädig zu Bolkonski, den er inzwischen erkannt hatte.

»Ich freue mich sehr, dich wiederzusehen; geh dort hinein, wo die Versammlung stattfindet, und warte auf mich.«

Der Kaiser ging in das Arbeitszimmer. Ihm folgten Fürst Pjotr Michailowitsch Wolkonski und der Freiherr vom Stein; hinter ihnen wurde die Tür zugemacht. Fürst Andrei machte von der Erlaubnis des Kaisers Gebrauch und ging mit Paulucci, den er von der Türkei her kannte, in den Salon, wo sich die Eingeladenen versammelt hatten.

Fürst Pjotr Michailowitsch Wolkonski versah gleichsam das Amt eines Chefs des kaiserlichen Stabes. Er kam aus dem Arbeitszimmer, breitete im Salon einige Landkarten, die er mitgebracht hatte, auf dem Tisch aus und teilte die Frage mit, über die er die Meinung der versammelten Herren zu hören wünschte. Es handelte sich darum, daß in der Nacht die (sich später als unrichtig erweisende) Nachricht von einer Bewegung der Franzosen eingegangen war, welche eine Umgehung des Lagers an der Drissa zu bezwecken schien.

Zuerst sprach General Armfelt, der zur Vermeidung der bevorstehenden Schwierigkeit unerwarteterweise einen völlig neuen Vorschlag machte: eine Position seitwärts von der Petersburg-Moskauer Straße einzunehmen; in dieser Position sollte dann nach seiner Ansicht die vereinigte Armee den Feind erwarten. Zu erklären war der Vorschlag dieser Position nicht, wenn man nicht Armfelts Wunsch, zu zeigen, daß auch er eine Meinung haben könne, als Erklärung gelten lassen wollte. Es war klar, daß er sich diesen Plan schon lange zurechtgelegt hatte und ihn jetzt vorbrachte nicht sowohl in der Absicht, auf die vorgelegte Frage zu antworten, auf die dieser Plan eben gar keine Antwort enthielt, als vielmehr weil ihm dies eine günstige Gelegenheit schien, um ihn darzulegen. Es war dies ein Vorschlag unter Tausenden, die alle mit gleich viel und gleich wenig innerer Begründung vorgebracht werden konnten, da eben niemand einen Begriff davon hatte, wie der Krieg sich weiter gestalten werde. Einige der Teilnehmer an der Beratung bekämpften Armfelts Meinung, andere verteidigten sie. Der junge Oberst Toll griff die Ansicht des schwedischen Generals am hitzigsten von allen an und holte bei der Debatte aus der Brusttasche ein geschriebenes Heft heraus, das er vorlesen zu dürfen bat. In diesem weitläufig abgefaßten Schriftstück schlug Toll einen anderen Feldzugsplan vor, der von dem Armfeltschen und dem Pfuelschen vollständig verschieden war. Paulucci, der gegen Toll sprach, befürwortete den Vormarsch und Angriff; dies war nach seiner Versicherung das einzige Mittel, das uns aus dieser ungewissen Lage und aus der Mausefalle, in der wir uns befänden (damit meinte er das Lager an der Drissa), befreien könne. Pfuel und Wolzogen, der sein Dolmetscher und in seinen Beziehungen zum Hof seine Brücke war, schwiegen unterdessen. Pfuel beschränkte sich darauf, verächtlich zu schnauben und sich halb abzuwenden, um dadurch zu verstehen zu geben, daß er sich niemals so weit erniedrigen werde, auf solchen Unsinn, wie er ihn jetzt höre, etwas zu erwidern. Und als Fürst Wolkonski, der die Debatte leitete, ihn aufforderte, seine Meinung zu äußern, sagte er nur:

»Wozu werde ich überhaupt noch gefragt? General Armfelt hat eine vortreffliche Position mit ungedecktem Rücken vorgeschlagen. Oder wir können ja auch angreifen, wie es dieser italienische Herr wünscht; sehr schön! Oder uns zurückziehen; auch gut! Wozu werde ich noch gefragt?« sagte er. »Die Herren wissen ja doch alles besser als ich.«

Aber als Wolkonski ihn mit gerunzelter Stirn darauf hinwies, daß er ihn im Namen des Kaisers um seine Meinung frage, stand Pfuel auf und begann, plötzlich lebhaft werdend, zu sprechen:

»Alles haben Sie verdorben, alles in Unordnung gebracht, alle wollten die Sache besser verstehen als ich; und nun kommt man zu mir: ›Wie ist es wiedergutzumachen?‹ Was verdorben ist, ist nicht wiedergutzumachen … Notwendig ist jetzt, daß genau nach den Prinzipien verfahren wird, die ich dargelegt habe«, sagte er und klopfte dabei mit seinen knochigen Fingern auf den Tisch. »Worin liegt denn die Schwierigkeit? Unsinn! Kinderspiel!«

Er trat an die Karte und begann schnell zu reden, indem er mit seinem trockenen Finger bald hier, bald dort auf die Karte stieß und bewies, daß keine Eventualität die Zweckmäßigkeit des Lagers an der Drissa mindern könne, daß alles vorhergesehen sei, und daß der Feind, wenn er wirklich eine Umgehung versuchen sollte, dabei unvermeidlich seinen Untergang finden werde.

Paulucci, der kein Deutsch verstand, befragte ihn nun auf französisch. Wolzogen kam seinem Chef, der schlecht französisch sprach, zu Hilfe und begann dessen Worte zu übersetzen, konnte aber kaum mit Pfuel mitkommen, der sehr rasch redend bewies, daß alles, geradezu alles, nicht nur was geschehen war, sondern alles, was überhaupt nur hatte geschehen können, in seinem Plan vorgesehen sei, und daß, wenn sich jetzt Schwierigkeiten ergäben, die Schuld lediglich daran liege, daß man seine Weisungen nicht alle genau befolgt habe. Während dieser Beweisführung lachte er einmal über das andere ironisch und brach schließlich mit verächtlicher Miene die Beweisführung ab, wie ein Mathematiker es verschmäht, die einmal bewiesene Richtigkeit eines Satzes noch auf verschiedene Weise nachzuprüfen. Nun trat Wolzogen an seine Stelle und setzte auf französisch Pfuels Ideen weiter auseinander, wobei er von Zeit zu Zeit zu Pfuel sagte: »Nicht wahr, Exzellenz?« Pfuel aber, wie ein bei einer Rauferei hitzig Gewordener schließlich auf seine eigenen Freunde losschlägt, schrie ärgerlich seinen Parteigänger Wolzogen an: »Nun ja, was ist denn da erst noch lange zu erklären?«

Paulucci und Michaud fielen mit vereinten Kräften auf französisch über Wolzogen her. Armfelt wandte sich auf deutsch an Pfuel. Toll erklärte dem Fürsten Wolkonski etwas auf russisch. Fürst Andrei hörte schweigend zu und beobachtete.

Von allen diesen Personen erregte bei dem Fürsten Andrei die größte Teilnahme der erbitterte, hartnäckige, von sinnlosem Selbstgefühl erfüllte Pfuel. Er war von allen hier Anwesenden offenbar der einzige, der nichts für sich begehrte und gegen niemand eine persönliche Feindschaft hegte; er wünschte nur eines: die Verwirklichung seines Planes, der von ihm aufgrund jener Theorie aufgestellt worden war, die er sich in vielen Jahren der Arbeit zurechtgemacht hatte. Er erschien lächerlich, er wirkte unangenehm durch seine Ironie; aber trotzdem flößte er durch seine grenzenlose Hingabe an eine Idee unwillkürlich Achtung ein. Bemerkenswert war auch in den Reden aller mit Ausnahme Pfuels ein gemeinsamer Zug, der im Kriegsrat des Jahres 1805 noch nicht vorhanden gewesen war: das war eine geradezu panische Furcht vor dem Genie Napoleons, eine Furcht, die man zwar zu verbergen suchte, die aber doch in jeder Äußerung zum Vorschein kam. Man setzte voraus, daß für Napoleon alles möglich sei; man erwartete ihn von allen Seiten, und jeder widerlegte mit dem furchtbaren Namen Napoleon jeden Vorschlag, den ein anderer gemacht hatte. Nur Pfuel schien den Kaiser Napoleon ebenso für einen ungebildeten Barbaren zu halten, wie er es mit allen Gegnern seiner Theorie machte. Aber außer dem Gefühl der Achtung flößte Pfuel dem Fürsten Andrei auch ein Gefühl des Mitleids ein. Aus dem Ton, in welchem die Hofleute mit ihm verkehrten, aus dem, was Paulucci sich erlaubt hatte dem Kaiser zu sagen, und ganz besonders aus einer gewissen Hoffnungslosigkeit, die in Pfuels eigenen Äußerungen zu spüren war, ließ sich entnehmen, daß die anderen wußten, wie nahe sein Sturz war, und er es wenigstens ahnte. Und trotz seines Selbstgefühls und seiner deutschen mürrischen Ironie wirkte er mitleiderregend mit seinen glattgebürsteten Schläfenhaaren und den am Hinterkopf aufstarrenden Haarbüscheln. Obwohl er es hinter einer gereizten, verächtlichen Miene zu verbergen suchte, befand er sich offenbar in Verzweiflung – in Verzweiflung darüber, daß die einzige Gelegenheit, die Richtigkeit seiner Theorie an einem gewaltigen Experiment zu prüfen und der ganzen Welt zu beweisen, ihm jetzt aus den Händen glitt.

Die Debatten dauerten lange, und je länger sie dauerten, um so hitziger wurde der Streit, bei dem es schließlich zu gegenseitigem Anschreien und zu persönlichen Anzüglichkeiten kam, und um so weniger war es möglich, aus allem Gesagten irgendwelches Gesamtresultat zu ziehen. Fürst Andrei, der dieses in verschiedenen Sprachen geführte Gespräch, diese Vorschläge, Pläne und Widerlegungen und dieses Geschrei mit anhörte, war lediglich von Staunen erfüllt über das, was sie da alle zusammenredeten. Ein Gedanke, der ihm schon längst und oft bei seiner militärischen Tätigkeit gekommen war, daß es keine Kriegswissenschaft und daher auch kein sogenanntes Kriegsgenie gebe und geben könne, dieser Gedanke bekam jetzt für ihn die Sicherheit einer unumstößlichen Wahrheit. »Wie kann es denn«, dachte er, »auf diesem Gebiet eine Theorie und eine Wissenschaft geben, da doch die äußeren Umstände und Verhältnisse unbekannt sind und sich nicht bestimmen lassen, und da sich die Kraft der Kriegführenden noch weniger feststellen läßt? Niemand kann wissen, in welchem Zustand sich unsere und die feindliche Armee morgen befinden wird, und niemand weiß, wieviel Kraft in diesem oder jenem Truppenteil steckt. Manchmal, wenn in der vordersten Linie nicht irgendein Feigling steht, der mit dem Ruf: ›Wir sind abgeschnitten!‹ ausreißt, sondern dafür ein munterer, dreister Bursche, der ›Hurra!‹ schreit, ist eine Abteilung von fünftausend Mann soviel wert wie eine von zehntausend, wie das bei Schöngrabern der Fall war; und dann wieder laufen fünfzigtausend vor achttausend davon wie bei Austerlitz. Was kann es für eine Wissenschaft auf einem Gebiet geben, auf dem, wie bei jeder praktischen Tätigkeit, sich nichts vorherbestimmen läßt und alles von zahllosen Umständen abhängt, deren Bedeutung erst in einem Augenblick klar wird, von dem niemand weiß, wann er eintreten wird? Armfelt sagt, unsere Armee sei abgeschnitten, Paulucci dagegen, wir hätten die französische Armee zwischen zwei Feuer gebracht; Michaud behauptet, die Unbrauchbarkeit des Lagers an der Drissa bestehe darin, daß es den Fluß im Rücken habe, und Pfuel versichert, gerade darin bestehe die Stärke des Lagers. Toll schlägt einen Plan vor und Armfelt einen andern; alle diese Pläne sind gut und alle schlecht, und die Vorteile eines jeden können erst in dem Augenblick sichtbar werden, wo sich das Ereignis vollzieht. Und warum sagen alle: ein Feldherrngenie? Ist denn etwa derjenige, der sich darauf versteht, zur rechten Zeit den Proviant heranbringen und die eine Abteilung nach rechts und die andere nach links marschieren zu lassen, ein Genie? Das kommt nur daher, daß die Feldherren mit Glanz und Macht umkleidet sind und Massen von knechtischen Seelen den Mächtigen schmeicheln, indem sie ihnen die ihnen nicht zukommenden Eigenschaften eines Genies zuschreiben. Im Gegenteil, die besten Generale, die ich gekannt habe, waren beschränkte oder zerstreute Menschen. Der beste von allen ist Bagration; das hat Napoleon selbst anerkannt. Und nun dieser Bonaparte selbst? Ich erinnere mich seines selbstzufriedenen, beschränkten Gesichtsausdruckes auf dem Schlachtfeld von Austerlitz. Ein guter Heerführer bedarf keines Genies und keiner besonderen Vorzüge; im Gegenteil: es ist erforderlich, daß ihm die höchsten und besten menschlichen Eigenschaften fehlen: Liebe, poetisches Empfinden, Zärtlichkeit, philosophischer, zur Forschung treibender Zweifel. Er muß ein beschränkter Kopf sein, muß fest davon überzeugt sein, daß das, was er tut, von großer Wichtigkeit ist (sonst hält seine Ausdauer nicht vor); nur dann wird er ein tüchtiger Heerführer sein. Schlimm wäre es für ihn, wenn er ein Mensch wäre: wenn er jemanden liebte, Mitleid hätte, überlegte, was gerecht oder ungerecht ist. Es ist begreiflich, daß man schon von alters her aus Liebedienerei gegen die Heerführer die falsche Theorie vom Genie aufgestellt hat; der Grund ist eben, daß sie die Macht in Händen haben. Aber in Wirklichkeit hängt Erfolg und Mißerfolg einer kriegerischen Aktion nicht von ihnen ab, sondern von dem Soldaten, der in Reih und Glied ›Hurra!‹ oder ›Wir sind verloren!‹ schreit. Und nur in Reih und Glied kann man mit der Überzeugung dienen, nützlich zu sein!«

So dachte Fürst Andrei, während er die Debatten mit anhörte, und kam erst wieder recht zu sich, als Paulucci ihn anrief und alle bereits auseinandergingen.

Am andern Tag fragte der Kaiser bei der Revue den Fürsten Andrei, in was für einer Stellung er dienen wolle, und Fürst Andrei degradierte sich für alle Zeit in den Augen der Hofgesellschaft dadurch, daß er nicht darum bat, um die Person des Kaisers bleiben zu dürfen, sondern eine Stelle in der Front zu erhalten.

XII


Vor dem Beginn des Feldzuges hatte Rostow einen Brief von seinen Eltern bekommen, in welchem sie ihn kurz von Nataschas Krankheit und von der Aufhebung ihrer Verlobung mit dem Fürsten Andrei benachrichtigten (als Erklärung dafür gaben sie ihm Nataschas Absage an) und ihn von neuem baten, den Abschied zu nehmen und nach Hause zu kommen. Als Nikolai diesen Brief empfangen hatte, machte er keinen Versuch, den Abschied oder einen Urlaub zu erhalten, sondern schrieb seinen Eltern zurück, er bedaure sehr Nataschas Krankheit und die Aufhebung ihrer Verlobung und werde alles mögliche tun, um den von ihnen geäußerten Wunsch zu erfüllen. An Sonja schrieb er besonders.

»Angebetete Freundin meiner Seele!« schrieb er. »Nichts als die Ehre könnte mich von der Rückkehr nach dem Gut zurückhalten. Aber jetzt, vor dem Beginn des Feldzuges, würde ich mir nicht nur vor allen meinen Kameraden, sondern auch vor mir selbst entehrt vorkommen, wenn ich meiner Pflicht und Vaterlandsliebe mein eigenes Glück vorzöge. Aber dies ist die letzte Trennung. Sei überzeugt, daß ich sofort nach Beendigung des Krieges, wenn ich dann noch am Leben bin und Du mich noch liebst, alles aufgeben und zu Dir eilen werde, um Dich auf immer an mein heißes Herz zu drücken.«

Und wirklich war es nur die Eröffnung des Feldzuges, was Rostow zurückhielt und ihn hinderte, seinem Versprechen gemäß heimzukehren und Sonja zu heiraten. Der Herbst in Otradnoje mit der Jagd und der Winter mit dem Weihnachtsfest und mit Sonjas Liebe eröffneten ihm eine Perspektive auf stille, ländliche Freuden und auf ein ruhiges Leben, Dinge, die er früher nicht gekannt hatte und die jetzt für ihn etwas Lockendes hatten. »Was will ich mehr?« dachte er. »Eine prächtige Frau, Kinder, eine gute Meute Hetzhunde, zehn, zwölf Koppeln flinke Windhunde, die Wirtschaft, die Nachbarn, die Ämter der ländlichen Selbstverwaltung, zu denen man sich wählen lassen kann …« Aber jetzt war Krieg, und er mußte beim Regiment bleiben. Und da das nun einmal notwendig war, so war Nikolai Rostow, wie das in seinem Charakter lag, auch mit diesem Leben zufrieden, das er beim Regiment führte, und verstand es, sich dieses Leben angenehm zu machen.

Nachdem Rostow, von seinen Kameraden freudig begrüßt, von seinem Urlaub zurückgekehrt war, wurde er abkommandiert, um Remonten zu holen, und brachte aus Kleinrußland vorzügliche Pferde mit, die ihm selbst viel Freude machten und ihm Lob von seiten seiner Vorgesetzten eintrugen. In seiner Abwesenheit war er zum Rittmeister befördert worden, und als sein Regiment mit verstärktem Bestand auf Kriegstauglichkeit gebracht wurde, erhielt er wieder seine frühere Eskadron.

Der Feldzug begann; das Regiment rückte nach Polen; es wurde doppelter Sold bezahlt; neue Offiziere, neue Mannschaften, neue Pferde trafen ein, und, was die Hauptsache war, es verbreitete sich jene angeregte, heitere Stimmung, die den Anfang eines Krieges zu begleiten pflegt; und Rostow, der sich seiner bevorzugten Stellung im Regiment bewußt war, gab sich ganz den Vergnügungen und Interessen des Soldatenlebens hin, wiewohl er wußte, daß er früher oder später von ihnen werde Abschied nehmen müssen.

Die Truppen zogen sich aus allerlei komplizierten Gründen politischer und strategischer Art von Wilna zurück. Jeder Schritt dieses Rückmarsches wurde im Generalstab von einem vielverschlungenen Spiel der Interessen, Erwägungen und Leidenschaften begleitet. Aber für die Husaren des Pawlograder Regiments war dieser ganze Rückmarsch, der in der besten Jahreszeit und mit hinlänglichem Proviant stattfand, die einfachste und vergnüglichste Sache, die sich nur denken ließ. In gedrückter Stimmung sein, sich beunruhigen, Intrigen spinnen, das konnten nur die Herren im Hauptquartier; aber in der Armee selbst sorgte man sich gar nicht, wohin man marschierte und warum. Wenn man bedauerte, daß es wieder weiter zurückging, so geschah es nur deshalb, weil man von einem Quartier, in das man sich eingelebt hatte, oder von einer hübschen Pani scheiden mußte. Und wenn wirklich einmal einem der Gedanke durch den Kopf ging, daß die Sache schlecht stehe, so gab sich der Betreffende, wie es sich für einen braven Soldaten gehörte, Mühe heiter zu sein und nicht an den allgemeinen Gang der Dinge zu denken, sondern nur an das, was ihm am nächsten lag. Am Anfang standen sie vergnügt in der Nähe von Wilna, knüpften Bekanntschaften mit den polnischen Grundbesitzern an und erwarteten und überstanden Musterungen durch den Kaiser und andere hohe Vorgesetzte. Dann kam Befehl, nach Swenziany zurückzugehen und den Proviant, den sie nicht mitnehmen konnten, zu vernichten. Swenziany war den Husaren später nur deswegen denkwürdig, weil es ein »besoffenes Lager« gewesen war, wie es in der ganzen Armee genannt wurde, und weil dort viele Beschwerden über die Truppen eingelaufen waren, da sie den Befehl, Proviant zu requirieren, dazu benutzt hatten, als Proviant auch Pferde, Equipagen und Teppiche der polnischen Pans wegzunehmen. Rostow behielt Swenziany deswegen im Gedächtnis, weil er gleich an dem Tag, an dem sie in dieses Städtchen eingerückt waren, den Wachtmeister seines Dienstes hatte entheben müssen und mit den Leuten seiner Eskadron, da sie sämtlich betrunken waren, nicht hatte zurechtkommen können; sie hatten sich nämlich ohne sein Wissen fünf Fässer alten Bieres angeeignet. Von Swenziany marschierten sie weiter und weiter zurück an die Drissa, und nun gingen sie auch von der Drissa wieder zurück und näherten sich bereits den Grenzen des eigentlichen Rußlands.

Am 13. Juli kamen die Pawlograder zum erstenmal dazu, an einem ernsten Gefecht teilzunehmen.

Am 12. Juli, dem Tag vor dem Kampf, brach am Abend ein furchtbares Gewitter mit Sturm und Hagel los. Der Sommer des Jahres 1812 war überhaupt auffällig reich an Gewittern.

Zwei Eskadronen der Pawlograder biwakierten mitten auf einem Roggenfeld, das schon in Ähren gestanden hatte, dann aber vom Vieh und von den Pferden vollständig niedergetreten war. Der Regen goß in Strömen, und Rostow saß mit einem jungen Offizier, namens Iljin, den er protegierte, unter einem eilig aufgeschlagenen Zelt. Ein Offizier ihres Regiments, mit einem langen, durch das Backenhaar verlängerten Schnurrbart, war zum Stab geritten, auf dem Rückweg vom Regen überrascht worden und kehrte nun bei Rostow ein.

»Ich komme vom Stab, Graf«, sagte er. »Haben Sie von Rajewskis Heldentat gehört?«

Der Offizier begann Einzelheiten von dem Kampf bei Saltanowka zu erzählen, die er beim Stab gehört hatte.

Rostow saß mit eingezogenem Hals da, an dem ihm das Wasser entlanglief, rauchte eine Pfeife und hörte unaufmerksam zu, wobei er mitunter zu dem jungen Offizier Iljin hinblickte, der sich dicht an ihn drückte. Dieser Offizier, ein blutjunger Mensch, erst sechzehn Jahre alt, war kürzlich in das Regiment eingetreten und stand jetzt zu Nikolai in demselben Verhältnis, in welchem Nikolai sieben Jahre vorher zu Denisow gestanden hatte. Iljin suchte seinen Gönner Nikolai in allen Stücken zu kopieren und war in ihn verliebt wie ein Mädchen.

Der Offizier mit dem langen Schnurrbart, namens Zdrzinski, erzählte in hochtrabenden Ausdrücken, wie der Damm von Saltanowka zu einem Thermopylai der Russen geworden sei, und wie auf diesem Damm der General Rajewski eine Heldentat ausgeführt habe, die sich denen des Altertums würdig zur Seite stellen könne. Rajewski habe seine beiden Söhne im heftigsten Kugelregen auf den Damm geführt und sei Schulter an Schulter mit ihnen zum Angriff vorgegangen. Rostow hörte die Erzählung an, äußerte aber kein Wort, als ob er Zdrzinskis Enthusiasmus teile, sondern machte im Gegenteil eine Miene, als fühle er sich durch diese Erzählung unangenehm berührt, beabsichtige aber nicht, etwas darauf zu erwidern. Rostow wußte von den Feldzügen der Jahre 1805 und 1807 her aus eigener Erfahrung, daß diejenigen, welche Kriegsereignisse erzählen, immer lügen, wie denn auch er selbst als Erzähler gelogen hatte; und zweitens hatte er soviel Sachkenntnis, um zu wissen, daß im Krieg alles ganz anders zugeht, als wir es uns vorstellen und erzählen können. Und darum gefiel ihm Zdrzinskis Erzählung nicht; auch mißfiel ihm Zdrzinski selbst, der mit seinem über die Backen verlängerten Schnurrbart nach seiner Gewohnheit sich tief über das Gesicht dessen beugte, dem er seine Erzählung vortrug, und es ihm so in dem engen Zelt noch enger machte. Rostow blickte ihn schweigend an. »Erstens«, dachte er, »war auf dem Damm, den sie angriffen, gewiß ein solcher Wirrwarr und ein solches Gedränge, daß, wenn Rajewski auch seine Söhne dort in den Kampf führte, dies doch höchstens auf ein Dutzend Menschen wirken konnte, die dicht bei ihm waren; die übrigen konnten gar nicht sehen, wie und mit wem Rajewski da auf dem Damm ging. Aber auch die, die es sahen, konnten darüber nicht sonderlich in Begeisterung geraten; denn was kümmerten sie sich um Rajewskis zärtliche Vatergefühle, wo es sich um ihre eigene Haut handelte? Und ferner, davon, ob der Damm bei Saltanowka genommen wurde oder nicht, hing das Schicksal des Vaterlandes nicht ab, wie uns das von Thermopylai berichtet wird. Also welchen Zweck hatte es, ein solches Opfer zu bringen? Und weiter: wozu nahm er seine Kinder in das Kriegsgetümmel mit hinein? Ich würde meinen Bruder Petja nicht mitnehmen, und selbst diesen Iljin, der kein Angehöriger von mir, aber doch so ein guter Junge ist, würde ich irgendwohin zu stellen suchen, wo ihm nichts passieren kann.« So dachte Rostow, während er Zdrzinskis Erzählung anhörte. Aber er sprach seine Gedanken nicht aus: auch in dieser Hinsicht besaß er bereits hinlängliche Erfahrung. Er wußte, daß diese Erzählung zur Erhöhung unseres Waffenruhms beitrug, und daß er deshalb tun mußte, als zweifle er nicht an ihrer Richtigkeit und Bedeutsamkeit. So machte er es denn auch.

