»Sie kennen Ihn nicht, mein Herr«, erwiderte der Freimaurer, »und daher sind Sie so unglücklich. Sie kennen Ihn nicht, und doch ist Er hier, Er ist in mir, Er ist in meinen Worten, Er ist in dir und sogar in den frevelhaften Äußerungen, die du soeben tatest!« Seine Stimme hatte einen strengen Klang und bebte.

Er schwieg einen Augenblick und seufzte, sichtlich bemüht, seine Ruhe wiederzugewinnen.

»Wenn Er nicht wäre«, fuhr er dann leise fort, »so würde ich mit Ihnen nicht von Ihm haben reden können, mein Herr. Wovon und von wem haben wir geredet? Wessen Dasein hast du bestritten?« sagte er plötzlich mit schwärmerischem Ernst und gewaltigem Nachdruck. »Wer könnte Ihn erdenken, wenn Er nicht existierte? Woher rührt in deiner Seele die Ahnung, daß es ein solches unbegreifliches Wesen gibt? Wie bist du und die ganze Welt überhaupt zu der Vorstellung von der Existenz eines solchen unbegreiflichen Wesens gekommen, eines allmächtigen, ewigen, in allen seinen Eigenschaften unendlichen Wesens …?«

Er hielt inne und schwieg lange. Pierre konnte und wollte dieses Stillschweigen nicht unterbrechen.

»Er ist; aber Ihn zu begreifen, ist schwer«, begann der Freimaurer von neuem; er blickte jetzt nicht Pierre ins Gesicht, sondern vor sich hin, und seine alten Hände, die sich vor innerer Erregung nicht ruhig halten konnten, schlugen die Blätter des Buches um. »Wenn es sich um einen Menschen handelte, dessen Existenz du in Zweifel zögest, so würde ich diesen Menschen zu dir führen, ihn an der Hand fassen und dir zeigen. Aber wie kann ich, ein armseliger Sterblicher, Seine ganze Allmacht, Seine ganze Ewigkeit und Seine ganze Güte jemandem zeigen, der blind ist oder die Augen schließt, um Ihn nicht zu sehen und nicht zu begreifen, und um sich nicht der eigenen Schändlichkeit und Lasterhaftigkeit in ihrem ganzen Umfang bewußt zu werden?« Er machte eine Pause. »Wer bist du? Was bist du? Du bildest dir ein, weise zu sein, weil du jene frevelhaften Äußerungen hast tun können«, sagte er mit finsterem, verächtlichem Lächeln; »aber in Wirklichkeit bist du einfältiger und unverständiger als ein kleines Kind, das mit den Teilen einer kunstvoll gearbeiteten Uhr spielt und sich erdreistet zu sagen, da es die Bestimmung dieser Uhr nicht verstehe, so könne es auch nicht an einen Meister glauben, der sie gemacht habe. Ja, Ihn zu erkennen ist schwer. Jahrtausendelang, vom Urvater Adam bis auf unsere Zeit, arbeiten wir daran, Ihn zu erkennen, und sind noch immer unendlich weit von der Erreichung dieses Zieles entfernt; aber in Seiner Unbegreifbarkeit sehen wir nur unsere Schwachheit und Seine Erhabenheit.«

Mit bebendem Herzen und leuchtenden Augen blickte Pierre dem Freimaurer ins Gesicht und hörte ihm zu; er unterbrach ihn nicht und fragte ihn nicht; aber er glaubte mit ganzer Seele das, was ihm dieser fremde Mann sagte. Glaubte er nun den Vernunftbeweisen, die in den Worten des Freimaurers enthalten waren, oder glaubte er, wie es Kinder tun, dem Ton der festen Überzeugung, dem herzlichen Klang seiner Rede, dem Zittern der Stimme, das ihn mitunter beinahe am Weitersprechen hinderte, oder diesen blitzenden Greisenaugen, die in derselben unwandelbaren Überzeugung alt geworden waren, oder dieser Ruhe, dieser Festigkeit, diesem Bewußtsein der eigenen Bestimmung, Eigenschaften, die aus dem ganzen Wesen des Freimaurers hervorleuchteten und auf Pierre im Gegensatz zu seiner eigenen Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit einen besonders imponierenden Eindruck machten; jedenfalls hegte er von ganzem Herzen den Wunsch, zu glauben, und empfand ein freudiges Gefühl der Beruhigung, der geistigen Wiedergeburt und der Rückkehr zum Leben.

»Er wird nicht mit dem Verstand begriffen, sondern durch das Leben«, sagte der Freimaurer.

»Ich verstehe nur nicht …«, erwiderte Pierre, der voll Beklommenheit fühlte, daß ein Zweifel in seiner Seele rege wurde. Er fürchtete, daß die Beweise des Freimaurers sich als unklar und unzulänglich herausstellten und er dann nicht imstande wäre, ihm zu glauben. »Ich verstehe nur nicht«, sagte er, »warum der menschliche Verstand nicht fähig sein soll, zu der Erkenntnis zu gelangen, von der Sie reden.«

Der Freimaurer lächelte in seiner milden, väterlichen Weise.

»Die höchste Weisheit und Wahrheit ist gleichsam eine ganz reine Flüssigkeit, die wir in uns aufzunehmen wünschen«, sagte er. »Wenn ich nun ein unreines Gefäß bin und diese reine Flüssigkeit in mich aufnehme, kann ich dann über ihre Reinheit urteilen? Nur durch innere Reinigung meiner selbst kann ich die aufgenommene Flüssigkeit bis zu einem gewissen Grad rein erhalten.«

»Ja, ja, so ist es«, rief Pierre freudig.

»Die höchste Wahrheit beruht nicht auf dem Verstand allein, nicht auf den weltlichen Wissenschaften, wie Physik, Geschichte, Chemie usw., in welche das Verstandeswissen zerfällt. Die höchste Weisheit ist eine einheitliche. Die höchste Weisheit umfaßt nur eine Wissenschaft, die Wissenschaft des Alls, diejenige Wissenschaft, die den ganzen Weltenbau erklärt und den Platz, den darin der Mensch einnimmt. Um diese Wissenschaft in sich aufzunehmen, ist es notwendig, seinen inneren Menschen zu reinigen und zu erneuern, und darum muß man, ehe man zu wissen versucht, vorher glauben und sich vervollkommnen. Und damit wir diese Ziele erreichen können, ist in unsere Seele ein göttliches Licht gelegt, welches Gewissen genannt wird.«

»Ja, ja«, stimmte Pierre bei.

»Betrachte mit den Augen des Geistes deinen inneren Menschen und frage dich selbst, ob du mit dir zufrieden bist. Was hast du dadurch erreicht, daß du dich durch den Verstand allein führen ließest? Was für ein Mensch bist du? Sie sind jung, mein Herr, Sie sind reich, klug, gebildet. Was haben Sie mit allen diesen Ihnen verliehenen Gütern gemacht? Sind Sie mit sich und mit Ihrem Leben zufrieden?«

»Nein, ich hasse mein Leben«, sprach Pierre mit zusammengezogenen Augenbrauen vor sich hin.

»Du haßt es; so ändere es denn, reinige dich, und in gleichem Maß mit der fortschreitenden Reinigung wirst du die Weisheit erkennen. Werfen Sie einen Blick auf Ihr Leben, mein Herr. Wie haben Sie es verbracht? In tollen Orgien und arger Sittenlosigkeit, indem Sie alles von der Gesellschaft empfingen und ihr nichts zurückgaben. Es ist Ihnen Reichtum zuteil geworden: wie haben Sie ihn benutzt? Was haben Sie für Ihren Nächsten getan? Haben Sie an die vielen Tausende Ihrer Knechte gedacht, ihnen leiblich und geistig geholfen? Nein. Sie haben den Ertrag ihrer Arbeit dazu benutzt, ein ausschweifendes Leben zu führen. Das ist’s, was Sie getan haben. Haben Sie sich eine Stelle im Staatsdienst gesucht, wo Sie Ihrem Nächsten Nutzen bringen könnten? Nein. Sie haben Ihr Leben in Müßiggang hingebracht. Dann haben Sie geheiratet, mein Herr; Sie haben die Verantwortung auf sich genommen, ein junges Weib zu leiten; und was haben Sie getan? Sie haben ihr nicht geholfen, mein Herr, den Weg der Wahrheit zu finden, sondern haben sie in den Abgrund der Lüge und des Unglücks hinabgestürzt. Es hat Sie ein Mensch beleidigt, und Sie haben ihn schwer verwundet. Und da sagen Sie nun, daß Sie Gott nicht kennen, und daß Sie Ihr Leben hassen! Dabei ist nichts verwunderlich, mein Herr!«

Nach diesen Worten legte sich der Freimaurer, wie von dem langen Reden ermüdet, wieder an die Sofalehne zurück und schloß die Augen. Pierre betrachtete sein ernstes, unbewegliches, altes, fast leichenartiges Gesicht und bewegte lautlos die Lippen. Er wollte sagen: »Ja, mein Leben ist ein schändliches, träges, sittenloses gewesen«; aber er wagte nicht, das Stillschweigen zu unterbrechen.

Der Freimaurer hustete heiser und in greisenhafter Art und rief seinen Diener.

»Wie steht’s mit Pferden?« fragte er, ohne Pierre anzusehen.

»Es sind Relaispferde gebracht worden«, antwortete der Diener. »Aber wollen Sie sich nicht noch ein Weilchen erholen?«

»Nein, laß anspannen.«

»Er wird doch nicht wegfahren und mich hier alleinlassen, ohne seine Auseinandersetzung völlig zu Ende geführt und mir Hilfe zugesagt zu haben?« dachte Pierre; er stand auf und begann mit gesenktem Kopf, ab und zu nach dem Freimaurer hinblickend, im Zimmer hin und her zu gehen. »Ja, ich habe darüber nicht nachgedacht; aber ich habe in der Tat ein verachtungswürdiges, ausschweifendes Leben geführt. Jedoch gern habe ich dieses Leben nicht gehabt, und ich habe eigentlich nicht so leben wollen«, dachte er. »Aber dieser Mann kennt die Wahrheit, und wenn er wollte, könnte er sie mir enthüllen.«

Pierre wollte dies dem Freimaurer sagen, wagte es aber nicht. Der Reisende packte mit seinen alten Händen, denen diese Tätigkeit offenbar geläufig war, seine Sachen zusammen und knöpfte seinen Schafspelz zu. Als er damit fertig war, wandte er sich an Besuchow und sagte zu ihm in gleichgültig höflichem Ton:

»Wohin reisen Sie jetzt, mein Herr?«

»Ich …? Ich fahre nach Petersburg«, antwortete Pierre; seine Stimme klang kindlich unsicher. »Ich danke Ihnen. Ich bin in allen Stücken Ihrer Ansicht. Aber glauben Sie nicht, daß ich ein so schlechter Mensch bin. Ich wünsche von ganzer Seele, so zu sein, wie ich nach Ihrer Weisung sein soll. Aber ich habe bisher bei niemand Beihilfe dazu gefunden … Übrigens bin ich selbst in erster Linie daran schuld. Helfen Sie mir; unterweisen Sie mich; und vielleicht werde ich …«

Pierre konnte nicht weitersprechen; es folgten nur unartikulierte Töne der Nase, und er wandte sich ab.

Der Freimaurer schwieg lange und schien etwas zu überlegen.

»Volle Hilfe kann nur Gott gewähren«, sagte er dann; »aber dasjenige Maß von Hilfe, welches unser Orden zu erweisen vermag, wird er Ihnen zukommen lassen, mein Herr. Sie fahren nach Petersburg; übergeben Sie dies dem Grafen Willarski.« (Er zog ein Taschenbuch heraus und schrieb einige Worte auf ein großes, vierfach zusammengefaltetes Blatt Papier.) »Gestatten Sie mir, Ihnen noch einen Rat zu geben. Wenn Sie nach der Residenz kommen, so widmen Sie die erste Zeit der Einsamkeit und der Selbstprüfung, und begeben Sie sich nicht auf Ihre früheren Lebenswege. Und nun wünsche ich Ihnen glückliche Reise, mein Herr«, schloß er, da er bemerkte, daß sein Diener ins Zimmer trat, »und gutes Gelingen.«

Der Reisende war, wie Pierre aus dem Buch des Postmeisters ersah, Osip Alexejewitsch Basdjejew, einer der bekanntesten Freimaurer und Martinisten, noch aus der Zeit Nowikows her. Noch lange nach der Abreise desselben ging Pierre in dem Passagierzimmer auf und ab: er legte sich nicht schlafen, er fragte nicht nach Pferden, er überdachte seine lasterhafte Vergangenheit, und von dem Gedanken an seine bevorstehende geistige Wiedergeburt begeistert, malte er sich seine glückselige, vorwurfsfreie, tugendhafte Zukunft aus, deren Herbeiführung ihm so leicht schien. Er war seiner Anschauung nach nur deshalb lasterhaft gewesen, weil er gewissermaßen zufällig vergessen gehabt hatte, wie gut es war, tugendhaft zu sein. Von den früheren Zweifeln war in seiner Seele auch nicht die Spur zurückgeblieben. Er glaubte fest an die Möglichkeit eines Bundes, in welchem sich Menschen mit der Absicht vereinigten, sich gegenseitig auf dem Weg der Tugend zu unterstützen, und als ein solcher Bund erschien ihm der Freimaurerorden.

III


Als Pierre in Petersburg angelangt war, benachrichtigte er niemand von seiner Ankunft, ließ sich nirgends blicken und verbrachte ganze Tage mit der Lektüre des Thomas a Kempis; dieses Buch war ihm von einem unbekannten Absender zugegangen. Wenn Pierre in diesem Buch las, hatte er stets dieselbe Empfindung: er empfand den ihm bisher noch unbekannten Genuß, an die Möglichkeit einer Erreichung der Vollkommenheit und an die Möglichkeit einer werktätigen Bruderliebe unter den Menschen zu glauben; daß dies beides möglich war, dafür hatte ihm Osip Alexejewitsch die Augen geöffnet. Eine Woche nach seiner Ankunft trat eines Abends der junge polnische Graf Willarski, den Pierre aus dem Petersburger gesellschaftlichen Leben obeflächlich kannte, zu ihm ins Zimmer, mit derselben offiziellen, feierlichen Miene, mit welcher vor einiger Zeit Dolochows Sekundant zu ihm gekommen war. Nachdem Willarski sorgfältig die Tür hinter sich zugemacht und sich überzeugt hatte, daß außer Pierre niemand im Zimmer war, wandte er sich zu ihm.

»Ich komme mit einem Auftrag und mit einem Anerbieten zu Ihnen, Graf«, sagte er, ohne sich zu setzen. »Eine in unserer Bruderschaft sehr hochgestellte Persönlichkeit hat Ihre Aufnahme unter Wegfall der üblichen Frist befürwortet und mich ersucht, Ihr Bürge zu sein. Ich halte es für meine heilige Pflicht, den Wunsch dieser Persönlichkeit zu erfüllen. Wünschen Sie unter meiner Bürgschaft in die Bruderschaft der Freimaurer einzutreten?«

Der kühle, ernste Ton dieses Mannes, welchen Pierre fast stets auf Bällen, mit einem liebenswürdigen Lächeln auf den Lippen, in der Gesellschaft der glänzendsten Frauen gesehen hatte, war für Pierre überraschend.

»Ja, es ist mein Wunsch«, antwortete Pierre.

Willarski neigte den Kopf.

»Noch eine Frage, Graf«, fuhr er fort, »auf die ich Sie bitte, mir nicht als künftiger Freimaurer, sondern als Ehrenmann (galant homme) mit aller Aufrichtigkeit zu antworten: haben Sie sich von Ihren früheren Anschauungen befreit, glauben Sie an Gott?«

Pierre dachte nach.

»Ja … ja, ich glaube an Gott«, erwiderte er dann.

»Wenn dem so ist …«, begann Willarski; aber Pierre unterbrach ihn:

»Ja, ich glaube an Gott«, sagte er noch einmal.

»Wenn dem so ist, können wir sogleich hinfahren«, sagte Willarski. »Mein Wagen steht zu Ihren Diensten.«

Auf dem ganzen Weg schwieg Willarski. Auf Pierres Fragen, was er zu tun und wie er zu antworten habe, erwiderte Willarski nur: »Es werden Sie würdigere Brüder, als ich, prüfen; Sie haben weiter nichts zu tun, als die Wahrheit zu sagen.«

Nachdem sie in das Tor eines großen Hauses, wo die Loge ihren Sitz hatte, eingefahren und eine dunkle Treppe hinaufgestiegen waren, traten sie in ein kleines erleuchtetes Vorzimmer, wo sie ohne Beihilfe von Dienerschaft die Pelze ablegten. Aus dem Vorzimmer gingen sie weiter nach einem anderen Zimmer. Ein Mann in sonderbarer Kleidung zeigte sich an der Tür. Willarski trat beim Hereinkommen auf ihn zu, sagte zu ihm etwas auf französisch und ging dann zu einem kleinen Schrank, in welchem Pierre Kleidungsstücke bemerkte, wie er sie vorher noch nie gesehen hatte. Aus diesem Schrank nahm Willarski ein Tuch heraus, legte es Pierre um die Augen und band es hinten mit einem Knoten zusammen, wobei er in schmerzhafter Weise die Haare mit in den Knoten hineinfaßte. Darauf bog er Pierre zu sich heran, küßte ihn, faßte ihn bei der Hand und führte ihn irgendwohin. Die in den Knoten hineingezogenen Haare verursachten Pierre einen starken Schmerz, so daß er unwillkürlich die Stirn runzelte; aber gleichzeitig lächelte er, wie wenn er sich darüber schämte. Seine große Gestalt mit den herunterhängenden Armen, der gerunzelten Stirn und dem lächelnden Mund ging mit unsicheren, schüchternen Schritten hinter Willarski her.

Willarski blieb, nachdem er ihn ungefähr zehn Schritte weit geführt hatte, stehen.