»Aber das ist nicht mehr zu ertragen«, sagte Iljin, der wohl merkte, daß Rostow an Zdrzinskis Gespräch kein Gefallen fand. »Meine Strümpfe und mein Hemd sind völlig durchnäßt, und unten hat sich eine Lache gebildet. Ich werde gehen und ein Obdach suchen. Es scheint, daß der Regen ein wenig nachgelassen hat.«

Iljin ging hinaus; auch Zdrzinski ritt weg.

Nach fünf Minuten kam Iljin, durch den Schmutz patschend, zum Zelt zurückgelaufen.

»Hurra! Komm schnell, Rostow! Ich habe etwas gefunden! Zweihundert Schritte von hier ist eine Schenke, und von den Unsrigen haben sich schon einige da zusammengefunden. Wenigstens werden wir da trocken werden; Marja Henrichowna ist auch da.«

Marja Henrichowna war die Frau des Regimentsarztes, eine junge, hübsche Deutsche, die der Arzt in Polen geheiratet hatte. Entweder weil er nicht über hinreichende Geldmittel verfügte, oder weil er sich nicht gleich in der ersten Zeit seiner Ehe von seiner jungen Frau trennen mochte, führte der Arzt sie überall bei den Märschen des Husarenregiments mit sich herum, und seine Eifersucht bildete ein beliebtes Thema für die Scherze der Husarenoffiziere.

Rostow warf sich den Mantel um, rief seinem Burschen Lawrenti zu, er solle ihnen trockene Kleidung nachbringen, und ging mit Iljin unter dem leiser gewordenen Regen im Abenddunkel, das mitunter durch ferne Blitze erhellt wurde, bald im Schmutz ausgleitend, bald kräftig hindurchpatschend, nach der Schenke hin.

»Rostow, wo bist du?«

»Hier. Was für starke Blitze!« sagten sie zueinander.

XIII


In der Schenke, vor der der Reisewagen des Arztes stand, befanden sich schon fünf Offiziere. Marja Henrichowna, eine üppige, blonde Deutsche, saß, in Jacke und Nachthaube, in der vorderen Ecke auf einer breiten Bank. Hinter ihr auf der Bank schlief ihr Mann, der Doktor. Rostow und Iljin wurden, als sie ins Zimmer traten, mit freudigen Zurufen und munterem Gelächter begrüßt.

»Ei seht mal an! Bei euch scheint es ja fidel herzugehen!« sagte Rostow lachend.

»Na, warum zieht ihr es denn vor, zu gähnen …? Aber nett seht ihr aus; ihr trieft ja nur so! Macht uns unsern Salon nicht naß …! Macht Marja Henrichownas Kleid nicht schmutzig!« antworteten die Anwesenden.

Rostow und Iljin beeilten sich, ein Winkelchen zu finden, wo sie, ohne Marja Henrichownas Schamgefühl zu verletzen, ihre nassen Kleider wechseln könnten. Sie wollten hinter den Verschlag gehen, um sich umzukleiden; aber in dem dort befindlichen kleinen Kämmerchen saßen drei Offiziere, die es vollständig ausfüllten; sie hatten ein Licht auf eine leere Kiste gestellt, spielten Karten und wollten um keinen Preis vom Platz weichen. Marja Henrichowna gab für ein Weilchen ihren Unterrock her, um als Vorhang zu dienen, und hinter diesem Vorhang zogen sich Rostow und Iljin mit Hilfe Lawrentis, der ein Pack Kleider und Wäsche gebracht hatte, die nassen Sachen aus und trockene an.

In dem zerbrochenen Ofen wurde Feuer angezündet. Ein Brett wurde geholt, über zwei Sättel gelegt und mit einer Pferdedecke bedeckt; dann wurde ein kleiner Samowar beschafft, ein Reisekästchen mit Tee, Zucker und einer halben Flasche Rum kam zum Vorschein, und nun bat man Marja Henrichowna, die Wirtin zu machen, und alle drängten sich um sie herum. Der eine bot ihr ein reines Taschentuch an, damit sie sich die reizenden Händchen abtrocknen könne; ein andrer legte ihr seinen Dolman unter die Füßchen, damit sie ihr nicht feucht würden; ein andrer verhängte das Fenster mit einem Mantel, damit es nicht ziehe; ein andrer scheuchte die Fliegen von dem Gesicht des Doktors weg, damit er nicht aufwache.

»Lassen Sie ihn doch«, sagte Marja Henrichowna mit einem schüchternen, glückseligen Lächeln. »Er schläft auch so schon gut nach einer schlaflosen Nacht.«

»Nein, Marja Henrichowna«, antwortete der Offizier. »Man muß dem Doktor kleine Dienste erweisen; dann behandelt er unsereinen vielleicht auch rücksichtsvoll, wenn er einem einmal ein Bein oder einen Arm abschneidet.«

Gläser waren nur drei vorhanden; das Wasser war so schmutzig, daß sich nicht erkennen ließ, ob der Tee stark oder schwach sei, und der Samowar faßte Wasser nur für sechs Gläser. Aber um so angenehmer war es, der Reihe und dem Rang nach sein Glas aus Marja Henrichownas weichen Händchen mit den kurzen, nicht ganz sauberen Nägeln zu empfangen. Alle Offiziere schienen an diesem Abend in Marja Henrichowna verliebt zu sein, oder vielmehr sie waren es wirklich. Sogar diejenigen Offiziere, die in dem Nebenraum Karten spielten, brachen sehr bald ihr Spiel ab, kamen zum Samowar herüber und machten, in den allgemeinen Ton einstimmend, gleichfalls der Doktorenfrau den Hof. Marja Henrichowna, die sich von so vielen vornehmen, höflichen jungen Männern umgeben sah, strahlte vor Glück, wie sehr sie es auch zu verbergen suchte, und obgleich sie jedesmal, wenn sich ihr Mann hinter ihr im Schlaf bewegte, sichtlich verlegen wurde.

Löffel gab es nur einen einzigen; Zucker war reichlich vorhanden; aber es dauerte zu lange, wenn jeder sein Glas umrührte, und deshalb wurde festgesetzt, Marja Henrichowna solle der Reihe nach jedem den Zucker umrühren. Als Rostow sein Glas erhalten und sich Rum hineingegossen hatte, bat er Marja Henrichowna, es umzurühren.

»Aber Sie haben ja gar keinen Zucker darin?« sagte sie. Sie lächelte fortwährend, als ob alles, was sie sagte, und alles, was die andern sagten, sehr komisch wäre und noch irgendeinen Nebensinn hätte.

»An Zucker liegt mir nichts; ich möchte nur, daß Sie mit Ihrem Händchen umrühren.«

Marja Henrichowna willigte ein und suchte den Löffel, dessen sich schon wieder jemand bemächtigt hatte.

»Rühren Sie doch mit Ihrem Fingerchen um, Marja Henrichowna«, sagte Rostow. »Das ist mir noch lieber.«

»Es ist zu heiß!« erwiderte Marja Henrichowna, die vor Vergnügen ganz rot geworden war.

Iljin nahm einen Eimer mit Wasser, goß ein paar Tropfen Rum hinein und brachte ihn zu Marja Henrichowna mit der Bitte, sie möchte mit dem Fingerchen umrühren.

»Dies ist meine Tasse«, sagte er. »Stecken Sie nur Ihr Fingerchen hinein, dann werde ich alles austrinken.«

Als der Samowar leer war, ergriff Rostow die Karten und machte den Vorschlag, sie wollten mit Marja Henrichowna »König und Bettelmann« spielen. Es wurde gelost, wer zu Marja Henrichownas Partei gehören sollte. Als Regel wurde auf Rostows Vorschlag festgesetzt: wer König werde, solle das Recht haben, Marja Henrichowna das Händchen zu küssen; wer dagegen als Bettelmann zurückbleibe, müsse einen neuen Samowar für den Doktor zurechtmachen, sobald dieser aufwache.

»Aber wenn nun Marja Henrichowna König wird?« fragte Iljin.

»Sie ist auch so schon immer Königin! Und ihre Befehle sind Gesetz.«

Kaum hatte das Spiel begonnen, als sich hinter Marja Henrichowna auf einmal der strubblige Kopf des Doktors erhob. Er hatte schon seit einer ganzen Weile nicht mehr geschlafen, sondern dem Gespräch zugehört, aber offenbar nichts Lustiges, Komisches oder Amüsantes an allem, was da gesagt und getan wurde, gefunden. Seine Miene sah trüb und bedrückt aus. Er begrüßte die Offiziere nicht, kratzte sich den Kopf und bat sie, ihn durchzulassen, da sie ihm den Weg versperrten. Sowie er das Zimmer verlassen hatte, brachen die Offiziere sämtlich in ein lautes Gelächter aus; Marja Henrichowna aber errötete so tief, daß ihr die Tränen in die Augen kamen, wodurch sie allen Offizieren nur noch reizender erschien. Als der Doktor von draußen wieder hereinkam, sagte er zu seiner Frau, die nun nicht mehr so glückselig lächelte und ihn ängstlich anblickte, wie wenn sie ihr Urteil von ihm erwartete, der Regen habe aufgehört und sie müßten sich nun im Reisewagen hinlegen, sonst würde ihnen alles gestohlen.

»Ich werde einen Posten danebenstellen … zwei Posten!« rief Rostow. »Seien Sie unbesorgt, Doktor!«

»Ich werde selbst Wache stehen!« fügte Iljin hinzu.

»Nein, meine Herren, Sie haben sich ausgeschlafen; ich aber habe zwei Nächte kein Auge zugetan«, erwiderte der Doktor und setzte sich mit finsterer Miene neben seine Frau, um zu warten, bis das Spiel zu Ende wäre.

Als die Offiziere sahen, was der Arzt für ein finsteres Gesicht machte, und wie er immer nach seiner Frau hinschielte, wurden sie noch vergnügter, und viele konnten das Lachen nicht unterdrücken, für das sie dann schnell einen glaubhaften Vorwand zu finden suchten. Nachdem der Doktor mit seiner Frau weggegangen und mit ihr in den Reisewagen gestiegen war, legten sich die Offiziere in der Schenke auf den Fußboden und deckten sich mit ihren nassen Mänteln zu; aber sie lagen lange wach da: bald unterhielten sie sich darüber, wie sich der Doktor geärgert habe und wie lustig die Doktorenfrau gewesen sei, bald lief einer hinaus vor die Haustür und meldete zurück, was in dem Reisewagen vorgehe. Mehrmals wickelte Rostow sich den Kopf ein und versuchte einzuschlafen; aber immer wieder mußte er auf eine Bemerkung hinhören, die irgend jemand machte, das Gespräch begann von neuem, und sie lachten wieder wie die Kinder, lustig und ohne Anlaß.

XIV


Um drei Uhr hatte noch niemand geschlafen, als ein Wachtmeister mit der Order erschien, nach dem Städtchen Ostrowno abzumarschieren.

In derselben Art weiterredend und weiterlachend, begannen die Offiziere sich eilig zurechtzumachen; der Samowar wurde wieder mit schmutzigem Wasser gefüllt und angezündet. Aber Rostow ging, ohne den Tee abzuwarten, zu seiner Eskadron. Es wurde schon hell; der Regen hatte aufgehört, die Wolken hatten sich zerteilt. Es war feucht und kalt, namentlich in den noch nicht ordentlich trocken gewordenen Kleidern. Als Rostow und Iljin in der Dämmerung aus der Schenke heraustraten, warfen sie beide einen Blick in den Reisewagen, dessen Lederverdeck vom Regen glänzte. Unter dem Vorderleder ragten die Füße des Arztes hervor, und in der Mitte des Wagens schimmerte auf einem Kissen das Häubchen der Doktorenfrau; man hörte die Atemzüge der beiden Schlafenden.

»Sie ist wirklich allerliebst!« sagte Rostow zu Iljin, der ihn begleitete.

»Ein ganz entzückendes Weib!« stimmte ihm Iljin mit dem Ernst des Sechzehnjährigen bei.

Eine halbe Stunde darauf stand die Eskadron auf der Landstraße marschbereit. Es erscholl das Kommando: »Aufsitzen!« Die Soldaten bekreuzten sich und schwangen sich auf die Pferde. Rostow, der sich an die Spitze gesetzt hatte, kommandierte: »Marsch!«, und in einem langausgedehnten Zug von vier Mann Breite setzten sich die Husaren in Bewegung; unter lautem Platschen der Hufe auf dem nassen Boden, säbelklirrend und unter leisen Gesprächen zogen sie auf der breiten, mit Birken eingefaßten Landstraße hinter der voranmarschierenden Infanterie und Artillerie dahin.

Die zerrissenen blauvioletten Wolken, die sich beim Aufgang der Sonne rötlich färbten, wurden vom Wind schnell dahingetrieben. Es wurde immer heller und heller. Schon war das krause Krautwerk, das immer die Landstraßen einsäumt, deutlich zu sehen, noch feucht von dem gestrigen Regen; die herunterhängenden, ebenfalls nassen Zweige der Birken schaukelten im Wind hin und her und ließen glänzende Tropfen schräg herunterfallen. Immer deutlicher waren die Gesichter der Soldaten zu erkennen. Rostow ritt mit Iljin, der sich immer neben ihm hielt, an der Seite der Landstraße, zwischen zwei Reihen von Birken.

Während des Feldzuges nahm sich Rostow die Freiheit, statt eines gewöhnlichen Dienstpferdes ein Kosakenpferd zu reiten. Als Kenner und Liebhaber hatte er sich unlängst ein kräftiges, gutes, donisches Pferd angeschafft, fuchsfarben mit weißlicher Mähne und weißlichem Schwanz, ein so schnelles Tier, daß er auf ihm von niemandem überholt wurde. Auf diesem Pferd zu reiten war für Rostow ein wahrer Genuß. Er dachte an das Pferd, an den schönen Morgen, an die Doktorenfrau, aber nicht ein einziges Mal an die bevorstehende Gefahr.

Früher hatte sich Rostow, wenn es in den Kampf ging, gefürchtet; aber jetzt empfand er nicht die geringste Spur von Ängstlichkeit mehr. Daß er sich nicht mehr fürchtete, kam nicht etwa daher, daß er sich an das Feuer gewöhnt hätte (an die Gefahr kann man sich nicht gewöhnen), sondern daher, daß er gelernt hatte, seine Gedanken von der Gefahr abzulenken. Er hatte sich gewöhnt, wenn es in den Kampf ging, an alles mögliche zu denken, nur nicht an das, was anscheinend größeres Interesse erregte als alles andere: an die bevorstehende Gefahr. In der ersten Zeit seines Dienstes hatte er, wie sehr er sich auch Mühe gab und wie energisch er sich auch wegen seiner Feigheit ausschalt, dies nicht erreichen können; aber jetzt hatte sich das mit den Jahren ganz von selbst gemacht. Er ritt jetzt neben Iljin zwischen den Birken dahin, riß zuweilen Blätter von den Zweigen, die ihm unter die Hände kamen, berührte mitunter die Weichen seines Pferdes mit dem Fuß und reichte, ohne sich umzuwenden, die ausgerauchte Pfeife dem hinter ihm reitenden Husaren hin – alles mit so ruhiger, sorgloser Miene, als ob er spazierenritte. Es war ihm ein Schmerz, in das aufgeregte Gesicht Iljins zu blicken, der viel und unruhig redete; er kannte aus Erfahrung jenen qualvollen Zustand der Erwartung und Todesfurcht, indem sich der Kornett befand, und wußte, daß nichts als die Zeit ihm helfen konnte.

Kaum begann die Sonne hinter einer Wolke hervorzukommen und auf einen reinen Streifen des Himmels zu treten, als sich der Wind legte, wie wenn er sich nicht erdreistete, diesen Sommermorgen, der nach dem Gewitter so wunderschön geworden war, zu verderben; es fielen noch Tropfen von den Bäumen, aber jetzt senkrecht – und nun wurde alles still. Die Sonne war jetzt ganz herausgetreten und am Horizont vollständig sichtbar, verschwand dann aber von neuem in einer schmalen, langen Wolke, die über ihr stand. Einige Minuten darauf erschien die Sonne noch glänzender am oberen Rand der Wolke, den sie zerriß. Alles fing an zu glänzen und zu leuchten. Und gleichzeitig mit dem Aufstrahlen dieses Lichtes, wie zur Antwort darauf, ertönten aus der Richtung, nach der sie ritten, mehrere Kanonenschüsse.

Rostow hatte noch nicht Zeit gehabt, zu überlegen und sich ein Urteil darüber zu bilden, wie weit diese Schüsse wohl entfernt sein mochten, als von Witebsk her ein Adjutant des Grafen Ostermann-Tolstoi herbeigesprengt kam mit dem Befehl, im Trab auf der Straße weiter vorzugehen.

Die Eskadron überholte die Infanterie und die Artillerie, die gleichfalls ihr Tempo beschleunigten, ritt bergab und nach Passierung eines leeren, von den Einwohnern verlassenen Dorfes wieder bergauf. Die Pferde begannen sich mit Schaum zu bedecken, die Soldaten bekamen rote Gesichter.

»Halt, richt’t euch!« erscholl weiter vorn das Kommando des Divisionsgenerals. »Rechte Schulter vor, im Schritt marsch!« wurde dann vorn kommandiert.

Die Husaren ritten an der Linie unserer Truppen entlang auf den linken Flügel unserer Stellung und machten dort hinter unseren Ulanen halt, die in der ersten Linie standen. Rechts stand russische Infanterie in dichter Kolonne; dies war die Reserve. Über ihr auf einer Anhöhe waren in der vollkommen reinen Luft und der schrägen, hellen Morgenbeleuchtung unmittelbar gegen den Himmel unsere Kanonen sichtbar. Nach vorn zu, jenseits eines Tales, erblickte man feindliche Kolonnen und Kanonen. Im Talgrund war unsere Vorpostenkette zu hören, die bereits in den Kampf eingetreten war und ein lustiges Geknatter mit dem Feind unterhielt.

Diese seit langer Zeit nicht mehr gehörten Klänge riefen bei Rostow wie die heiterste Musik eine fröhliche Stimmung hervor. »Trapp-ta-ta-tapp!« knatterten bald gleichzeitig, bald schnell nacheinander mehrere Schüsse. Dann wurde wieder alles still, und dann war es von neuem, als explodierten Knallerbsen, über die jemand hinginge.

Die Husaren hielten ungefähr eine Stunde auf einem Fleck. Auch eine Kanonade hatte begonnen. Graf Ostermann mit seiner Suite kam hinter der Eskadron vorbeigeritten; er hielt an und sprach einige Worte mit dem Regimentskommandeur und sprengte dann weiter zu den Kanonen auf der Anhöhe.

Gleich nachdem Ostermann weggeritten war, erscholl bei den Ulanen das Kommando: »In Kolonne, zur Attacke – fertig!« Die Infanterie vor ihnen verdoppelte die Tiefe ihrer Abteilungen, um die Kavallerie hindurchzulassen. Mit flatternden Lanzenfähnchen setzten sich die Ulanen in Bewegung und ritten im Trab bergab auf die französische Kavallerie los, die sich links am Fuß der Anhöhe zeigte.

Sobald die Ulanen die Anhöhe hinuntergeritten waren, erhielten die Husaren Befehl, sich hinaufzubegeben, um der Batterie als Deckung zu dienen. Während sie an die Stelle der Ulanen rückten, kamen zischend und pfeifend aus der feindlichen Vorpostenkette Kugeln herübergeflogen, die aber bei der weiten Entfernung nicht trafen.

Dieser gleichfalls seit langer Zeit nicht mehr gehörte Ton wirkte auf Rostow noch freudiger und aufmunternder als die vorher vernommenen Töne der Schüsse. Sich im Sattel aufrichtend, betrachtete er das Schlachtfeld, das von der Anhöhe her frei sichtbar dalag, und nahm mit ganzer Seele an den Bewegungen der Ulanen teil. Die Ulanen jagten dicht an die französischen Dragoner heran; dann entstand dort im Pulverrauch ein Wirrwarr, und nach fünf Minuten sprengten die Ulanen zurück, nicht nach der Stelle hin, wo sie vorher gestanden hatten, sondern mehr nach links. Zwischen den orangefarbenen, auf Füchsen reitenden Ulanen und hinter ihnen waren blaue französische Dragoner auf grauen Pferden in großer Menge sichtbar.

XV


Rostow mit seinem scharfen Jägerauge sah als einer der ersten diese blauen französischen Dragoner, von denen unsere Ulanen verfolgt wurden. Näher und näher kamen die aufgelösten Scharen der Ulanen und der sie verfolgenden französischen Dragoner. Schon konnte man erkennen, wie diese am Fuß der Anhöhe klein erscheinenden Menschengestalten einander einholten, zusammenstießen, die Arme erhoben und die Säbel schwangen.

Rostow verfolgte das, was da vor seinen Augen vorging, wie eine Hetzjagd. Er fühlte instinktmäßig, daß, wenn man jetzt mit den Husaren auf die französischen Dragoner einen Angriff mache, diese nicht standhalten würden; aber wenn man es tun wollte, so mußte es sogleich geschehen, diesen Augenblick; sonst war es bereits zu spät. Er blickte um sich. Ein neben ihm haltender anderer Rittmeister verwandte ebenso wie er kein Auge von dem Kavalleriekampf da unten.

»Andrei Sewastjanowitsch«, sagte Rostow, »wir könnten sie über den Haufen werfen …«

»Es wäre ein kühnes Stück«, antwortete der Rittmeister. »Aber in der Tat …«

Rostow hörte ihn nicht zu Ende, spornte sein Pferd, jagte vor die Front seiner Eskadron und hatte kaum das Kommando zu der beabsichtigten Bewegung gegeben, als auch schon die ganze Eskadron, die dasselbe Gefühl gehabt hatte wie er selbst, hinter ihm losritt. Rostow wußte selbst nicht, wie und warum er das getan hatte. Er hatte das alles in derselben Weise getan, wie er auf der Jagd zu handeln pflegte, ohne zu denken, ohne zu überlegen. Er hatte gesehen, daß die Dragoner nahe waren, daß sie in Unordnung dahinjagten; er hatte sich gesagt, daß sie nicht würden standhalten können; er hatte gewußt, daß es nur diesen einen günstigen Augenblick gab, der nie wiederkehren werde, wenn man ihn jetzt unbenutzt lasse. Die Kugeln hatten so ermunternd um ihn herum gezischt und gepfiffen, das Pferd hatte so eifrig vorwärts verlangt, daß er nicht hatte widerstehen können. Er hatte sein Pferd gespornt, das Kommando gegeben, in demselben Augenblick auch schon das Getrappel seiner ansprengenden Eskadron hinter sich gehört und ritt nun in vollem Trab bergab auf die Dragoner los. Kaum waren sie am Fuß des Berges angelangt, als unwillkürlich ihr Trab in Galopp überging, der immer schneller und schneller wurde, je näher sie ihren Ulanen und den hinter diesen herjagenden französischen Dragonern kamen. Nun waren sie dicht bei den Dragonern. Die vordersten derselben drehten beim Anblick der Husaren um, die weiter hinten befindlichen hielten an. Mit derselben Empfindung, mit der Rostow auf der Jagd dahinsprengte, um einem Wolf den Weg abzuschneiden, ließ er jetzt seinem donischen Pferde völlig die Zügel schießen und jagte schräg auf die aufgelösten Reihen der französischen Dragoner los. Ein Ulan hielt auf der Flucht an; ein anderer, der zu Fuß war, warf sich auf die Erde, um nicht zerdrückt zu werden; ein reiterloses Pferd geriet zwischen die Husaren. Fast alle französischen Dragoner jagten zurück. Rostow wählte sich einen von ihnen, der wie die andern auf einem grauen Pferd saß, aus und sprengte ihm nach. Auf dem Weg stürmte er auf einen Busch los; das gute Pferd trug ihn darüberhin, und kaum hatte sich Nikolai wieder im Sattel zurechtgerückt, als er sah, daß er in wenigen Augenblicken den Feind erreichen werde, den er sich als Ziel ausgesucht hatte. Dieser Franzose, nach seiner Uniform zu urteilen wahrscheinlich ein Offizier, jagte mit zusammengekrümmtem Leib auf seinem grauen Pferd dahin, das er mit dem Säbel antrieb. Im nächsten Augenblick stieß Rostows Pferd mit der Brust gegen das Hinterteil des Pferdes des Offiziers, warf das Tier beinahe über den Haufen, und gleichzeitig hob Rostow, ohne selbst zu wissen warum, den Säbel in die Höhe und führte damit einen Hieb gegen den Franzosen.

In demselben Augenblick, wo Rostow dies tat, war auf einmal die ganze lebhafte Erregung bei ihm verschwunden. Der Offizier fiel vom Pferd, nicht sowohl infolge des Säbelhiebes, der ihm nur leicht den Arm oberhalb des Ellbogens geritzt hatte, als infolge des Stoßes des Pferdes und vor Furcht. Rostow hielt sein Pferd an und suchte mit den Augen seinen Feind, um zu sehen, wen er besiegt habe. Der französische Dragoneroffizier hüpfte mit dem einen Fuß auf der Erde umher, mit dem andern saß er im Steigbügel fest. Ängstlich kniff er die Augen zusammen, wie wenn er jeden Augenblick einen neuen Hieb erwartete, runzelte die Stirn und blickte mit dem Ausdruck des Schreckens von unten zu Rostow hinauf. Sein blasses, kotbespritztes, blondhaariges, jugendliches Gesicht mit dem Grübchen am Kinn und den hellen, blauen Augen paßte ganz und gar nicht auf ein Schlachtfeld und hatte nichts Feindliches: es war ein ganz einfaches, gewöhnliches Stubengesicht. Noch ehe Rostow mit sich darüber im klaren war, was er mit ihm anfangen solle, rief der Offizier auf französisch: »Ich ergebe mich!« Er machte eilige, vergebliche Versuche, seinen Fuß aus dem Steigbügel loszubekommen, und blickte mit den angstvollen blauen Augen unverwandt zu Rostow hin. Hinzuspringende Husaren machten ihm den Fuß frei und setzten ihn wieder in den Sattel. Die Husaren waren an verschiedenen Stellen eifrig mit gefangenen Dragonern beschäftigt: einer von diesen war verwundet, wollte aber trotz seines blutigen Gesichtes sein Pferd nicht hingeben; ein anderer saß hinter einem Husaren, den er umfaßt hielt, auf der Kruppe von dessen Pferd; ein dritter kletterte auf das Pferd eines Husaren, der ihn dabei unterstützte. Von vorn her kam schießend französische Infanterie im Laufschritt heran. Eilig ritten die Husaren mit ihren Gefangenen davon. Rostow, der mit den andern zurückjagte, hatte eine unangenehme Empfindung, die ihm das Herz zusammenpreßte. Unklare, verworrene Gedanken, mit denen er noch nicht zurechtkommen konnte, waren durch die Gefangennahme dieses Offiziers und den Säbelhieb, den er ihm versetzt hatte, in ihm rege geworden.