»Was Ihnen jetzt auch begegnen mag«, sagte er, »Sie müssen alles mannhaft ertragen, wenn Sie den festen Entschluß gefaßt haben, in unsere Bruderschaft einzutreten.« (Pierre antwortete bejahend durch eine Neigung des Kopfes.) »Wenn Sie an die Tür klopfen hören, so nehmen Sie sich das Tuch vor den Augen ab«, fügte Willarski hinzu. »Ich wünsche Ihnen Mannhaftigkeit und gutes Gelingen.« Er drückte Pierre die Hand und ging aus dem Zimmer.

Allein geblieben, fuhr Pierre fort in derselben Weise zu lächeln. Ein paarmal bewegte er die Schultern und hob eine Hand zu dem Tuch auf, als ob er es abnehmen wollte, ließ sie dann aber sogleich wieder sinken. Die fünf Minuten, die er so mit verbundenen Augen dastand, erschienen ihm wie eine Stunde. Die Arme schwollen ihm an, die Beine knickten ihm ein; es kam ihm vor, als sei er sehr müde. Er machte die kompliziertesten, verschiedenartigsten Empfindungen durch. Er fürchtete sich vor dem, was mit ihm vorgehen werde, und er fürchtete sich noch mehr, diese Furcht sichtbar werden zu lassen. Er war neugierig, zu erfahren, was man mit ihm vornehmen, was man ihm enthüllen werde; aber vor allem freute er sich, daß nun der Augenblick gekommen war, wo er endlich den Weg zur geistigen Wiedergeburt und zu einem werktätigen, tugendhaften Leben betreten sollte, den Weg zu den Zielen, die seit seinem Zusammentreffen mit Osip Alexejewitsch den Gegenstand seiner schwärmerischen Gedanken bildeten. Da hörte er starke Schläge gegen die Tür. Er nahm die Binde ab und blickte um sich. Im Zimmer herrschte tiefe Finsternis; nur an einer Stelle brannte ein Lämpchen in etwas Weißem. Pierre trat näher hinzu und sah, daß das Lämpchen auf einem schwarzen Tisch stand, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Dieses Buch waren die Evangelien, und das Weiße, worin das Lämpchen brannte, war ein Menschenschädel mit seinen Höhlungen und Zähnen. Pierre las die ersten Worte des Johanneischen Evangeliums: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott«, ging dann um den Tisch herum und erblickte einen großen, offenen, mit irgend etwas angefüllten Kasten. Dieser Kasten war ein Sarg mit Menschenknochen. Das, was er sah, setzte ihn ganz und gar nicht in Erstaunen. Da er in ein völlig neues, von dem früheren ganz verschiedenes Leben einzutreten hoffte, so war er auf lauter ungewöhnliche Dinge gefaßt, auf noch seltsamere als die, welche er jetzt zu sehen bekam. Der Schädel, der Sarg, das Evangelienbuch – es war ihm, als habe er das alles, ja noch weit Stärkeres erwartet. In dem Bemühen, ein Gefühl der Rührung in seiner Seele hervorzurufen, blickte er um sich. »Gott, der Tod, die Liebe, die Verbrüderung aller Menschen«, sagte er bei sich selbst und verband mit diesen Worten unklare, aber frohe und freudige Vorstellungen. Die Tür öffnete sich, und es trat jemand ein.

Pierre erkannte bei dem schwachen Licht, an das sein Auge sich bereits einigermaßen gewöhnt hatte, daß der Eingetretene ein Mann von kleiner Statur war. An der Art, wie er zuerst stehenblieb, war zu merken, daß er vom Hellen ins Dunkle kam; dann näherte er sich mit vorsichtigen Schritten dem Tisch und legte seine kleinen, mit ledernen Handschuhen bekleideten Hände darauf. Dieser Mann trug eine weiße Lederschürze, welche ihm die Brust und einen Teil der Beine bedeckte; um den Hals hatte er eine Art Halsband, und aus dem Halsband erhob sich eine hohe, weiße Krause, die sein längliches, von unten her beleuchtetes Gesicht umrahmte.

Bei einem Geräusch, das Pierre verursachte, wandte sich der Eingetretene zu ihm hin und redete ihn an.

»Warum sind Sie hierhergekommen?« fragte er ihn. »Warum sind Sie, der Sie nicht an die Wahrheit des Lichtes glauben und das Licht nicht sehen, warum sind Sie hierhergekommen? Was wollen Sie von uns? Weisheit, Tugend, Erleuchtung?«

In dem Augenblick, wo die Tür aufgegangen und der unbekannte Mann hereingekommen war, hatte Pierre ein Gefühl der Ängstlichkeit und der Andacht empfunden, ähnlich dem, das er als Kind bei der Beichte gehabt hatte: er war überzeugt gewesen, er befinde sich hier Auge in Auge einem Mann gegenüber, der ihm hinsichtlich der äußeren Lebensverhältnisse völlig fremd sei und ihm doch kraft der Verbrüderung der Menschen sehr nahestehe. Aber als er sich mit einem Herzklopfen, das ihm fast den Atem benahm, dem »Redner« (so wurde in der Freimaurerei derjenige Bruder genannt, der den »Suchenden« zum Eintritt in die Bruderschaft vorbereitete) näherte, sah er, daß er einen Bekannten, namens Smoljaninow, vor sich hatte. Und dieser Gedanke, daß der Eingetretene ein Bekannter von ihm sei, war ihm peinlich; nach Pierres Empfindung sollte der Eingetretene ihm lediglich Bruder und Führer zur Tugend sein. Lange Zeit war Pierre nicht imstande, ein Wort herauszubringen, so daß der Redner seine Frage wiederholen mußte.

»Ja, ich … ich … habe das Verlangen nach einer geistigen Wiedergeburt«, brachte er endlich mit Mühe heraus.

»Gut«, erwiderte Smoljaninow und fuhr sogleich fort: »Haben Sie einen Begriff von den Mitteln, durch die unser heiliger Orden Ihnen zur Erreichung Ihres Zieles behilflich sein wird?« Er sprach schnell, aber in ruhigem Ton.

»Ich … ich hoffe … auf Führung … und Hilfe … zur geistigen Wiedergeburt«, antwortete Pierre mit zitternder Stimme und in stockender Rede, was sowohl von seiner Aufregung herrührte als auch von der mangelnden Gewöhnung, über abstrakte Gegenstände russisch zu sprechen.

»Was haben Sie von der Freimaurerei für einen Begriff?«

»Ich stelle mir vor, daß die Freimaurerei eine Verbrüderung und Gleichstellung der Menschen ist und die Tugend zum Ziel hat«, antwortete Pierre, der, je länger er sprach, sich um so mehr darüber schämte, daß seine Worte der Feierlichkeit des Augenblicks so wenig entsprächen. »Ich stelle mir vor …«

»Gut«, unterbrach ihn eilig der Redner, der durch diese Antwort offenbar vollständig befriedigt war. »Haben Sie die Mittel zur Erreichung Ihres Zieles in der Religion gesucht?«

»Nein, ich hielt die Religion nicht für wahr und folgte ihr nicht«, antwortete Pierre so leise, daß der Redner ihn nicht verstand und fragte, was er gesagt habe. »Ich war Atheist«, sagte Pierre.

»Sie suchen die Wahrheit, um ihren Gesetzen im Leben zu folgen; folglich suchen Sie Weisheit und Tugend, nicht wahr?« fragte der Redner nach kurzem Stillschweigen.

»Ja, ja«, erwiderte Pierre.

Der Redner räusperte sich, faltete die behandschuhten Hände über der Brust und begann dann:

»Jetzt muß auch ich Ihnen den Hauptzweck unseres Ordens mitteilen, und wenn dieser Zweck mit dem Ihrigen zusammenfällt, dann werden Sie mit Nutzen in unsere Bruderschaft eintreten. Die erste und hauptsächlichste Aufgabe und zugleich die Grundlage unseres Ordens, auf der er fest ruht und die keine menschliche Gewalt zerstören kann, besteht darin, ein gewisses wichtiges Geheimnis zu bewahren und den Nachkommen zu überliefern, ein Geheimnis, das von den allerältesten Zeiten, ja von dem ersten Menschen, auf uns gekommen ist und von dem vielleicht das Schicksal des Menschengeschlechts abhängt. Aber da dieses Geheimnis von der Art ist, daß niemand es erkennen und von ihm Nutzen ziehen kann, wenn er sich nicht durch langdauernde, sorgsame Läuterung seines eigenen Selbst vorbereitet hat, so kann nicht jeder hoffen, schnell in den Besitz dieses Geheimnisses zu gelangen. Daher besteht unsere zweite Aufgabe darin, unsere Mitglieder nach Möglichkeit vorzubereiten, ihr Herz zu bessern, ihren Verstand zu läutern und zu erleuchten, und zwar mit denjenigen Mitteln, die uns von Männern überliefert sind, welche an der Erforschung jenes Geheimnisses gearbeitet haben, und sie auf diese Art zur Aufnahme desselben fähig zu machen. Dadurch, daß wir unsere Mitglieder läutern und bessern, arbeiten wir drittens auch an der Besserung des ganzen Menschengeschlechts, indem wir ihm in unseren Mitgliedern Beispiele der Ehrenhaftigkeit und Tugend vor Augen stellen, und wir bemühen uns so mit allen Kräften, das Böse, das in der Welt herrscht, zu bekämpfen. Denken Sie darüber nach; ich komme dann wieder zu Ihnen.« Er verließ das Zimmer.

»Das Böse, das in der Welt herrscht, zu bekämpfen …«, wiederholte Pierre für sich und malte sich seine künftige Tätigkeit auf diesem Gebiet aus. Er vergegenwärtigte sich ebensolche Menschen, wie er selbst vor zwei Wochen einer gewesen war, und wandte sich in Gedanken mit einer belehrenden, ermahnenden Ansprache an sie. Er vergegenwärtigte sich lasterhafte, unglückliche Menschen, denen er mit Wort und Tat half; er vergegenwärtigte sich Bedrücker, aus deren Händen er ihre Opfer rettete. Von den drei Aufgaben, die der Redner genannt hatte, hatte die letzte, die Besserung des Menschengeschlechts, für Pierre eine besondere Anziehungskraft. Das wichtige Geheimnis, das der Redner erwähnt hatte, reizte zwar auch seine Neugierde, erschien ihm aber nicht als das Wesentlichste; und auch die zweite Aufgabe, die Läuterung und Besserung des eigenen Selbst, interessierte ihn nur wenig, da er in diesem Augenblick die genußreiche Empfindung hatte, er habe sich von seinen früheren Lastern schon völlig gebessert und sei nun einzig und allein zum Guten bereit.

Nach einer halben Stunde kehrte der Redner zurück, um dem Suchenden die sieben Tugenden mitzuteilen, die, wie er sagte, den sieben Stufen des salomonischen Tempels entsprächen und die ein jeder Freimaurer in sich hegen müsse. Diese Tugenden waren: 1. Verschwiegenheit, Bewahrung des Ordensgeheimnisses, 2. Gehorsam gegenüber den Oberen des Ordens, 3. Sittenreinheit, 4. Menschenliebe, 5. Mannhaftigkeit, 6. Mildtätigkeit und 7. Liebe zum Tod.

»Was die siebente Tugend anlangt«, sagte der Redner, »so müssen Sie sich durch häufiges Nachdenken über den Tod bemühen, dahin zu gelangen, daß er Ihnen nicht mehr als ein furchtbarer Feind, sondern als ein Freund erscheint, der die Seele, nachdem sie sich in den Werken der Tugend abgemüht hat, von diesem elenden Leben befreit und zu der Stätte der Belohnung und der Ruhe führt.«

»Ja, so muß es sein«, dachte Pierre, als nach diesen Worten der Redner wieder von ihm weggegangen war und ihn seinem einsamen Nachdenken überlassen hatte. »So muß es sein; aber ich bin noch so schwach, daß ich mein Leben liebe, dessen Sinn und Bedeutung mir erst jetzt allmählich klarzuwerden beginnt.«

Aber die übrigen fünf Tugenden, auf die sich Pierre, an den Fingern zählend, besinnen konnte, meinte er in seiner Seele vorzufinden: die Mannhaftigkeit und die Mildtätigkeit und die Sittenreinheit und die Menschenliebe und namentlich den Gehorsam, der ihm nicht einmal als eine Tugend, sondern als ein Glück erschien. Er war jetzt sehr froh darüber, dem Zustand unbeschränkter Willensfreiheit entrückt zu werden und sich demjenigen und denen unterzuordnen, die die zweifellose Wahrheit wüßten. Die siebente Tugend hatte Pierre vergessen und konnte sich schlechterdings nicht auf sie besinnen.

Der Redner kehrte zum drittenmal schneller zurück und richtete an Pierre die Frage, ob er immer noch bei seiner Absicht bleibe und entschlossen sei, sich allem zu unterwerfen, was man von ihm verlangen werde.

»Ich bin zu allem bereit«, erwiderte Pierre.

»Ferner muß ich Ihnen noch mitteilen«, sagte der Redner, »daß unser Orden seine Belehrung nicht nur in Worten erteilt, sondern auch durch andere Mittel, die auf denjenigen, der aufrichtig nach Weisheit und Tugend sucht, vielleicht noch stärker wirken als lediglich mündliche Erklärungen. Dieses Gemach hier mit seiner Einrichtung, die Sie sehen, hat Ihrem Herzen, wenn anders dieses aufrichtig sucht, gewiß schon mehr kundgetan, als es bloße Worte vermöchten; und bei weiterer Zulassung werden Ihnen vielleicht noch mehr derartige Offenbarungen zuteil werden. Unser Orden folgt darin dem Vorgang älterer Genossenschaften, die ihre Lehre durch Hieroglyphen mitteilten. Eine Hieroglyphe«, sagte der Redner, »ist ein bildlicher Ausdruck für ein übersinnliches Ding, welches ähnliche Eigenschaften besitzt, wie das bildlich dargestellte.«

Pierre wußte sehr wohl, was Hieroglyphen sind, wagte aber nicht, dies zu sagen. Er hörte dem Redner schweigend zu und merkte an allem, daß nun gleich die Prüfungen beginnen würden.

»Wenn Sie in Ihrem Entschluß fest sind, dann liegt es mir ob, zu Ihrer Einführung zu schreiten«, sagte der Redner und trat dabei näher an Pierre heran. »Zum Zeichen der Mildtätigkeit ersuche ich Sie, mir alle Ihre Wertsachen einzuhändigen.«

»Aber ich habe nichts bei mir«, erwiderte Pierre, welcher glaubte, man verlange von ihm die Herausgabe aller Kostbarkeiten, die er besäße.

»Das, was Sie bei sich haben: Uhr, Geld, Ringe …«

Pierre zog eilig seine Uhr und seine Geldbörse heraus, konnte aber seinen Trauring lange nicht von dem fleischigen Finger herunterbekommen. Als dies erledigt war, sagte der Freimaurer:

»Zum Zeichen des Gehorsams ersuche ich Sie, sich zu entkleiden.«

Nach Anweisung des Redners zog Pierre den Frack, die Weste und den linken Stiefel aus. Der Freimaurer machte ihm das Hemd über der linken Brust auf; dann bückte er sich und zog ihm am linken Bein die Hose bis über das Knie hinauf. Pierre wollte eilig auch am rechten Bein den Stiefel ausziehen und die Hose aufstreifen, um dem fremden Mann diese Mühe zu ersparen; aber der Freimaurer sagte ihm, das sei nicht erforderlich, und gab ihm einen Pantoffel für den linken Fuß. Ein kindliches Lächeln der Scham, des Zweifels und des Spottes über sich selbst trat unwillkürlich auf Pierres Gesicht. So stand er mit herabhängenden Armen und gespreizten Beinen vor dem Bruder Redner da und wartete auf dessen weitere Anweisungen.

»Und endlich ersuche ich Sie, zum Zeichen der Aufrichtigkeit mir Ihre wichtigste Leidenschaft anzugeben«, sagte dieser.

»Meine Leidenschaft! Ich hatte ihrer eine Menge«, erwiderte Pierre.

»Diejenige Leidenschaft, die mehr als andere Sie auf dem Weg zur Tugend straucheln ließ«, sagte der Freimaurer.

Pierre schwieg ein Weilchen und sann nach.

»Wein? Gutes Essen? Müßiggang? Trägheit? Heftigkeit? Bosheit? Weiber?« So musterte er seine Laster, wägte sie in Gedanken gegeneinander ab und wußte nicht, welches er für das schlimmste halten sollte.

»Die Weiber«, sagte er endlich mit leiser, kaum hörbarer Stimme.

Der Freimaurer rührte sich nicht und schwieg nach dieser Antwort lange. Dann ergriff er das auf dem Tisch liegende Tuch, trat zu Pierre heran und verband ihm wieder die Augen.

»Ich ermahne Sie noch ein letztes Mal: achten Sie auf sich selbst mit der größten Aufmerksamkeit, legen Sie Ihren Affekten Fesseln an, und suchen Sie das Glück nicht in den Leidenschaften, sondern in Ihrem Herzen. Die Quelle der Glückseligkeit befindet sich nicht außer uns, sondern in uns.«

Pierre fühlte diese erfrischende Quelle der Glückseligkeit, die seine Seele mit freudiger Rührung erfüllte, bereits in sich.

IV


Bald darauf kam zu Pierre in das dunkle Gemach nicht mehr der bisherige Redner, sondern sein Bürge Willarski, den er an der Stimme erkannte. Auf dessen neue Fragen nach der Festigkeit seines Entschlusses antwortete Pierre: »Ja, ja, ich bin willens«, und ging mit einem strahlenden, kindlichen Lächeln, die fleischige Brust entblößt, ungleichmäßig und schüchtern mit einem gestiefelten und einem stiefellosen Fuß auftretend, vorwärts, während Willarski ihm einen Degen gegen die nackte Brust hielt. Er wurde aus diesem Zimmer durch Korridore geleitet, die sich bald zurück, bald wieder vorwärts wanden, und schließlich an die Tür der Loge geführt. Willarski hustete; es wurde ihm durch freimaurerisches Hammerklopfen geantwortet, und die Tür öffnete sich vor ihnen. Eine Baßstimme (Pierres Augen waren immer noch verbunden) richtete Fragen an ihn: wer er wäre, wo und wann er geboren sei usw. Dann führte man ihn wieder irgendwohin, ohne ihm die Binde von den Augen zu nehmen, und redete während des Gehens zu ihm von den Mühseligkeiten seiner Wanderung, womit allegorisch das Erdendasein bezeichnet wurde, von der heiligen Freundschaft, von dem urewigen Baumeister der Welt und von der Mannhaftigkeit, mit der er Mühen und Gefahren ertragen müsse. Bei dieser Wanderung bemerkte Pierre, daß man ihn bald den »Suchenden«, bald den »Leidenden«, bald den »Verlangenden« nannte und dabei in verschiedener Weise mit Hammern und Degen aufklopfte. Während er zu irgendeinem Gegenstand hingeführt wurde, spürte er, daß unter seinen Führern eine Unordnung und Verwirrung entstand. Er hörte, wie die ihn umgebenden Männer flüsternd miteinander stritten, und wie einer von ihnen darauf bestand, er sollte über einen Teppich geführt werden. Darauf ergriffen sie seine rechte Hand und legten sie auf irgend etwas, mit der linken aber mußte er einen Zirkel gegen seine linke Brust setzen, und so ließen sie ihn den Eid der Treue gegen die Gesetze des Ordens leisten, indem er die Worte wiederholen mußte, die ein anderer vorsprach. Dann wurden Kerzen ausgelöscht und Spiritus angezündet, was Pierre an dem Geruch merkte, und man sagte ihm, er werde nun das kleine Licht sehen. Man nahm ihm die Binde ab, und Pierre sah wie im Traum bei dem schwachen Schein der Spiritusflamme mehrere Männer, die, mit ebensolchen Schürzen wie der Redner angetan, ihm gegenüberstanden und Degen auf seine Brust gerichtet hielten. Unter ihnen stand ein Mann in einem weißen, mit Blut befleckten Hemd. Bei diesem Anblick machte Pierre mit der Brust eine Bewegung nach vorn auf die Degen zu, in dem Wunsch, daß diese in seine Brust eindringen möchten. Aber die Degen wichen von ihm zurück, und man legte ihm sogleich wieder die Binde um.

»Jetzt hast du das kleine Licht gesehen«, hörte er einen der Männer sagen. Dann wurden die Kerzen wieder angezündet; man sagte ihm, er solle nun auch das volle Licht sehen; die Binde wurde ihm wieder abgenommen, und mehr als zehn Stimmen sagten zugleich: »Sic transit gloria mundi.«

Allmählich begann Pierre sich zu sammeln und das Zimmer, in dem er war, und die darin befindlichen Menschen zu betrachten. Um einen langen, mit schwarzem Tuch bedeckten Tisch saßen etwa zwölf Männer, alle in derselben Tracht wie die, die er vorher gesehen hatte. Einige von ihnen kannte Pierre von der Petersburger Gesellschaft her. Auf dem Platz des Vorsitzenden saß ein ihm unbekannter junger Mann, mit einem eigenartigen Kreuz um den Hals. Rechts von diesem saß der italienische Abbé, welchen Pierre vor zwei Jahren bei Anna Pawlowna gesehen hatte. Ferner war da noch ein sehr hochgestellter Beamter und ein Schweizer, der früher im Kuraginschen Haus als Erzieher tätig gewesen war. Alle beobachteten ein feierliches Stillschweigen und warteten auf die Worte des Vorsitzenden, der einen Hammer in der Hand hielt. In eine Wand war ein leuchtender Stern eingefügt; auf der einen Seite des Tisches lag ein kleiner Teppich mit verschiedenen bildlichen Darstellungen; auf der andern stand eine Art Altar mit einem Evangelienbuch und einem Totenkopf. Um den Tisch herum standen sieben große Kandelaber, von der Art, wie sie in Kirchen gebraucht werden. Zwei der Brüder führten Pierre zu dem Altar hin, stellten ihm die Füße so, daß sie einen rechten Winkel bildeten, und forderten ihn auf, sich hinzulegen, wobei sie bemerkten, er werfe sich vor dem Tor des Tempels nieder.

»Er muß vorher eine Kelle bekommen«, sagte flüsternd einer der Brüder.

»Ach, bitte, lassen Sie es nur gut sein!« erwiderte ein andrer.

Pierre gehorchte nicht sogleich, sondern blickte mit seinen kurzsichtigen Augen verlegen um sich, und auf einmal befiel ihn ein Zweifel. »Wo bin ich? Was tue ich? Macht man sich auch nicht über mich lustig? Wird mir auch die Erinnerung daran später nicht beschämend sein?« Aber dieser Zweifel dauerte nur einen Augenblick. Pierre blickte in die ernsten Gesichter der ihn umgebenden Männer, er erinnerte sich an alles, was er hier bereits durchgemacht hatte, und sah ein, daß er nicht auf halbem Weg stehenbleiben konnte. Er erschrak über seinen Zweifel, und eifrig bemüht, in seiner Seele das frühere Gefühl der Rührung wieder wachzurufen, warf er sich vor dem Tor des Tempels nieder. Und wirklich kam jenes Gefühl der Rührung wieder über ihn, sogar in noch höherem Grad als vorher. Nachdem er eine Zeitlang gelegen hatte, hieß man ihn aufstehen, band ihm eine ebensolche weiße Lederschürze um, wie sie die andern trugen, gab ihm eine Kelle in die Hand sowie drei Paar Handschuhe, und dann wandte sich der Meister vom Stuhl zu ihm. Er sagte zu ihm, er solle darauf bedacht sein, die Weiße dieses Schurzfelles, welches symbolisch die Charakterfestigkeit und die Sittenreinheit bedeute, nicht zu beflecken; über die Kelle, deren Bedeutung er nicht erklärte, fügte er hinzu, er solle sich bemühen, mit ihr sein eigenes Herz von Fehlern zu reinigen und das Herz des Nächsten nachsichtig zu glätten und zu besänftigen. Darauf sagte er über das erste Paar Männerhandschuhe, ihre Bedeutung könne Pierre noch nicht verstehen; aber er solle sie aufbewahren; über das zweite Paar, gleichfalls Männerhandschuhe, sagte er, er solle sie zu den Versammlungen anziehen, und endlich sagte er über das dritte Paar, ein Paar Frauenhandschuhe: »Lieber Bruder, auch diese Frauenhandschuhe sind für Sie bestimmt. Geben Sie sie derjenigen Frau, die Sie höher achten werden als alle andern. Durch diese Gabe werden Sie derjenigen, die Sie sich als würdige Freimaurerin erlesen werden, die Versicherung geben, daß Ihr Herz rein und lauter ist.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Aber gib acht, lieber Bruder, daß diese Handschuhe nicht unreine Hände schmücken.« Als der Meister vom Stuhl diese letzten Worte sprach, hatte Pierre die Empfindung, daß der Vorsitzende in Verlegenheit gerate. Pierre selbst wurde noch mehr verlegen, errötete so, daß ihm die Tränen in die Augen kamen, wie Kinder oft erröten, und begann unruhig um sich zu sehen. Es trat ein unbehagliches Schweigen ein.

Dieses Schweigen wurde von einem der Brüder unterbrochen, welcher Pierre zu dem Teppich führte und ihm aus einem Heft eine Erklärung aller darauf dargestellten Figuren vorzulesen begann: der Sonne, des Mondes, des Hammers, des Richtlotes, der Kelle, des rohen und des kubisch behauenen Steines, der Säule, der drei Fenster usw. Dann wurde ihm sein Platz angewiesen, man zeigte ihm die Erkennungszeichen der Loge, sagte ihm das Losungswort für den Eintritt und gestattete ihm schließlich, sich hinzusetzen. Der Meister vom Stuhl las nun die Satzungen vor. Diese Satzungen waren sehr lang, und Pierre war vor Freude, Aufregung und Verlegenheit nicht imstande, das, was vorgelesen wurde, zu verstehen. Nur auf die letzten Sätze der Satzungen gab er besser acht, und diese prägten sich seinem Gedächtnis ein:

»In unsern Tempeln kennen wir keine anderen Verschiedenheiten«, las der Meister vom Stuhl, »als diejenigen, die zwischen der Tugend und dem Laster bestehen. Hüte dich, irgendeinen Unterschied zu machen, der die Gleichheit stören könnte. Eile dem Bruder zu Hilfe, wer er auch sei; belehre den Irrenden; richte den Gefallenen auf, und hege niemals Groll oder Feindschaft gegen einen Bruder. Sei freundlich und liebreich. Erwecke in allen Herzen die Glut der Tugend. Freue dich über das Glück deines Nächsten, und möge niemals Neid diesen reinen Genuß stören. Verzeihe deinem Feind; räche dich nicht an ihm, es sei denn dadurch, daß du ihm Gutes tust. Wenn du so das höchste Gesetz erfüllst, so wirst du etwas von der urzeitlichen Seelengröße wiedergewinnen, die du verloren hast.«

Er schloß, stand auf, umarmte Pierre und küßte ihn. Mit Freudentränen in den Augen blickte Pierre um sich und wußte gar nicht, was er allen antworten sollte, die ihn umringten, ihn beglückwünschten und zum Teil eine frühere Bekanntschaft erneuerten. Aber er machte zwischen alten und neuen Bekannten keinen Unterschied; in allen diesen Männern sah er nur Brüder und brannte vor Ungeduld, sich mit ihnen gemeinsam ans Werk zu machen.

Der Meister vom Stuhl klopfte mit dem Hammer auf; alle setzten sich auf ihre Plätze, und einer von ihnen las eine ermahnende Ansprache über die Notwendigkeit der Demut vor.

Dann forderte der Meister vom Stuhl die Brüder auf, die letzte ihnen obliegende Pflicht zu erfüllen, und der hohe Beamte, der den Titel »Almosensammler« führte, begann bei den Brüdern umherzugehen. Pierre hätte am liebsten in die Almosenliste alles Geld eingezeichnet, das er verfügbar hatte; aber er fürchtete, dadurch Hochmut zu bekunden, und trug nur ungefähr ebensoviel ein wie die andern.

Die Sitzung wurde geschlossen. Als Pierre nach Hause kam, war ihm zumute, als kehrte er von einer weiten Reise zurück, auf der er Jahrzehnte zugebracht, sich völlig verändert und sich seiner ganzen früheren Lebenseinrichtung und allen seinen ehemaligen Gewohnheiten entfremdet hätte.

V


Am Tag nach der Aufnahme in die Loge saß Pierre bei sich zu Hause, las in einem Buch und bemühte sich in den Sinn eines Quadrates einzudringen, bei dem die eine Seite Gott, die zweite das geistige Element, die dritte das leibliche Element und die vierte die Vereinigung der beiden letzteren bedeutete. Ab und zu riß er sich von dem Buch und dem Quadrat los und machte sich in Gedanken einen neuen Lebensplan zurecht. Gestern war ihm in der Loge gesagt worden, ein Gerücht von dem Duell wäre dem Kaiser zu Ohren gekommen, und Pierre würde daher am besten tun, sich aus Petersburg zu entfernen. So hatte denn Pierre den Entschluß gefaßt, auf seine im Süden gelegenen Güter zu gehen und sich dort mit seinen Bauern zu beschäftigen. In freudiger Stimmung dachte er über dieses neue Leben nach, als unerwartet Fürst Wasili ins Zimmer trat.

»Mein Freund, was hast du denn in Moskau angerichtet? Warum hast du dich mit Helene veruneinigt, mein Lieber? Du befindest dich in einem Irrtum«, sagte Fürst Wasili gleich beim Eintritt. »Ich habe alles in Erfahrung gebracht und kann dir ganz zuverlässig sagen, daß Helene dir gegenüber schuldlos ist, wie Christus den Juden gegenüber.«

Pierre wollte antworten; aber der Fürst ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Und warum hast du dich nicht gerade an mich gewendet, wie an einen guten Freund? Ich bin über alles orientiert und habe Verständnis für alles«, sagte er; »du hast dich benommen, wie es sich für einen Mann schickt, der seine Ehre hochhält; vielleicht bist du etwas zu hastig gewesen, aber darüber wollen wir nicht rechten. Mach dir nur das eine klar: in welche Situation bringst du sie und mich in den Augen der ganzen Gesellschaft und« (dies fügte er mit leiserer Stimme hinzu) »sogar des Hofes? Sie wohnt in Moskau und du hier! Überlege doch nur ruhig, mein Lieber« (er ergriff seine Hand und zog sie in seiner wunderlichen Manier nach unten), »hier liegt ein Mißverständnis vor; ich meine, das mußt du selbst fühlen. Schreib gleich mit mir zusammen einen Brief; dann wird sie hierherkommen, und alles wird sich aufklären. Sonst kann, das muß ich dir sagen, die Sache für dich sehr leicht nachteilige Folgen haben, mein lieber Freund.«

Fürst Wasili blickte Pierre ernst und bedeutsam an.

»Ich weiß aus guten Quellen, daß die Kaiserinwitwe an dieser ganzen Angelegenheit lebhaften Anteil nimmt. Du weißt, daß sie gegen Helene sehr gnädig gesinnt ist.«

Pierre hatte schon mehrere Male dazu angesetzt, zu reden; aber einerseits ließ ihn Fürst Wasili nicht dazu kommen, und andererseits hatte Pierre selbst eine gewisse Angst davor, zu seinem Schwiegervater in dem Ton entschiedener Ablehnung und Weigerung zu reden, in welchem zu antworten er doch fest entschlossen war. Außerdem fielen ihm die Worte aus den freimaurerischen Satzungen: »Sei freundlich und liebreich«, ein. Er runzelte die Stirn, errötete, stand auf und setzte sich wieder hin: er kämpfte mit sich selbst, um sich zu dem zu zwingen, was ihm im Leben am allerschwersten wurde: jemandem etwas Unangenehmes ins Gesicht zu sagen, ihm etwas anderes zu sagen, als was der Betreffende erwartete, mochte er sein, wer er wollte. Er war so daran gewöhnt, sich diesem lässigen, selbstbewußten Ton des Fürsten Wasili zu fügen, daß er auch jetzt fürchtete, er werde nicht imstande sein, diesem Ton zu widerstehen; aber er war sich bewußt, daß von dem, was er jetzt sagen werde, sein ganzes weiteres Lebensschicksal abhänge: ob er auf dem alten, bisherigen Weg weiterwandern oder den neuen Weg einschlagen werde, der ihm in so verlockender Weise von den Freimaurern gezeigt war, und auf dem er die Wiedergeburt zu einem neuen Leben bestimmt zu finden hoffte.

»Nun, mein Lieber«, sagte Fürst Wasili scherzend, »du brauchst bloß ja zu mir zu sagen, dann schreibe ich selbst an sie, und wir schlachten ein gemästetes Kalb.«

Aber Fürst Wasili hatte seine scherzhafte Wendung kaum völlig ausgesprochen, als Pierre mit einer Wut im Gesicht, die an seinen Vater erinnerte, ohne dem Fürsten in die Augen zu sehen, flüsternd sagte:

»Fürst, ich habe Sie nicht aufgefordert, zu mir zu kommen; gehen Sie, bitte, gehen Sie!« Er sprang auf und öffnete ihm die Tür. »Gehen Sie!« wiederholte er; er traute sich selbst nicht und war erfreut über den Ausdruck von Verwirrung und Angst, der auf dem Gesicht des Fürsten Wasili sichtbar wurde.

»Was hast du? Bist du krank?«

»Gehen Sie!« sagte Pierre noch einmal mit zitternder Stimme. Und Fürst Wasili sah sich genötigt wegzugehen, ohne irgendwelche Erklärung empfangen zu haben.

Acht Tage darauf fuhr Pierre, nachdem er von seinen neuen Freunden, den Freimaurern, Abschied genommen und ihnen eine größere Geldsumme als Almosen zurückgelassen hatte, auf seine Güter. Seine neuen Brüder gaben ihm Briefe nach Kiew und Odessa an die dortigen Freimaurer mit und versprachen ihm, an ihn zu schreiben und ihn in seiner neuen Tätigkeit zu leiten.