Graf Ostermann-Tolstoi begegnete den zurückkehrenden Husaren, ließ Rostow zu sich rufen, sprach ihm seine Anerkennung aus und sagte, er werde dem Kaiser über seine kühne Tat Bericht erstatten und das Georgskreuz für ihn beantragen. Als Rostow zum Grafen Ostermann gerufen wurde, war er, in dem Bewußtsein, daß er den Angriff ohne Befehl unternommen hatte, fest überzeugt, daß der hohe Vorgesetzte ihn zu sich fordere, um ihn für seine eigenmächtige Handlungsweise zu bestrafen. Daher hätte Rostow über Ostermanns schmeichelhafte Worte und die Verheißung einer Belohnung um so freudiger überrascht sein müssen; aber eben jenes unangenehme, unklare Gefühl rief bei ihm geradezu eine Art von seelischer Übelkeit hervor. »Ja, was quält mich denn eigentlich?« fragte er sich, als er von dem General wieder wegritt. »Sorge um Iljin? Nein, er ist unversehrt. Habe ich mich irgendwie blamiert? Nein, ganz und gar nicht!« Was ihn quälte, war etwas anderes als Reue. »Ja, ja, dieser französische Offizier mit dem Grübchen. Wie deutlich ich mich erinnere, daß mein Arm widerstrebte, als ich ihn zum Hieb aufhob.«

Rostow sah die Gefangenen, welche weiter zurücktransportiert wurden, und ritt zu ihnen hin, um sich seinen Franzosen mit dem Grübchen am Kinn anzusehen. Dieser saß in seiner sonderbaren Uniform jetzt auf einem gewöhnlichen Husarenpferd und warf unruhige Blicke um sich. Seine Armwunde war kaum eine Wunde zu nennen. Er lächelte Rostow gezwungen zu und winkte grüßend mit der Hand. Rostow hatte immer noch dieselbe unbehagliche, peinliche Empfindung.

Diesen ganzen Tag über sowie auch während des folgenden Tages bemerkten Rostows Freunde und Kameraden, daß er zwar nicht traurig, nicht verdrießlich, wohl aber schweigsam, nachdenklich und sich gekehrt war. Er trank nur ungern mit, suchte allein zu bleiben und war in Gedanken versunken.

Rostow dachte immer an diese seine glänzende Kriegstat, die ihm zu seiner Verwunderung das Georgskreuz eintrug und ihm sogar den Ruf besonderer Tapferkeit verschaffte, und konnte manches dabei schlechterdings nicht begreifen. »Also auch die fürchten sich, und noch mehr als unsereiner!« dachte er. »Also das ist das ganze sogenannte Heldentum? Und habe ich das etwa um des Vaterlandes willen getan? Und worin hat denn er sich schuldig gemacht, der junge Mensch mit dem Grübchen und den blauen Augen? Aber was hatte er für Angst! Er dachte, ich würde ihn töten. Wozu hätte ich ihn denn töten sollen? Die Hand zitterte mir. Und ich bekomme das Georgskreuz. Nichts begreife ich davon, gar nichts!«

Aber während Nikolai in seinem Innern diese Fragen durcharbeitete, ohne sich doch klare Rechenschaft davon geben zu können, was ihn in solche Unruhe versetzte, drehte sich, wie das oft so geht, das Rad seines Glückes auf dienstlichem Gebiet zu seinen Gunsten. Er wurde nach dem Kampf bei Ostrowno befördert, erhielt ein Husarenbataillon, und wenn man zu irgendeiner Verwendung einen tapferen Offizier nötig hatte, so gab man den betreffenden Auftrag ihm.

XVI


Sobald die Gräfin die Nachricht von Nataschas Erkrankung erhalten hatte, kam sie, obwohl sie noch nicht recht gesund und noch sehr schwach war, dennoch mit Petja und allem, was an Hausrat und Dienerschaft erforderlich war, nach Moskau, und die ganze Familie Rostow siedelte von Marja Dmitrijewna in das eigene Haus über und richtete sich zu dauerndem Aufenthalt in Moskau ein.

Nataschas Krankheit war von so ernstem Charakter, daß, zu Nataschas und ihrer Angehörigen Glück, der Gedanke an alles das, was die Ursache ihrer Krankheit war (ihr Verhalten und ihre Absage an ihren Verlobten), dagegen in den Hintergrund treten mußte. Sie war so krank, daß man nicht daran denken konnte, inwieweit sie an allem Geschehenen schuld trug; denn sie aß nicht, schlief nicht, magerte sichtlich ab, hustete und befand sich, wie die Ärzte zu verstehen gaben, in Lebensgefahr. Alle Gedanken mußten einzig und allein darauf gerichtet sein, wie man ihr helfen könne. Die Ärzte besuchten sie bald einzeln, bald, um ein Konsilium zu halten, mehrere zugleich, redeten viel Französisch, Deutsch und Lateinisch, beurteilten ein jeder die Methode des andern sehr abfällig und verschrieben die mannigfachsten Arzneien gegen alle möglichen ihnen bekannten Krankheiten; aber keinem von ihnen kam der einfache Gedanke in den Sinn, daß ihnen die Krankheit, an der Natascha litt, überhaupt nicht bekannt sein konnte, wie denn keine Krankheit, von der ein lebendiger Mensch befallen wird, bekannt sein kann; denn jeder lebendige Mensch hat seine besonderen Eigentümlichkeiten und hat immer eine besondere, ihm speziell eigene, neue, komplizierte, der medizinischen Wissenschaft unbekannte Krankheit, nicht eine Krankheit der Lunge, der Leber, der Haut, des Herzens, der Nerven usw., wie sie in den medizinischen Lehrbüchern beschrieben sind, sondern eine Krankheit, welche in einer der zahllosen Kombinationen von Leiden dieser Organe besteht. Dieser einfache Gedanke konnte aber den Ärzten nicht in den Sinn kommen (ebensowenig wie einem Zauberer der Gedanke in den Sinn kommen kann, daß er nicht imstande ist zu zaubern), weil ihre Lebenstätigkeit darin bestand, Krankheiten zu kurieren, und weil sie dafür Geld erhielten, und weil sie auf diese Tätigkeit die besten Jahre ihres Lebens verwendet hatten. Und (was die Hauptsache war) dieser Gedanke konnte den Ärzten darum nicht kommen, weil sie sahen, daß sie zweifellos von Nutzen waren: sie waren tatsächlich für alle Mitglieder der Familie Rostow von Nutzen. Sie waren von Nutzen, nicht deshalb, weil sie die Kranke zwangen, allerlei größtenteils schädliche Substanzen hinunterzuschlucken (diese Schädlichkeit war allerdings nur wenig zu spüren, da die schädlichen Substanzen nur in geringer Quantität gereicht wurden), sondern sie waren nützlich, notwendig und unentbehrlich (und dies ist der Grund, weshalb es zu allen Zeiten vermeintliche Heilkundige gegeben hat und geben wird: Zauberer, Homöopathen und Allopathen), weil sie einem seelischen Bedürfnis der kranken Natascha und der Menschen, die sie liebhatten, entgegenkamen. Sie kamen jenem ewigen menschlichen Bedürfnis nach Hoffnung auf Besserung entgegen, dem Bedürfnis nach Mitgefühl und freundlicher Tätigkeit anderer, das der Mensch während des Leidens empfindet. Sie kamen jenem ewigen, menschlichen, beim Kind in der primitivsten Form zu beobachtenden Bedürfnis entgegen, die Stelle streicheln zu lassen, die einen Puff bekommen hat. Wenn das Kind sich stößt oder fällt, so läuft es sofort in die Arme der Mutter oder der Wärterin, damit diese ihm die schmerzende Stelle küssen und streicheln; und wenn das geschieht, so fühlt es davon eine Erleichterung. Dem Kind ist es unglaublich, daß Menschen, die stärker und klüger sind, als es selbst ist, kein Mittel haben sollten, ihm von seinem Schmerz zu helfen. Und die Hoffnung auf Erleichterung und der Ausdruck des Mitgefühls, während die Mutter ihm seine Beule streichelt, trösten das Kind. So waren auch die Ärzte für Natascha dadurch von Nutzen, daß sie gleichsam ihr »Au-au« küßten und streichelten und versicherten, der Schmerz würde sogleich vergehen, wenn der Kutscher nach der Apotheke am Arbatskaja-Platz fahre und für einen Rubel und siebzig Kopeken Pülverchen und Pillen in hübschen Schächtelchen hole, und wenn die Kranke diese Pülverchen genau alle zwei Stunden, nicht früher und nicht später, in abgekochtem Wasser einnehme.

Und was hätten wohl Sonja und der Graf und die Gräfin angefangen, und wie elend würden sie ausgesehen haben, wenn sie nichts für die Kranke zu tun gehabt hätten, wenn nicht diese nach der Uhr einzugebenden Pillen und das laue Getränk und die Hühnerschnitzel gewesen wären und all die übrigen vom Arzt vorgeschriebenen Einzelheiten der Lebensweise, deren Beobachtung allen Familienmitgliedern Beschäftigung und Trost gewährte? Wie hätte der Graf die Krankheit seiner Lieblingstochter ertragen können, wenn er sich nicht gesagt hätte, daß ihn diese Krankheit schon Tausende von Rubeln gekostet habe, und daß er sich noch weitere Tausende nicht würde leid sein lassen, um seiner Natascha dadurch zu helfen, und wenn er sich nicht bewußt gewesen wäre, daß er bei ausbleibender Besserung immer noch mehr Geld daranwenden und sie ins Ausland bringen und dort die berühmtesten Ärzte zu gemeinsamer Beratung zusammenrufen würde, und wenn er nicht die Möglichkeit gehabt hätte, ausführlich zu erzählen, wie Métivier und Feller die Krankheit nicht erkannt hätten, wohl aber Fries, und wie Mudrow sie noch besser definiert habe? Was hätte die Gräfin angefangen, wenn sie nicht hätte die kranke Natascha manchmal ausschelten können, weil diese die Anordnungen des Arztes nicht genau befolgte?

»Auf die Art wirst du nie gesund werden«, sagte sie und vergaß über dem Ärger ihren Kummer, »wenn du dem Arzt nicht gehorchst und nicht pünktlich die Arznei einnimmst! Damit ist nicht zu spaßen; denn es kann sich bei dir eine Pneumonie herausbilden«, sagte die Gräfin, und schon im Aussprechen dieses ihr (und nicht ihr allein) unverständlichen Wortes fand sie einen großen Trost.

Was hätte Sonja angefangen, wenn sie nicht das freudige Bewußtsein gehabt hätte, daß sie in der ersten Zeit drei Nächte hindurch nicht aus den Kleidern gekommen war, um stets bereit zu sein und alle Anordnungen des Arztes genau erfüllen zu können, und daß sie auch jetzt in der Nacht nicht schlief, um nicht die Zeit zu verpassen, zu welcher die nicht allzu schädlichen Pillen aus dem vergoldeten Schächtelchen eingegeben werden mußten? Ja sogar Natascha selbst sagte zwar, ihr könne keine Arznei helfen und das seien lauter Torheiten; aber auch ihr machte es Freude, daß sie immer zu bestimmter Zeit ihre Arznei einnehmen mußte, und es machte ihr Freude, zu sehen, daß die anderen um ihretwillen solche Opfer brachten. Und auch das machte ihr Freude, daß sie mitunter durch Vernachlässigung der ärztlichen Vorschriften zeigen konnte, sie glaube an keine Heilung und lege auf ihr Leben keinen Wert.

Der Arzt kam jeden Tag, fühlte den Puls, besah die Zunge und sagte ein paar Scherzworte, ohne sich um Nataschas bedrückte Miene zu kümmern. Dann ging er in das Nebenzimmer, wohin ihm die Gräfin eilig folgte, und nun nahm er eine ernste Miene an, wiegte gedankenvoll den Kopf hin und her und sagte, es sei allerdings Gefahr vorhanden, aber er hoffe auf die Wirkung dieser letzten Arznei; man müsse abwarten und beobachten; die Krankheit sei mehr seelischer Natur, aber …

Nun schob ihm die Gräfin, die sich bemühte, diese Handlung vor sich selbst und vor dem Arzt zu verbergen, ein Goldstück in die Hand und kehrte dann jedesmal mit beruhigtem Herzen zu der Kranken zurück.

Die Symptome der Krankheit Nataschas bestanden darin, daß sie wenig aß, wenig schlief, viel hustete und stets in trüber Stimmung war. Die Ärzte erklärten, die Kranke dürfe nicht ohne ärztlichen Beistand bleiben, und hielten sie darum in der stickigen Luft der großen Stadt zurück. So fuhren denn Rostows im Sommer 1812 nicht aufs Land.

Trotz der großen Menge der von ihr verschluckten Pillen, Tropfen und Pülverchen aus Büchschen, Fläschchen und Schächtelchen (Madame Schoß, die eine Liebhaberin von solchen Dingen war, hatte sich eine ganze Sammlung davon angelegt), und trotzdem sie das gewohnte Landleben entbehren mußte, behauptete doch ihre jugendliche Natur den Sieg: über Nataschas Kummer breiteten die Empfindungen, die ihr das seitdem verflossene Stück Leben gebracht hatte, eine Art von schützender Deckschicht; er lastete nun nicht mehr mit so quälendem Druck auf ihrem Herzen, wich allmählich in die Vergangenheit zurück, und Natascha begann sich auch körperlich zu erholen.

XVII


Natascha war nun ruhiger, aber nicht fröhlicher. Sie mied nicht nur alle äußeren Anregungen zur Freude: Bälle, Spazierfahrten, Konzerte, Theater, sondern auch, wenn sie wirklich einmal lachte, waren aus dem Lachen immer die Tränen herauszuhören. Zu singen war sie nicht imstande. Sowie sie zu lachen anfing oder allein für sich zu singen versuchte, kamen ihr die Tränen in die Kehle: Tränen der Reue, Tränen der Erinnerung an jene unwiederbringlich verlorene Zeit der Reinheit, Tränen des Ingrimms darüber, daß sie so ohne Grund und Zweck sich ihr junges Leben zerstört habe, das so glücklich hätte sein können. Lachen und Singen erschienen ihr ganz besonders als eine Art von Frevel gegen ihren Gram. An Koketterie dachte sie überhaupt nicht; hierin brauchte sie sich gar nicht erst irgendeine Zurückhaltung aufzuerlegen. Sie sagte (und das entsprach durchaus ihrem wahren Gefühl), daß ihr in dieser Zeit alle Männer genau so gleichgültig waren wie der Narr Nastasja Iwanowna. Vor ihrer Seele stand gleichsam ein Wachtposten, der jeder Freude streng den Eintritt verbot. Auch war das Interesse für gar manches, was ihr in der früheren sorglosen, hoffnungsreichen Mädchenzeit Vergnügen gemacht hatte, bei ihr erstorben. Am häufigsten und schmerzlichsten erinnerte sie sich an jene Herbstmonate, an die Jagd, an den Onkel und an die Weihnachtszeit, die sie mit Nikolai in Otradnoje verlebt hatte. Was hätte sie nicht darum gegeben, wenn sie auch nur einen einzigen Tag aus jener Zeit noch einmal hätte durchleben können! Aber das war nun für immer zu Ende. Ihre damalige Ahnung, daß jener Zustand der Freiheit und der Empfänglichkeit für alle Freuden ihr nie wiederkehren werde, hatte sie nicht getäuscht. Und doch mußte sie weiterleben.

Es war ihr tröstlich, zu denken, daß sie nicht etwa, wie sie früher gemeint hatte, besser, sondern schlechter, weit schlechter als alle, alle Menschen sei, die auf der Welt lebten. Aber damit war nichts getan. Sie wußte das und fragte sich: »Was nun weiter?« Aber es lag nichts weiter vor ihr; es gab keine Lebensfreude mehr für sie, und doch nahm das Leben seinen Gang. Nataschas Bemühen ging augenscheinlich nur dahin, niemandem zur Last zu sein und niemand zu stören; aber für sich selbst hatte sie keine Wünsche. Von allen ihren Angehörigen zog sie sich zurück, und nur in Gesellschaft ihres Bruders Petja fühlte sie sich wohler; mit ihm war sie lieber zusammen als mit den andern, und manchmal, wenn sie mit ihm unter vier Augen war, lachte sie sogar. Sie verließ das Haus fast gar nicht, und von den Leuten, die zu ihnen zu Besuch kamen, freute sie sich nur über einen Menschen, und das war Pierre. Es war unmöglich, zarter, rücksichtsvoller und zugleich ernster mit jemandem zu verkehren, als es Graf Besuchow mit ihr tat. Natascha empfand unbewußt diese Zartheit seines Benehmens, und daher machte ihr seine Gesellschaft das größte Vergnügen. Aber sie war ihm für seine Zartheit nicht einmal dankbar. Nichts Gutes, was Pierre tat, erschien ihr als Folge einer besonderen Bemühung. Bei Pierre erschien es als etwas so Natürliches, gut gegen alle Menschen zu sein, daß in seiner Güte weiter gar kein Verdienst lag. Mitunter bemerkte Natascha an Pierre eine gewisse Verlegenheit und Unbeholfenheit in ihrer Gegenwart, namentlich wenn er ihr etwas Angenehmes erweisen wollte, oder wenn er fürchtete, es könnte im Gespräch irgend etwas bei Natascha schmerzliche Erinnerungen wachrufen. Sie bemerkte das und führte es auf seine allgemeine Herzensgüte und Schüchternheit zurück, die, wie sie meinte, allen gegenüber gewiß die gleiche war wie ihr gegenüber. Nach jenen überraschenden Worten, die er im Augenblick der heftigsten Aufregung nur zu ihrem Trost, wie sie meinte, gesagt hatte: wenn er frei wäre, so würde er auf den Knien um ihre Hand und um ihre Liebe werben – nach diesen Worten hatte Pierre nie wieder zu Natascha von seinen Gefühlen gesprochen, und es war ihr sicher, daß er jene Worte, die ihr damals so wohltuend gewesen waren, in demselben Sinn gesprochen hatte, wie man eben all solche sinnlosen Worte spricht, um ein weinendes Kind zu trösten. Nicht deshalb, weil Pierre verheiratet war, sondern weil Natascha zwischen sich und ihm im höchsten Grad jene moralische Schranke fühlte, deren Fehlen sie Kuragin gegenüber empfunden hatte, kam ihr nie der Gedanke in den Sinn, daß aus ihrem Verhältnis zu Pierre sich eine Liebe von ihrer oder gar von seiner Seite entwickeln könne, oder auch nur jene Art von zärtlicher, sich offen aussprechender poetischer Freundschaft zwischen Mann und Frau, von der ihr einige Beispiele bekannt waren.

Gegen Ende der Petri-Fasten1 kam Agrafena Iwanowna Bjelowa, eine Gutsnachbarin der Rostows, nach Moskau, um den Moskauer Heiligen ihre Verehrung zu bezeigen. Sie machte Natascha den Vorschlag, sich mit ihr zusammen zum Abendmahl vorzubereiten, und Natascha ergriff diesen Gedanken mit großer Freude. Trotz des Verbots der Ärzte, frühmorgens auszugehen, bestand Natascha darauf, sich durch Kirchenbesuch auf die heilige Handlung vorzubereiten, und zwar nicht in der Weise, wie das sonst in der Familie Rostow üblich war, d.h. durch Anhören von drei im Haus abgehaltenen Messen, sondern so, wie es Agrafena Iwanowna tat, d.h. eine ganze Woche lang, und ohne eine einzige Früh-, Mittags- oder Abendmesse zu versäumen.

Der Gräfin gefiel dieser Eifer Nataschas; bei der Erfolglosigkeit der medizinischen Behandlung hoffte sie im stillen, das Gebet werde ihrer Tochter mehr helfen als die Arzneien, und wenn auch mit einiger Besorgnis und verborgen vor dem Arzt willigte sie in Nataschas Wunsch ein und vertraute sie der Obhut von Agrafena Iwanowna an. Diese kam nun täglich um drei Uhr morgens, um Natascha zu wecken, traf sie aber meistens schon wach, da Natascha ängstlich darauf bedacht war, die Frühmesse nicht zu verschlafen. Eilig wusch sich Natascha, zog demütig ihr schlechtestes Kleid an, legte eine alte Mantille um und ging, in der Morgenkühle fröstelnd, auf die noch menschenleeren, vom Frührot schwach erhellten Straßen hinaus. Auf Agrafena Iwanownas Rat nahm Natascha ihre Vorbereitung nicht in ihrer eigenen Pfarrkirche vor, sondern in einer Kirche, in der nach Angabe dieser frommen Dame ein Geistlicher von besonders strengem, reinem Lebenswandel amtierte. In dieser Kirche waren immer nur sehr wenige Menschen; Natascha und Agrafena Iwanowna stellten sich an ihren gewöhnlichen Platz vor ein Bild der Mutter Gottes, das in die Rückwand der linken Chorestrade eingefügt war, und ein ihr neues Gefühl der Demut gegenüber dem Großen, Unbegreiflichen erfüllte Natascha, wenn sie in dieser ungewohnten Morgenstunde das schwarze, von den davor brennenden Kerzen und dem durch das Fenster dringenden Licht des Morgens beleuchtete Muttergottesbild anblickte und die Liturgie anhörte, der sie sich bemühte mit Verständnis zu folgen. Wenn sie sie verstand, so verschmolz ihr persönliches Empfinden in all seinen Abtönungen mit ihrem Gebet; verstand sie sie aber nicht, so war es ihr noch wonnevoller zu denken, daß der Wunsch, alles zu verstehen, ein verwerflicher Stolz sei, daß es unmöglich sei, alles zu verstehen, und man vielmehr nur glauben und sich Gott hingeben müsse, der (das fühlte sie) in diesem Augenblick in ihrer Seele waltete. Sie bekreuzte sich, verbeugte sich, und wo sie die liturgischen Gebete nicht verstand, da bat sie, in Angst über ihre eigene Schlechtigkeit, Gott nur, ihr alles, alles zu verzeihen und ihr gnädig zu sein. Diejenigen Gebete, denen sie sich mit besonderer Andacht hingab, waren die Reu-und Bußgebete. Kehrte sie dann in früher Morgenstunde nach Hause zurück, zu einer Zeit, wo auf der Straße nur Maurer, die zur Arbeit gingen, und Hausknechte, die die Straße fegten, zu sehen waren und in den Häusern noch alles schlief, dann empfand Natascha ein ihr neues Gefühl: die Hoffnung, daß es ihr gelingen werde, ihre Fehler abzulegen und ein neues, reines, glückliches Leben zu führen.

Während der ganzen Woche, in der sie sich so vorbereitete, wuchs dieses Gefühl bei ihr mit jedem Tag. Und das Glück, das heilige Abendmahl zu empfangen, erschien ihr als ein so großes, daß sie fürchtete, sie werde diesen beseligenden Sonntag gar nicht erleben.

Aber der glückliche Tag kam doch heran, und als Natascha an diesem für sie so denkwürdigen Sonntag im weißen Musselinkleid vom Abendmahl heimkehrte, fühlte sie sich zum erstenmal seit vielen Monaten ruhig und nicht von dem Leben, das ihr noch bevorstand, bedrückt.

Der Arzt, der gerade an diesem Tag einmal wieder kam, betrachtete Natascha mit prüfendem Blick und befahl, mit den letzten Pulvern fortzufahren, die er vierzehn Tage vorher verschrieben hatte.

»Unbedingt damit fortfahren, morgens und abends«, sagte er, offenbar selbst von aufrichtiger Befriedigung über seinen Erfolg erfüllt. »Nur, bitte, noch pünktlicher.«

»Seien Sie ganz beruhigt, Gräfin«, fügte er dann im andern Zimmer scherzend hinzu, indem er das Goldstück geschickt mit den weichen Teilen der Hand festhielt; »sie wird sehr bald wieder singen und Mutwillen treiben. Diese letzte Arznei ist ihr von großem Nutzen gewesen, von außerordentlichem Nutzen. Sie ist ordentlich wiederaufgelebt.«

Die Gräfin, die nicht frei von Aberglauben war, blickte schnell auf ihre Nägel und spuckte darauf, als sie mit heiterem Gesicht in den Salon zurückkehrte.

Fußnoten


1 Sie schließen am 28. Juni.

Anmerkung des Übersetzers.


XVIII

Zu Anfang des Juli verbreiteten sich in Moskau immer bedenklichere Gerüchte über den Gang des Krieges: es hieß, der Kaiser werde ein Manifest, einen Aufruf an das Volk erlassen und der Kaiser selbst werde von der Armee fortgehen und nach Moskau kommen. Und da bis zum 11. Juli der Aufruf noch nicht eingetroffen war, so gingen ganz arge Übertreibungen betreffs dieser Kundgebung und der Lage Rußlands von Mund zu Mund: der Kaiser verlasse die Armee deswegen, weil diese sich in Gefahr befinde; Smolensk habe sich ergeben; Napoleon verfüge über eine Million Soldaten, und nur ein Wunder könne Rußland noch retten.