VI


Pierres Affäre mit Dolochow war vertuscht worden, und trotz der damaligen Strenge des Kaisers hinsichtlich der Duelle hatte die Sache weder für die beiden Gegner noch für ihre Sekundanten üble Folgen gehabt. Aber die skandalöse Vorgeschichte des Duells, die durch Pierres Bruch mit seiner Frau eine Bestätigung fand, sprach sich in der Gesellschaft herum. Pierre, den man mit herablassender Gönnermiene angesehen hatte, solange er ein illegitimer Sohn war, und den man umschmeichelt und gepriesen hatte, als man in ihm einen der besten Heiratskandidaten im ganzen russischen Reich sah, hatte schon nach seiner Heirat, als die jungen Mädchen und die Mütter nichts mehr von ihm zu erwarten hatten, in der Meinung der Gesellschaft stark verloren, um so mehr, da er sich weder darauf verstand noch darauf ausging, sich das Wohlwollen der Gesellschaft zu erwerben. Jetzt nun maß man ihm allein alle Schuld an dem Vorgefallenen bei; man sagte, er sei von einer sinnlosen Eifersucht und leide an ähnlichen Anfällen blutdürstiger Raserei wie sein Vater. Und als nach Pierres Abreise Helene nach Petersburg zurückkehrte, wurde sie nicht nur freudig, sondern auch mit einem Beiklang von Ehrerbietung, der ihrem Unglück galt, von allen ihren Bekannten empfangen. Sobald sich das Gespräch auf ihren Mann wandte, nahm Helene jedesmal eine ernste, würdige Miene an, die sie sich mit dem ihr eigenen Takt zurechtgemacht hatte, ohne eigentlich ihre Bedeutung zu verstehen. Diese Miene besagte, daß Helene entschlossen sei, ihr Unglück zu tragen, ohne zu klagen, und daß ihr Mann ein ihr von Gott gesandtes Kreuz sei. Fürst Wasili sprach seine Meinung offener aus. Wenn von Pierre die Rede war, zuckte er die Achseln und sagte, indem er auf die Stirn deutete:

»Halbverrückt! Ich habe es ja immer gesagt.«

»Ich habe es vorhergesagt«, behauptete Anna Pawlowna mit Bezug auf Pierre. »Ich habe es damals gleich gesagt, und früher als alle andern« (sie betonte nachdrücklich ihre Priorität), »daß er ein verdrehter junger Mensch ist, den die zuchtlosen Ideen des Jahrhunderts verdorben haben. Das habe ich schon damals gesagt, als alle noch von ihm entzückt waren und er eben erst aus dem Ausland zurückgekehrt war und einmal bei mir auf einer Abendgesellschaft (besinnen Sie sich wohl noch?) sich als eine Art von Marat aufspielte. Und was ist nun das Ende vom Lied gewesen? Ich war schon damals eine Gegnerin dieser Heirat und habe alles vorhergesagt, was sich dann ereignet hat.«

Anna Pawlowna gab wie früher in ihrem Haus an dienstfreien Tagen Abendgesellschaften, für deren Arrangement sie ein einzigartiges Talent besaß. Denn erstens versammelte sich auf diesen Abendgesellschaften die Creme der wahrhaft guten Gesellschaft, die Quintessenz der Petersburger Intelligenz, wie Anna Pawlowna selbst sagte. Und abgesehen von dieser feinfühligen Auswahl der Gäste zeichneten sich Anna Pawlownas Abendgesellschaften zweitens dadurch aus, daß die Wirtin ihren Gästen dabei jedesmal eine neue, interessante Persönlichkeit wie ein delikates Gericht auftischte, und daß nirgends mit solcher Deutlichkeit und Sicherheit wie auf diesen Abendgesellschaften zum Ausdruck kam, wie die politische Stimmung der loyalen Petersburger Hofgesellschaft war.

Gegen Ende des Jahres 1806, als bereits alle die traurigen Einzelheiten über die Vernichtung der preußischen Armee durch Napoleon bei Jena und Auerstedt und über die Übergabe eines großen Teiles der preußischen Festungen bekanntgeworden waren, als unsere Truppen schon in Preußen eingerückt waren und unser zweiter Krieg mit Napoleon begonnen hatte, gab Anna Pawlowna wieder eine Abendgesellschaft in ihrem Haus. Die Creme der wahrhaft guten Gesellschaft bestand an diesem Abend aus der bezaubernden, unglücklichen, von ihrem Mann verlassenen Helene, aus Mortemart, aus dem entzückenden Fürsten Ippolit, der soeben aus Wien angekommen war, aus zwei Diplomaten, der lieben Tante, einem jungen Mann, dem im Salon die ziemlich vage Bezeichnung: »ein Mann von großen Verdiensten« zuteil wurde, einer neu ernannten Hofdame nebst ihrer Mutter und aus einigen anderen minder bedeutenden Persönlichkeiten.

Diejenige Person, welche Anna Pawlowna an diesem Abend ihren Gästen wie eine neue Delikatesse vorsetzte, war Boris Drubezkoi, der soeben als Kurier von der preußischen Armee eingetroffen war und bei einer sehr hochgestellten Persönlichkeit die Stelle eines Adjutanten bekleidete.

Der Stand des politischen Thermometers, welcher an diesem Abend zur Kenntnis der Gesellschaft gebracht wurde, war folgender: »Wie sehr auch alle Herrscher und Feldherrn Europas zu meiner und unser aller Empörung und Kränkung sich bemühen mögen, diesem Bonaparte Liebenswürdigkeiten zu erweisen, unsere Meinung über Bonaparte kann dadurch nicht verändert werden. Wir werden nicht aufhören, unsere Anschauungen in dieser Hinsicht ungeschminkt zum Ausdruck zu bringen, und können dem König von Preußen und den andern nur sagen: ›Ihr werdet den Schaden davon haben. Tu l’as voulu, George Dandin.‹ Das ist alles, was wir darüber sagen können.« Das war es, was das politische Thermometer auf Anna Pawlownas Abendgesellschaft besagte. Als Boris, der den Gästen vorgestellt werden sollte, in den Salon trat, war schon fast die ganze Gesellschaft beisammen, und das von Anna Pawlowna geleitete Gespräch drehte sich um unsere diplomatischen Beziehungen zu Österreich und um die Aussichten auf ein Bündnis mit diesem Staat.

Boris, der eine elegante Adjutantenuniform trug, in seiner ganzen Erscheinung männlicher geworden war und recht frisch und gesund aussah, trat mit ungezwungenem Benehmen in den Salon, wurde zunächst, wie es sich gehörte, beiseite geführt, um die liebe Tante zu begrüßen, und dann der allgemeinen Gruppe beigesellt.

Anna Pawlowna reichte ihm ihre magere Hand zum Kuß, machte ihn mit einigen ihm noch fremden Personen bekannt und gab ihm bei einer jeden im Flüsterton eine kurze Charakteristik.

»Fürst Ippolit Kuragin, ein allerliebster junger Mann. Herr Krug, Geschäftsträger aus Kopenhagen, ein tiefer Geist.« Und dann schlechthin: »Herr Schitow, ein Mann von großen Verdiensten«, mit Bezug auf den Herrn, dem dieses Etikett verliehen war.

Boris war nach verhältnismäßig kurzer Dienstzeit dank den unablässigen Bemühungen seiner Mutter Anna Michailowna sowie dank seinen eigenen gewandten Manieren und seinem klug zurückhaltenden Wesen bereits in eine sehr vorteilhafte dienstliche Stellung gelangt. Er war Adjutant bei einer hochgestellten Persönlichkeit, hatte einen sehr wichtigen Auftrag nach Preußen gehabt und war soeben von dort als Kurier zurückgekommen. Er hatte sich in jenes ungeschriebene Reglement über die Subordinationsverhältnisse, das ihm in Olmütz so gut gefallen hatte, vollständig eingelebt, jenes Reglement, nach welchem ein Fähnrich sehr viel höher stehen konnte als ein General, und nach welchem zu einer guten Karriere nicht Anstrengung im Dienst, Arbeit, Tapferkeit, Ausdauer erforderlich waren, sondern nur die Kunst, mit denjenigen gut zu verkehren, die die dienstlichen Belohnungen zu verteilen hatten – und er wunderte sich oft selbst über sein schnelles Vorwärtskommen, und wie es möglich war, daß andere sich auf diesen Weg nicht verstanden. Infolge dieser seiner Entdeckung hatten seine ganze Lebensweise, alle seine Beziehungen zu früheren Bekannten, alle seine Pläne für die Zukunft eine vollständige Umänderung erfahren. Er war nicht reich; aber er verwandte sein letztes Geld darauf, sich besser zu kleiden als andere; er hätte lieber auf viele Vergnügungen verzichtet, als daß er es sich erlaubt hätte, auf den Straßen Petersburgs in einem schlechten Wagen zu fahren oder sich in einer alten Uniform sehen zu lassen. Er unterhielt und suchte Verkehr nur mit solchen Leuten, die über ihm standen und ihm daher nützlich sein konnten. Er liebte Petersburg und verachtete Moskau. Die Erinnerung an das Rostowsche Haus und an seine kindische Liebe zu Natascha war ihm peinlich, und seit seiner Abreise zur Armee war er kein einziges Mal mehr bei Rostows gewesen. In Anna Pawlownas Salon anwesend sein zu dürfen, hielt er für eine bedeutende Förderung auf der dienstlichen Laufbahn, und er erfaßte jetzt sofort mit vollem Verständnis die von ihm zu spielende Rolle. Er überließ es zunächst Anna Pawlowna, was an ihm Interessantes sein mochte, zur Reklame für ihn zu benutzen, beobachtete aufmerksam jeden der Anwesenden, schätzte die Vorteile ab, die er von einem jeden haben konnte, und erwog die Möglichkeit, diesem und jenem näherzutreten. Er setzte sich auf den ihm angewiesenen Platz neben die schöne Helene und hörte dem allgemeinen Gespräch zu.

»Wien ist der Ansicht«, sagte der dänische Geschäftsträger, »die Basis des vorgeschlagenen Vertrages sei so unerreichbar, daß man nicht einmal durch eine Reihe der glänzendsten Erfolge würde zu ihr gelangen können, und bezweifelt, daß wir die Mittel hätten, solche Erfolge zu erzielen. Dies ist der authentische Text der Hauptstelle in der Antwort des Wiener Kabinetts.« Und dann fügte er als tiefer Geist mit feinem Lächeln hinzu: »Der Ausdruck des Zweifels kann nur schmeichelhaft sein!«

»Man muß zwischen dem Wiener Kabinett und dem Kaiser von Österreich unterscheiden«, bemerkte Mortemart. »Dem Kaiser von Österreich hat ein solcher Gedanke nie kommen können; es ist nur das Kabinett, das in dieser Weise spricht.«

»Ach, mein lieber Vicomte«, mischte sich hier Anna Pawlowna in das Gespräch. »Europa« (das Gespräch wurde in französischer Sprache geführt, und Anna Pawlowna bediente sich dabei der Aussprache: »l’Urope«, eine besondere Feinheit, die sie meinte sich im Gespräch mit einem Franzosen gestatten zu dürfen), »Europa wird niemals unser aufrichtiger Bundesgenosse sein.«

Hierauf lenkte Anna Pawlowna das Gespräch auf die Mannhaftigkeit und Festigkeit des Königs von Preußen, in der Absicht, Boris zur Beteiligung zu veranlassen.

Boris hatte bisher einem jeden, der sprach, aufmerksam zugehört und gewartet, bis die Reihe an ihn selbst kommen werde, hatte aber dabei gleichzeitig Gelegenheit gefunden, wiederholt seine Nachbarin, die schöne Helene, anzuschauen, welche die Blicke des hübschen jungen Adjutanten mehrmals mit einem Lächeln erwiderte.

Da Anna Pawlowna von der Lage sprach, in der sich Preußen befand, so machte es sich ganz natürlich, daß sie Boris bat, von seiner Reise nach Glogau und von dem Zustand zu erzählen, in dem er das preußische Heer getroffen habe. Boris erzählte in ruhiger Redeweise und in reinem, korrektem Französisch eine Menge interessanter Einzelheiten über die Truppen und über den Hof, vermied es aber während seiner ganzen Erzählung sorgfältig, über die Tatsachen, die er berichtete, seine eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen. Eine Zeitlang bildete Boris den Mittelpunkt für die allgemeine Aufmerksamkeit, und Anna Pawlowna merkte, daß er von allen ihren Gästen mit Vergnügen angenommen wurde. Noch größeres Interesse als alle übrigen legte für die Erzählung des jungen Adjutanten Helene an den Tag. Sie befragte ihn mehrmals nach allerlei Einzelheiten seiner Fahrt und schien sich für die Lage der preußischen Armee außerordentlich zu interessieren. Sobald er mit seinen Mitteilungen zu Ende war, wandte sie sich an ihn mit ihrem gewöhnlichen Lächeln:

»Sie müssen mich unbedingt besuchen«, sagte sie zu ihm in einem Ton, als ob dies aus gewissen Gründen, die er nicht wissen dürfe, schlechterdings notwendig sei. »Dienstag zwischen acht und neun Uhr. Sie werden mir damit eine große Freude bereiten.«

Boris versprach, ihren Wunsch zu erfüllen, und wollte ein Gespräch mit ihr beginnen, als Anna Pawlowna die Tante zum Vorwand benutzte, um ihn wegzurufen: diese wünsche eine Auskunft von ihm zu erhalten.

»Sie kennen ja wohl ihren Mann?« sagte Anna Pawlowna, indem sie die Augen einen Augenblick schloß und mit einer traurigen Gebärde nach Helene hindeutete: »Ach, sie ist eine so unglückliche, so reizende Frau! Reden Sie in ihrer Gegenwart nie von ihm; bitte, ja nicht! Es ist ihr zu schmerzlich.«

VII


Als Boris und Anna Pawlowna wieder zu dem allgemeinen Kreis zurückkehrten, unternahm es dort gerade Fürst Ippolit, etwas zur Unterhaltung beizusteuern.

Er bog sich aus seinem Lehnsessel hinaus nach vorn, sagte: »Le roi de Prusse« und brach dann in ein Gelächter aus. Alle wandten sich zu ihm hin.

»Le roi de Prusse?« wiederholte Ippolit noch einmal im Ton der Frage, lachte wieder auf und setzte sich wieder mit ruhiger, ernster Miene in den Fond des Sessels zurück. Anna Pawlowna wartete ein Weilchen, was er weiter sagen würde; aber da Ippolit absolut nichts hinzufügen zu wollen schien, so fing sie an davon zu sprechen, wie der gottlose Bonaparte in Potsdam den Degen Friedrichs des Großen entwendet habe.

»›Es ist der Degen Friedrichs des Großen, den ich …‹«, begann sie die Worte Napoleons zu zitieren; aber Ippolit unterbrach sie, indem er zum drittenmal sagte:

»Le roi de Prusse …« Und dann, sowie die andern sich zu ihm wandten, machte er eine Miene, als ob er um Entschuldigung bäte, und verstummte wieder.

Anna Pawlowna runzelte die Stirn. Mortemart, Ippolits Freund, fragte ihn in entschiedenem Ton:

»Nun also, was ist denn mit dem König von Preußen?«

Ippolit lachte, schien sich aber seines Lachens selbst zu schämen.

»Ach, gar nichts; ich wollte nur sagen …« (Er beabsichtigte, einen Scherz vorzutragen, den er in Wien gehört hatte und den er den ganzen Abend über anzubringen versucht hatte.) »Ich wollte nur sagen, daß es von uns eine Torheit ist, Krieg zu führen pour le roi de Prusse.«

Boris lächelte vorsichtig, so daß sein Lächeln als Ironie oder als Beifallsäußerung für den Witz aufgefaßt werden konnte, je nach der Aufnahme, die der Witz finden werde. Alle lachten.

»Ihr Wortspiel ist sehr schlecht, zwar sehr geistreich, aber ungerecht«, bemerkte Anna Pawlowna und drohte dem Fürsten Ippolit mit ihrem runzligen Finger. »Wir führen nicht Krieg für den König von Preußen, sondern für die Prinzipien der Ordnung und der Gerechtigkeit. Ach, was dieser Fürst Ippolit für ein böser, böser Mensch ist!«

Das Gespräch verstummte den ganzen Abend hindurch keinen Augenblick und drehte sich vorwiegend um Neuigkeiten der Politik. Gegen Ende des Zusammenseins wurde es ganz besonders lebhaft, als man auf die vom Kaiser verliehenen Belohnungen zu sprechen kam.

»Im vorigen Jahr hat doch N.N. eine Tabatiere mit dem Porträt des Kaisers erhalten«, sagte der Mann mit dem tiefen Geist. »Warum sollte S.S. nicht dieselbe Belohnung bekommen können?«

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte der andere Diplomat. »Eine Tabatiere mit dem Porträt des Kaisers ist eben eine Belohnung, aber nicht eine Auszeichnung; man könnte eher sagen: ein Geschenk.«

»Es hat aber doch Präzedenzfälle gegeben; ich möchte auf Schwarzenberg verweisen.«

»Nein, es ist unmöglich«, erwiderte der andere.

»Wollen wir wetten? Der Großkordon, das wäre ja etwas ganz anderes …«

Als sich alle erhoben, um sich zu empfehlen, wandte sich Helene, die den ganzen Abend nur wenig gesprochen hatte, wieder mit derselben Bitte an Boris; sie forderte ihn freundlich und bedeutsam auf, sie am Dienstag zu besuchen.

»Es liegt mir sehr viel daran«, sagte sie lächelnd und blickte dabei Anna Pawlowna an, und diese unterstützte Helenes Wunsch, wobei sie dasselbe trübe Lächeln zeigte, mit welchem sie ihre Worte zu begleiten pflegte, wenn sie von ihrer hohen Gönnerin sprach.

Es schien, als ob an diesem Abend Helene aus einigen Äußerungen, die Boris über das preußische Heer getan hatte, plötzlich die Notwendigkeit erkannt hätte, mit ihm bekanntzuwerden. Sie versprach ihm gewissermaßen, ihm diese Notwendigkeit zu erklären, wenn er am Dienstag zu ihr käme.

Als jedoch Boris am Dienstag abend in Helenes prächtigem Salon erschien, erhielt er keine deutliche Erklärung darüber, warum sein Besuch eigentlich so notwendig gewesen war. Es waren noch andere Gäste da; die Gräfin redete nur wenig mit ihm, und erst beim Abschied, als er ihr die Hand küßte, flüsterte sie ihm plötzlich, und zwar merkwürdigerweise ohne das gewöhnliche Lächeln, zu: »Kommen Sie morgen abend … zum Diner. Sie müssen kommen … Kommen Sie.«

Während dieses seines Aufenthalts in Petersburg wurde Boris Hausfreund bei der Gräfin Besuchowa.

VIII


Der Krieg war entbrannt, und der Schauplatz desselben näherte sich den russischen Grenzen. Überall hörte man Verwünschungen gegen Bonaparte, den Feind des Menschengeschlechts, ausstoßen; in den Dörfern wurden die Landwehrleute und Rekruten zusammenberufen, und vom Kriegsschauplatz kamen einander widersprechende Nachrichten, die unwahr waren, wie immer, und daher auf die mannigfachste Weise gedeutet wurden.

Das Leben des alten Fürsten Bolkonski, des Fürsten Andrei und der Prinzessin Marja hatte sich seit dem Jahr 1805 in vieler Hinsicht geändert.