Am 11. Juli, einem Sonnabend, kam das Manifest an, aber es war noch nicht gedruckt; und Pierre, der bei Rostows einen Besuch machte, versprach, am nächsten Tag, Sonntag, zum Mittagessen zu ihnen zu kommen und ein Exemplar mitzubringen, das er von dem Grafen Rastoptschin zu erhalten hoffte.

An diesem Sonntag fuhren Rostows wie gewöhnlich zur Messe nach der Hauskirche der Familie Rasumowski. Es war ein heißer Julitag. Schon um zehn Uhr, als Rostows vor der Kirchtür aus dem Wagen stiegen, waren an vielen Dingen die charakteristischen Merkmale eines solchen Tages wahrzunehmen: an der schwülen Luft, an der Art des Geschreis der fliegenden Händler, an den hellen, grellfarbigen Sommerkleidern der Menge, an den bestaubten Blättern der Bäume des Boulevards, an dem Klang der Musik und den weißen Hosen eines zur Wachtparade vorbeimarschierenden Bataillons, an dem eigenartigen Donnern des Pflasters unter den Wagenrädern und an dem scharfen Glanz der brennenden Sonne. Überall war jene sommerliche Mattigkeit zu spüren, bei der man mit dem gegenwärtigen Zustand halb zufrieden und halb unzufrieden ist, eine Stimmung, die sich an einem hellen, heißen Tag in der Stadt besonders stark fühlbar macht. In der Rasumowskischen Kirche war die ganze vornehme Welt von Moskau, lauter Bekannte der Familie Rostow; anwesend (in diesem Jahr waren, als ob sie irgendein besonderes Ereignis erwarteten, sehr viele reiche Familien, die sonst gewöhnlich auf das Land fuhren, in der Stadt geblieben). Als Natascha neben ihrer Mutter hinter dem Livreediener herging, der ihnen einen Weg durch die Menge bahnte, hörte sie, wie ein junger Mann einem andern mit Bezug auf sie allzu laut zuflüsterte:

»Das ist die Rostowa; Sie wissen schon …«

»Wie mager sie geworden ist; aber hübsch ist sie doch!« erwiderte der andere.

Darauf hörte sie oder meinte zu hören, daß die Namen Kuragin und Bolkonski genannt wurden. Übrigens war das eine Vorstellung, die sie fortwährend hatte. Sie glaubte immer, alle Leute, die sie ansähen, dächten an weiter nichts als an das, was mit ihr vorgefallen war. Voll schweren Leides und mit angsterfülltem Herzen, wie immer in größerer Menschenmenge, ging Natascha in ihrem lila seidenen, mit schwarzen Spitzen garnierten Kleid dahin, so wie eben Frauen zu gehen verstehen: um so ruhiger und stolzer, je mehr ihnen Schmerz und Scham das Herz zerreißen. Sie war überzeugt (und darin irrte sie nicht), daß sie schön war; aber das machte ihr jetzt nicht mehr wie früher Freude. Im Gegenteil bereitete ihr dies in letzter Zeit nur Qual, und ganz besonders an diesem klaren, heißen Sommertag in der Stadt. »Nun ist schon wieder ein Sonntag da, schon wieder eine Woche um«, sagte sie bei sich, in Erinnerung daran, daß sie am vorigen Sonntag in dieser selben Kirche gewesen war, »und immer dasselbe Leben, das kein Leben ist, und immer dieselben mich umgebenden Verhältnisse, in denen ich es früher so leicht fand zu leben. Ich bin schön und jung, und ich weiß, daß ich jetzt gut bin; früher war ich schlecht, aber jetzt bin ich gut, das weiß ich«, dachte sie; »und nun gehen meine besten, allerbesten Jahre unnütz und zwecklos, und ohne daß jemand etwas davon hat, vorüber.« Sie stellte sich neben ihre Mutter und nickte nahe stehenden Bekannten zu. Dann musterte sie nach ihrer Gewohnheit die Toiletten der Damen, tadelte innerlich die nachlässige Haltung einer in der Nähe stehenden Dame sowie deren unpassende Art, sich mit allzu kurzen Bewegungen zu bekreuzen, und mußte mit Schmerz daran denken, daß man über sie abfällig urteile und sie anderen gegenüber dasselbe tue. Und als sie nun die ersten Töne der Messe hörte, da erschrak sie über ihre eigene Schlechtigkeit, erschrak darüber, daß sie ihre frühere Reinheit schon wieder verloren hatte.

Ein alter Geistlicher von wohlgestalteter, sehr sauberer Erscheinung zelebrierte die Messe mit jener milden Feierlichkeit, die auf die Seelen der Andächtigen so erhebend und beruhigend wirkt. Die Tür zum Allerheiligsten schloß sich; langsam zog sich der Vorhang davor; eine geheimnisvolle, ruhige, leise Stimme sagte etwas von dorther. Zu Nataschas eigenem Staunen drängten sich ihr die Tränen in die Augen, und ein schmerzlich freudiges Gefühl erfüllte ihre Seele.

»Lehre mich, was ich tun soll, was ich mit meinem Leben beginnen soll, wie ich mich für alle Zeit bessern kann, für alle Zeit …!« dachte sie.

Der Diakonus trat heraus an das Lesepult, holte mit weit abgespreiztem Daumen sein langes Haar unter dem Chorrock hervor und brachte es in Ordnung, machte das Zeichen des Kreuzes über seiner Brust und begann laut und feierlich die Worte des Gebetes zu lesen:

»Lasset uns in Frieden zu Gott beten!«

»In Frieden«, dachte Natascha, »alle zusammen, ohne Unterschied des Standes, ohne Feindschaft, sondern durch brüderliche Liebe vereinigt, so wollen wir beten.«

»Um den Frieden von oben und um das Heil unserer Seelen!«

»Um den Frieden der Engel«, betete Natascha, »und der Seelen aller körperlosen Wesen, die über uns leben.«

Als für das Heer gebetet wurde, dachte sie an ihren Bruder und an Denisow. Bei dem Gebet für die Seefahrenden und Reisenden dachte sie an den Fürsten Andrei und betete für ihn und bat Gott, ihr das Böse zu verzeihen, das sie ihrem Verlobten angetan hatte. Als für die gebetet wurde, die uns lieben, betete sie für ihre Angehörigen, für ihren Vater, für ihre Mutter, für Sonja, indem sie sich jetzt zum erstenmal ihrer Schuld ihnen gegenüber in ihrem ganzen Umfang bewußt wurde und die ganze Kraft ihrer Liebe zu ihnen fühlte. Bei dem Gebet für die, die uns hassen, erdachte sie sich Feinde und Hasser, um für sie beten zu können. Zu den Feinden zählte sie die Gläubiger ihres Vaters und alle, welche unerfreuliche Geschäfte mit ihm hatten; auch erinnerte sie sich jedesmal bei dem Gedanken an die Feinde und Hasser an Anatol, der ihr soviel Böses getan hatte, und obgleich er nicht einer war, der sie haßte, so betete sie doch freudigen Herzens für ihn wie für einen Feind. Nur im Gebet fühlte sie sich imstande, klar und ruhig sowohl an den Fürsten Andrei als auch an Anatol zu denken, da ihre Gefühle gegen diese Menschen zu einem Nichts zusammenschrumpften im Vergleich mit ihrem Gefühl der Furcht und Andacht Gott gegenüber. Als für die kaiserliche Familie und den Synod gebetet wurde, verbeugte sie sich besonders tief und bekreuzte sich, indem sie sich sagte, wenn sie etwas nicht verstehe, so dürfe sie darum noch nicht zweifeln, und sie wolle trotzdem den regierenden Synod lieben und für ihn beten.

Nach Beendigung der Fürbitten legte der Diakonus die Stola über der Brust kreuzförmig zusammen und sagte:

»Uns selbst und unsern Leib übergeben wir Christo, unserm Gott.«

»Uns selbst übergeben wir Gott«, wiederholte Natascha in ihrer Seele. »Mein Gott, ich übergebe mich Deinem Willen«, dachte sie. »Nichts will ich, nichts begehre ich; lehre mich, was ich tun soll, wie ich meinen Willen gebrauchen soll! Nimm mich hin, nimm mich hin!« bat Natascha mit inbrünstiger Ungeduld; ohne sich zu bekreuzen, ließ sie die schlanken Arme heruntersinken und schien darauf zu warten, daß gleich im nächsten Augenblick eine unsichtbare Kraft sie erfassen und sie von sich selbst befreien werde, von ihren Schmerzen, Wünschen, Selbstvorwürfen, Hoffnungen und Fehlern.

Die Gräfin richtete während des Gottesdienstes mehrmals ihren Blick nach dem Gesicht ihrer Tochter, auf dem sich eine tiefe Ergriffenheit malte und in dem die Augen hell leuchteten, und betete zu Gott, er möge ihr helfen.

Mitten im Gottesdienst und der Ordnung desselben, welche Natascha genau kannte, nicht entsprechend brachte der Küster ein Bänkchen herbei, eben dasselbe, auf welches der Geistliche zu Pfingsten niederkniete, um das Festgebet zu lesen, und stellte es vor der Tür des Allerheiligsten auf. Der Geistliche kam mit seinem lila Samtkäppchen bedeckt heraus, strich sich die Haare zurecht und ließ sich mit Anstrengung auf die Knie nieder. Alle taten das gleiche und sahen einander erstaunt an. Es sollte jetzt ein Gebet folgen, das soeben vom Synod eingegangen war, ein Gebet um Rettung Rußlands von dem feindlichen Überfall.

»Allmächtiger Gott! Gott, der Du uns erlöset hast!« begann der Geistliche in jener klaren, schlichten, milden Art, in der nur die slawischen Geistlichen die Gebete lesen und die auf das russische Herz so unwiderstehlich wirkt.

»Allmächtiger Gott! Gott, der Du uns erlöset hast! Blicke heute in Deiner Gnade und Milde auf Deine demütigen Kinder herab, höre uns in Deiner Liebe zur Menschheit, nimm Dich unser an und erbarme Dich unser. Jener Feind, der auf Deiner Erde Unordnung und Verwirrung stiftet und alle Länder in Wüsten verwandeln will, hat sich gegen uns erhoben; jene gesetzlosen Menschen haben sich zusammengetan, um Dein Reich zu zerstören, um Dein teures Jerusalem, Dein geliebtes Rußland zu vernichten, um Deine Tempel zu schänden, Deine Altäre zu stürzen und alles, was uns heilig ist, zu entweihen. Wie lange, o Herr, wie lange sollen die Sünder noch frohlocken, wie lange noch ihre ungesetzliche Macht mißbrauchen?

Herr unser Gott! Erhöre uns, die wir zu Dir beten: stärke mit Deiner Kraft den allerfrömmsten Selbstherrscher, unsern erhabenen Kaiser und Herrn Alexander Pawlowitsch; gedenke seiner Gerechtigkeit und Milde; vergilt ihm nach seinen Tugenden, und möge er durch sie auch uns erhalten und bewahren, Dein geliebtes Israel. Segne seine Pläne, seine Unternehmungen und seine Taten; befestige mit Deiner allmächtigen Rechten sein Reich und gib ihm den Sieg über seine Feinde, wie Du Moses über Amalek, Gideon über Midian und David über Goliath siegen ließest. Schütze sein Kriegsheer; lehre die Arme derer, die sich in Deinem Namen wappnen, den ehernen Bogen spannen1 und umgürte sie mit Deiner Kraft zum Kampf. Nimm Schwert und Schild und erhebe Dich zu unserem Beistand; mögen die, so uns Übles sinnen, zu Schimpf und Schanden werden; mögen sie vor dem Antlitz Deines getreuen Heeres sein wie Staub vor dem Wind und Dein starker Engel sie demütigen und vertreiben; möge ein Netz über sie kommen, ohne daß sie des gewahr werden; mögen sie fallen vor den Füßen Deiner Knechte und unsern Kriegern zur Beute werden! O Herr! Bei Dir ist nichts unmöglich, viele zu retten oder wenige; Du bist Gott, und der Mensch vermag nichts wider Dich.

Gott unserer Väter! Gedenke Deiner Gnade und Barmherzigkeit, die von Ewigkeit her sind; verwirf uns nicht von Deinem Angesicht aus Zorn über unsere Unwürdigkeit, sondern nach der Größe Deiner Gnade und der Fülle Deiner Wohltaten siehe nicht an unsere Übertretungen und Sünden. Schaff in uns ein reines Herz und gib uns einen neuen, rechten Geist; befestige uns alle im Glauben an Dich, stärke uns in der Hoffnung, entzünde in uns eine herzliche Liebe untereinander, rüste uns aus mit Einmütigkeit zur gerechten Verteidigung der Habe, die Du uns und unseren Vätern gegeben hast. Und möge nicht das Zepter der Gottlosen erhöhet werden auf dem Erbe der Frommen!

Herr unser Gott, an den wir glauben und auf den wir vertrauen, verstoße uns nicht aus Deiner Gnade und tue ein Zeichen zu unserem Heil, auf daß die, die uns und unseren wahren Glauben hassen, es sehen und zuschanden werden und untergehen und alle Lande es sehen, daß Dein Name, Herr, Herr ist und wir Deine Kinder sind. Zeige uns, Herr, jetzt Deine Gnade und gewähre uns Rettung; erfreue das Herz Deiner Knechte durch Deine Gnade; strecke unsere Feinde zu Boden und vernichte sie unter den Füßen Deiner Getreuen in Bälde. Denn Du bist der Beistand und die Hilfe und der Sieg derer, die auf Dich bauen, und Dir lobsingen wir, dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.«

In dem Zustand seelischer Empfänglichkeit, in welchem sich Natascha befand, wirkte dieses Gebet sehr stark auf sie. Sie hörte jedes Wort von dem Sieg Moses über Amalek und Gideons über Midian und Davids über Goliath und von der Zerstörung »Deines Jerusalems« und betete zu Gott in jener innigen Rührung, von der ihr Herz voll war; aber sie verstand nicht recht, um was sie eigentlich Gott in diesem Gebet anflehte. Von ganzer Seele nahm sie teil an der Bitte um den rechten Geist und um die Befestigung des Herzens im Glauben und in der Hoffnung und um die Entzündung der Liebe im Herzen. Aber sie vermochte nicht darum zu beten, daß ihr ihre Feinde unter die Füße gelegt werden möchten, da sie erst wenige Minuten vorher gewünscht hatte, recht viel Feinde zu haben, um für sie beten zu können. Aber andrerseits konnte sie auch nicht an der Gerechtigkeit des Gebetes zweifeln, das der Geistliche in so feierlicher Form auf seinen Knien gesprochen hatte. Sie fühlte in ihrer Seele eine andächtige, ängstliche Beklommenheit vor der Strafe, die jeden Menschen für seine Sünden und insonderheit sie selbst für ihre Sünden treffen werde, und bat Gott, ihnen allen und auch ihr zu verzeihen und ihnen allen und auch ihr ein ruhiges, glückliches Leben zu verleihen. Und es war ihr, als werde Gott ihr Gebet erhören.

Fußnoten


1 Aus 2. Sam. 22, 35.

Anmerkung des Übersetzers.


XIX

Seit dem Tag, wo Pierre bei der Rückkehr von einem Besuch bei Rostows, noch mit dem Gedanken an Nataschas dankbaren Blick beschäftigt, den am Himmel stehenden Kometen betrachtet und gefühlt hatte, daß sich ihm ein neuer Gesichtskreis erschloß, seit diesem Tag war ihm jene Frage, die ihn früher fortwährend gequält hatte, die Frage nach der Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit alles irdischen Treibens, nicht mehr entgegengetreten. Diese furchtbare Frage nach dem Warum und dem Wozu, die sich ihm früher mitten in jeder Tätigkeit aufgedrängt hatte, war jetzt für ihn abgelöst worden nicht etwa durch eine andere Frage, auch nicht durch eine Antwort auf die frühere Frage, sondern durch den Gedanken an sie, an Natascha. Mochte er nun wertlose Gespräche anhören oder selbst führen, mochte er von menschlicher Gemeinheit und Torheit lesen oder hören: er erschrak nicht mehr wie früher, er fragte sich nicht mehr, warum die Menschen sich nur so mühen und sorgen, da doch alles so kurz und ungewiß ist, sondern er erinnerte sich an Natascha in der Gestalt, in der er sie zum letztenmal gesehen hatte, und alle seine Zweifel verschwanden, nicht weil sie ihm jene Frage beantwortet hätte, sondern weil der Gedanke an sie ihn sofort in ein anderes, helles Gebiet der Geistestätigkeit versetzte, auf dem es sich nicht um schuldfrei und schuldig handelte, in das Gebiet der Schönheit und Liebe, um derentwillen es sich der Mühe lohnte zu leben. Welche Gemeinheit auch immer ihm im Menschenleben vorkam, er sagte sich jetzt: »Nun, mag N.N. den Staat und den Kaiser bestehlen und mögen Staat und Kaiser ihn dafür mit Ehren und Würden belohnen: sie hat mir gestern zugelächelt und mich gebeten wiederzukommen, und ich liebe sie, und niemand wird es jemals erfahren.« Und in seiner Seele war es ruhig und hell.

Pierre besuchte Gesellschaften, ganz wie früher, trank ebensoviel und führte dasselbe müßige und zerstreute Leben, weil er außer den Stunden, die er bei Rostows zubrachte, auch die übrige Zeit hinbringen mußte und seine Gewohnheiten sowie die Bekanntschaften, die er in Moskau gemacht hatte, ihn unwiderstehlich zu diesem Leben hinzogen, das ihn in Beschlag genommen hatte. Aber in der letzten Zeit, als vom Kriegsschauplatz immer bedenklichere Gerüchte kamen, und als Nataschas Gesundheit sich besserte und sie nicht mehr bei ihm das frühere Gefühl sorglichen Mitleids erweckte, da begann sich seiner mehr und mehr eine ihm unbegreifliche Unruhe zu bemächtigen. Er fühlte, daß der Zustand, in dem er sich befand, nicht lange dauern konnte, daß eine Katastrophe heranrückte, die sein ganzes Leben verändern mußte, und suchte ungeduldig in allem nach Vorzeichen für diese herannahende Katastrophe. Von einem seiner Freimaurerbrüder wurde er auf folgende, aus der Offenbarung des Johannes entnommene Prophezeiung aufmerksam gemacht, die sich auf Napoleon beziehen sollte.

In der Offenbarung, Kapitel 13, Vers 18, heißt es: »Hier ist Weisheit. Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tiers; denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist sechshundertundsechsundsechzig.«

Und in demselben Kapitel, Vers 5: »Und es ward ihm gegeben ein Mund, zu reden große Dinge und Lästerungen, und ward ihm gegeben, daß es mit ihm währte zweiundviefzig Monate lang.«

Wenn man mit den französischen Buchstaben nach Art der hebräischen Zahlenbezeichnung verfährt, bei der die neun ersten Buchstaben die Einer und die folgenden die Zehner bezeichnen, so erhalten sie die folgenden Zahlenwerte:


a b c d e f g h i k l m n o p q r s t u v w x y z

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120 130 140 150 160


Setzt man nun nach Maßgabe dieses Alphabets in dem Ausdruck L’Empereur Napoléon die entsprechenden Zahlen ein, so ergibt sich, daß die Summe dieser Zahlen 666 beträgt1 und somit Napoleon jenes Tier ist, von dem die Weissagung in der Offenbarung handelt. Wenn ferner nach demselben Alphabet die Zahlenwerte der Buchstaben in den Worten quarante deux zusammengezählt werden, d.h. des Zeitraumes, der dem Tier gesetzt war, große Dinge und Lästerungen zu reden, so beträgt die Summe dieser Zahlen wieder 666, woraus folgt, daß die Grenze der Macht Napoleons im Jahre 1812 gekommen war, in welchem der französische Kaiser zweiundvierzig Jahre alt wurde. Diese Prophezeiung hatte für Pierre etwas Frappierendes, und er stellte sich oft die Frage, was denn nun eigentlich der Macht des Tieres, d.h. Napoleons, eine Grenze setzen werde, und versuchte aufgrund derselben Gleichsetzung von Buchstaben und Zahlen eine Antwort auf diese ihn beschäftigende Frage zu finden. Er schrieb als Antwort auf diese Frage die Worte L’Empereur Alexandre und La nation russe hin. Aber die Summe der Zahlen betrug mehr oder weniger als 666. Eines Tages, als er sich wieder einmal mit diesen Berechnungen beschäftigte, schrieb er seinen Namen hin: Comte Pierre Besouhoff; die Summe der Zahlen stimmte nicht. Er änderte die Orthographie, indem er ein z für das s setzte, fügte de oder den Artikel le hinzu, erhielt aber trotzdem nicht das gewünschte Resultat. Da kam ihm der Gedanke in den Sinn, wenn die Antwort auf jene Frage wirklich in seinem Namen stecken solle, so müsse in der Antwort unbedingt seine Nationalität angegeben sein. Er schrieb hin: Le Russe Besuhof und erhielt beim Zusammenzählen der Zahlen die Summe 671. Nur fünf war zuviel; fünf bedeutete e, eben jenes e, das in dem Artikel vor dem Wort Empereur weggelassen war. Indem Pierre nun ganz ebenso, allerdings gegen die Sprachregel, das e wegließ, erhielt er als gesuchte Antwort: L’Russe Besuhof, mit der Summe 666. Diese Entdeckung versetzte ihn in große Aufregung. Wie und durch welche Verknüpfung er mit jenem großen Ereignis, das in der Offenbarung prophezeit ist, in Beziehung stand, das wußte er nicht; aber an dem Vorhandensein einer solchen Verknüpfung zweifelte er auch nicht einen Augenblick. Seine Liebe zu der Komtesse Rostowa, der Antichrist, der Überfall Napoleons, der Komet, die Zahl 666, L’Empereur Napoléon und L’Russe Besuhof: alles dies zusammen mußte heranreifen, die Hülle sprengen und ihn aus jener verzauberten, wertlosen Welt der Moskauer Gewohnheiten, in denen er sich gefangen fühlte, befreien und zu einer großen Tat und zu einem großen Glück führen.


Am Tag vor jenem Sonntag, an welchem in der Kirche das Gebet verlesen wurde, hatte Pierre Rostows versprochen, ihnen von dem Grafen Rasteptschin, mit dem er gut bekannt war, den Aufruf des Kaisers und die letzten Nachrichten von der Armee zu bringen. Als er am Vormittag bei dem Grafen Rastoptschin vorsprach, fand er bei diesem einen soeben von der Armee eingetroffenen Kurier. Dieser Kurier war einer der Moskauer Balltänzer, mit denen Pierre bekannt war.

»Um des Himmels willen, können Sie mir nicht ein bißchen helfen?« fragte ihn der Kurier. »Ich habe eine ganze Reisetasche voll Briefe an Eltern.«

Unter diesen Briefen befand sich ein Brief von Nikolai Rostow an seinen Vater. Pierre nahm diesen Brief. Außerdem gab ihm Graf Rastoptschin den Aufruf des Kaisers an Moskau, der soeben gedruckt war, die letzten Tagesbefehle an die Armee und seinen eigenen letzten Maueranschlag. Als Pierre die Tagesbefehle an die Armee durchsah, fand er in einem von ihnen unter den Nachrichten über Verwundete, Gefallene und Dekorierte den Namen Nikolai Rostows, der für seine im Treffen bei Ostrowno bewiesene Tapferkeit das Georgskreuz vierter Klasse erhalten hatte, und in demselben Tagesbefehl die Ernennung des Fürsten Andrei Bolkonski zum Kommandeur eines Jägerregiments. Obgleich es ihm widerstrebte, Rostows an Bolkonski zu erinnern, so war es ihm doch Herzenssache, ihnen durch die Nachricht von der Dekorierung ihres Sohnes eine Freude zu bereiten; so schickte er denn, während er den Aufruf, den Maueranschlag und die andern Tagesbefehle in die Tasche schob, um sie ihnen zum Mittagessen selbst mitzubringen, jenen einen Tagesbefehl und den Brief ihnen sofort durch einen Boten zu.

Das Gespräch mit dem Grafen Rastoptschin und dessen sorgenvoller Ton und hastiges Wesen, dann die Begegnung mit dem Kurier, der in leichtfertiger Manier davon erzählte, wie schlecht die Dinge beim Heer ständen, ferner die Gerüchte von Spionen, die angeblich in Moskau entdeckt waren, und von einem in Moskau zirkulierenden Zeitungsblatt, in dem gesagt sein sollte, Napoleon habe erklärt, er werde bis zum Herbst in beiden russischen Hauptstädten sein, und endlich das Gespräch über die für den folgenden Tag erwartete Ankunft des Kaisers: alles dies erweckte bei Pierre mit neuer Kraft jenes Gefühl der Aufregung und Erwartung, das ihn seit dem Erscheinen des Kometen und namentlich seit dem Anfang des Krieges nicht mehr verlassen hatte.

Schon längst war ihm der Gedanke gekommen, in das Heer einzutreten, und er hätte diesen Gedanken auch zur Ausführung gebracht, wenn ihn nicht mehrere Umstände daran gehindert hätten. Erstens seine Zugehörigkeit zur Freimaurergesellschaft, mit der er durch einen Eid verbunden war und die den ewigen Frieden und die Abschaffung des Krieges predigte. Zweitens: wenn er eine große Menge von Moskauern ansah, die die Uniform angelegt hatten und nun Patriotismus predigten, genierte er sich einigermaßen, einen solchen Schritt zu unternehmen. Die Hauptursache aber, weswegen er seine Absicht, in das Heer einzutreten, nicht zur Ausführung brachte, lag in jener unklaren Vorstellung, daß er, L’Russe Besuhof, in dieser seiner Bezeichnung die Zahl des Tieres 666 an sich trage und also seine Beteiligung an der großen Aufgabe, die Macht des Tieres, welches große Dinge und Lästerungen sprach, zu beendigen, von Ewigkeit her vorausbestimmt sei und er deshalb nichts anderes unternehmen dürfe, sondern abwarten müsse, was sich vollziehen werde.

Fußnoten


1 Nein; dagegen würde ein sprachwidriges Le Empereur Napoléon die Summe 666 ergeben.

Anmerkung des Übersetzers.


XX

Bei Rostows waren, wie immer sonntags, ein paar nähere Bekannte zu Tisch; aber Pierre war absichtlich recht früh gekommen, um die Familie noch allein zu treffen.

Er war in diesem Jahr so dick geworden, daß er häßlich gewesen wäre, wenn er nicht einen so hohen Wuchs, einen so derben Gliederbau und eine solche Kraft besessen hätte, daß man ihm die Mühelosigkeit, mit der er sein Gewicht trug, ansehen konnte.

Schnaufend und etwas vor sich hinmurmelnd, stieg er die Treppe hinan. Sein Kutscher hatte, wie schon seit längerer Zeit, gar nicht gefragt, ob er auf ihn warten solle. Er wußte: wenn der Graf bei Rostows war, so dauerte es bis gegen zwölf Uhr. Die Rostowschen Diener stürzten erfreut auf ihn zu, um ihm Mantel, Stock und Hut abzunehmen; denn nach Klubgewohnheit ließ Pierre auch Stock und Hut im Vorzimmer.

Das erste Familienmitglied, welches er sah, war Natascha. Noch ehe er sie erblickte, hörte er sie, als er im Vorzimmer den Mantel ablegte. Sie sang im Saal Solfeggien. Er wußte, daß sie seit ihrer Krankheit nicht mehr gesungen hatte, und war daher überrascht und erfreut durch den Klang ihrer Stimme. Leise öffnete er die Tür und erblickte Natascha, wie sie in dem lila Kleid, in dem sie zur Messe gewesen war, im Saal hin und her ging und sang. Als er die Tür öffnete, wendete sie ihm beim Gehen gerade den Rücken zu; aber als sie sich kurz umdrehte und sein dickes, erstauntes Gesicht erblickte, errötete sie und trat schnell auf ihn zu.

»Ich wollte probieren, ob ich wieder singen kann«, sagte sie. »Es ist doch wenigstens eine Beschäftigung«, fügte sie wie zur Entschuldigung hinzu.

»Sie tun sehr recht daran«, erwiderte er.

»Wie freue ich mich, daß Sie gekommen sind! Ich bin heute so glücklich!« sagte sie mit der früheren Lebhaftigkeit, die Pierre an ihr schon lange nicht mehr gesehen hatte. »Wissen Sie schon, Nikolai hat das Georgskreuz bekommen. Ich bin so stolz auf ihn!«

»Freilich weiß ich es; ich habe ja den Tagesbefehl hergeschickt. Aber ich will Sie nicht weiter stören«, fügte er hinzu und wollte nach dem Salon weitergehen.

Natascha hielt ihn zurück.

»Graf! Ist das etwas Schlechtes, daß ich singe?« sagte sie und blickte errötend, aber ohne die Augen abzuwenden, Pierre fragend an.

»Nein, wieso denn? Im Gegenteil … Aber warum fragen Sie gerade mich?«

»Ich weiß es selbst nicht«, antwortete Natascha hastig. »Aber ich möchte nichts tun, was Ihnen mißfallen könnte. Ich habe zu Ihnen in allen Dingen ein großes Zutrauen. Sie wissen nicht, wie wichtig Sie für mich geworden sind, wieviel ich Ihnen zu verdanken habe!« Sie sprach schnell und bemerkte nicht, daß Pierre bei diesen Worten errötete. »Ich habe aus demselben Tagesbefehl ersehen, daß er, Bolkonski« (sie sprach diesen Namen eilig und flüsternd aus), »in Rußland ist und wieder im Dienst steht. Was meinen Sie«, sagte sie schnell; sie redete offenbar deswegen so hastig, weil sie fürchtete, ihre Kraft werde nicht vorhalten; »was meinen Sie: wird er mir jemals verzeihen? Wird er nicht immer gegen mich ein Gefühl des Hasses haben? Was meinen Sie? Wie denken Sie darüber?«

»Ich meine …«, erwiderte Pierre, »ich meine, er hat Ihnen nichts zu verzeihen … Wenn ich an seiner Stelle wäre …«

Eine natürliche Gedankenverknüpfung versetzte ihn in diesem Augenblick wieder in die Zeit zurück, wo er sie getröstet und zu ihr gesagt hatte, wäre er nicht der, der er wirklich wäre, sondern der beste Mensch auf der Welt und dabei frei, so würde er auf den Knien um ihre Hand bitten; und es ergriff ihn dasselbe Gefühl des Mitleids, der Zärtlichkeit und der Liebe, und dieselben Worte drängten sich ihm auf die Lippen. Aber sie ließ ihm nicht Zeit, sie auszusprechen.

»Ja, Sie … Sie …«, sagte sie, indem sie das Wort »Sie« mit besonderer Herzlichkeit sprach. »Das ist auch etwas anderes. Einen edleren, großmütigeren, besseren Menschen als Sie habe ich noch nie gekannt, und es kann auch keinen geben. Wenn Sie damals nicht gewesen wären, so weiß ich nicht, was aus mir geworden wäre; und auch wenn ich Sie jetzt nicht hätte … denn …«

Ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen; sie wendete sich ab, hob die Noten zu den Augen hinauf und begann wieder zu singen und im Saal auf und ab zu gehen.

In diesem Augenblick kam Petja aus dem Salon hereingelaufen.

Petja war jetzt ein hübscher, gesund aussehender fünfzehnjähriger Bursche mit dicken, roten Lippen; mit Natascha hatte er ziemlich viel Ähnlichkeit. Er bereitete sich zur Aufnahmeprüfung für die Universität vor, hatte aber in der letzten Zeit mit seinem Kameraden Obolenski zusammen heimlich beschlossen, zu den Husaren zu gehen.

Petja kam zu seinem Namensvetter hereingelaufen, um mit ihm über diese wichtige Angelegenheit zu reden; er hatte ihn gebeten, sich zu erkundigen, ob er wohl bei den Husaren werde angenommen werden.

Pierre ging nach dem Salon zu, ohne auf Petja hinzuhören. Petja faßte ihn an den Arm, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

»Nun, wie steht es mit meiner Angelegenheit, Pjotr Kirillowitsch? Ich bitte Sie inständig; Sie sind meine einzige Hoffnung«, sagte er.

»Ja, richtig, deine Angelegenheit. Du wolltest ja wohl zu den Husaren? Ich werde dir Bescheid geben, gewiß. Heute noch, über alles.«

»Nun, wie ist’s, mein Lieber? Haben Sie sich das Manifest verschafft?« fragte ihn im Salon der alte Graf. »Die Gräfin war zur Messe bei Rasumowskis und hat da ein neues Gebet mit angehört. Es ist sehr schön gewesen, sagt sie.«

»Ja, ich habe es bekommen«, erwiderte Pierre. »Morgen kommt der Kaiser. Es findet eine außerordentliche Adelsversammlung statt, und es heißt, es soll eine Aushebung von je zehn Mann auf das Tausend veranstaltet werden. Ja, und ich spreche Ihnen meinen Glückwunsch aus.«

»Ja, ja, Gott sei Dank. Nun, und was gibt es Neues von der Armee?«

»Die Unsrigen sind wieder zurückgegangen. Sie stehen schon bei Smolensk, heißt es«, antwortete Pierre.

»Mein Gott, mein Gott!« rief der Graf. »Wo haben Sie denn das Manifest?«

»Den Aufruf? Ach ja!«

Pierre begann in den Taschen nach seinen Papieren zu suchen, konnte sie aber nicht finden. Immer noch an seinen Taschen herumklopfend, küßte er der Gräfin, die eingetreten war, die Hand und sah sich dann unruhig um; er wartete offenbar auf Natascha, die nicht mehr sang, aber trotzdem nicht in den Salon kam.

»Wahrhaftig, ich weiß nicht, wo ich die Papiere gelassen habe«, sagte er.

»Na ja, Sie verlieren aber auch immer alles«, sagte die Gräfin.

Natascha kam mit wehmütig gerührter Miene herein, setzte sich hin und blickte Pierre schweigend an. Sowie sie ins Zimmer trat, strahlte Pierres bis dahin finsteres Gesicht, und er blickte, während er fortfuhr nach den Papieren zu suchen, mehrere Male zu ihr hin.

»Weiß der Himmel, ich muß sie zu Hause vergessen haben; ich werde noch einmal zurückfahren. Unter allen Umständen …«

»Aber, da kommen Sie ja zu spät zum Essen.«

»Ach, und der Kutscher ist ja auch weggefahren.«

Aber Sonja, die ins Vorzimmer gegangen war, um die Papiere dort zu suchen, fand sie in Pierres Hut, wo er sie sorgsam halb hinter das Futter gesteckt hatte. Pierre wollte nun mit dem Vorlesen beginnen.

»Nein, bitte nach Tisch!« sagte der alte Graf, der von dieser Vorlesung offenbar ein großes Vergnügen erwartete.

Bei Tisch wurde auf die Gesundheit des neuen Georgsritters Champagner getrunken, und Schinschin erzählte Stadtneuigkeiten: von der Krankheit der alten Fürstin von Grusien, und daß Métivier aus Moskau verschwunden sei, und daß Leute aus dem Volk zu dem Grafen Rastoptschin (dieser habe die Geschichte selbst erzählt) einen Deutschen gebracht und dem Grafen erklärt hätten, das sei ein Champignon (sie hätten »Spion« sagen wollen); Graf Rastoptschin habe Befehl gegeben, den Champignon wieder laufenzulassen, und den Leuten bedeutet, das sei kein Champignon, sondern ein ganz gewöhnlicher alter deutscher Pilz.

»Ja, man ist jetzt flink mit dem Arretieren bei der Hand!« rief der Graf. »Ich habe der Gräfin auch schon gesagt, sie soll nicht so viel französisch sprechen. Das ist in diesen Zeitläuften nicht angebracht.«

»Aber haben Sie das gehört?« sagte Schinschin. »Fürst Golizyn hat sich einen russischen Lehrer angenommen; er lernt russisch. Es fängt an gefährlich zu werden, wenn man auf der Straße französisch spricht.«

»Na, wie ist denn das, Graf Pjotr Kirillowitsch? Wenn die Landwehr aufgeboten wird, müssen Sie wohl auch zu Pferd steigen?« sagte der alte Graf, zu Pierre gewendet.

Pierre war während des ganzen Diners schweigsam und in Gedanken versunken gewesen. Als er von dem Grafen so angeredet wurde, blickte er ihn an, wie wenn er ihn nicht verstanden hätte.

»Ja, ja, in den Krieg«, sagte er. »Aber nein, was würde ich für ein Krieger sein! Übrigens, es ist alles so sonderbar, so sonderbar! Und ich verstehe mich selbst nicht. Ich weiß nicht, militärische Neigungen liegen mir eigentlich ganz fern, aber niemand kann in unserer jetzigen Zeit garantieren, was er morgen tun wird.«

Nach Tisch setzte sich der Graf gemächlich in einen Lehnstuhl und forderte mit ernstem Gesicht Sonja zum Vorlesen auf, da diese sich hierin einer besonderen Meisterschaft rühmen konnte.

»An unsere erste Residenzstadt Moskau.

Der Feind ist mit großen Streitkräften über die Grenze in Rußland eingedrungen und trachtet, unser geliebtes Vaterland zugrunde zu richten«, las Sonja eifrig mit ihrem hellen Stimmchen. Der Graf schloß die Augen, hörte zu und seufzte an einigen Stellen.

Natascha saß gerade aufgerichtet da und blickte bald ihrem Vater, bald Pierre forschend ins Gesicht.

Pierre fühlte ihren Blick auf sich gerichtet und vermied es, nach ihr hinzusehen. Die Gräfin wiegte bei jedem feierlichen Ausdruck des Manifestes mißbilligend und ärgerlich den Kopf hin und her. Sie entnahm sich aus all diesen Worten nur das eine, daß die Gefahren, die ihrem Sohn drohten, noch nicht so bald zu Ende sein würden. Schinschin, der seinen Mund zu einem spöttischen Lächeln verzogen hatte, stand offenbar auf dem Sprung, sich über das erstbeste lustig zu machen, was zum Spott Anlaß geben würde: über Sonjas Vorlesen, über das, was der Graf sagen würde, ja sogar über den Aufruf selbst, wenn sich kein besserer Gegenstand für seine Spottlust finden sollte.

Nachdem Sonja von den Gefahren gelesen hatte, von denen Rußland bedroht sei, und von den Hoffnungen, die der Kaiser auf Moskau und namentlich auf den altberühmten Adel setze, las sie mit einem Zittern der Stimme, das hauptsächlich durch die gespannte Aufmerksamkeit hervorgerufen wurde, mit der ihr alle zuhörten, die folgenden Worte: »Wir werden nicht zögern, selbst in der Mitte unseres Volkes in dieser Hauptstadt und an anderen Orten unseres Reiches zu erscheinen, um die erforderlichen Beratungen zu veranstalten und die nötigen Anweisungen für alle Verteidiger unseres Vaterlandes zu erteilen, sowohl für diejenigen, die schon jetzt dem Feind den Weg versperren, als auch für diejenigen, die neu eingestellt werden sollen, um ihn überall niederzuwerfen, wo er sich nur zeigen mag. Möge das Verderben, in das er uns zu stürzen gedenkt, sich auf sein eigenes Haupt wenden und das von der Knechtschaft befreite Europa den Namen Rußlands preisen!«

»So ist’s recht!« rief der Graf, die feuchten Augen öffnend. Und mehrmals von Schnauben unterbrochen, wie wenn man ihm ein Fläschchen mit starkem Riechsalz unter die Nase hielte, fuhr er fort: »Der Kaiser braucht nur ein Wort zu sagen, so bringen wir alles zum Opfer; nichts soll uns zu teuer sein!«

Schinschin hatte noch nicht Zeit gefunden, den Witz auszusprechen, den er bereits über den Patriotismus des Grafen zurechtgemacht hatte, als Natascha von ihrem Platz aufsprang und zu ihrem Vater hinlief.

»Was habe ich für einen prächtigen Vater!« rief sie und küßte ihn; und dann sah sie wieder nach Pierre hin mit der unbewußten Koketterie, die ihr zugleich mit ihrer Lebhaftigkeit wiedergekehrt war.

»Ei, ist das eine Patriotin!« bemerkte Schinschin.

»Gar nicht Patriotin, sondern einfach …«, erwiderte Natascha gekränkt. »Ihnen ist alles lächerlich; aber dies ist ganz und gar kein Scherz …«

»Keine Rede von Scherz!« stimmte der Graf bei. »Wenn der Kaiser nur ein Wort sagt, so kommen wir alle … Wir sind andere Leute wie diese Deutschen …«

»Aber haben Sie auch wohl beachtet«, sagte Pierre, »daß es in dem Aufruf heißt: ›um Beratungen zu veranstalten‹?«

»Na, ganz gleich, wozu …«

In diesem Augenblick trat Petja, auf den niemand geachtet hatte, zum Vater hin und sagte mit hochgerötetem Gesicht, wobei ihm die Stimme fortwährend überschlug, so daß sie bald tief, bald hoch klang: »Aber jetzt, lieber Papa, sage ich Ihnen mit aller Entschiedenheit … und auch Ihnen, liebe Mama, da mögen Sie sagen, was Sie wollen … ich sage Ihnen mit aller Entschiedenheit: lassen Sie mich als Soldat eintreten; denn ich bin nicht imstande … Ja, das war’s, was ich Ihnen sagen wollte!«

Die Gräfin blickte entsetzt zu ihm auf, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und wandte sich ärgerlich zu ihrem Mann:

»Das hast du nun mit deinem Gerede angerichtet!« sagte sie.

Aber der Graf hatte sich nach der ersten Aufregung sogleich wieder gefaßt.

»Na, na!« sagte er. »Das ist noch mal ein Krieger! Laß die Dummheiten beiseite; du mußt lernen.«

»Das sind keine Dummheiten, Papa. Fjodor Obolenski ist jünger als ich und geht auch. Und vor allen Dingen, es ist ganz gleich, ich kann jetzt doch nicht lernen, wo …« Petja hielt inne, wurde dunkelrot und stieß dann heraus: »wo das Vaterland in Gefahr ist.«

»Hör auf, hör auf! Das sind Dummheiten.«

»Aber Sie haben doch selbst gesagt, wir wollten alles zum Opfer bringen.«

»Petja! Ich sage dir, schweig still!« rief der Graf und blickte dabei nach seiner Frau, die ganz blaß mit starren Augen ihren jüngsten Sohn ansah.

»Aber ich sage Ihnen, ich bleibe dabei. Und auch Pjotr Kirillowitsch hier wird Ihnen sagen …«

»Ich sage dir, das ist lauter dummes Zeug. Ist noch nicht trocken hinter den Ohren und will Soldat werden! Höre, was ich dir sage …« Der Graf schickte sich an, aus dem Zimmer zu gehen; die Papiere nahm er mit, wahrscheinlich um sie in seinem Zimmer vor dem Schläfchen noch einmal durchzulesen. »Nun, Pjotr Kirillowitsch, kommen Sie mit, rauchen Sie ein bißchen …«

Pierre war verlegen und unschlüssig. Nataschas ungewöhnlich lebhafte, glänzende Augen, die fortwährend mit einem mehr als bloß freundlichen Ausdruck auf ihn gerichtet waren, hatten ihn in diesen Zustand versetzt.

»Ich danke, ich muß wohl nach Hause …«

»Nach Hause? Aber Sie wollten doch den Abend über bei uns bleiben … Sie kommen in letzter Zeit überhaupt so selten zu uns. Und meine Tochter«, sagte der Graf gutherzig, auf Natascha weisend, »ist nur heiter, wenn Sie hier sind.«

»Ja, ich habe etwas vergessen … Ich muß ganz notwendig nach Hause … Geschäftliches …«, sagte Pierre hastig.

»Na, dann also auf Wiedersehen«, sagte der Graf, ging weiter zur Tür und verließ das Zimmer.

»Warum brechen Sie auf? Warum sind Sie so verstimmt? Warum denn?« fragte Natascha Pierre und blickte ihm in freundlich entgegenkommender Art in die Augen.

»Weil ich dich liebe!« wollte er sagen, sagte es aber nicht; er errötete, daß ihm beinah die Tränen kamen, und schlug die Augen nieder.

»Weil es für mich besser ist, wenn ich Sie seltener besuche«, sagte er. »Weil … Nein, ganz einfach, ich habe Geschäftliches zu erledigen …«

»Warum wollen Sie weg? Nein, sagen Sie es mir doch …«, begann Natascha in entschlossenem Ton, verstummte aber plötzlich.

Beide blickten einander erschrocken und verlegen an. Er machte einen Versuch zu lächeln, war aber dazu nicht imstande: sein Lächeln hatte einen schmerzlichen Ausdruck; er küßte ihr schweigend die Hand und ging.

Pierre nahm sich vor, Rostows nicht mehr zu besuchen.

XXI


Petja ging, nachdem ihm seine Bitte so entschieden abgeschlagen war, auf sein Zimmer, schloß sich dort ein und weinte bitterlich. Zum Tee erschien er schweigend, mit finsterer Miene und verweinten Augen; aber alle taten, als bemerkten sie nichts davon.

Am andern Tag traf der Kaiser ein. Mehrere von der Rostowschen Dienerschaft erbaten sich Urlaub, um hinzugehen und den Zaren zu sehen. An diesem Morgen verbrachte Petja viel Zeit mit seinem Anzug; sein Haar und seinen Hemdkragen machte er so zurecht, wie es bei Erwachsenen üblich war. Vor dem Spiegel nahm er zur Übung eine ernste, grimmige Miene an, gestikulierte und bewegte die Schultern; zuletzt setzte er, ohne jemandem etwas davon zu sagen, die Mütze auf und verließ, um unbemerkt zu bleiben, das Haus durch die Hintertür. Petja hatte vor, geradewegs dahin zu gehen, wo der Kaiser war, und ohne weiteres irgendeinem Kammerherrn (nach Petjas Vorstellung war der Kaiser immer von Kammerherren umgeben) mitzuteilen, daß er, Graf Rostow, trotz seiner Jugend dem Vaterland zu dienen wünsche, daß sein jugendliches Alter kein Hindernis für seine Hingebung an die große Sache bilden dürfe, und daß er bereit sei … Während Petja sich fertig machte, hatte er sich viele schöne Worte zurechtgelegt, die er dem Kammerherrn sagen wollte.

Petja rechnete auf einen Erfolg seiner Bitte an den Kaiser namentlich deswegen, weil er noch so jung war (er stellte es sich sogar schon im voraus vor, wie alle über sein jugendliches Alter erstaunt sein würden); zugleich aber wollte er doch durch das Arrangement seines Hemdkragens, durch seine Frisur und durch seinen gemessenen, langsamen Gang sich als einen schon älteren Menschen darstellen. Aber je weiter er ging und je mehr die in immer dichteren Scharen dem Kreml zuströmende Volksmenge seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, um so mehr vergaß er es, jene ehrbare, gemessene Haltung zu beobachten, wie sie den Erwachsenen eigen ist. Als er sich dem Kreml näherte, hatte er schon seine Not, nicht zu arg gequetscht zu werden, und stemmte mit entschlossener, drohender Miene die Arme in die Seiten. Aber im Troizkija-Tor drückten trotz all seiner Entschlossenheit die Menschen, die wahrscheinlich nicht wußten, in welcher patriotischen Absicht er nach dem Kreml ging, ihn dermaßen gegen die Mauer, daß er sich fügen und stehenbleiben mußte, während die Equipagen laut donnernd durch das Torgewölbe hineinfuhren. Um Petja herum standen eine Frau mit ihrem Diener, zwei Kaufleute und ein verabschiedeter Soldat. Nachdem Petja eine Weile im Torweg gestanden hatte, wollte er, ohne abzuwarten, bis die Equipagen sämtlich vorbeigefahren sein würden, früher als die andern weitergehen und begann kräftig mit den Ellbogen zu arbeiten; aber die Frau, die ihm im Weg stand und gegen die er zuerst seine Ellbogen in Tätigkeit setzte, schrie ihn ärgerlich an:

»Aber Herrchen, du stößt einen ja! Du siehst doch, daß alle noch stehenbleiben. Wie kannst du dich da vordrängen!«

»Wir werden schon alle weitergehen; nur Geduld!« sagte der Diener, begann nun ebenfalls mit den Ellbogen zu arbeiten und drückte Petja in einen übelriechenden Winkel des Torwegs hinein.

Petja wischte sich mit den Händen den Schweiß ab, der ihm das Gesicht bedeckte, und suchte den vom Schweiß weich gewordenen Hemdkragen in Ordnung zu bringen, den er zu Hause so schön nach Art der Erwachsenen zurechtgelegt hatte.

Er fühlte, daß sein Äußeres nicht mehr sehr präsentabel war, und fürchtete, wenn er in dieser Gestalt vor die Kammerherren hinträte, so würden sie ihn nicht zum Kaiser lassen. Aber sich zurechtzumachen und sich an einen andern Platz zu begeben, war bei dem Gedränge ein Ding der Unmöglichkeit. Einer der vorbeifahrenden Generale war ein Bekannter der Familie Rostow. Petja wollte ihn schon um seinen Beistand bitten, sagte sich dann aber doch, daß das seiner männlichen Würde nicht angemessen sei. Als alle Equipagen vorübergefahren waren, drängte die Menge nach und trug auch Petja mit hinein auf den großen Platz, der ganz von Menschen angefüllt war. Nicht nur auf dem Platz selbst, sondern auch auf den Böschungen und auf den Dächern, überall standen Menschen. Sobald Petja auf den Platz gelangt war, hörte er in voller Deutlichkeit die Glockenklänge, die den ganzen Kreml erfüllten, und das fröhliche Redegesumme der Volksmenge.

Als alles sich zurechtgeschoben hatte, stand man auf dem Platz eine Zeitlang etwas weniger eng; aber auf einmal entblößten sich alle Köpfe, und alles stürzte irgendwohin nach vorn. Petja wurde so arg gedrückt, daß er nicht atmen konnte, und alle schrien: »Hurra! Hurra! Hurra!« Petja hob sich auf den Zehen in die Höhe, stieß und kniff seine Vordermänner, konnte aber nichts weiter sehen als die Menschen, die ihn umgaben.

Auf allen Gesichtern lag der gleiche Ausdruck der Rührung und der Begeisterung. Eine Kaufmannsfrau, die neben Petja stand, schluchzte laut, und die Tränen rollten ihr aus den Augen.

»Väterchen, Schutzengel, Wohltäter!« rief sie unaufhörlich und wischte sich mit den Fingern die Tränen weg.

»Hurra!« wurde auf allen Seiten geschrien.

Einen Augenblick lang blieb die Menge auf einer Stelle stehen; aber dann stürmte sie wieder vorwärts.

Petja, der kaum von sich selbst wußte, biß die Zähne zusammen, riß mit einem Ausdruck tierischer Wildheit die Augen weit auf und stürzte vorwärts, indem er mit den Ellbogen um sich stieß und Hurra! schrie, als wäre er ohne weiteres bereit, im nächsten Augenblick sich selbst und alle andern zu töten; neben ihm stürzten Leute mit ebenso tierisch wilden Gesichtern vorwärts und schrien gleichfalls Hurra.