Im Jahr 1806 war dem alten Fürsten die Stelle eines Oberkommandierenden der Landwehr übertragen worden, wie solcher Stellen in ganz Rußland acht eingerichtet worden waren. Trotz seiner Altersschwäche, die sich namentlich damals fühlbar gemacht hatte, als er seinen Sohn tot glaubte, hielt sich der alte Fürst nicht für berechtigt, ein Amt abzulehnen, zu dem er durch den Kaiser selbst ernannt worden war, und diese neue Tätigkeit, die sich ihm darbot, diente zu seiner Belebung und Kräftigung. Er war beständig auf Reisen in den drei ihm übertragenen Gouvernements, bewies eine fast pedantische Genauigkeit in der Erfüllung seiner Pflichten, war streng bis zur Grausamkeit gegen seine Untergebenen und kümmerte sich persönlich um die kleinsten Einzelheiten in seinem Amtsbereich. Prinzessin Marja hatte jetzt keine Mathematikstunden mehr bei ihrem Vater; sie kam zwar auch jetzt morgens in sein Zimmer, wenn er zu Hause war, aber in Begleitung der Amme, mit dem kleinen Fürsten Nikolai, wie ihn der Großvater nannte. Der Säugling Fürst Nikolai wohnte mit der Amme und der Kinderfrau Sawischna in den Zimmern der verstorbenen Fürstin, und die Prinzessin Marja verbrachte den größten Teil des Tages in der Kinderstube und suchte, so gut sie es verstand, ihrem kleinen Neffen die Mutter zu ersetzen. Mademoiselle Bourienne liebte, wie es schien, den Knaben ebenfalls leidenschaftlich, und Prinzessin Marja überließ oft, obwohl sie dabei sich selbst beraubte, ihrer Freundin den Genuß, den kleinen Engel, wie sie ihren Neffen nannte, zu warten und mit ihm zu spielen.

In der Kirche von Lysyje-Gory war neben dem Allerheiligsten über der Gruft der kleinen Fürstin eine Kapelle errichtet und in der Kapelle ein in Italien gearbeitetes Marmordenkmal aufgestellt, welches einen Engel darstellte, der seine Flügel auseinanderbreitet und sich anschickt, sich zum Himmel zu erheben. Bei dem Engel war die Oberlippe ein wenig hinaufgezogen, wie wenn er lächeln wollte, und als eines Tages Fürst Andrei und Prinzessin Marja aus der Kapelle herauskamen, gestanden sie einer dem andern, daß das Gesicht dieses Engels sie seltsam an das Gesicht der Verstorbenen erinnerte. Aber was noch seltsamer scheinen konnte, und was Fürst Andrei seiner Schwester nicht sagte, das war, daß in dem Ausdruck, den der Künstler dem Gesicht des Engels zufällig gegeben hatte, Fürst Andrei dieselben sanft vorwurfsvollen Worte zu lesen glaubte, die er damals auf dem Gesicht seiner toten Frau gelesen hatte: »Ach, warum habt ihr das mit mir gemacht …?«

Bald nach der Rückkehr des Fürsten Andrei hatte der alte Fürst seinem Sohn einen Teil des Familienbesitzes als Eigentum zugewiesen: er hatte ihm das große Gut Bogutscharowo gegeben, das etwa vierzig Werst von Lysyje-Gory entfernt lag. Teils wegen der schmerzlichen Erinnerungen, die sich für ihn an Lysyje-Gory knüpften, teils weil Fürst Andrei sich nicht immer imstande fühlte, das eigenartige Wesen seines Vaters zu ertragen, teils auch, weil es ihm ein Bedürfnis war, allein zu sein, benutzte Fürst Andrei Bogutscharowo es als eigentlichen Wohnort, fing dort an zu bauen und verbrachte dort seine meiste Zeit.

Fürst Andrei hatte sich nach der Schlacht bei Austerlitz fest vorgenommen, nie wieder beim Militär zu dienen; als nun der neue Krieg begann und alle eintreten mußten, übernahm er, um vom aktiven Dienst freizukommen, unter seinem Vater als Vorgesetztem eine dienstliche Tätigkeit bei der Einberufung der Landwehr. Der alte Fürst und sein Sohn hatten nach dem Feldzug von 1805 gleichsam miteinander die Rollen vertauscht. Der alte Fürst, durch seine Beschäftigung neu belebt, erwartete von dem jetzigen Feldzug alles Gute; Fürst Andrei dagegen, der an dem Krieg nicht teilnahm und das in der geheimsten Tiefe seiner Seele bedauerte, sah nur Schlimmes voraus.

Am 26. Februar 1807 hatte der alte Fürst eine Dienstreise durch seinen Distrikt angetreten; Fürst Andrei war, wie meist, wenn sein Vater abwesend war, in Lysyje-Gory geblieben. Der kleine Nikolai war schon seit drei Tagen krank. Die Kutscher, die den alten Fürsten gefahren hatten, waren aus der Stadt zurückgekehrt und hatten Briefe und dienstliche Papiere für den Fürsten Andrei mitgebracht.

Da der Kammerdiener mit den Briefen den jungen Fürsten nicht in seinem Zimmer gefunden hatte, so ging er nach den Räumen der Prinzessin Marja; aber auch dort war er nicht. Es wurde dem Kammerdiener gesagt, der Fürst sei in die Kinderstube gegangen.

»Petja ist mit Papieren gekommen; wenn Euer Durchlaucht sie vielleicht in Empfang nehmen wollen …«, sagte eines der Mädchen, die der Kinderfrau zur Hand gingen, zu dem Fürsten Andrei, der mit finsterem Gesicht auf einem kleinen Kinderstuhl saß und mit zitternden Händen Tropfen aus einem Arzneifläschchen in ein zur Hälfte mit Wasser gefülltes Glas tat.

»Was gibt es?« fragte er ärgerlich, und unvorsichtig mit der Hand zuckend, tat er aus dem Fläschchen zu viel Tropfen in das Glas. Er schüttete das Wasser mit der Arznei aus dem Glas auf den Fußboden und verlangte anderes Wasser. Das Mädchen reichte es ihm.

In dem Zimmer stand das Kinderbett, zwei Truhen, zwei Lehnstühle, ein Tisch, ein Kindertisch und ein Kinderstuhl, eben der, auf welchem Fürst Andrei saß. Die Fenster waren verhängt, und auf dem Tisch brannte eine einzige Kerze, vor die ein gebundenes Notenheft gestellt war, so daß der Schein nicht auf das Bettchen fiel.

»Lieber Andrei«, sagte Prinzessin Marja von dem Bettchen her, neben dem sie stand. »Es wäre doch besser, noch zu warten … Nachher …«

»Ach, tu mir den Gefallen und rede nicht immer Dummheiten. Du hast so schon immer zu lange gewartet; da siehst du nun, was beim Warten herauskommt«, antwortete Fürst Andrei ärgerlich flüsternd; er legte es offenbar darauf an, seine Schwester zu kränken.

»Lieber Andrei, es ist wirklich besser, ihn nicht aufzuwecken; er ist eingeschlafen«, sagte die Prinzessin in flehendem Ton.

Fürst Andrei stand auf und näherte sich auf den Zehen, mit dem Glas in der Hand, dem Bettchen.

»Oder sollen wir ihn doch nicht wecken?« sagte er unschlüssig.

»Wie du willst … wirklich … ich meine … aber wie du willst«, antwortete Prinzessin Marja ganz verlegen; es war ihr offenbar peinlich, daß ihre Meinung den Ausschlag geben sollte. Sie machte ihren Bruder durch eine Handbewegung auf das Mädchen aufmerksam, das ihn flüsternd hinausrief.

Es war die zweite Nacht, wo sie beide, mit der Pflege des fiebernden Kindes beschäftigt, nicht geschlafen hatten. Diese ganze Zeit über hatten sie, da sie zu ihrem Hausarzt kein Vertrauen hatten und der aus der Stadt herbeigerufene Doktor noch nicht gekommen war, bald dieses, bald jenes Mittel versucht. Erschöpft von Schlaflosigkeit und von Unruhe gequält, legten sie ihr Leid einer dem andern zur Last, machten sich gegenseitig Vorwürfe und veruneinigten sich.

»Petja ist da mit Briefschaften von dem Herrn Vater«, flüsterte das Mädchen.

Fürst Andrei ging hinaus.

»Was soll ich jetzt damit! Hol’s der Teufel!« brummte er vor sich hin. Er hörte an, was der Vater ihm mündlich bestellen ließ, nahm die ihm überreichten Papiere und Briefe, darunter auch einen Brief seines Vaters, entgegen und kehrte in die Kinderstube zurück.

»Nun, wie ist’s?« fragte Fürst Andrei.

»Immer unverändert; warte doch noch, um Gottes willen. Karl Iwanowitsch sagt immer, Schlaf wäre das beste Mittel«, flüsterte Prinzessin Marja seufzend.

Fürst Andrei trat zu dem Kind und befühlte es. Es glühte.

»Bleibt mir mit eurem Karl Iwanowitsch vom Leib!« Er nahm das Glas, in das er die Tropfen hineingetan hatte, und kam wieder heran.

»Andrei, tu’s nicht!« flehte Prinzessin Marja.

Aber er machte ein finsteres Gesicht, auf welchem Ärger und schweres Leid zugleich zum Ausdruck kamen, und beugte sich mit dem Glas zu dem Kind herunter.

»Doch! Ich will es«, sagte er. »Bitte, gib du es ihm.«

Prinzessin Marja zuckte mit den Achseln, nahm aber gehorsam das Glas, rief die Kinderfrau herzu und begann dem Kind die Arznei einzugeben. Das Kind schrie und röchelte. Fürst Andrei runzelte die Stirn, griff sich an den Kopf, ging aus dem Zimmer und setzte sich im Nebenzimmer auf das Sofa.

Die Briefe hielt er immer noch in der Hand. Mechanisch öffnete er den von seinem Vater und fing an zu lesen. Der alte Fürst schrieb auf blauem Papier mit seiner großen, länglichen Handschrift, unter gelegentlicher Verwendung von Abkürzungen, folgendes:

»Eine in diesem Augenblick sehr erfreuliche Nachricht habe ich durch einen Kurier erhalten, wenn es keine Lüge ist. Bennigsen hat, wie es heißt, bei Eylau über Bonaparte eine vollständige Viktoria davongetragen. In Petersburg jubelt alles, und eine Unmenge von Belohnungen sind an das Heer abgegangen. Wenn der Sieger auch ein Deutscher ist, so freue ich mich doch. Was der Bezirkskommandeur von Kortschewa, ein gewisser Chandrikow, macht, ist mir ganz unverständlich. Bis jetzt sind weder die Ergänzungsmannschaften noch der Proviant von dort eingetroffen. Fahre sofort hin und sage ihm, ich würde ihn einen Kopf kürzer machen lassen, wenn nicht binnen einer Woche alles zur Stelle ist. Über die Schlacht bei Preußisch-Eylau erhalte ich in diesem Augenblick noch einen Brief von Petjenka; er hat daran teilgenommen; es ist alles wahr. Wenn sich nicht Leute einmischen, die sich nicht einzumischen haben, dann schlägt diesen Bonaparte sogar ein Deutscher. Es heißt, daß die Franzosen in starker Auflösung fliehen. Hörst du wohl, fahre unverzüglich nach Kortschewa und richte meinen Auftrag aus!«

Fürst Andrei seufzte und erbrach ein anderes Kuvert. Es war ein Brief von Bilibin, zwei Bogen in kleiner Schrift. Er legte ihn, ohne ihn gelesen zu haben, wieder zusammen und las noch einmal das Schreiben seines Vaters durch, das mit den Worten schloß: »Fahre unverzüglich nach Kortschewa und richte meinen Auftrag aus!«

»Nein, entschuldigen Sie, jetzt fahre ich nicht eher, als bis es mit dem Kind besser geworden ist«, dachte er, trat an die Tür und blickte in die Kinderstube hinein.

Prinzessin Marja stand noch immer am Bett und schaukelte das Kind leise.

»Ja, warte mal«, sagte Fürst Andrei zu sich selbst, indem er sich den Inhalt des väterlichen Briefes ins Gedächtnis zurückrief, »er hatte doch noch etwas Unangenehmes geschrieben; was war es doch? Ja, daß die Unsrigen über Bonaparte gerade jetzt gesiegt haben, wo ich nicht bei der Armee bin. Ja, ja, er neckt mich immer. Na, mag er …« Dann begann er Bilibins französischen Brief zu lesen. Er verstand kaum die Hälfte davon und las nur, um wenigstens für ein Weilchen nicht an das denken zu müssen, was schon so lange den ausschließlichen Gegenstand seiner quälenden Gedanken gebildet hatte.

IX


Bilibin befand sich jetzt in der Stellung eines diplomatischen Beamten beim Hauptquartier der Armee und schilderte in diesem Brief den ganzen Feldzug, zwar in französischer Sprache und mit französischen Scherzen und Phrasen, aber mit jener unerschrockenen Selbstverurteilung und Selbstverspottung, die die Russen vor allen anderen Nationen auszeichnet. Bilibin schrieb, seine diplomatische Schweigepflicht werde ihm zur Pein, und er sei glücklich darüber, daß er an dem Fürsten Andrei einen zuverlässigen Freund habe, dem er brieflich all die Galle ausschütten könne, die sich bei ihm, angesichts der Vorgänge beim Heer, angesammelt habe. Der Brief war schon älteren Datums, vor der Schlacht bei Preußisch-Eylau geschrieben.

»Sie wissen, lieber Fürst«, schrieb Bilibin, »daß ich seit unseren großartigen Erfolgen bei Austerlitz die Hauptquartiere nicht mehr verlasse. Ich habe am Krieg entschieden Geschmack gefunden und habe davon großen Vorteil. Was ich in diesen drei Monaten gesehen habe, ist unglaublich.

Ich beginne ab ovo. Der Feind des Menschengeschlechts greift, wie sie wissen, die Preußen an. Die Preußen sind unsere treuen Verbündeten, die uns in drei Jahren nur dreimal betrogen haben. Wir ergreifen für sie Partei. Aber es stellt sich heraus, daß der Feind des Menschengeschlechts sich um unsere schönen Reden nicht im geringsten kümmert, sondern sich in seiner unmanierlichen, rohen Art auf die Preußen stürzt, ohne ihnen Zeit zu lassen, ihre begonnene Parade zu beendigen, sie im Handumdrehen gründlich zusammenhaut und sich im Potsdamer Schloß einquartiert.

›Ich wünsche auf das lebhafteste‹, schreibt der König von Preußen an Bonaparte, ›daß Euer Majestät in meinem Schloß in einer Ihren Wünschen entsprechenden Weise aufgenommen und behandelt werden, und ich habe mich bemüht, zu diesem Zweck alle Maßregeln zu treffen, die die Umstände mir gestatten. Möchte mir dies gelungen sein!‹ Die preußischen Generale können sich in Höflichkeiten gegen die Franzosen gar nicht genugtun und legen bei der ersten Aufforderung die Waffen nieder.

Der Kommandant von Glogau, der zehntausend Mann zu seiner Verfügung hat, fragt bei dem König von Preußen an, was er tun solle, wenn er aufgefordert werde, sich zu ergeben … All das ist Tatsache.

Um es kurz zu machen: während wir dem Feind durch unsere bloße kriegerische Attitüde zu imponieren gehofft hatten, zeigt es sich, daß wir jetzt allen Ernstes in einen Krieg hineingeraten sind, und was noch schlimmer ist, in einen Krieg an unseren Grenzen avec et pour le roi de Prusse. Unsere Truppen sind schlagfertig; es fehlt uns nur eine Kleinigkeit, nämlich der Oberkommandierende. Da man zu der Überzeugung gelangt ist, daß die Erfolge bei Austerlitz hätten entscheidender sein können, wenn der Oberkommandierende nicht so jung gewesen wäre, so läßt man die achtzigjährigen Generale Revue passieren, und als die Wahl zwischen Prosorowski und Kamenski schwankt, gibt man dem letzteren den Vorzug. Der Oberkommandierende trifft bei uns nach Suworows Manier in einem Bauernschlitten ein und wird mit Freudenrufen und Triumphgeschrei empfangen.

Am 4. kommt der erste Kurier aus Petersburg an. Die Briefsäcke werden in das Arbeitszimmer des Feldmarschalls gebracht, der alles gern selbst macht. Ich werde gerufen, um beim Sortieren der Briefe zu helfen und diejenigen in Empfang zu nehmen, die für die diplomatische Kanzlei bestimmt sind. Der Feldmarschall sieht uns bei unserer Tätigkeit zu und wartet auf die an ihn adressierten Briefschaften. Wir suchen und suchen – es sind keine dabei. Der Feldmarschall wird ungeduldig, macht sich selbst an die Arbeit und findet Briefe des Kaisers an den Grafen T., an den Fürsten W. und an andere Persönlichkeiten. Da bekommt er einen seiner Wutanfälle. Er speit Feuer und Flammen gegen jedermann, bemächtigt sich der Briefe, erbricht sie und liest die des Kaisers, die an andere adressiert sind. ›Ah, so behandelt man mich! Man hat kein Zutrauen zu mir! Ah, es wird befohlen, mich zu beaufsichtigen! Schön, schön! Macht mal alle, daß ihr hinauskommt!‹ Und er setzt sich hin und schreibt den famosen Tagesbefehl an den General Bennigsen:

›Ich bin verwundet und kann nicht reiten, somit auch nicht das Heer kommandieren. Sie haben Ihr geschlagenes Armeekorps nach Pultusk geführt; dort ist es ungedeckt und hat weder Holz noch Furage; daher ist Abhilfe nötig, und da Sie sich gestern schon selbst an den Grafen Buxhöwden gewandt haben, so müssen Sie an den Rückzug nach unserer Grenze denken und diesen heute noch ausführen.‹

›Vom vielen Reiten‹, schreibt er an den Kaiser, ›habe ich mich durchgerieben, was, zu meinen früheren Körperbeschwerden hinzukommend, mich völlig unfähig macht, zu reiten und eine so große Armee zu befehligen, und daher habe ich das Kommando über dieselbe dem rangältesten General nach mir, dem Grafen Buxhöwden, übertragen, den ganzen Stab, und was sonst noch dazugehört, zu ihm geschickt und ihm geraten, wenn das Brot zu Ende sein wird, sich mehr in das Innere Preußens zurückzuziehen, da nur noch für einen Tag Brot übrig ist und bei manchen Regimentern gar keins mehr, wie die Divisionskommandeure Ostermann und Sedmorjezki gemeldet haben; auch bei den Bauern ist alles aufgezehrt. Ich selbst werde bis zu meiner Herstellung im Hospital zu Ostrolenka bleiben. Über dessen Krankenbestand überreiche ich alleruntertänigst einen Rapport und berichte nur noch, daß, wenn die Armee in dem jetzigen Biwak noch vierzehn Tage bleibt, im Frühjahr auch nicht ein Mann mehr gesund sein wird.

Gestatten Sie einem Greis, der sich entehrt fühlt, weil er die große, ruhmvolle Aufgabe nicht hat erfüllen können, zu der er auserwählt war, auf sein Landgut zurückzukehren. Ihre allergnädigste Erlaubnis dazu werde ich hier im Hospital erwarten, um nicht bei der Armee die Rolle eines Schreibers statt der des Oberkommandierenden zu spielen. Mein Ausscheiden aus der Armee wird nicht das geringste Aufsehen machen, da in meiner Person eben nur ein Erblindeter die Armee verläßt. Männer, wie ich einer bin, hat Rußland Tausende.‹

Der Feldmarschall ist aufgebracht über den Kaiser und läßt es uns alle entgelten. Das ist doch durchaus logisch!

Dies ist also der erste Akt der Komödie. Bei den folgenden Akten steigert sich selbstverständlich die Komik und die Spannung. Nach dem Abgang des Feldmarschalls stellt sich heraus, daß wir dem Feind dicht gegenüberstehen und eine Schlacht liefern müssen. Buxhöwden ist nach dem Recht der Anciennität Oberkommandierender; aber der General Bennigsen ist anderer Meinung, um so mehr, da gerade er mit seinem Korps dem Feind am nächsten gegenübersteht und die Gelegenheit benutzen möchte, selbständig eine Schlacht zu liefern. Er liefert sie also.

Dies ist die Schlacht bei Pultusk, die als ein großer Sieg gilt, meiner Ansicht nach aber keineswegs ein solcher ist. Wir Zivilisten haben, wie Sie wissen, eine sehr häßliche Art, darüber zu urteilen, ob eine Schlacht gewonnen oder verloren ist. Wir sagen: ›Wer sich nach der Schlacht zurückgezogen hat, der hat sie verloren‹, und von diesem Standpunkt aus sind wir es, die die Schlacht bei Pultusk verloren haben. Aber obgleich wir uns nach der Schlacht zurückziehen, schicken wir doch nach Petersburg einen Kurier mit einer Siegesnachricht, und der General stellt sich nicht unter Buxhöwdens Kommando, in der Hoffnung, er selbst werde zum Dank für seinen Sieg aus Petersburg den Titel des Oberkommandierenden erhalten. Während dieses Interregnums führen wir eine Reihe außerordentlich interessanter, origineller Manöver aus. Unser Zweck besteht nicht, wie er eigentlich sollte, darin, dem Feind aus dem Weg zu gehen oder ihn anzugreifen, sondern einzig und allein darin, dem General Buxhöwden aus dem Weg zu gehen, der nach dem Recht der Anciennität unser Vorgesetzter sein sollte. Wir verfolgen diesen Zweck mit einer derartigen Energie, daß wir sogar nach Überschreitung eines Flusses, der keine Furten hat, die Brücken verbrennen, um unsern Feind von uns abzuhalten, der zur Zeit nicht Bonaparte, sondern Buxhöwden ist. Einmal fehlte nicht viel daran, daß der General Buxhöwden infolge eines unserer schönen Manöver, das uns vor ihm gerettet hatte, von überlegenen feindlichen Streitkräften angegriffen und überwältigt wurde. Buxhöwden verfolgt uns, wir fliehen vor ihm. Kaum kommt er auf unsere Seite des Flusses herüber, so überschreiten wir den Fluß wieder nach der andern Seite hin. Endlich gelingt es unserem Feind Buxhöwden doch, uns zu fassen, und er greift uns an. Es kommt zu einer scharfen Auseinandersetzung. Die beiden Generale werden heftig gegeneinander. Buxhöwden fordert sogar seinen Gegner zum Duell, und Bennigsen bekommt einen epileptischen Anfall. Aber im kritischen Augenblick bringt der Kurier, der die Nachricht von unserem Sieg bei Pultusk nach Petersburg gebracht hat, uns von dort unsere Ernennung zum Oberkommandierenden zurück, und der erste Feind, Buxhöwden, ist besiegt: nun können wir an den zweiten denken, an Bonaparte. Aber da erhebt sich in diesem Augenblick gar ein dritter Feind gegen uns, das ›rechtgläubige Kriegsheer‹, das unter lautem Geschrei Brot, Fleisch, Zwieback, Heu, und ich weiß nicht was sonst noch alles, verlangt! Die Magazine sind leer, die Wege unpassierbar. Das rechtgläubige Kriegsheer beginnt zu marodieren, und zwar in einer Weise, von der Sie sich sogar nach den Erfahrungen des letzten Feldzuges nicht im entferntesten eine Vorstellung machen können. Die Hälfte aller Regimenter verwandelt sich in unordentliche Haufen, die das Land durchziehen und alles mit Feuer und Schwert verwüsten. Die Einwohner sind vollständig ruiniert, die Hospitäler von Kranken überfüllt, überall herrscht Hungersnot. Zweimal ist das Hauptquartier von marodierenden Truppen angegriffen worden, und der Oberkommandierende selbst hat sich genötigt gesehen, sich ein Bataillon Soldaten geben zu lassen, um sie zu vertreiben. Bei einem dieser Angriffe sind mir mein leerer Koffer und mein Schlafrock geraubt worden. Der Kaiser will allen Divisionskommandeuren die Berechtigung erteilen, Marodeure erschießen zu lassen; aber ich fürchte sehr, daß dann die eine Hälfte des Heeres genötigt sein wird, die andere zu erschießen.«

Fürst Andrei hatte anfangs nur mit den Augen gelesen; aber dann begann das, was er las (obwohl er wußte, wieweit man Bilibin glauben durfte), ihn unwillkürlich mehr und mehr zu interessieren. Als er jedoch bis zu dieser Stelle gelesen hatte, ballte er den Brief zusammen und warf ihn von sich. Er ärgerte sich nicht sowohl über das, was er in dem Brief las, als vielmehr darüber, daß diese Nachrichten von dem dortigen, ihm jetzt fremden Leben imstande waren, ihn zu erregen. Er schloß für einen Moment die Augen, fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als ob er alles Interesse für das Gelesene verscheuchen wollte, und horchte auf das, was in der Kinderstube vorging. Plötzlich glaubte er hinter der Tür einen sonderbaren Laut zu hören. Eine Angst überfiel ihn; er fürchtete, es könne mit dem Kind, während er den Brief las, schlimmer geworden sein. Er näherte sich auf den Zehen der Tür des Kinderzimmers und öffnete sie.

In dem Augenblick, als er eintrat, sah er, daß die Kinderfrau mit erschrockener Miene etwas vor ihm verbarg, und daß Prinzessin Marja nicht mehr bei dem Bettchen stand.

»Lieber Bruder«, hörte er hinter sich Prinzessin Marja flüstern, und er glaubte aus ihrem Ton die Verzweiflung herauszuhören.

Wie das nach langer Schlaflosigkeit und langer Aufregung häufig vorkommt, überfiel ihn eine grundlose Angst; es fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, das Kind sei gestorben. Alles, was er sah und hörte, erschien ihm als eine Bestätigung dieser Befürchtung.

»Es ist alles zu Ende«, dachte er, und kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Fast besinnungslos näherte er sich dem Bettchen, überzeugt, daß er es leer finden werde, daß das, was die Kinderfrau vor ihm versteckte, das tote Kind gewesen sei. Er schlug die Bettvorhänge auseinander, und lange vermochten seine angstvoll umherirrenden Augen nicht, das Kind zu finden. Endlich sah er es: der Knabe, dessen Gesichtsfarbe jetzt gut aussah, hatte sich im Schlaf umhergeworfen und lag nun quer im Bett; sein Kopf war ganz vom Kopfkissen heruntergerutscht; die Lippen bewegten sich saugend und schmatzend; das Kind atmete gleichmäßig.

Bei dem Anblick des Knaben freute sich Fürst Andrei so, als ob er ihn bereits verloren gehabt hätte. Er beugte sich herab und suchte, wie ihn das die Schwester gelehrt hatte, mit den Lippen festzustellen, ob das Kind Hitze habe. Die zarte Stirn war feucht; er berührte den Kopf mit der Hand – auch die Haare waren feucht: so stark schwitzte das Kind. Nicht nur, daß es nicht gestorben war, augenscheinlich war sogar die Krisis jetzt überstanden und das Kind in der Genesung begriffen. Er hätte das kleine, hilflose Wesen am liebsten erfaßt, aufgehoben, an seine Brust gedrückt; aber er wagte nicht, dies zu tun. Er stand da, über das Kind gebeugt, und betrachtete sein Köpfchen, seine Ärmchen und die sich unter der Bettdecke abzeichnenden Beinchen. Ein Geräusch wurde neben ihm hörbar, und er bemerkte einen Schatten innerhalb der Vorhänge. Er sah sich nicht danach um, sondern blickte immer nur nach dem Gesicht des Kindes und horchte auf sein gleichmäßiges Atmen. Der dunkle Schatten war Prinzessin Marja, die mit unhörbaren Schritten zu dem Bettchen herangekommen war, den Vorhang aufgehoben und hinter sich wieder hatte niederfallen lassen. Fürst Andrei erkannte sie, ohne nach ihr hinzusehen, und streckte ihr seine Hand hin. Sie drückte sie ihm herzlich.

»Er schwitzt«, sagte Fürst Andrei.

»Ich kam, um dir das zu sagen«, erwiderte sie.

Das Kind bewegte sich im Schlaf ein wenig, lächelte und rieb sich mit der Stirn am Kopfkissen.

Fürst Andrei sah seine Schwester an. Die leuchtenden Augen der Prinzessin Marja glänzten in dem matten Halbdunkel, das hinter den Vorhängen herrschte, noch heller als sonst, da sie voll glückseliger Tränen standen. Sie beugte sich zu ihrem Bruder hin und küßte ihn, wobei der Vorhang ein wenig an ihr hängenblieb. Sie drohten einer dem andern und blieben noch ein Weilchen in der matten Beleuchtung hinter den Vorhängen stehen, wie wenn sie sich von dieser kleinen Welt gar nicht trennen wollten, wo sie drei von der ganzen Menschheit getrennt und geschieden waren. Fürst Andrei war der erste, der von dem Bett zurücktrat; er brachte dabei an dem Musselinvorhang seine Haare in Unordnung.

»Ja, das ist das einzige, was mir jetzt noch geblieben ist«, sagte er mit einem Seufzer.

X


Bald nach seiner Aufnahme in die Bruderschaft der Freimaurer reiste Pierre mit einem vollgeschriebenen Notizbuch, in welchem er alles verzeichnet hatte, was er auf seinen Gütern vornehmen wollte, nach dem Gouvernement Kiew, wo sich der Hauptteil seiner Bauern befand.

Als Pierre in Kiew angekommen war, berief er alle Verwalter in das Hauptkontor und setzte ihnen seine Absichten und Wünsche auseinander. Er sagte ihnen, es sollten unverzüglich die erforderlichen Maßnahmen zur vollständigen Befreiung der Bauern von der Leibeigenschaft getroffen werden. Bis dahin sollten die Bauern nicht mit Arbeit überlastet werden; Frauen, welche kleine Kinder hätten, dürfe man nicht auf Arbeit schicken; man müsse den Bauern in ihrer Wirtschaft Unterstützung zuteil werden lassen; statt der Körperstrafe solle Ermahnung zur Anwendung kommen; auf jedem Gut müßten Krankenhäuser, Armenhäuser und Schulen errichtet werden. Einige von den Verwaltern (manche waren des Lesens und Schreibens nur notdürftig mächtig) bekamen, als sie das alles hörten, einen großen Schreck, weil sie in der Rede den Sinn zu finden glaubten, daß der junge Graf mit ihrer Verwaltung und der Unterschlagung der Einnahmen unzufrieden sei; andere fanden nach Überwindung der ersten Furcht Pierres lispelnde Aussprache und die neuen Worte, die sie noch nie gehört hatten, lächerlich; wieder anderen machte es einfach Vergnügen, den Herrn reden zu hören; und noch andere, die klügsten, zu denen auch der Oberadministrator gehörte, nahmen aus dieser Rede ab, wie man mit dem Herrn umgehen müsse, um die eigenen Ziele zu erreichen.

Der Oberadministrator brachte seine lebhaften Sympathien für Pierres Absichten zum Ausdruck, bemerkte aber, es sei, auch abgesehen von diesen Umgestaltungen, erforderlich, die gesamten Vermögensangelegenheiten zu prüfen und neu zu ordnen, da sie sich in üblem Zustand befänden.

Trotz des gewaltigen Reichtums des alten Grafen Besuchow hatte Pierre, seitdem er diesen Reichtum geerbt hatte und, wie es hieß, sein Jahreseinkommen fünfhunderttausend Rubel betrug, die Empfindung, daß er lange nicht so reich sei wie damals, als er von dem verstorbenen Grafen seine zehntausend Rubel jährlich erhielt. Sein Budget sah, wenn nur die Hauptrubriken berücksichtigt wurden, nach der undeutlichen Vorstellung, die er davon hatte, etwa folgendermaßen aus: An den Vormundschaftsrat wurden, für alle Güter zusammen, ungefähr achtzigtausend Rubel Hypothekenzinsen bezahlt; gegen dreißigtausend kostete die Unterhaltung des in der Nähe von Moskau und des in Moskau gelegenen Hauses und der Lebensunterhalt der Prinzessinnen; etwa fünfzehntausend gingen für Pensionen und ebensoviel für Wohltätigkeitsveranstaltungen drauf; der Gräfin wurden für ihren Lebensunterhalt hundertfünfzigtausend Rubel zugeschickt; an Zinsen für Schulden wurden gegen siebzigtausend bezahlt; der Bau einer angefangenen Kirche hatte in diesen zwei Jahren etwa zehntausend Rubel gekostet; und was noch übrigblieb, ungefähr hunderttausend Rubel, wurde für dies und das verausgabt, er wußte selbst nicht wofür; ja, er sah sich fast jedes Jahr genötigt, neue Schulden zu machen. Außerdem schrieb ihm der Oberadministrator alljährlich bald von Feuersbrünsten, bald von Mißernten, bald von der Notwendigkeit, die Fabriken und Brennereien umzubauen. So war denn die erste Tätigkeit, der sich Pierre widmen mußte, gerade diejenige, zu der er am allerwenigsten Fähigkeit und Neigung besaß: die geschäftliche Tätigkeit.

Pierre »arbeitete« täglich mit dem Oberadministrator; aber er fühlte, daß seine Tätigkeit die Dinge nicht um einen Schritt vorwärtsbrachte. Er fühlte, daß seine Tätigkeit gleichsam unabhängig neben den Dingen herging, nicht einhakte und die Dinge nicht in Bewegung setzte. Der Oberadministrator stellte seinerseits die Dinge im schlimmsten Licht dar und bewies seinem Herrn die Notwendigkeit, Schulden zu bezahlen und die neuen Arbeiten mit den Kräften der leibeigenen Bauern zu unternehmen, wozu Pierre nicht seine Zustimmung gab. Pierre seinerseits verlangte, daß das Werk der Bauernbefreiung in Angriff genommen werde, worauf der Oberadministrator darlegte, daß vorher notwendigerweise die Hypothekenschulden an den Vormundschaftsrat zurückgezahlt werden müßten und daher eine schnelle Ausführung jenes Planes unmöglich sei.

Daß die Ausführung desselben überhaupt unmöglich sei, das sagte der Oberadministrator nicht; er schlug zur Erreichung dieses Zieles den Verkauf von Wäldern im Gouvernement Kostroma, von Ländereien am unteren Lauf der Wolga, sowie den Verkauf des in der Krim gelegenen Gutes vor. Aber alle diese Operationen waren nach der Darstellung des Oberadministrators mit so verwickelten Rechtsgeschäften: Prozessen, Aufhebung des Sequesters, der Requisitionen, Dispensationen usw., verbunden, daß Pierre ganz konfus wurde und nur zu ihm sagte: »Ja, ja, machen Sie es nur so!«

Pierre besaß nicht jene praktische Veranlagung, die es ihm ermöglicht hätte, selbständig, ohne einen Vermittler, diese Arbeit in Angriff zu nehmen, und darum liebte er diese Arbeit auch nicht und stellte sich nur dem Oberadministrator gegenüber so, als ob er sich dafür interessiere. Der Oberadministrator dagegen suchte dem Grafen gegenüber den Anschein zu erwecken, als ob er persönlich diese Arbeit als eine drückende Last empfinde, aber der Ansicht sei, daß sie seinem Herrn großen Nutzen bringe.