»Da sieht man, was für ein hohes Wesen ein Kaiser ist!« dachte Petja. »Nein, ihm selbst darf ich meine Bitte nicht vortragen; das wäre doch gar zu kühn!« Trotzdem arbeitete er sich mit immer gleicher Heftigkeit weiter nach vorn hindurch und erblickte hinter dem Rücken seiner Vordermänner hervor bereits den freien Raum, auf dem ein Weg mit rotem Tuch belegt war; aber in diesem Augenblick wich die Menge in wellenförmiger Bewegung zurück (vorn stießen Polizisten diejenigen zurück, die sich gar zu nah an den Zug herandrängten: der Kaiser ging vom Palais nach der Uspenski-Kathedrale), und Petja erhielt unerwartet einen solchen Stoß in die Seite gegen die Rippen und wurde so zusammengepreßt, daß ihm auf einmal vor den Augen alles dunkel wurde und er das Bewußtsein verlor. Als er wieder zu sich kam, hielt ihn ein Mann geistlichen Standes, mit einem Büschel grauer Haare hinten am Kopf, in dem abgetragenen, langen, blauen Rock eines kirchlichen Beamten, wahrscheinlich ein Küster, mit einer Hand unter der Achsel, mit der andern schützte er ihn gegen die andringende Menge.

»Ihr habt ja den jungen Herrn erdrückt!« sagte der Küster. »Ist das eine Zucht …! Sachte, sachte … Erdrückt habt ihr ihn, geradezu erdrückt!«

Der Kaiser war vorbeigekommen und in die Uspenski-Kathedrale gegangen. Nun floß die Menge wieder einigermaßen auseinander, und der Küster führte Petja, der ganz blaß aussah und nur schwach atmete, zur Kaiserkanone1 hin. Einige mitleidige Seelen sprachen ihr Bedauern über Petjas Unfall aus, und auf einmal wandte sich der ganze Menschenschwarm zu ihm hin, und es entstand um ihn ein starkes Gedränge. Die zunächst Stehenden suchten ihm hilfreich zu sein, knöpften ihm den Rock auf, setzten ihn auf den Sockel der Kanone und schalten auf diejenigen, die ihn so gedrückt hatten.

»So kann man ja einen Menschen totdrücken! Was soll denn das vorstellen! Das ist ja Mord! Seht bloß mal, wie blaß der nette Junge geworden ist, weiß wie ein Laken!« so redeten sie durcheinander.

Petja erholte sich bald wieder, die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück, der Schmerz verging, und um ihn für diese zeitweilige Unannehmlichkeit zu trösten, gab man ihm einen Platz auf der Kanone, von wo aus er hoffen konnte den Kaiser zu sehen, der bei der Rückkehr aus der Kirche hier vorbeikommen mußte. Petja dachte jetzt gar nicht mehr daran, seine Bitte vorzutragen. Wenn er ihn nur zu sehen bekam, auch dann schon wollte er sich für hochbeglückt halten!

Während des Gottesdienstes in der Uspenski-Kathedrale (man verband dabei eine Feier anläßlich der Ankunft des Kaisers mit einem Dankfest wegen des Friedensschlusses mit der Türkei) zerstreute sich die Menge zum Teil, und es erschienen laut schreiende Händler mit Kwas, Pfefferkuchen und Mohn, von welchem letzteren Petja ein besonderer Liebhaber war, und man hörte Gespräche alltäglichen Inhalts. Eine Kaufmannsfrau zeigte ihren Schal, der ihr in dem Gedränge zerrissen war, und erzählte, wieviel sie seinerzeit dafür gegeben habe; eine andere sprach davon, daß alle Seidenstoffe jetzt so teuer geworden seien. Der Küster, Petjas Retter, setzte einem Beamten auseinander, was für eine Menge von Geistlichen heute neben dem hochwürdigsten Metropoliten beim Gottesdienst mitwirke; dabei bediente er sich mehrere Male der Wendung »unter Assistenz des Klerus«, die Petja nicht verstand. Zwei junge Bürgersöhne scherzten mit ein paar Landmädchen, welche Nüsse knackten.

Aber keines von diesen Gesprächen vermochte jetzt Petjas Interesse zu erregen, nicht einmal die Späßchen mit den jungen Mädchen, die doch sonst für Petja, wie überhaupt für junge Leute in seinem Alter, einen besonderen Reiz hatten; er saß auf seinem erhöhten Sitz, der Kanone, von dem Gedanken an den Kaiser und an seine Liebe zu ihm noch immer ebenso aufgeregt wie vorher. Der Umstand, daß zu dem Gefühl der Begeisterung sich noch das Gefühl des Schmerzes und der Furcht bei der argen Zusammenpressung gesellt hatte, dieser Umstand diente dazu, das Bewußtsein von der hohen Bedeutung dieses Momentes bei ihm noch zu verstärken.

Plötzlich ertönten von der Uferstraße her Kanonenschüsse (es wurde zur Feier des Friedensschlusses mit den Türken geschossen), und die Menge stürzte hastig dorthin, um zuzusehen, wie geschossen wurde. Petja wollte ebenfalls hinlaufen; aber der Küster, der den jungen Herrn unter seine Obhut genommen hatte, ließ ihn nicht weg. Das Schießen war noch nicht zu Ende, als aus der Uspenski-Kathedrale schnellen Schrittes mehrere Offiziere, Generale und Kammerherren herauskamen und darauf minder schnell noch einige andere Herren. Wieder flogen die Mützen von den Köpfen, und diejenigen, die weggelaufen waren, um die Kanonen zu sehen, kamen wieder zurückgerannt. Endlich kamen noch vier Herren, in Uniform und mit Ordensbändern, aus dem Portal der Kathedrale heraus. »Hurra! Hurra!« schrie die Menge von neuem.

»Welcher ist es? Welcher ist es?« fragte Petja die Umstehenden mit weinerlicher Stimme; aber niemand gab ihm Antwort, alle waren zu sehr mit ihrer Begeisterung beschäftigt. So wählte sich denn Petja einen von diesen vier Herren aus, den er durch die Freudentränen, die ihm in den Augen standen, allerdings nicht deutlich sehen konnte, konzentrierte auf ihn, obgleich es gar nicht der Kaiser war, seine ganze Begeisterung, schrie wie wütend Hurra und nahm sich vor, morgen, es koste, was es wolle, Soldat zu werden.

Die Menge lief hinter dem Kaiser her, begleitete ihn bis zum Palais und begann sich dann zu zerstreuen. Es war schon spät, und Petja hatte nichts gegessen, und der Schweiß floß ihm in Strömen am Körper herab; aber er ging nicht nach Hause, sondern stand mit der zwar kleiner gewordenen, aber immer noch recht beträchtlichen Volksmenge während des Diners des Kaisers vor dem Palais, blickte nach den Fenstern hinauf und beneidete in gleichem Grad die hohen Würdenträger, die beim Portal vorfuhren, um sich zu dem kaiserlichen Diner zu begeben, und die Kammerlakaien, die an der Tafel aufwarteten und mitunter an den Fenstern vorüberhuschten.

An der Tafel sagte Walujew nach einem Blick durch das Fenster zum Kaiser:

»Das Volk hofft immer noch, Euer Majestät zu sehen.«

Die Tafel war bereits zu Ende, der Kaiser stand, noch mit dem Verzehren eines Biskuits beschäftigt, auf und trat auf den Balkon hinaus. Das Volk, und Petja mitten darunter, stürzte nach dem Balkon hin.

»Schutzengel! Väterchen! Hurra! Wohltäter …!« schrie das Volk, darunter auch Petja; und wieder weinten viele Frauen vor Glückseligkeit, sowie, wenn auch in etwas geringerem Maße, einige Männer, auch Petja.

Ein ziemlich großes Stück von dem Biskuit, das der Kaiser in der Hand hielt, brach ab, fiel auf das Geländer des Balkons und von dem Geländer auf die Erde. Ein Kutscher in ärmellosem Wams, der am nächsten dabeistand, stürzte auf dieses Stück Biskuit los und ergriff es. Einige aus der Menge warfen sich auf den Kutscher. Als der Kaiser dies bemerkte, ließ er sich einen Teller mit Biskuits reichen und begann, die Biskuits vom Balkon herunterzuwerfen. Die Äderchen in Petjas Augen füllten sich mit Blut; durch die Gefahr, erdrückt zu werden, wurde seine Aufregung noch gesteigert; er stürzte sich auf die Biskuits. Er wußte nicht warum; aber er mußte, mußte ein Biskuit aus den Händen des Kaisers haben und durfte sich durch nichts hindern lassen. Er stürzte auf eine alte Frau los, die nach einem Biskuit griff, und stieß sie um. Aber die Alte gab sich, obgleich sie auf der Erde lag, noch nicht besiegt: sie griff von neuem nach dem Biskuit, kam aber mit den Armen nicht hin; denn Petja stieß mit seinem Knie ihren Arm beiseite, packte das Biskuit, und als wenn er fürchtete, damit zu spät zu kommen, schrie er mit bereits heiser gewordener Stimme eilig von neuem: »Hurra!«

Der Kaiser trat wieder hinein, und darauf begann der größte Teil der Menge auseinanderzugehen.

»Ich habe es ja gleich gesagt, daß wir noch warten müßten; und das ist denn auch das Richtige gewesen«, sagten die Leute an verschiedenen Stellen mit vergnügten Gesichtern.

So glücklich sich Petja auch fühlte, so kam es ihm doch gar zu traurig vor, gleich nach Hause zu gehen und sich sagen zu müssen, daß nun der ganze Genuß dieses Tages zu Ende sei. Daher begab er sich aus dem Kreml nicht nach Hause, sondern zu seinem Kameraden Obolenski, der auch fünfzehn Jahre alt war und ebenfalls in ein Regiment eintreten wollte. Als er dann nach Hause zurückgekehrt war, erklärte er mit aller Bestimmtheit und Festigkeit, wenn man ihn nicht eintreten ließe, so werde er davonlaufen. Und am andern Tag fuhr Graf Ilja Andrejewitsch, obwohl er noch nicht völlig eingewilligt hatte, dennoch aus, um sich zu erkundigen, wie man Petja irgendwo möglichst gefahrlos unterbringen könne.

Fußnoten


1 Sie ist 5,3 m lang und steht vor der Kaserne am Senatsplatz.

Anmerkung des Übersetzers.


XXII

Am Vormittag des 15. Juli, also zwei Tage nach diesen Ereignissen im Kreml, hielt vor dem Slobodski-Palais eine zahllose Menge von Equipagen.

Die Säle waren voll Menschen. Im ersten Saal waren die Adligen, sämtlich in Uniform, im zweiten die Kaufleute, bärtige Männer in blauen Kaftanen, mit Medaillen geschmückt. In dem Saal, in welchem die Adelsversammlung stattfand, herrschte lautes Stimmengewirr und lebhafte Bewegung. An einem großen Tisch saßen unter dem Porträt des Kaisers auf hochlehnigen Stühlen die allervornehmsten Persönlichkeiten; die meisten Adligen aber gingen im Saal hin und her.

Alle diese Adligen, dieselben Leute, die Pierre täglich bald im Klub, bald in ihren Häusern sah, alle trugen sie Uniformen: teils solche aus der Zeit der Kaiserin Katharina, teils solche aus Kaiser Pauls Zeit, teils die neuen von Alexander eingeführten, teils auch die gewöhnlichen Adelsuniformen; und diese gemeinsame Eigenschaft des Uniformiertseins verlieh all den alten und jungen, höchst verschiedenartigen, wohlbekannten Persönlichkeiten ein gleichartiges, seltsam-phantastisches Aussehen. Besonders auffallend sahen die halbblinden, zahnlosen, kahlköpfigen Greise aus, die teils von gelblichem Fett aufgedunsen, teils runzlig und mager waren. Sie saßen größtenteils auf ihren Plätzen und schwiegen, und wenn sie umhergingen und redeten, so schlossen sie sich an irgendwelche jüngeren Leute an. Ebenso wie auf den Gesichtern der Volksmenge, die Petja auf dem Platz im Kreml gesehen hatte, waren auch auf all diesen Gesichtern zwei zueinander in starkem Gegensatz stehende Züge wahrnehmbar: einerseits die allgemeine Erwartung von etwas Feierlichem, andrerseits die gewöhnlichen, alltäglichen Interessen: für die Bostonpartie, für die Leistungen des Koches Pjotr, für das Befinden der teuren Gattin Sinaida Dimitrijewna usw.

Pierre, der schon vom frühen Morgen an in eine unbequeme, ihm zu eng gewordene Adelsuniform eingezwängt war, bewegte sich gleichfalls in dem Adelssaal und seinen Nebenräumen. Er war in lebhafter Erregung: die ungewöhnliche Zusammenberufung nicht nur des Adels, sondern auch der Kaufmannschaft (der Stände, états généraux) rief bei ihm eine ganze Reihe von Gedanken an den Contrat social und die Französische Revolution wieder wach, Gedanken, mit denen er sich seit langer Zeit nicht mehr beschäftigt hatte, die aber in seiner Seele tief eingegraben waren. Die Worte, die ihm in dem Aufruf besonders bemerkenswert erschienen waren, nämlich daß der Kaiser zum Zweck der Beratung mit seinem Volk in der Residenz erscheinen werde, diese Worte bestärkten ihn noch in seiner Ansicht. Und in der Annahme, daß in diesem Sinne ein wichtiges, von ihm längst erwartetes Ereignis herannahe, ging er umher, sah aufmerksam um sich, hörte nach den Gesprächen hin, fand aber nirgends eine Äußerung der Gedanken, die ihn beschäftigten.

Das Manifest des Kaisers wurde vorgelesen und rief große Begeisterung hervor; dann verteilten sich alle in lebhaftem Gespräch. Außer den alltäglichen Unterhaltungsgegenständen hörte Pierre Gespräche darüber, wo die Adelsmarschälle beim Eintritt des Kaisers stehen sollten, wann man dem Kaiser einen Ball geben könne, ob man sich jetzt nach Kreisen ordnen oder die Adligen des ganzen Gouvernements ungeteilt bleiben sollten usw.; aber sowie die Rede auf den Krieg und auf den Zweck dieser Adelsversammlung kam, wurden die Äußerungen unsicher und schwankend; ein jeder wollte lieber hören als reden.

Ein Mann in mittleren Jahren, von stattlicher, hübscher Figur, in der Uniform eines Marineoffiziers a.D., sprach in einem der Nebensäle, und es drängten sich viele um ihn herum. Auch Pierre trat zu dem dichten Ring, der sich um den Redner gebildet hatte, und begann zuzuhören. Graf Ilja Andrejewitsch, der in seinem Wojewodenkaftan aus der Zeit der Kaiserin Katharina mit freundlichem Lächeln durch die Menge wandelte, in der er mit allen bekannt war, trat gleichfalls zu dieser Gruppe und hörte zu, indem er, wie immer wenn er zuhörte, gutmütig lächelte und zum Zeichen, daß er mit dem Redenden einer Meinung sei, beifällig mit dem Kopf nickte. Der Marineoffizier a.D. sprach mit großer Dreistigkeit; das war aus dem Gesichtsausdruck seiner Zuhörer zu ersehen, sowie daraus, daß mehrere Herren, die Pierre als besonders loyale, stille Männer kannte, sich mißbilligend von ihm entfernten oder ihren Widerspruch äußerten. Pierre drängte sich bis in die Mitte der Gruppe, hörte zu und überzeugte sich, daß der Redende tatsächlich ein Fortschrittsmann war, aber in einem ganz andern Sinn, als es Pierres eigener Anschauungsweise entsprach. Der Marineoffizier sprach mit dem bei Edelleuten häufigen besonders klangvollen, singenden Bariton, mit einem angenehm klingenden Schnarren des r und mit Unterdrückung einzelner Konsonanten, in dem Ton, mit dem er »Orrroanz« (Ordonnanz), die »Pfeife!« und Ähnliches gerufen haben mochte. Man hörte seiner Redeweise an, daß er gewohnt war, lustig zu leben und zu kommandieren.

»Was geht uns das an, daß die Smolensker dem Kaiser Landwehrleute angeboten haben? Haben uns etwa die Smolensker etwas zu sagen? Wenn der verehrliche Adel des Gouvernements Moskau es für nötig befindet, so kann er Seiner Majestät dem Kaiser seine Ergebenheit auch durch andere Mittel zum Ausdruck bringen. Haben wir etwa die Landwehr von achtzehnhundertsieben vergessen? Dabei haben nur die Federfuchser ihr Schäfchen geschoren, die Diebe und Räuber …«

Graf Ilja Andrejewitsch lächelte süß und nickte zustimmend.

»Und dann, sind etwa unsere Landwehrleute dem Staat von Nutzen gewesen? Ganz und gar nicht! Nur unsere Gutswirtschaft ist dadurch ruiniert worden. Da ist eine Rekrutenaushebung denn doch noch besser … Der Landwehrmann, der aus dem Krieg zu uns zurückkommt, ist weder Soldat noch Bauer, sondern einfach ein Liederjan. Der Adel wird sein eigenes Leben nicht schonen; wir werden uns selbst Mann für Mann einfinden, wir bringen noch die Rekruten mit, und dann braucht der Kaiser nur zu befehlen, so gehen wir alle für ihn in den Tod!« fügte der Redner enthusiastisch hinzu.

Ilja Andrejewitsch mußte wiederholt den Speichel hinunterschlucken, der ihm vor Vergnügen im Mund zusammenfloß, und stieß Pierre an; aber Pierre wollte gern gleichfalls reden. Er drängte sich nach vorn, ohne noch selbst zu wissen, warum er eigentlich so erregt war und was er sagen wollte. Aber kaum hatte er den Mund geöffnet, um zu reden, als ein Senator, ein völlig zahnloser, alter Mann mit klugem, zornig erregtem Gesicht, der nahe bei dem Redner stand, Pierre unterbrach. Sichtlich gewöhnt, sich an Debatten zu beteiligen und Streitfragen zu behandeln, begann er mit leiser, aber vernehmlicher Stimme:

»Ich bin der Ansicht, verehrter Herr«, sagte der Senator wispernd, wie eben Leute ohne Zähne reden, »daß wir nicht hierhergerufen sind, um ein Urteil darüber abzugeben, was für den Staat im gegenwärtigen Augenblick zweckmäßiger ist, Rekrutierung oder Landwehr. Sondern wir sind hierhergerufen, um auf den Aufruf zu antworten, mit dem uns Seine Majestät der Kaiser beehrt hat. Darüber zu urteilen, was zweckmäßiger sei, Rekrutierung oder Landwehr, das überlassen wir der höchsten Stelle …«

Nun hatte Pierre auf einmal den Weg gefunden, auf dem er seiner Erregung Luft machen konnte. Er war wütend auf diesen Senator, der diesen Formalismus und diese Beschränktheit der Anschauungsweise in die Behandlung der dem Adel gestellten Aufgaben hineinbrachte. Pierre ging weiter nach vorn und unterbrach ihn. Er wußte selbst nicht, was er sagen würde; aber er begann lebhaft, wobei er sich ab und zu mit französischen Ausdrücken half und eine Art von Schriftrussisch sprach.

»Verzeihen Sie, Euer Exzellenz«, begann er (Pierre war mit diesem Senator ganz gut bekannt, hielt es aber hier für notwendig, mit ihm in offizieller Form zu verkehren). »Obgleich ich dem Herrn …« (Pierre stockte; er wollte sagen: à mon très honorable préopinant) »dem Herrn … den ich nicht die Ehre habe zu kennen, nicht beistimme, so bin ich doch der Ansicht, daß der Stand der Adligen nicht nur zusammenberufen ist, um seine Sympathie und Begeisterung zum Ausdruck zu bringen, sondern auch um ein Urteil über die Maßregeln abzugeben, durch die dem Vaterland geholfen werden kann. Ich bin der Ansicht«, fuhr er, immer mehr in Eifer geratend, fort, »daß der Kaiser sogar unzufrieden sein würde, wenn er an uns weiter nichts fände als Eigentümer von Bauern, die wir ihm hingeben, und … und chair à canon, Kanonenfutter, wozu wir uns selbst anbieten, aber keine Rat … Rat … Ratgeber.«

Viele entfernten sich von dieser Gruppe, da sie das geringschätzige Lächeln des Senators sahen und merkten, daß Pierre fortschrittliche Ansichten aussprach; nur Ilja Andrejewitsch war mit Pierres Rede zufrieden, wie er auch mit den Reden des Marineoffiziers und des Senators zufrieden gewesen war und überhaupt immer mit derjenigen Rede zufrieden war, die er soeben gehört hatte.

»Ich bin der Ansicht, daß, bevor wir in die Erörterung dieser Fragen eintreten«, fuhr Pierre fort, »wir den Kaiser fragen sollten, wir ehrerbietigst Seine Majestät bitten sollten, uns … communiquer, mitzuteilen, wieviel Truppen wir haben, und in welchem Zustand sich unsere Truppen befinden, und daß wir dann …«

Aber Pierre konnte seinen Satz nicht zu Ende sprechen, da auf einmal von drei Seiten gleichzeitig Gegner über ihn herfielen. Am heftigsten griff ihn ein alter Bekannter von ihm an, der ihm sonst immer freundlich gesinnt gewesen war und manche Partie Boston mit ihm gespielt hatte, Stepan Stepanowitsch Adraxin. Stepan Stepanowitsch trug an diesem Tag Uniform, und mochte es nun von der Uniform herkommen oder von irgendwelchen anderen Ursachen, genug, Pierre sah heute einen ganz anderen Menschen vor sich. Stepan Stepanowitsch, auf dessen Gesicht sich auf einmal ein greisenhafter Jähzorn zeigte, schrie Pierre an:

»Erstens möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß wir gar kein Recht haben, dem Kaiser eine solche Frage vorzulegen, und zweitens, selbst wenn der russische Adel ein derartiges Recht hätte, so könnte der Kaiser uns doch keine Antwort geben. Die Truppen bewegen sich entsprechend den Bewegungen des Feindes; die Truppen vermindern sich und nehmen wieder zu …«

Hier unterbrach den redenden Adraxin eine andere Stimme; es war die Stimme eines Mannes von mittlerer Statur und von ungefähr vierzig Jahren, welchen Pierre in früheren Zeiten bei den Zigeunern gesehen hatte und als unredlichen Kartenspieler kannte, und der jetzt gleichfalls einen Angriff auf Pierre unternahm; auch er hatte in der Uniform ein ganz verändertes Aussehen.

»Wir haben auch gar keine Zeit, lange hin und her zu reden«, sagte dieser Edelmann; »wir müssen handeln: der Krieg ist bereits in Rußland. Unser Feind kommt, um Rußland zu vernichten, die Gräber unserer Väter zu schänden, unsere Weiber und Kinder wegzuschleppen.« Der Edelmann schlug sich auf die Brust. »Wir alle werden uns erheben; alle, Mann für Mann, werden wir mitgehen, alle werden wir für unser Väterchen, den Zaren, kämpfen!« schrie er und riß die blutunterlaufenen Augen weit auf. Aus der Menge erschollen einige Beifallsrufe. »Wir sind Russen und werden unser Blut zur Verteidigung des Glaubens, des Thrones und des Vaterlandes nicht sparen. Aber unnützes Geschwätz müssen wir beiseite lassen, wenn wir wahre Söhne des Vaterlandes sind. Wir werden Europa zeigen, wie Rußland sich zur Verteidigung Rußlands erhebt!« schrie der Edelmann.

Pierre wollte etwas erwidern; aber er kam nicht zu Wort. Auch sagte er sich, daß seine Worte, ganz ohne Rücksicht auf ihren Inhalt, weit weniger zu hören sein würden als die Worte des erregten Edelmannes.

Ilja Andrejewitsch brachte hinter der Gruppe seinen Beifall zum Ausdruck. Einige andere Zuhörer machten am Schluß dieser Tirade mit energischer Gebärde eine halbe Wendung, so daß sie dem Redner die Schulter zukehrten, und sagten:

»Hört, hört! So ist es! Ja, so ist es!«

Pierre wollte sagen, daß er durchaus bereit sei, sein Geld, seine Bauern und sich selbst zum Opfer zu bringen, daß man aber doch zunächst den Stand der Dinge kennen müsse, um wirksame Hilfe bringen zu können. Indessen er konnte nicht zu Wort kommen. Viele Stimmen schrien und sprachen zugleich, so daß Ilja Andrejewitsch gar nicht Zeit fand, allen Redenden zuzunicken, und die Gruppe vergrößerte sich, teilte sich, sammelte sich wieder und zog sich in ihrer Gesamtheit unter lebhaftem Stimmengewirr in den großen Saal hinein, zu dem großen Tisch. Und nicht nur, daß es Pierre nicht gelang zu reden, man unterbrach ihn sogar in recht grober Weise, wies ihn zurück und wandte sich wie von einem gemeinsamen Feind von ihm ab. Das kam nicht daher, daß man mit dem Inhalt seiner Rede unzufrieden gewesen wäre (den hatte man nach der großen Menge von Reden, die auf die seinige gefolgt waren, bereits vergessen), sondern die Menge brauchte zu ihrer Begeisterung einen greifbaren Gegenstand der Liebe und einen greifbaren Gegenstand des Hasses. Und dieser letztere war Pierre geworden. Viele Redner hatten bereits nach dem erregten Edelmann gesprochen, und alle in demselben Ton. Nicht wenige von ihnen hatten schön und eigenartig geredet.

So hatte der Herausgeber des »Russischen Boten« Glinka (man hatte ihn erkannt und in der Menge gerufen: »Ein Schriftsteller, ein Schriftsteller!«) gesagt, man müsse die Hölle mit der Hölle besiegen; er habe ein Kind gesehen, das beim Leuchten der Blitze und beim Rollen des Donners gelächelt habe; aber wir würden es nicht machen wie dieses Kind.

»Ja, ja, beim Rollen des Donners!« hatte in den hinteren Reihen jemand beifällig wiederholt.