In der großen Stadt fand Pierre allerlei Bekannte wieder, und Unbekannte drängten sich dazu, seine Bekanntschaft zu machen; der neu eingetroffene Krösus, der größte Grundbesitzer des Gouvernements, wurde von allen Seiten freudig bewillkommnet. Auch die Versuchungen in bezug auf Pierres Hauptschwäche, diejenige Schwäche, deren er sich bei seiner Aufnahme in die Loge schuldig bekannt hatte, waren so stark, daß er ihnen nicht widerstehen konnte. So kam es, daß er wieder ganz so lebte wie früher in Petersburg: ganze Tage, Wochen und Monate verbrachte er ohne ernste Tätigkeit, und seine Zeit war mit Abendgesellschaften, Diners, Dejeuners und Bällen so ausgefüllt, daß er gar nicht zur Besinnung kam. Statt des neuen Lebens, das Pierre zu führen gehofft hatte, führte er wieder das frühere, nur in anderer Umgebung.

Pierre gestand sich selbst ein, daß er von den drei Forderungen der Freimaurerei diejenige, die einem jeden Freimaurer vorschrieb, das Musterbild eines sittlichen Wandels zu sein, nicht erfüllte, und daß ihm von den sieben Tugenden zwei vollständig mangelten: Sittenreinheit und Liebe zum Tod. Er tröstete sich damit, daß er dafür eine andere Forderung, an der Verbesserung des Menschengeschlechts zu arbeiten, erfüllte und andere Tugenden besaß: Nächstenliebe und ganz besonders Mildtätigkeit.

Im Frühjahr 1807 beschloß Pierre, wieder nach Petersburg zurückzureisen. Unterwegs beabsichtigte er alle seine Güter zu besuchen und persönlich festzustellen, was von seinen Anordnungen zur Ausführung gelangt war, und in welchem Zustand sich jetzt die vielen Menschen befanden, die ihm von Gott anvertraut waren und die zu beglücken er sich bemühte.

Der Oberadministrator, der der Ansicht war, die Einfälle des jungen Grafen seien sämtlich kaum etwas anderes als Verdrehtheit und ein Schaden sowohl für den Herrn selbst, als auch für ihn, den Oberadministrator, als auch für die Bauern, hatte ihm doch einige Konzessionen gemacht. Er blieb allerdings dabei, die Bauernbefreiung für unmöglich zu erklären; aber er hatte im Hinblick auf die Ankunft des Herrn angeordnet, es solle auf allen Gütern der Bau großer Schulgebäude, Krankenhäuser und Armenhäuser in Angriff genommen werden; auch hatte er überall Empfänge vorbereitet, nicht etwa großartige, feierliche, da er wußte, daß Pierre an solchen kein Gefallen finden würde, sondern einfache, die in religiöser Form die Dankbarkeit der Bauern zum Ausdruck brachten, mit Entgegentragung von Heiligenbildern und Darbringung von Brot und Salz, kurz, Empfänge, von denen er nach seiner Kenntnis des Charakters des Herrn erwarten konnte, daß sie auf diesen wirken und ihn täuschen würden.

Der Frühling des Südens, die bequeme, schnelle Fahrt in einer Wiener Kalesche und das Alleinsein auf der Reise versetzten Pierre in eine frohe, heitere Stimmung. Von den Gütern, auf denen er vorher noch nie gewesen war, erschien ihm eines immer malerischer als das andere; die Bauern machten überall den Eindruck, daß sie sich glücklich fühlten und für die ihnen erwiesenen Wohltaten in rührender Weise dankbar seien. Überall fanden Begrüßungen statt, die zwar Pierre manchmal in Verlegenheit setzten, aber doch in der Tiefe seiner Seele ein Gefühl der Freude erweckten. An einem Ort brachten ihm die Bauern Brot und Salz und ein Bild der Apostel Petrus und Paulus entgegen und baten um die Erlaubnis, zum Zeichen der Liebe und Dankbarkeit für die von ihm empfangenen Wohltaten in der Kirche auf ihre Kosten einen neuen Nebenaltar zu Ehren seiner Schutzheiligen Petrus und Paulus errichten zu dürfen. An einem andern Ort begrüßten ihn Frauen mit Säuglingen auf den Armen und dankten ihm dafür, daß sie nun von den schweren Arbeiten befreit seien. Auf einem dritten Gut empfing ihn der Geistliche mit dem Kreuz, umringt von den Kindern, die er dank der Güte des Grafen jetzt im Lesen, Schreiben und in der Religion unterrichten konnte. Auf allen Gütern erblickte Pierre mit eigenen Augen steinerne, nach einheitlichem Plan teils schon gebaute, teils noch im Bau begriffene Krankenhäuser, Schulen und Armenhäuser, deren Eröffnung für einen nahen Zeitpunkt zu erwarten war. Überall sah Pierre in den von den Verwaltern geführten Büchern, daß die geleisteten Fronarbeiten gegen früher erheblich abgenommen hatten, und bekam für diese Erleichterung rührende Danksagungen von Bauerndeputationen in langen, blauen Kaftanen zu hören.

Nur wußte Pierre nicht, daß in dem Dorf, wo man ihm Brot und Salz dargebracht hatte und einen Altar für Petrus und Paulus bauen wollte, ein lebhafter Handel getrieben und am Peter-und-Pauls-Tag ein Jahrmarkt abgehalten wurde, und daß dieser Altar schon längst von den reichen Bauern des Dorfes errichtet war, von eben jenen Bauern, die vor ihm erschienen, daß aber neun Zehntel der Bauern dieses Dorfes sich in völlig zerrütteten wirtschaftlichen Verhältnissen befanden. Er wußte nicht, daß dieselben Säugerinnen, die auf seine Anordnung nicht mehr zur Fronarbeit geschickt wurden, jetzt in ihren Wohnungen noch schwerere Arbeit zu leisten hatten. Er wußte nicht, daß der Geistliche, der ihm mit dem Kreuz entgegengezogen kam, die Bauern durch Erhebung übermäßiger Gebühren für die Amtshandlungen bedrückte, und daß die um ihn versammelten Schüler ihm von den Eltern nur unter Tränen in seine Schule gegeben und dann für erhebliche Geldsummen wieder freigekauft waren. Er wußte nicht, daß die steinernen, nach einem schönen Plan errichteten Gebäude von seinen eigenen Bauern hergestellt waren und auf diese Art die Fronarbeit vergrößert hatten, deren Abnahme nur auf dem Papier stand. Er wußte nicht, daß dort, wo der Verwalter ihm in seinem Buch zeigte, daß seinem Willen gemäß die Abgaben um ein Drittel ermäßigt seien, die Fronarbeit um die Hälfte vermehrt war. Und daher fühlte sich Pierre von seinen Besuchen auf den Gütern höchst befriedigt und war wieder ganz in die philanthropische Stimmung hineingeraten, in der er Petersburg verlassen hatte, und schrieb an seinen Bruder Lehrmeister, wie er den Meister vom Stuhl nannte, begeisterte Briefe.

»Wie leicht ist es doch, so viel Gutes zu tun; wie geringer Anstrengung bedarf es dazu«, dachte Pierre. »Und wie wenig sind wir auf diese Tätigkeit bedacht!«

Er war glücklich über die ihm bezeigte Dankbarkeit; aber er empfand eine gewisse Beschämung, wenn er sie entgegennahm. Diese Dankbarkeit erweckte in ihm den Gedanken, wieviel mehr er eigentlich noch für diese schlichten, guten Menschen tun könnte.

Der Oberadministrator, ein ebenso ungebildeter wie schlauer Mensch, der den gebildeten, arglosen Grafen vollständig durchschaute und mit ihm spielte wie mit einem Spielzeug, bemerkte sehr wohl die Wirkung, welche die künstlich vorbereiteten Empfänge auf Pierre ausübten, und suchte ihm nun mit größerer Entschiedenheit die Unmöglichkeit und vor allem die Unnötigkeit der Befreiung der Bauern zu beweisen, da diese auch ohne sie vollkommen glücklich seien.

Pierre war im stillen Grund seines Herzens mit dem Oberadministrator darin einverstanden, daß es schwer sei, sich glücklichere Menschen vorzustellen als diese Bauern, und daß niemand wissen könne, wie es ihnen nach der Befreiung gehen werde; aber Pierre glaubte, wenn auch mit innerem Widerstreben, doch auf dem beharren zu sollen, was er für eine Handlung der Gerechtigkeit hielt. Der Oberadministrator versprach, alles, was nur irgend in seinen Kräften stehe, zu tun, um den Willen des Grafen auszuführen; er wußte recht gut, daß der Graf nie imstande sein werde, ihn zu kontrollieren und festzustellen, ob auch wirklich alle Maßregeln zum Verkauf der Wälder und Güter und zur Ablösung der Hypothekenschulden beim Vormundschaftsrat getroffen seien, und daß er nach dem Fortgang der Reformen wahrscheinlich nie fragen und die Wahrheit nie erfahren werde: nämlich daß die neuerrichteten Gebäude leer standen und die Bauern auch fernerhin an Arbeit und Abgaben all das zu leisten hatten, was sie bei anderen Gutsbesitzern leisteten, d.h. alles, was sie überhaupt leisten konnten.

XI


In der glücklichen Stimmung, in welcher Pierre von seiner Reise nach dem Süden zurückkehrte, brachte er eine lange gehegte Absicht zur Ausführung: seinen Freund Bolkonski zu besuchen, den er zwei Jahre lang nicht gesehen hatte.

Bogutscharowo lag in einer flachen Gegend, die keine landschaftlichen Vorzüge aufzuweisen hatte; man sah nur Felder und Tannen- und Birkenwaldungen, von denen große Strecken abgehauen waren. Das Herrenhaus stand am Ende des Dorfes, das sich geradlinig an der Landstraße hinzog; vor dem Herrenhaus befand sich ein Teich, der erst vor kurzem ausgegraben und bis zum Rand mit Wasser gefüllt war; die Ufer waren noch nicht mit Gras bewachsen. Nicht weit vom Haus war ringsum junger Wald angepflanzt, aus welchem einige Fichten hervorragten.

Der Herrenhof bestand aus einer Tenne, den Wirtschaftsgebäuden und Ställen, einem Badehaus, einem Seitengebäude und einem großen, noch im Bau begriffenen, steinernen Haus mit halbkreisförmigem Frontispiz. Um das Haus herum war ein Garten neu angelegt. Die Zäune und Tore waren neu und solide; unter einem Schuppendach standen zwei Feuerspritzen und ein grün angestrichenes Wasserfaß; die Wege waren gerade, die Brücken fest und mit Geländern versehen. Alles machte den Eindruck, daß hier ein sorgsamer Wirt waltete. Leute vom Gut, die dem ankommenden Pierre begegneten und bei denen er sich erkundigte, wo der Fürst wohne, zeigten auf das kleine neue Seitengebäude, das dicht am Rand des Teiches stand. Der alte Anton, der ehemals den Fürsten Andrei als Knaben beaufsichtigt hatte, war Pierre beim Aussteigen aus der Kalesche behilflich, sagte ihm, daß der Fürst zu Hause sei, und führte ihn in ein kleines, reinliches Vorzimmer.

Pierre war durch die Einfachheit und Bescheidenheit des kleinen, allerdings sehr sauberen Häuschens überrascht, da er sich erinnerte, in wie glänzender Umgebung er das letztemal seinen Freund in Petersburg getroffen hatte. Schnell trat er in einen kleinen Saal, der noch nach Fichtenholz roch und noch keinen Kalkbewurf hatte, und wollte noch weiter gehen; aber Anton lief ihm auf den Zehen voraus und klopfte an eine Tür.

»Nun, was gibt’s?« fragte eine Stimme in scharfem, unfreundlichem Ton.

»Ein Herr ist zu Besuch gekommen«, antwortete Anton.

»Bitte ihn, zu warten!« Es war zu hören, wie ein Stuhl gerückt wurde.

Schnellen Schrittes ging Pierre auf die Tür zu und stieß fast Gesicht gegen Gesicht mit dem recht alt aussehenden Fürsten Andrei zusammen, der mit finsterer Miene heraustrat. Pierre umarmte ihn, schob die Brille in die Höhe und küßte ihn auf die Wangen; dann betrachtete er ihn aus der Nähe.

»Nun, dich hätte ich wahrhaftig nicht erwartet«, sagte Fürst Andrei. »Ich freue mich sehr.«

Pierre antwortete nicht. Erstaunt und ohne die Augen abzuwenden blickte er seinen Freund an; die Veränderung, die mit diesem vorgegangen war, war ihm gar zu überraschend. Fürst Andreis Worte waren freundlich, und es lag ein Lächeln auf seinen Lippen und auf seinem Gesicht; aber sein Blick war erloschen und tot, und Fürst Andrei vermochte trotz seines sichtlichen Bestrebens nicht, ihm einen frohen, heiteren Glanz zu geben. Nicht daß sein Freund mager, blaß und männlicher geworden war, sondern dieser Blick und die Stirnfalte, die auf langes Nachdenken über ein und denselben Gegenstand schließen ließ, das war’s, was dem Ankömmling auffallend und fremd erschien, solange er sich noch nicht daran gewöhnt hatte.

Bei diesem Wiedersehen nach einer so langen Trennung konnte, wie das unter solchen Umständen immer der Fall ist, das Gespräch lange Zeit nicht recht in Gang kommen; es bestand nur aus kurzen Fragen und Antworten über Dinge, die, wie sie beide selbst fühlten, eigentlich denn doch ausführlich behandelt werden mußten. Endlich aber begann das Gespräch doch bei den vorher nur mit abgerissenen Worten erwähnten Gegenständen zu verweilen: bei den bisherigen Erlebnissen, bei den Plänen für die Zukunft, bei Pierres Reise und seiner Tätigkeit, bei den Kriegsereignissen usw. Jenes in sich gekehrte Wesen und jene Niedergeschlagenheit, die Pierre im Blick des Fürsten Andrei bemerkt hatte, machten sich jetzt noch stärker im Lächeln geltend, mit dem er seinem Gast zuhörte, namentlich wenn Pierre mit froher Lebhaftigkeit von Vergangenheit oder Zukunft sprach. Es machte den Eindruck, als ob Fürst Andrei sich gern für das, was Pierre erzählte, interessiert hätte, es aber nicht vermöchte. Pierre begann zu fühlen, daß es unangemessen sei, dem Fürsten Andrei gegenüber eine schwärmerische Begeisterung zu zeigen, hochfliegende Pläne darzulegen und Hoffnungen auf eine schöne, glückliche Zukunft zu äußern. Er schämte sich, alle seine neuen freimaurerischen Ideen auszusprechen, namentlich diejenigen, die durch seine letzte Reise in seiner Seele wieder wachgerufen und neu gekräftigt waren. Er beobachtete eine gewisse Zurückhaltung und fürchtete, gar zu kindlich und vertrauensselig zu erscheinen; gleichzeitig aber verspürte er ein unbezwingbares Verlangen, seinem Freund recht bald zu zeigen, daß er jetzt ein ganz anderer, besserer Pierre sei als früher in Petersburg.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wieviel ich in dieser Zeit erlebt habe. Ich erkenne mich selbst kaum wieder.«

»Ja, wir haben uns seitdem beide sehr, sehr verändert«, erwiderte Fürst Andrei.

»Nun, und Sie?« fragte Pierre. »Was haben Sie für Pläne?«

»Pläne?« antwortete Fürst Andrei ironisch. »Was ich für Pläne habe?« Er wiederholte das Wort Pläne, als ob er sich über den Sinn desselben wunderte. »Nun, das siehst du ja; ich baue; im nächsten Jahr will ich ganz hierher übersiedeln.«

Pierre schwieg und betrachtete unverwandt das so alt gewordene Gesicht seines Freundes.

»Nein, der Sinn meiner Frage war …«, begann er; aber Fürst Andrei unterbrach ihn.

»Was ist von mir zu sagen? Erzähle lieber von dir; erzähle von deiner Reise, von alledem, was du da auf deinen Gütern eingerichtet hast.«

Pierre begann zu erzählen, was er auf seinen Gütern ins Werk gesetzt habe, und bemühte sich dabei, seinen eigenen Anteil an den von ihm durchgeführten Verbesserungen möglichst zurücktreten zu lassen.

Fürst Andrei nahm ihm einige Male vorweg, was er gerade sagen wollte, wie wenn das, was Pierre getan hatte, für ihn eine altbekannte Geschichte wäre und er es ohne jedes Interesse mit anhörte, ja sich sogar über das, was Pierre erzählte, gewissermaßen schämte.

Pierre begann sich in der Gesellschaft seines Freundes unbehaglich, ja in peinlicher Weise bedrückt zu fühlen. Er hörte auf zu reden.

»Weißt du was, mein Bester?« sagte Fürst Andrei, der ebenfalls seinem Gast gegenüber befangen und verlegen war. »Ich bin hier sozusagen wie im Biwak und bin eigentlich nur hergekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Ich fahre heute noch zu meiner Schwester zurück. Ich werde dich mit ihr bekanntmachen. Aber du bist ja wohl schon mit ihr bekannt?« sagte er, offenbar bemüht, den Gast zu unterhalten, mit dem er sich durch keinerlei gemeinsames Interesse verbunden fühlte. »Wir wollen nach dem Mittagessen fahren. Und jetzt, möchtest du nicht meinen Gutshof besehen?«

Sie gingen hinaus und wanderten bis zum Mittagessen umher, indem sie miteinander über Neuigkeiten der Politik und über gemeinsame Bekannte sprachen, wie Menschen, die sich recht fernstehen. Mit einigermaßen lebhaftem Interesse redete Fürst Andrei nur von dem Gut, das er neu eingerichtet hatte, und von dem Bau; aber auch hier brach er, als sie auf dem Gerüst standen und er seinem Gast die künftige Einrichtung des Hauses beschrieb, plötzlich mitten im Gespräch ab.

»Aber da ist weiter nichts Interessantes dabei«, sagte er. »Laß uns zu Mittag essen und dann fahren.«

Beim Mittagessen kam das Gespräch auf Pierres Heirat.

»Ich habe mich sehr gewundert, als ich davon hörte«, bemerkte Fürst Andrei.