Die Menge näherte sich nun dem großen Tisch, an welchem in ihren Uniformen mit breiten Ordensbändern ergraute, kahlköpfige, siebzigjährige Magnaten saßen, die Pierre fast alle in ihrer eigenen Häuslichkeit im Verkehr mit ihren Hausnarren oder in den Klubs am Bostontisch oft gesehen hatte. Die Menge umringte den Tisch, ohne daß ihr Stimmengewirr aufgehört hätte. Einer aus ihr nach dem andern hielt eine Rede, manchmal sprachen auch zwei zugleich; die andrängende Menge preßte die Redner von hinten gegen die hohen Lehnen der Stühle. Diejenigen, die hinter den Redenden standen, paßten auf, was etwa der Redner nicht mit hinreichender Vollständigkeit sagte, und beeilten sich, das Ausgelassene hinzuzufügen. Andere wühlten, trotz der Hitze und Enge, in ihrem Gehirnkasten umher, um irgendeinen Gedanken darin zu finden, und sputeten sich dann, ihn auszusprechen. Die alten Magnaten, mit denen Pierre bekannt war, saßen still da und blickten sich bald nach diesem, bald nach jenem um, und der Gesichtsausdruck der meisten von ihnen besagte weiter nichts, als daß ihnen sehr heiß war. Pierre jedoch fühlte sich erregt, und das allen gemeinsame Bestreben, zu zeigen, daß ihnen kein Opfer zu groß sei, dieses mehr im Ton und in den Mienen als in den Worten der Redenden zum Ausdruck gelangende Bestreben hatte sich auch ihm mitgeteilt. Er wollte die vorher von ihm ausgesprochenen Ansichten nicht verleugnen; aber er fühlte sich gewissermaßen schuldig und wünschte sich zu rechtfertigen.

»Ich habe nur gesagt, daß es zweckmäßig wäre, bevor wir Opfer bringen, uns Kenntnis davon zu verschaffen, was denn eigentlich erforderlich ist«, rief er mit einem Versuch, die anderen Stimmen zu überschreien.

Ein alter Herr in seiner nächsten Nähe blickte sich nach ihm um; indes wurde seine Aufmerksamkeit sofort wieder durch ein Geschrei abgelenkt, das sich an der anderen Seite des Tisches erhob.

»Ja, Moskau wird sich nicht ergeben! Es wird die Retterin werden!« rief jemand.

»Er ist der Feind der Menschheit!« rief ein anderer. »Gestatten Sie mir zu reden … Meine Herren, Sie erdrücken mich ja …!«

XXIII


In diesem Augenblick trat schnellen Schrittes Graf Rastoptschin in den Saal, in Generalsuniform, ein Ordensband um die Schulter, mit seinem vorstehenden Kinn und den rasch umherblickenden Augen. Der Haufe der Adligen trat auseinander, und Rastoptschin blieb vor ihnen stehen.

»Seine Majestät der Kaiser wird sogleich hier sein«, sagte er. »Ich komme soeben von ihm. Ich bin der Ansicht, daß in der Lage, in der wir uns befinden, lange Erörterungen nicht am Platze sind. Der Kaiser hat geruht, uns und die Kaufmannschaft zusammenzurufen. Von dort werden die Millionen fließen« (er wies nach dem Saal der Kaufleute hin), »uns aber fällt es zu, die Landwehr zu stellen und uns selbst dabei nicht zu schonen … Das ist das wenigste, was wir tun können!«

Nun begannen die Beratungen, aber nur unter den Magnaten, die am Tisch saßen. Die ganze Beratung verlief mehr als ruhig. Es machte sogar einen trübseligen Eindruck, als nach all dem vorhergegangenen Gerede und Geschrei sich nun einzeln die Stimmen der Greise vernehmen ließen, von denen der eine sagte: »Ich stimme bei«, ein anderer zur Abwechslung: »Ich bin derselben Meinung«, usw.

Der Sekretär wurde beauftragt, den Beschluß des Moskauer Adels niederzuschreiben: die Moskauer brächten, ebenso wie die Smolensker, zehn Mann von je tausend Seelen dar, samt vollständiger Ausrüstung. Die Herren Beisitzer erhoben sich wie mit einem Gefühl der Erleichterung, schoben polternd die Stühle zurück und gingen, um sich die Füße zu vertreten, im Saal umher, wobei sie den einen oder den andern unter den Arm faßten und sich mit ihm unterhielten.

»Der Kaiser, der Kaiser!« ging plötzlich ein Ruf durch die Säle, und die ganze Menge stürzte nach dem Eingang zu.

Auf dem schnell gebildeten breiten Gang, den rechts und links dichte Wände von Adligen einsäumten, betrat der Kaiser den Saal. Auf allen Gesichtern malte sich respektvolle, ängstliche Neugier. Pierre stand ziemlich fern und war nicht imstande, genau zu verstehen, was der Kaiser sagte. Aus dem, was er hörte, entnahm er nur, daß der Kaiser von der Gefahr sprach, in der sich der Staat befinde, und von den Hoffnungen, die er auf den Moskauer Adel setze. Dem Kaiser antwortete eine andere Stimme, die ihm den soeben gefaßten Beschluß des Adels mitteilte.

»Meine Herren!« sagte die zitternde Stimme des Kaisers.

Einen Augenblick lang ging eine Bewegung und ein Flüstern durch die Menge; dann wurde wieder alles still, und Pierre hörte deutlich die so angenehm menschlich klingende, gerührte Stimme des Kaisers, welche sagte:

»Ich habe nie an dem Eifer des russischen Adels gezweifelt. Aber heute hat er meine Erwartungen übertroffen. Ich danke Ihnen im Namen des Vaterlandes. Meine Herren, lassen Sie uns handeln; die Zeit ist sehr kostbar …«

Der Kaiser schwieg; die Menge drängte sich um ihn herum, und von allen Seiten erschollen enthusiastische Ausrufe.

»Ja, sehr kostbar … Das ist ein Kaiserwort!« sagte schluchzend vom Hintergrund her die Stimme Ilja Andrejewitschs, der nichts ordentlich gehört, aber alles auf seine Art verstanden hatte.

Aus dem Saal des Adels begab sich der Kaiser in den Saal der Kaufleute. Er verweilte dort ungefähr zehn Minuten. Pierre mit einigen andern sah den Kaiser, als dieser aus dem Saal der Kaufmannschaft mit Tränen der Rührung in den Augen herauskam. Wie man nachher erfuhr, hatte der Kaiser seine Ansprache an die Kaufleute kaum begonnen gehabt, als ihm die Tränen aus den Augen gestürzt waren; mit zitternder Stimme hatte er dann zu Ende gesprochen. Als Pierre den Kaiser sah, trat dieser gerade, von zwei Kaufleuten begleitet, aus dem Saal. Den einen kannte Pierre: es war ein dicker Branntweinpächter; der andere war der Bürgermeister, mit magerem, gelblichem Gesicht und schmalem Bart. Beide weinten. Dem Mageren standen die Tränen nur in den Augen; aber der dicke Branntweinpächter schluchzte wie ein Kind und wiederholte fortwährend:

»Euer Majestät, nimm unser Leben und unser Vermögen!«

Pierre hatte in diesem Augenblick keine andere Empfindung als den Wunsch, zu zeigen, daß ihm kein Opfer zu groß und er bereit sei, alles hinzugeben. Er machte sich gewissermaßen Vorwürfe wegen seiner Rede mit der konstitutionellen Tendenz und suchte nach einer Gelegenheit, das wiedergutzumachen. Als er erfuhr, daß Graf Mamonow ein Regiment stelle, erklärte Besuchow dem Grafen Rastoptschin sofort, er werde tausend Mann geben und die Unterhaltungskosten tragen.

Der alte Rostow konnte seiner Frau das, was sich begeben hatte, nicht ohne Tränen erzählen, erklärte sofort seine Einwilligung zu Petjas Bitte und fuhr selbst hin, um dessen Einschreibung zu bewirken.

Am folgenden Tag reiste der Kaiser wieder ab. Alle die Adligen, die an der Versammlung teilgenommen hatten, zogen ihre Uniformen aus, machten es sich wieder bei sich zu Hause und in den Klubs bequem, gaben unter vielem Räuspern ihren Verwaltern die nötigen Anweisungen über die Landwehr und wunderten sich über das, was sie getan hatten.

Zehnter Teil


I

Napoleon begann den Krieg mit Rußland, weil er nicht anders konnte als nach Dresden gehen, nicht anders konnte als sich durch die ihm erwiesenen Ehren und Huldigungen verblenden lassen, nicht anders konnte als eine polnische Uniform anziehen und sich der Einwirkung des zu Unternehmungen verlockenden Junimorgens überlassen, und weil er Kurakin und später Balaschow gegenüber seinen Jähzorn nicht zu beherrschen imstande war.

Alexander lehnte alle Verhandlungen ab, weil er sich persönlich gekränkt fühlte. Barclay de Tolly gab sich alle Mühe, das Heer so gut wie möglich zu führen, um seine Pflicht zu erfüllen und den Ruhm eines großen Feldherrn zu verdienen. Rostow sprengte zum Angriff auf die Franzosen los, weil er den Wunsch nicht unterdrücken konnte, über das offene Feld hin zu galoppieren. Und genau ebenso handelten nach Maßgabe ihrer persönlichen Eigenschaften, Gewohnheiten, Verhältnisse und Ziele all die zahllosen an diesem Krieg beteiligten Personen. Sie fürchteten sich, rühmten sich, freuten sich, waren unzufrieden und räsonierten, alles in der Meinung, sie wüßten, was sie täten, und täten es um ihrer selbst willen; und doch waren sie sämtlich unfreiwillige Werkzeuge der Geschichte und verrichteten eine ihnen selbst verborgene, uns aber verständliche Arbeit. Das ist das unabänderliche Los aller Wirkenden und Handelnden, und sie sind um so unfreier, je höher sie auf der Stufenleiter menschlicher Ehren und Würden stehen.

Jetzt sind die Männer, die im Jahre 1812 mitgewirkt haben, längst von ihren Plätzen abgetreten, ihre persönlichen Interessen sind spurlos verschwunden, und nur die geschichtlichen Resultate jener Zeiten liegen vor unsern Augen.

Sobald wir es aber als eine innere Notwendigkeit betrachten, daß die Völker Europas unter Napoleons Führung in das Innere Rußlands eindrangen und dort umkamen, wird die ganze, in sich widerspruchsvolle, sinnlose, grausame Tätigkeit der an diesem Krieg beteiligten Menschen für uns verständlich.

Die Vorsehung ließ alle diese Menschen, die ihre eigenen Ziele zu erreichen trachteten, zur Herbeiführung eines einzigen gewaltigen Resultates zusammenwirken, von dem kein Mensch, weder Napoleon noch Alexander und noch weniger irgendein anderer der an diesem Krieg Beteiligten, die geringste Ahnung hatte.

Jetzt ist uns klar, was im Jahre 1812 der Grund des Unterganges der französischen Armee war. Niemand wird bestreiten, daß den Untergang der Truppen Napoleons zwei Ursachen herbeiführten: einerseits der Umstand, daß die Franzosen in später Jahreszeit ohne Vorbereitungen auf einen Winterfeldzug in das Innere Rußlands eindrangen, und andererseits der Charakter, den der Krieg infolge der Einäscherung russischer Städte und der Erweckung des russischen Volkshasses gegen den Feind annahm. Damals aber sah niemand voraus, was jetzt einleuchtend erscheint: daß nur auf diesem Weg eine Armee von acht mal hunderttausend Mann, die beste auf der Welt und geführt von dem besten Feldherrn, bei dem Zusammenstoß mit der halb so starken, unerfahrenen, von unerfahrenen Führern befehligten russischen Armee vernichtet werden konnte. Und dies sah nicht nur niemand voraus, sondern es waren sogar alle Anstrengungen von seiten der Russen beständig darauf gerichtet, das zu verhindern, wodurch allein Rußland gerettet werden konnte; und von seiten der Franzosen waren trotz Napoleons Erfahrung und seines sogenannten Feldherrngenies alle Anstrengungen darauf gerichtet, zu Ende des Sommers Moskau zu erreichen, d.h. gerade das zu tun, was zu ihrem Untergang führen mußte.

In den Geschichtswerken über das Jahr 1812 sprechen die französischen Schriftsteller gern davon, daß es dem Kaiser Napoleon nicht entgangen sei, wie gefährlich die große Ausdehnung seiner Operationslinie war, daß er eine Schlacht gesucht habe, daß seine Marschälle ihm geraten hätten, bei Smolensk haltzumachen, und was dergleichen Behauptungen mehr sind, durch die bewiesen werden soll, daß man die Gefährlichkeit des Feldzuges schon damals erkannte; und mit noch größerem Eifer reden die russischen Schriftsteller davon, daß gleich bei Beginn des Feldzuges der Plan eines Skythenkrieges bestanden habe, also der Plan, Napoleon in das Innere Rußlands hineinzulocken, und der eine schreibt diesen Plan Pfuel zu, ein anderer irgendeinem Franzosen, ein dritter Tolly, ein vierter dem Kaiser Alexander selbst, wobei sie sich auf Memoiren, Projekte und Briefe berufen, in denen sich tatsächlich Hindeutungen auf diese Art der Kriegführung finden. Aber alle diese Hindeutungen, aus denen man schließen könnte, daß jemand auf französischer oder russischer Seite das später Geschehene vorausgesehen habe, werden jetzt nur deswegen hervorgeholt, weil die Ereignisse ihnen recht gegeben haben. Wären die Ereignisse nicht eingetreten, so wären diese Hindeutungen vergessen, wie jetzt Tausende und Millionen von entgegengesetzten Hindeutungen und Voraussagungen vergessen sind, die damals in Umlauf waren, aber keine Bestätigung fanden. Über den Ausgang eines jeden größeren Ereignisses, das sich zu vollziehen im Begriff ist, gibt es immer so viele Voraussagungen, daß, es mag enden wie es will, sich immer Leute finden werden, die sagen können: »Ich habe schon damals gesagt, daß es so kommen werde«, wobei dann ganz vergessen wird, daß unter den zahllosen Voraussagungen sich auch solche völlig entgegengesetzten Inhaltes befunden haben.

Die Annahme, Napoleon habe die Gefahr, die in der großen Ausdehnung seiner Operationslinie lag, erkannt, und die Russen ihrerseits hätten den Feind absichtlich in das Innere Rußlands hineingelockt, diese Annahme gehört augenscheinlich zu dieser Kategorie, und nur mit großer Gewaltsamkeit können die Geschichtsschreiber dem Kaiser Napoleon solche Erwägungen und den russischen Heerführern solche Pläne zuschreiben. Alle Tatsachen widersprechen einer solchen Annahme durchaus. Auf seiten der Russen bestand nicht nur während des ganzen Verlaufes des Krieges kein Wunsch, die Franzosen in das Innere Rußlands hineinzulocken, sondern sie haben im Gegenteil alles getan, um die Feinde bei ihrem ersten Eindringen in Rußland aufzuhalten; und Napoleon fürchtete nicht nur keine üblen Folgen von der großen Ausdehnung seiner Operationslinie, sondern freute sich vielmehr über jeden Schritt, den er vorwärts tat, wie über einen Triumph und suchte, abweichend von seiner Praxis in seinen früheren Feldzügen, nur mit sehr geringem Eifer eine Schlacht.

Ganz zu Anfang des Feldzuges waren unsere Heere getrennt, und das einzige Ziel, nach dem wir strebten, bestand darin, sie zu vereinigen, obgleich doch, wenn der Plan war sich zurückzuziehen und den Feind in das Innere des Landes zu locken, die Vereinigung der Heere dafür keinen Vorteil brachte. Kaiser Alexander befand sich bei der Armee, um sie zur Verteidigung jedes Fußbreites russischen Landes zu begeistern, nicht etwa um einen Rückzug zu leiten. Nach Pfuels Plan wurde ein gewaltiges Lager an der Drissa eingerichtet und ein weiterer Rückzug nicht in Aussicht genommen. Wegen eines jeden Schrittes nach rückwärts machte der Kaiser dem Oberkommandierenden Vorwürfe. Nicht nur der Brand von Moskau, sondern auch schon, daß man den Feind bis Smolensk kommen ließ, erschien dem Kaiser ganz unfaßbar, und da die Armeen nun vereinigt waren, zeigte er sich sehr aufgebracht darüber, daß Smolensk eingeäschert und dem Feind überlassen und nicht vor seinen Mauern eine Hauptschlacht geliefert worden war.

So dachte der Kaiser; die russischen Heerführer aber und alle Russen waren noch unzufriedener darüber, daß die Unsrigen in das Innere des Landes zurückwichen.

Nachdem Napoleon unsere Heere getrennt hatte, rückte er in das Innere des Landes vor und ließ mehrere Gelegenheiten, eine Schlacht zu liefern, unbenutzt. Im August war er in Smolensk und hatte keinen andern Gedanken, als weiter vorzudringen, obwohl, wie wir jetzt wissen, dieses Vorrücken für ihn zweifellos verderblich war.

Die Tatsachen zeigen mit völliger Klarheit, daß weder Napoleon in dem Marsch nach Moskau eine Gefahr vorhersah, noch Alexander und die russischen Heerführer damals an ein Hereinlocken Napoleons dachten, sondern vielmehr das gerade Gegenteil erstrebten. Wenn Napoleon immer tiefer ins Land hineinzog, so wurde das nicht durch irgendeinen Verlockungsplan herbeigeführt (an die Möglichkeit eines solchen glaubte überhaupt niemand), sondern es war das Resultat des sehr komplizierten Zusammenwirkens von allerlei Intrigen, Absichten und Wünschen der am Krieg Beteiligten, die nicht ahnten, was nach dem Willen der Vorsehung geschehen sollte und was die einzige Rettung Rußlands war. Alles nahm einen unerwarteten Gang. Am Anfang des Feldzuges waren unsere Heere getrennt. Wir bemühten uns, sie zu vereinigen, in der offenbaren Absicht, eine Schlacht zu liefern und den Vormarsch des Feindes aufzuhalten; aber indem wir bei diesem Streben nach Vereinigung eine Schlacht mit dem stärkeren Feind vermieden und unwillkürlich im spitzen Winkel zurückgingen, führten wir die Franzosen bis Smolensk. Aber nicht genug damit, daß wir im spitzen Winkel zurückgingen, weil die Franzosen zwischen unsern beiden Armeen vordrangen: dieser Winkel wurde auch noch spitzer, und wir zogen noch weiter weg, weil Barclay de Tolly, ein unpopulärer Deutscher, von Bagration, der unter sein Kommando treten sollte, gehaßt wurde, und weil Bagration, der die zweite Armee befehligte, sich bemühte, die Vereinigung mit Barclay möglichst lange hinauszuschieben, um sich nicht unter dessen Oberbefehl stellen zu müssen. Bagration hielt die Vereinigung, obwohl alle leitenden Persönlichkeiten in ihr das Hauptziel sahen, lange Zeit hin, weil er nach seiner Angabe der Ansicht war, er werde auf diesem Marsch sein Heer in Gefahr bringen, und es sei für ihn das Vorteilhafteste, mehr links und mehr südwärts auszuweichen, da er dabei den Feind in der Flanke und im Rücken beunruhigen und seine eigene Armee in der Ukraine komplettieren könne. Indessen scheint er diese Begründung nur ersonnen zu haben, weil er keine Lust hatte, sich dem verhaßten und im Dienstrang ihm nachstehenden Deutschen Barclay unterzuordnen.

Der Kaiser befand sich beim Heer, um dieses zu begeistern; aber seine Anwesenheit und seine Unschlüssigkeit und die enorme Menge von Ratgebern und Plänen beraubten die erste Armee aller Tatkraft, und die Armee ging zurück.

Es war nun die Absicht, in dem Lager an der Drissa stehenzubleiben; aber unerwarteterweise gelang es dem energischen Paulucci, der selbst gern ein Oberkommando gehabt hätte, den Kaiser Alexander umzustimmen; Pfuels ganzer Plan wurde verworfen und die Oberleitung Barclay übertragen. Aber da Barclay doch kein rechtes Vertrauen einflößte, so beschränkte man seine Macht. Die Heere wurden zerstückelt; es mangelte an einer einheitlichen Leitung; Barclay war unpopulär; aber aus diesem Wirrwarr, der Zerstückelung der Heere und der Unpopularität des deutschen Oberkommandierenden, ergaben sich zwei Folgen: erstens wurde man zaghaft und suchte eine Schlacht zu vermeiden, der man nicht hätte aus dem Weg zu gehen brauchen, wenn die Armeen vereint gewesen wären und ein anderer als Barclay das Kommando gehabt hätte; und zweitens wuchs die Mißstimmung gegen die Deutschen immer mehr und mehr, und der patriotische Geist regte sich immer kräftiger.

Endlich verließ der Kaiser die Armee, und als einzigen und plausibelsten Vorwand für sein Fortgehen wählte man den Gedanken aus, er müsse das Volk in den Hauptstädten dazu begeistern, den Volkskrieg zu beginnen. Und diese Reise des Kaisers nach Moskau verdreifachte die Kraft des russischen Heeres.

Der Kaiser verließ die Armee, um den Oberkommandierenden nicht mehr im Alleinbesitz der Macht zu beschränken, und hoffte, daß dieser nun entscheidendere Maßnahmen ergreifen werde; aber die Situation des Oberkommandierenden wurde nur noch verwickelter und seine Macht noch geringer. Bennigsen, der Großfürst und ein Schwarm von Generaladjutanten blieben bei der Armee, um alle Schritte des Oberkommandierenden zu beobachten und ihn zu energischem Handeln anzutreiben, und Barclay, der sich unter der Aufsicht aller dieser »Augen des Kaisers« noch unfreier fühlte als vorher, wurde noch vorsichtiger, wo es sich um entscheidende Schritte handelte, und vermied eine Schlacht.

Barclay war für Vorsicht. Der Thronfolger machte Anspielungen, es sei wohl Verrat im Spiele, und verlangte eine Hauptschlacht. Lubomirski, Bronnizki, Wlozki und andere von derselben Art brachten diesen ganzen Spektakel auf eine solche Höhe, daß Barclay unter dem Vorwand, es müßten dem Kaiser Papiere überbracht werden, die polnischen Generaladjutanten nach Petersburg schickte und mit Bennigsen und dem Großfürsten in offene Fehde trat.

Bei Smolensk vereinigten sich endlich die beiden Heere, so wenig es auch Bagration gewünscht hatte.

Bagration fuhr in einer Equipage bei dem Haus vor, in welchem Barclay wohnte. Barclay legte seine Schärpe an, kam ihm entgegen und stattete ihm, als dem älteren im Rang, Rapport ab. Bagration stellte sich trotz seines höheren Ranges in einem Wettstreit der Hochherzigkeit unter Barclays Befehl; aber obwohl er das getan hatte, vertrug er sich mit ihm noch weniger als früher. Auf Befehl des Kaisers erstattete Bagration diesem persönlich Bericht. Er schrieb an Araktschejew: »Möge der Kaiser es mir nicht übelnehmen; aber ich kann mit dem Minister« (er meinte Barclay) »schlechterdings nicht zusammen dienen. Ich bitte Sie um alles in der Welt, schicken Sie mich irgendwohin, meinetwegen nur als Regimentskommandeur; aber hier kann ich nicht bleiben. Auch wimmelt das ganze Hauptquartier von Deutschen, so daß ein Russe da nicht leben kann und auch nichts Vernünftiges auszurichten vermag. Ich habe gemeint, ich könnte hier ehrlich dem Kaiser und dem Vaterland dienen; aber bei Licht besehen stellt sich heraus, daß ich Barclay diene. Ich muß gestehen, daß ich dazu keine Lust habe.« Der Schwarm der Bronnizkis, Wintzingerodes und ähnlicher Männer vergiftete die wechselseitigen Beziehungen der Oberkommandierenden noch mehr, und das Resultat war eine noch geringere Einmütigkeit des Zusammenwirkens. Man hatte vor, die Franzosen vor Smolensk anzugreifen, und es wurde ein General hingeschickt, um die Positionen zu besichtigen. Dieser General, der Barclay haßte, ritt zu einem ihm befreundeten Korpskommandeur, verlebte bei ihm einen ganzen Tag, kehrte zu Barclay zurück und gab ein in allen Punkten ungünstiges Urteil über das Schlachtfeld ab, das er gar nicht gesehen hatte.

Während sich allerlei Streitereien und Intrigen über das künftige Schlachtfeld abspielten und wir die Franzosen suchten, uns aber über ihren Standort irrten, schlugen die Franzosen die Division Newjerowskis, auf die sie gestoßen waren, zurück, und rückten bis an die Mauern von Smolensk heran.

Wir sahen uns genötigt, eine von uns nicht erwartete Schlacht bei Smolensk anzunehmen, um unsere Verbindungen zu retten. Die Schlacht wurde geliefert. Tausende wurden auf der einen und auf der andern Seite getötet.

Smolensk wurde gegen den Willen des Kaisers und des ganzen Volkes aufgegeben. Aber die von ihrem eigenen Gouverneur getäuschten Einwohner zündeten ihre Stadt an und zogen, völlig ruiniert, nach Moskau: so wurden sie zum Vorbild für alle Russen. Sie dachten immer nur an die erlittenen Verluste und schürten den Haß gegen den Feind. Napoleon zog weiter, wir wichen immer mehr zurück, und so wurde eben das erreicht, wodurch Napoleon besiegt werden sollte.

II


Am Tag nach der Abreise seines Sohnes ließ Fürst Nikolai Andrejewitsch die Prinzessin Marja zu sich rufen.

»Nun also, bist du jetzt zufrieden?« sagte er zu ihr. »Du hast mich mit meinem Sohn entzweit! Bist du nun zufrieden? Das fehlte dir ja wohl nur noch! Bist du nun zufrieden …? Mir ist das ein Schmerz, ein großer Schmerz. Ich bin alt und schwach. Aber du hast es so gewollt. Na, nun freue dich, freue dich!«

Hierauf bekam Prinzessin Marja ihren Vater eine ganze Woche lang nicht zu sehen. Er war krank und verließ sein Zimmer nicht.

Zu ihrer Verwunderung bemerkte Prinzessin Marja, daß der alte Fürst während dieser Krankheit auch Mademoiselle Bourienne nicht zu sich ließ. Nur Tichon pflegte ihn.

Nach einer Woche kam der Fürst wieder aus seinem Zimmer heraus und begann wieder seine frühere Lebensweise, indem er sich besonders eifrig mit seinen Bauten und mit den Gärten beschäftigte; die früheren Beziehungen zu Mademoiselle Bourienne hatte er vollständig abgebrochen. Seine Miene und sein kalter Ton gegenüber der Prinzessin Marja sagten gleichsam zu ihr: »Da siehst du nun; du hattest dir etwas ausgesonnen über Beziehungen, die ich zu dieser Französin hätte, und es dem Fürsten Andrei vorgelogen und mich mit ihm entzweit. Nun siehst du, daß ich weder dich noch die Französin nötig habe.«

Die eine Hälfte des Tages verbrachte Prinzessin Marja bei Nikolenka, bei dessen Unterrichtsstunden sie zuhörte und den sie selbst im Russischen und in der Musik unterrichtete; auch unterhielt sie sich viel mit Dessalles. Die andere Hälfte des Tages verlebte sie bei ihren Büchern und mit der hochbejahrten Kinderfrau und mit den Gottesleuten, die manchmal durch die Hintertür zu ihr kamen.

Über den Krieg dachte Prinzessin Marja so, wie Frauen eben über den Krieg zu denken pflegen. Sie ängstigte sich um ihren Bruder, der mit dabei war, und schauderte vor der ihr unfaßbaren Grausamkeit, die die Menschen trieb, einander zu töten; aber für die Bedeutung dieses Krieges hatte sie kein Verständnis: er schien ihr ein Krieg von derselben Art zu sein wie alle früheren. Sie verstand die Bedeutung dieses Krieges nicht, obwohl Dessalles, mit dem sie oft sprach und der an dem Gang des Krieges ein leidenschaftliches Interesse nahm, sich Mühe gab, ihr seine eigenen Kombinationen auseinanderzusetzen, und obwohl die Gottesleute, die sie besuchten, alle auf ihre Art mit Schrecken von den umgehenden Gerüchten über den Einfall des Antichrists erzählten, und obwohl Julja, die jetzige Fürstin Drubezkaja, die wieder mit ihr in Briefwechsel getreten war, ihr aus Moskau patriotische Briefe schrieb.

»Ich schreibe Ihnen russisch, meine liebe Freundin«, schrieb Julja, »weil ich einen Haß gegen alle Franzosen und gleichermaßen auch gegen ihre Sprache habe, die ich nicht hören und nicht reden mag … Wir sind hier in Moskau alle voll Entzücken und Enthusiasmus für unsern angebeteten Kaiser.

Mein armer Mann erträgt Mühen und Hunger in jüdischen Schenken; aber die Nachrichten, die ich von ihm erhalte, tragen noch mehr zu meiner Begeisterung bei.

Sie haben gewiß von der heldenmütigen Tat Rajewskis gehört, der die Arme um seine beiden Söhne schlang und sagte: ›Ich will mit ihnen umkommen; aber wir werden nicht wanken und nicht weichen!‹ Und wirklich, obgleich der Feind noch einmal so stark war als wir, sind wir nicht gewichen. Wir verbringen die Zeit, so gut wir können; Krieg ist eben Krieg. Die Fürstinnen Alina und Sofja sitzen tagelang mit mir zusammen, und wir unglücklichen Strohwitwen führen beim Scharpiezupfen schöne Gespräche; nur Sie, liebe Freundin, fehlen uns dabei …«, usw.

Prinzessin Marja vermochte die ganze Bedeutung dieses Krieges besonders deshalb nicht zu verstehen, weil der alte Fürst nie von ihm sprach, ihn ignorierte und sich bei Tisch über Dessalles lustig machte, wenn dieser vom Krieg redete. Der Ton des Fürsten war dabei so ruhig und sicher, daß Prinzessin Marja, ohne viel zu überlegen, ihm glaubte.

Den ganzen Juli über war der alte Fürst außerordentlich tätig und sogar lebhaft. Er ließ noch einen neuen Garten anlegen und ein Wohnhaus für Gutsleute bauen. Das einzige, worüber sich Prinzessin Marja beunruhigte, war, daß er so wenig schlief und, von seiner Gewohnheit, in seinem Arbeitszimmer zu schlafen, abgehend, den Ort für sein Nachtlager alle Tage wechselte. Bald befahl er, sein Feldbett in der Galerie aufzuschlagen; bald blieb er im Salon auf dem Sofa oder auf einem Lehnstuhl sitzen und schlummerte unausgekleidet, während ihm nicht Mademoiselle Bourienne, sondern der Bursche Pjotr vorlas; bald brachte er die Nacht im Eßzimmer zu.

Am ersten August lief der zweite Brief vom Fürsten Andrei ein. In dem ersten Brief, der bald nach der Abreise des Fürsten Andrei angekommen war, hatte dieser seinen Vater demütig gebeten, ihm zu verzeihen, was er ihm zu sagen sich erlaubt hatte, und ihm seine Huld wieder zuzuwenden. Auf diesen Brief hatte der alte Fürst mit einem freundlichen Brief geantwortet und seitdem die Französin von sich ferngehalten. Der zweite Brief des Fürsten Andrei war aus der Gegend von Witebsk geschrieben, nach der Besetzung dieser Stadt durch die Franzosen, und enthielt eine kurze Schilderung des ganzen Feldzuges, die durch eine gezeichnete Kartenskizze erläutert war, und Kombinationen über den weiteren Gang des Feldzuges. In diesem Brief stellte Fürst Andrei seinem Vater die Unzuträglichkeiten vor, die die Lage seines Wohnortes in solcher Nähe des Kriegsschauplatzes und gerade auf der Linie der Truppenmärsche für ihn haben könne, und riet ihm, nach Moskau überzusiedeln.

Bei Tisch erwähnte an diesem Tag Dessalles, es verlaute, daß die Franzosen schon in Witebsk eingerückt seien; dabei fiel dem alten Fürsten wieder der Brief des Fürsten Andrei ein.

»Ich habe vom Fürsten Andrei heute einen Brief bekommen«, sagte er zur Prinzessin Marja. »Hast du ihn nicht gelesen?«

»Nein, lieber Vater«, antwortete die Prinzessin erschrocken.

Sie konnte den Brief nicht gelesen haben, von dessen Ankunft sie nicht einmal gehört hatte.

»Er schreibt von diesem Krieg«, sagte der Fürst mit jenem ihm zur Gewohnheit gewordenen geringschätzigen Lächeln, mit dem er immer von dem gegenwärtigen Krieg sprach.

»Die Nachrichten werden gewiß sehr interessant sein«, sagte Dessalles. »Der Fürst ist in der Lage, genau orientiert zu sein …«

»Ach ja, sehr interessant!« fügte auch Mademoiselle Bourienne hinzu.

»Gehen Sie hin, und holen Sie ihn mir«, wandte sich der alte Fürst an Mademoiselle Bourienne. »Sie wissen, auf dem kleinen Tisch, unter dem Briefbeschwerer.«

Mademoiselle Bourienne sprang freudig auf.

»Nein, nein!« rief er, die Stirn runzelnd. »Geh du hin, Michail Iwanowitsch!«

Michail Iwanowitsch stand auf und ging nach dem Arbeitszimmer. Aber kaum war er hinausgegangen, als der alte Fürst unruhig um sich blickte, die Serviette hinwarf und selbst ging.

»Nichts verstehen sie; sie bringen mir nur alles in Unordnung.«

Während er draußen war, sahen Prinzessin Marja, Dessalles, Mademoiselle Bourienne und selbst Nikolenka einander schweigend an. Eiligen Schrittes kehrte der alte Fürst, von Michail Iwanowitsch begleitet, zurück; er brachte den Brief und einen Bauplan mit, legte aber beides neben sich hin, ohne den Brief jemandem bei Tisch zum Lesen zu geben.

Nachdem sie in den Salon gegangen waren, gab er den Brief der Prinzessin Marja, breitete den Plan des neuen Gebäudes vor sich aus, heftete seine Augen darauf und befahl der Prinzessin, den Brief vorzulesen. Als Prinzessin Marja dies getan hatte, blickte sie ihren Vater fragend an. Er betrachtete seinen Plan und war augenscheinlich ganz in seine Gedanken versunken.

»Wie denken Sie darüber, Fürst?« erlaubte sich endlich Dessalles zu fragen.

»Ich? Ich?« erwiderte der Fürst, als wäre es ihm unangenehm, aus seinen Gedanken aufgestört zu werden; er wandte die Augen nicht von seinem Bauplan ab.

»Gut möglich, daß der Kriegsschauplatz uns so nahe kommt, daß …«

»Ha-ha-ha! Der Kriegsschauplatz!« unterbrach ihn der Fürst. »Ich habe Ihnen schon gesagt und wiederhole es: der Kriegsschauplatz ist Polen, und über den Niemen wird der Feind nie vordringen.«

Erstaunt blickte Dessalles den Fürsten an, der vom Niemen sprach, während doch der Feind bereits am Dnjepr stand; aber Prinzessin Marja, der die geographische Lage des Niemens nicht gegenwärtig war, hielt das, was ihr Vater sagte, für wahr.

»Sobald der Schnee schmilzt, werden sie in den polnischen Sümpfen versinken. Sie können sie jetzt nur nicht sehen«, sagte der Fürst; er dachte offenbar an den Feldzug des Jahres 1807, der nach seiner Vorstellung erst ganz vor kurzem stattgefunden hatte. »Bennigsen hätte nur früher in Preußen einrücken sollen; dann hätte die Sache eine andere Wendung genommen …«

»Aber, Fürst«, wandte Dessalles schüchtern ein, »in dem Brief ist von Witebsk die Rede …«

»Was? In dem Brief? Ja …«, erwiderte der Fürst mißmutig. »Ja … ja …« Sein Gesicht nahm plötzlich einen finsteren Ausdruck an. Er schwieg eine Weile. »Ja, er schreibt, die Franzosen seien geschlagen worden; an welchem Fluß war es doch?«

Dessalles schlug die Augen nieder.

»Der Fürst schreibt davon nichts«, antwortete er leise.

»Schreibt davon nichts? Na, aus den Fingern habe ich es mir doch nicht gesogen.«

Alle schwiegen lange.

»Ja … ja … Nun, Michail Iwanowitsch«, sagte er plötzlich, indem er den Kopf in die Höhe hob und auf den Bauplan zeigte, »setz mir mal auseinander, wie du das umändern willst …«

Michail Iwanowitsch trat zu dem Plan hin; der Fürst sprach mit ihm ein paar Worte über den Plan des neuen Gebäudes, dann warf er der Prinzessin Marja und dem Erzieher Dessalles einen zornigen Blick zu und ging in sein Zimmer.

Prinzessin Marja hatte den verlegenen, erstaunten Blick, welchen Dessalles auf ihren Vater gerichtet hatte, wohl bemerkt, und auch sein Schweigen war ihr aufgefallen; jetzt war sie überrascht, daß ihr Vater den Brief des Sohnes auf dem Tisch im Salon vergessen hatte. Aber sie fürchtete sich, Dessalles nach dem Grund seiner Verlegenheit und seines Schweigens zu fragen; ja, sie fürchtete sich sogar, daran auch nur zu denken.

Am Abend kam, vom Fürsten geschickt, Michail Iwanowitsch zu Prinzessin Marja, um den Brief des Fürsten Andrei zu holen, den der Vater im Salon vergessen hatte. Prinzessin Marja übergab ihm den Brief. Obgleich es sie Überwindung kostete, entschloß sie sich doch, Michail Iwanowitsch zu fragen, was ihr Vater tue.

»Der Fürst ist immer sehr eifrig beschäftigt«, erwiderte Michail Iwanowitsch mit einem respektvollen, aber etwas spöttischen Lächeln, bei dessen Anblick Prinzessin Marja ganz blaß wurde. »Er beunruhigt sich wegen des neuen Wohngebäudes. Vorhin hat er ein wenig gelesen; aber jetzt« (hier ließ Michail Iwanowitsch die Stimme sinken) »sitzt er am Schreibtisch und beschäftigt sich wahrscheinlich mit dem Testament.« (In der letzten Zeit war es eine Lieblingsbeschäftigung des Fürsten, die Papiere zurechtzumachen, die er nach seinem Tod hinterlassen wollte und die er sein Testament nannte.)

»Und wird Alpatytsch nach Smolensk geschickt?« fragte Prinzessin Marja.

»Gewiß; er wartet schon lange auf seine Abfertigung.«

III


Als Michail Iwanowitsch mit dem Brief in das Zimmer des Fürsten zurückkehrte, saß dieser am offenen Schreibtisch; er hatte die Brille aufgesetzt und die Augen durch einen Schirm geschützt; auch die Kerzen waren durch Schirme abgeblendet. In der weit weggestreckten Hand hielt er einige Papiere, die er in einer etwas feierlichen Haltung las; es waren dies seine Remarques, wie er sie nannte, die nach seinem Tod dem Kaiser zugestellt werden sollten.

Als Michail Iwanowitsch eintrat, hatte dem Fürsten die Erinnerung an jene Zeit, wo er das geschrieben hatte, was er jetzt las, die Tränen in die Augen gelockt. Er nahm den Brief aus Michail Iwanowitschs Hand entgegen, steckte ihn in die Tasche, legte die Papiere weg und rief den schon lange wartenden Verwalter Alpatytsch herein.

Auf einem Blättchen Papier hatte der Fürst sich notiert, was Alpatytsch in Smolensk kaufen sollte; nun ging er im Zimmer auf und ab, neben dem an der Tür wartenden Alpatytsch immer vorbei, und erteilte diesem seine Aufträge.

»Erstens Briefpapier, hörst du wohl? Acht Buch, hier, nach Probe; mit Goldschnitt … da ist die Probe; es soll genauso sein. Dann Lack, Siegellack, von der Art, wie es Michail Iwanowitsch auf einen Zettel geschrieben hat.«

Er war einen Augenblick stehengeblieben, nahm aber nun seine Wanderung wieder auf und blickte auf seinen Merkzettel.

»Dann gibst du dem Gouverneur persönlich den Brief über die letztwillige Verfügung ab.«

Ferner waren noch Riegel für die Türen des neuen Gebäudes nötig, genau von der Fasson, die der Fürst selbst ausgesonnen hatte. Und es mußte ein solider Pappkasten bestellt werden zur Verpackung des Testaments.

Die Erteilung der Aufträge an Alpatytsch hatte schon mehr als zwei Stunden gedauert; aber noch immer ließ ihn der Fürst nicht fort. Er setzte sich hin, dachte nach, schloß dabei die Augen und schlummerte ein.

»Nun, geh nur, geh nur! Wenn noch etwas nötig ist, werde ich dich rufen lassen.«

Alpatytsch verließ das Zimmer. Der Fürst trat wieder an seinen Schreibtisch, blickte in ihn hinein, berührte mit der Hand seine Papiere, schloß wieder zu und setzte sich an den Tisch, um den Brief an den Gouverneur zu schreiben.

Es war schon spät, als er den Brief siegelte und aufstand. Er hätte nun gern geschlafen, wußte aber, daß er nicht einschlafen werde und daß ihm im Bett die schlimmsten Gedanken kommen würden. Er rief Tichon und ging mit ihm durch die Zimmer, um ihm zu zeigen, wo sein Bett für diese Nacht aufgeschlagen werden solle. Beim Umhergehen prüfte er jedes Winkelchen.

Überall schien es ihm schlecht; aber am schlechtesten war sein gewohntes Sofa in seinem Zimmer. Dieses Sofa war ihm furchtbar, wahrscheinlich wegen der bedrückenden Gedanken, von denen er, während er dort gelegen hatte, gequält worden war. Nirgends war es gut; aber verhältnismäßig am besten war noch ein Winkel im Sofazimmer, hinter dem Klavier: dort hatte er noch nie geschlafen.

Tichon trug mit einem Diener das Bett dorthin und begann es aufzustellen.

»Nicht so, nicht so!« schrie der Fürst und rückte es selbst eine Spanne weit aus der Ecke heraus und dann wieder näher heran.

»Nun, endlich habe ich alles erledigt; jetzt kann ich mich ausruhen«, dachte der Fürst und ließ sich von Tichon auskleiden.

Während dieser Prozedur runzelte er ärgerlich die Stirn wegen der Anstrengung, die es ihn kostete, sich den Schlafrock und die Beinkleider ausziehen zu lassen, ließ sich, als alles fertig war, schwerfällig auf das Bett sinken und schien etwas zu überlegen, während er verächtlich auf seine gelben, dürren Beine blickte. Aber er überlegte nichts, sondern zögerte nur angesichts der ihm bevorstehenden Mühe, diese Beine aufzuheben und sich im Bett zurechtzulegen. »Ach, wie schwer das alles ist! Ach, wenn diese Mühen doch bald zu Ende wären und ihr mich davonließet!« dachte er. Die Lippen zusammenpressend machte er endlich diese Anstrengung und legte sich hin. Aber kaum lag er, als auf einmal das ganze Bett unter ihm im Takt vorwärts und rückwärts zu gehen anfing, gleichsam schweratmend und stoßend. Das begegnete ihm fast jede Nacht. Er machte die Augen, die er soeben geschlossen hatte, wieder auf.

»Keine Ruhe! Verdammte Bande!« brummte er im Zorn gegen irgend jemand. »Ja, ja, es war noch etwas Wichtiges; etwas sehr Wichtiges hatte ich mir für die Nacht im Bett verspart. Die Riegel? Nein, von denen habe ich gesagt. Nein, es war etwas anderes, etwas im Salon. Prinzessin Marja hatte irgendwelchen Unsinn geschwatzt. Dessalles, dieser Dummkopf, hatte etwas gesagt. Etwas in der Tasche … Ich komme nicht darauf.«

»Tichon, wovon haben wir bei Tisch gesprochen?«

»Vom Fürsten Andrei …«

»Schweig! schweig!« Der Fürst klatschte mit der Hand auf den Tisch. »Ja, ich weiß, es war da ein Brief vom Fürsten Andrei. Prinzessin Marja las ihn vor. Dessalles sagte etwas von Witebsk. Jetzt will ich ihn lesen.«

Er ließ sich den Brief aus seiner Tasche holen, das Tischchen mit der Limonade und der nach Art eines Taues gewundenen Wachskerze an das Bett rücken, setzte die Brille auf und begann zu lesen. Jetzt erst, in der Stille der Nacht, bei dem schwachen Licht, das unter dem grünen Lampenschirm hervordrang, verstand er beim Lesen des Briefes zum erstenmal dessen ernsten Sinn.

»Die Franzosen in Witebsk; in vier Tagesmärschen können sie bei Smolensk sein; vielleicht sind sie schon da. Tichon!« Tichon sprang auf. »Nein, es ist nicht nötig, nicht nötig!« rief der Alte.

Er schob den Brief unter den Leuchter und schloß die Augen. Und vor seinem geistigen Blick stand die Donau, der helle Mittag, das Schilfdickicht, das russische Lager, und er, ein junger General, ohne eine einzige Falte im Gesicht, frisch, heiter und rotwangig, tritt in das bunte Zelt Potjomkins, und ein brennendes Gefühl des Neides gegen den Günstling erfüllt ihn jetzt noch in gleicher Stärke wie damals. Und er erinnert sich an jedes Wort, das damals bei der ersten Begegnung mit Potjomkin gesprochen wurde. Und er glaubt, eine kleine, dicke, üppige Frau mit gelblichem, fettem Gesicht vor sich zu sehen, die Kaiserin; alles ist ihm gegenwärtig: ihr Lächeln, ihre Worte, als sie ihn zum erstenmal in liebenswürdiger Art empfing. Und er erinnert sich an das Gesicht derselben Kaiserin auf dem Katafalk und an den Streit, den er damals an ihrem Sarg mit Subow hatte um das Recht, herantreten und ihr die Hand küssen zu dürfen.

»Ach, könnte ich nur recht schnell, recht schnell in jene Zeiten zurückkehren, und wäre nur die ganze Gegenwart recht bald, recht bald zu Ende! Wenn sie mich nur alle in Ruhe ließen!«

IV


Lysyje-Gory, das Gut des Fürsten Nikolai Andrejewitsch Bolkonski, lag sechzig Werst von Smolensk entfernt, ostwärts, und drei Werst von der Straße nach Moskau.

An dem Abend, an welchem der Fürst dem Verwalter Alpatytsch seine Aufträge erteilte, ließ Dessalles die Prinzessin Marja bitten, ihn zu empfangen, und teilte ihr mit, da der Fürst sich nicht ganz wohl befinde und keine Maßnahmen für seine Sicherheit treffe, aus dem Brief des Fürsten Andrei sich aber ergebe, daß ein Verbleiben in Lysyje-Gory nicht ungefährlich sei, so rate er ihr ganz ergebenst, selbst einen durch Alpatytsch zu befördernden Brief an den Gouverneur in Smolensk zu schreiben, mit der Bitte, sie von dem Stand der Dinge und dem Maß der Gefahr, welcher Lysyje-Gory ausgesetzt sei, in Kenntnis zu setzen. Den Brief an den Gouverneur hatte Dessalles für die Prinzessin Marja schon selbst geschrieben; sie unterschrieb ihn, und er wurde dem Verwalter übergeben mit der Weisung, ihn dem Gouverneur einzuhändigen und, wenn Gefahr bestehe, so schnell wie möglich zurückzukehren.

Nachdem Alpatytsch alle Aufträge empfangen hatte, trat er, von seinen Hausleuten begleitet, auf dem Kopf einen weißen Kastorhut, ein Geschenk des Fürsten, in der Hand so wie der Fürst einen Stock, aus dem Haus, um in den mit einem ledernen Verdeck versehenen und mit drei rehbraunen Pferden bespannten Reisewagen zu steigen.

Der Klöppel des Glöckchens war festgebunden und die Schellen mit Papier umwickelt. Der Fürst erlaubte niemandem in Lysyje-Gory mit Geläut zu fahren. Aber Alpatytsch hatte bei einer weiteren Fahrt an dem Glöckchen und den Schellen sein Vergnügen. Seine Untergebenen, der Dorfschreiber, der Buchführer, die Leuteköchin, die herrschaftliche Köchin, zwei alte Frauen, der Laufbursche, die Kutscher und mehrere andere Gutsleute, begleiteten ihn hinaus.

Seine Tochter packte mehrere Federkissen mit Baumwollbezug in den Wagen, zum Anlehnen und zum Daraufsitzen. Seine alte Schwägerin schob verstohlen ein Bündelchen hinein. Einer der Kutscher faßte ihn unter den Arm und half ihm beim Einsteigen.

»Na, na, Weiberbagage! Diese Weiber, diese Weiber!« brummte Alpatytsch schnaubend und hastig vor sich hin, geradeso wie der Fürst zu reden pflegte, und setzte sich in den Wagen.

Nachdem Alpatytsch dem Dorfschreiber die letzten Weisungen betreffs der auszuführenden Arbeiten erteilt hatte (hierbei kopierte er den Fürsten nicht mehr), nahm er den Hut von seinem kahlen Kopf und bekreuzte sich dreimal.

»Wenn da etwas los ist … dann komm doch gleich zurück, Jakow Alpatytsch; um Christi willen, denk an uns und habe mit uns Mitleid!« rief seine Frau, die damit auf die Gerüchte über den Gang des Krieges und die Nähe des Feindes hindeutete.

»Weiber, Weiber, Weiberbagage!« murmelte Alpatytsch und fuhr los. Er betrachtete rings um sich die Felder, die teils mit schon gelb gewordenem Roggen, teils mit dichtem, noch grünem Hafer bestanden waren, teils noch schwarz dalagen, da das zweite Umpflügen eben erst begonnen hatte.

Alpatytsch blickte während des Fahrens nach den langen Streifen der Roggenfelder hin, auf denen man an einzelnen Stellen schon angefangen hatte zu schneiden, freute sich über die außerordentlich gute Ernte an Sommergetreide in diesem Jahr, machte seine wirtschaftlichen Berechnungen über Aussaat und Ernte und rekapitulierte die Aufträge des Fürsten, um nur nichts zu vergessen.

Nachdem die Pferde unterwegs zweimal gefüttert waren, kam Alpatytsch am Abend des 4. August in der Stadt an.

Auf dem Weg war er Wagenzügen und Truppen begegnet und hatte andere überholt. Als er sich Smolensk näherte, hatte er in der Ferne schießen gehört, sich aber darüber nicht weiter aufgeregt. Am stärksten hatte es ihn befremdet, daß er in der Nähe von Smolensk ein prächtiges Haferfeld sah, das Soldaten abmähten, offenbar als Futter, und auf dem Truppen lagerten; durch diesen Umstand fühlte sich Alpatytsch befremdet, vergaß ihn aber doch bald wieder, da er an seine eigenen Angelegenheiten zu denken hatte.

Alle Interessen in Alpatytschs Leben hatten sich schon seit mehr als dreißig Jahren ausschließlich innerhalb des Willensbereiches des Fürsten bewegt, und aus diesem Kreis war er nie hinausgekommen. Alles, was sich nicht auf die Erfüllung der Befehle des Fürsten bezog, hatte für Alpatytsch kein Interesse, ja existierte für ihn überhaupt nicht.

Nachdem Alpatytsch am 4. August abends in Smolensk angekommen war, fuhr er jenseits des Dnjepr in der Gatschenskaja-Vorstadt bei der Herberge des Gastwirtes Ferapontow vor, bei dem er schon seit vielen Jahren einzukehren gewohnt war. Ferapontow hatte vor zwölf Jahren durch Alpatytschs freundliche Vermittlung dem Fürsten einen Wald abgekauft, einen Holzhandel begonnen und besaß jetzt in der Gouvernementshauptstadt ein Haus, eine Herberge und einen Mehlladen. Ferapontow war ein dicker Bauer von vierzig Jahren, mit schwarzem Haar, rotem Gesicht, dicken Lippen, dicker, wulstiger Nase und ebensolchen Wulsten über den schwarzen, zusammengezogenen Augenbrauen, und einem dicken Bauch.

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