Pierre errötete, wie immer bei Erwähnung dieses Gegenstandes, und sagte hastig: »Ich werde Ihnen ein andermal erzählen, wie das alles gekommen ist. Aber Sie wissen wohl, daß alles zu Ende ist, und auf immer.«

»Auf immer?« erwiderte Fürst Andrei. »Von nichts in der Welt kann man ›auf immer‹ sagen.«

»Aber Sie wissen, wie das alles ein Ende genommen hat? Haben Sie von dem Duell gehört?«

»Auch das hast du durchgemacht!«

»Ich danke nur Gott, daß ich diesen Menschen nicht getötet habe«, sagte Pierre.

»Wieso?« entgegnete Fürst Andrei. »Einen bösen Hund zu töten, ist sogar eine sehr gute Tat.«

»Nein, einen Menschen zu töten, das ist nicht gut, das ist unrecht …«

»Wieso unrecht?« fragte Fürst Andrei. »Was Recht und Unrecht ist, das zu beurteilen ist dem Menschen nicht gegeben. Die Menschen haben von jeher geirrt und werden immer irren, und in keinem Punkte mehr als in bezug auf das, was sie für Recht und Unrecht halten.«

»Unrecht ist das, was für einen andern Menschen ein Übel ist«, sagte Pierre, der mit Vergnügen wahrnahm, daß Fürst Andrei zum erstenmal seit seiner Ankunft lebhaft wurde und zu reden begann und ihm auseinandersetzen wollte, wodurch er so geworden war, wie er jetzt war.

»Aber wer hat dir gesagt, was für einen andern Menschen ein Übel ist?« fragte er.

»Ein Übel? Ein Übel?« erwiderte Pierre. »Wir alle wissen, was für uns ein Übel ist.«

»Ja, das wissen wir freilich; aber das Übel, welches ich für mich selbst als ein solches erkenne, kann ich einem andern Menschen überhaupt nicht zufügen«, sagte Fürst Andrei, der immer lebhafter wurde und augenscheinlich den Wunsch hatte, dem Freund seine neue Anschauungsweise darzulegen. Er sprach französisch. »Ich kenne im Leben nur zwei wirkliche Übel: Gewissensbisse und Krankheit. Und das einzige Gut, das es gibt, ist das Fehlen dieser beiden Übel. Mich von diesen beiden Übeln nach Möglichkeit freizuhalten und für mich selbst zu leben, darin besteht jetzt meine ganze Weisheit.«

»Aber die Nächstenliebe und die Selbstaufopferung?« widersprach ihm Pierre. »Nein, da kann ich Ihnen nicht zustimmen! Nur so zu leben, daß man nichts Böses tut und nichts zu bereuen braucht, das ist doch zu wenig. Ich habe so gelebt; ich habe nur für mich selbst gelebt und mir dadurch beinahe mein Leben verdorben. Und erst jetzt, wo ich für andere lebe, wenigstens mich bemühe«, korrigierte Pierre sich aus Bescheidenheit, »für andere zu leben, erst jetzt habe ich für das wahre Glück des Lebens Verständnis gewonnen. Nein, ich bin mit Ihnen nicht einverstanden, und auch Sie selbst glauben das gar nicht, was Sie sagen.«

Fürst Andrei blickte Pierre schweigend an und lächelte spöttisch.

»Nun, du wirst ja meine Schwester, Prinzessin Marja, kennenlernen«, sagte er. »Ihr beide werdet gut miteinander harmonieren.« Und nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Vielleicht hast du, was dich selbst betrifft, recht; aber ein jeder lebt auf seine eigene Weise: du hast nur für dich gelebt und sagst, du hättest dir dadurch beinahe dein Leben verdorben und hättest das wahre Glück erst dann kennengelernt, als du angefangen hättest für andere zu leben. Ich dagegen habe gerade die entgegengesetzte Erfahrung gemacht. Ich lebte für den Ruhm. Nun, was ist denn das Streben nach Ruhm? Es ist doch auch eine Art Liebe zu anderen Menschen, der Wunsch, etwas für sie zu tun, der Wunsch, ihren Beifall zu erlangen. So lebte ich für andere und habe mir mein Leben nicht beinahe, sondern vollständig verdorben. Und ruhiger bin ich erst seit der Zeit geworden, wo ich für mich allein lebe.«

»Aber wie können Sie sagen, daß Sie für sich allein leben?« fragte Pierre, der in Eifer geriet. »Da ist doch Ihr Sohn, und Ihre Schwester, und Ihr Vater!«

»Die sind alle ein Teil von mir selbst; das sind keine ›anderen‹«, erwiderte Fürst Andrei. »Aber die anderen, der Nächste, wie ihr, du und Prinzessin Marja, die anderen Menschen nennt, das ist die Hauptquelle der Irrtümer und des Übels. Der Nächste, das sind auch deine Kiewer Bauern, denen du Gutes tun willst.«

Er blickte Pierre spöttisch an; es war klar, daß er ihn zu einem Disput herausfordern wollte.

»Sie scherzen«, erwiderte Pierre, der immer mehr in Erregung kam. »Was für ein Irrtum oder was für ein Übel kann denn dadurch hervorgerufen werden, daß ich gewünscht habe (wenn auch die Ausführung sehr mangelhaft und schlecht ausfiel), daß ich gewünscht habe, Gutes zu tun, und wenigstens ein bißchen Gutes getan habe? Was kann denn für ein Übel darin liegen, daß unglückliche Menschen, unsere Bauern, Menschen von derselben Art wie wir, die ohne eine andere, bessere Vorstellung von Gott und der Wahrheit aufwachsen und hinsterben, als die ist, die ihnen durch die kirchlichen Zeremonien und die unverständlichen Gebete vermittelt wird, daß die nun in den tröstlichen Glaubenssätzen von einem künftigen Leben, von der Vergeltung, Belohnung, Erquickung unterwiesen werden? Was für ein Übel oder was für ein Irrtum kann denn daraus entstehen, daß ich diesen armen Menschen, die jetzt, wenn einmal eine schwerere Krankheit sie befällt, elend daran zugrunde gehen, ohne daß ihnen jemand hilft, obwohl es doch so leicht ist, ihnen materielle Hilfe zukommen zu lassen, daß ich denen einen Arzt und ein Krankenhaus gebe, und ebenso den Alten eine Stätte, wo sie Pflege finden? Ist es etwa nicht ein greifbarer, zweifelloser Segen, wenn ich dem Bauern und der Bauersfrau mit dem kleinen Kind, die jetzt Tag und Nacht keine Ruhe haben, etwas freie Zeit und Erholung verschaffe?« Pierre sprach schnell und lispelnd. »Und das habe ich getan, wenn auch nur schlecht und in geringem Umfang; aber ich habe doch etwas nach dieser Richtung hin getan, und Sie werden mir nicht den Glauben nehmen können, daß das, was ich getan habe, gut ist; ja, Sie können mir nicht einmal einreden, daß Sie selbst es für schlecht halten. Die Hauptsache aber«, fuhr Pierre fort, »ist dies: ich weiß jetzt, weiß sicher, daß die Freude, die man davon hat, wenn man Gutes tut, das einzige wahre Glück des Lebens bildet.«

»Ja, wenn du die Frage so stellst …«, sagte Fürst Andrei, »das ist freilich etwas anderes. Ich baue ein Haus und lege einen Garten an, und du baust Krankenhäuser. Eins wie das andere kann als Zeitvertreib dienen. Aber was recht ist, und was gut ist, darüber zu urteilen überlasse dem, der alles weiß; unsere Sache ist das nicht. Na, aber du möchtest disputieren«, fügte er hinzu. »Schön! Das können wir ja tun!«

Sie standen vom Tisch auf, gingen vor die Haustür und setzten sich dort auf die Plattform der Freitreppe, welche die Stelle einer Veranda vertrat.

»Nun also, dann wollen wir einmal disputieren!« begann Fürst Andrei. »Du sagst: Schulen«, fuhr er fort und bog zählend einen Finger ein, »Unterricht und so weiter; das heißt, du willst ihn« (er wies dabei auf einen Bauer, der, die Mütze ziehend, an ihnen vorbeiging) »aus seinem tierischen Zustand herausführen und geistige Bedürfnisse in ihm erwecken. Ich dagegen glaube, daß das einzig mögliche Glück das tierische Glück ist, und gerade dessen willst du ihn berauben. Ich beneide ihn, und du willst ihn in meinen Zustand versetzen, ohne ihm doch die Mittel geben zu können, mit denen ich mir zu helfen suche. Zweitens sagst du: Arbeitserleichterung. Aber meiner Ansicht nach ist die körperliche Arbeit für ihn ebenso eine Notwendigkeit, ebenso eine Existenzbedingung wie für mich und dich die geistige Arbeit. Du und ich, wir können nicht leben, ohne zu denken. Wenn ich mich um zwei oder drei Uhr schlafen lege, so kommen mir allerlei Gedanken, und ich kann nicht einschlafen, ich wälze mich umher und liege wach bis zum Morgen, eben weil ich denke und das Denken nicht lassen kann, gerade wie er nicht das Pflügen und Mähen; sonst geht er in die Schenke oder wird krank. Wie ich seine starke körperliche Arbeit nicht aushalten kann (ich wäre in einer Woche tot davon), so er nicht meine körperliche Untätigkeit: er würde davon fett werden und sterben. Drittens … was hattest du doch noch gesagt?« Fürst Andrei bog den dritten Finger ein. »Ach ja, Krankenhäuser, Medizin. Also, der Bauer bekommt einen Schlaganfall und liegt im Sterben; du aber läßt ihn zur Ader und bringst ihn wieder in die Höhe. Nun wird er zehn Jahre lang als Krüppel herumwanken und allen zur Last sein. Für ihn wäre es weit besser und einfacher gewesen, wenn du ihn ruhig hättest sterben lassen. Es werden ja andere geboren, und es sind ihrer auch so schon übergenug. Wenn es dir noch leid täte, an ihm einen Arbeiter zu verlieren (denn als solchen sehe ich ihn an); aber nein, aus Liebe zu ihm willst du ihn wiederherstellen, aus Liebe zu ihm. Damit erweist du ihm gar keinen Dienst. Und dann: was ist das für eine Vorstellung, daß die ärztliche Kunst jemals jemand geheilt hätte! Sie kann nur töten … jawohl!« Er zog finster die Brauen zusammen und wandte sich von Pierre weg.

Fürst Andrei trug seine Ansichten mit solcher Bestimmtheit und Klarheit vor, daß zu merken war, er hatte über diesen Gegenstand schon wiederholt nachgedacht. Er redete gern und schnell, wie jemand, der seit langer Zeit nicht geredet hat. Sein Blick belebte sich um so mehr, je trostloser der Inhalt der Sätze war, die er aussprach.

»Ach, das ist schrecklich, schrecklich!« erwiderte Pierre. »Ich begreife nur nicht, wie man mit solchen Ansichten überhaupt noch weiterleben kann. Auch ich habe solche Augenblicke gehabt, es ist noch gar nicht so lange her, in Moskau und auf der Reise; aber dann fühle ich mich so niedergeschlagen, daß ich eigentlich gar nicht mehr lebe und mir alles widerwärtig ist, ganz besonders ich mir selbst. Dann esse ich nicht und wasche mich nicht … Nun, wie steht es mit Ihnen?«

»Warum sollte ich mich nicht waschen? Das wäre ja unreinlich«, antwortete Fürst Andrei. »Im Gegenteil, man muß darauf bedacht sein, sich das Leben möglichst angenehm zu gestalten. Ich lebe nun einmal, dafür kann ich nichts; also muß ich suchen, mein Leben so gut wie’s geht, ohne andere Leute zu inkommodieren, bis zum Tod weiterzuführen.«

»Aber was regt Sie denn dazu an, weiterzuleben, wenn Sie doch solche Anschauungen haben? So dazusitzen, ohne sich zu bewegen, ohne etwas zu unternehmen …«

»Ganz in Ruhe läßt einen das Leben trotzdem nicht. Ich würde froh sein, wenn ich nichts zu tun brauchte; aber es kommt doch immer dies und jenes vor. Neulich erwies mir der hiesige Adel die Ehre, mich zum Adelsmarschall zu wählen: ich habe es mir kaum vom Hals halten können. Die guten Leute konnten gar nicht begreifen, daß es mir an den dazu erforderlichen Qualitäten fehlt, namentlich an einem gewissen gutmütigen, sorglichen Interesse für triviales Treiben. Ferner dieses Haus hier, das ich mir bauen mußte, um ein eigenes Winkelchen zu besitzen, wo ich meine Ruhe haben kann. Und nun jetzt die Landwehr.«

»Warum dienen Sie nicht in der Armee?«

»Nach Austerlitz?« erwiderte Fürst Andrei finster. »Nein, danke ergebenst; ich habe mir das Wort gegeben, nicht mehr in der aktiven russischen Armee zu dienen. Und ich werde es auch nie wieder tun; und wenn Bonaparte hier bei Smolensk stände und Lysyje-Gory bedrohte, selbst dann würde ich nicht wieder in die russische Armee eintreten.« Und nachdem Fürst Andrei sich beruhigt hatte, fuhr er fort: »Darauf kannst du dich verlassen. Jetzt haben wir nun die Landwehr; mein Vater ist Oberkommandierender des dritten Distrikts, und das einzige Mittel, vom aktiven Dienst freizukommen, war für mich, eine Stellung unter meinem Vater zu übernehmen.«

»Also sind Sie doch im Dienst?«

»Ja.«

Er schwieg eine Weile.

»Welches ist denn nun Ihr Zweck dabei?«

»Das will ich dir sagen. Mein Vater ist einer der trefflichsten Männer seiner Zeit. Aber er wird alt und ist, ich will nicht sagen grausam, aber von zu energischem Charakter. Er ist furchtbar durch seine Gewöhnung an unbegrenzte Macht und jetzt durch diese Amtsgewalt, die der Kaiser den Oberkommandierenden der Landwehr verliehen hat. Wäre ich vor vierzehn Tagen zwei Stunden später gekommen, so hätte er den Schreiber in Juchnow aufhängen lassen«, sagte Fürst Andrei lächelnd. »Ich bekleide also diese amtliche Stellung, weil außer mir niemand einen Einfluß auf meinen Vater hat und ich ihn hier und da vor einer Handlung bewahre, über die er sich nachher quälen würde.«

»Ah, und Ihre Prinzipien? Da sehen Sie ja nun selbst!«

»Ja, aber die Sache liegt denn doch anders, als du sie auffaßt«, entgegnete Fürst Andrei. »Ich wünschte und wünsche diesem Schurken von Schreiber, der den Landwehrleuten die ihnen zukommenden Stiefel unterschlagen hat, nicht im entferntesten etwas Gutes; ich wäre sogar sehr zufrieden gewesen, ihn gehängt zu sehen; aber mir tat mein Vater leid, das heißt also wieder ich mir selbst.«

Fürst Andrei wurde immer lebhafter. Seine Augen bekamen einen fieberhaften Glanz, während er seinem Gast zu beweisen suchte, daß der Grund für sein Handeln nie in einem Wunsch, dem Nächsten Gutes zu tun, gelegen habe.

»Nun, du willst also deinen Bauern die Freiheit schenken«, fuhr er fort. »Das ist ja sehr gut; aber nicht für dich, der du meines Wissens nie jemand hast mit Ruten peitschen und nach Sibirien transportieren lassen, und noch weniger für die Bauern. Wenn man die Bauern schlägt, mit Ruten peitscht und nach Sibirien schickt, so glaube ich, daß sie das absolut nicht als etwas Schlimmes empfinden. In Sibirien führt der Bauer dasselbe tierische Leben weiter, und die wunden Stellen an seinem Körper verheilen, und er ist ebenso glücklich, wie er vorher war. Aber nützlich ist die Bauernbefreiung für diejenigen Grundherren, die bei den jetzigen Verhältnissen moralisch zugrunde gehen, die da tun, was sie nachher bereuen, und dieses Gefühl der Reue zu ersticken suchen, und infolge ihrer Befugnis, gerechte und ungerechte Strafen zu verhängen, hart werden. Das sind die Leute, die mir leid tun und um derentwillen ich die Bauernbefreiung wünschen würde. Du hast vielleicht nicht mit angesehen, was ich mit angesehen habe: wie gute Menschen, die in diesen Überlieferungen einer unbeschränkten Machtbefugnis groß geworden sind, mit den Jahren bei zunehmender Reizbarkeit hart und grausam werden, sich dessen selbst bewußt sind, sich aber doch nicht beherrschen können und sich immer unglücklicher und unglücklicher fühlen.«

Fürst Andrei sagte das mit so tiefer Empfindung, daß Pierre unwillkürlich auf den Gedanken kam, Andrei müsse wohl durch den Hinblick auf seinen Vater zu dieser Ansicht gelangt sein.

Er gab ihm keine Antwort.

»Also diese Leute sind es, die mir leid tun, die Leute, die ihre Menschenwürde, die Ruhe ihres Gewissens, die Reinheit ihrer Seele verlieren; aber kein Bedauern habe ich für den Bauer; wenn du dem auch den Rücken mit Ruten peitschen und das Haar über der Stirn abrasieren läßt, es bleibt doch immer derselbe Rücken und derselbe Kopf.«

»Nein, nein, tausendmal nein!« rief Pierre. »Darin werde ich Ihnen nie beistimmen.«

XII


Am Abend setzten sich Fürst Andrei und Pierre in den Wagen und fuhren nach Lysyje-Gory. Fürst Andrei richtete ab und zu seine Blicke auf Pierre und unterbrach das Stillschweigen durch einzelne Bemerkungen, die zeigten, daß er sich in heiterer Stimmung befand.

Er wies auf die Felder und erzählte ihm von seinen landwirtschaftlichen Verbesserungen.

Pierre schwieg mit finsterer Miene, gab nur einsilbige Antworten und schien ganz in seine Gedanken versunken zu sein.

Der Inhalt seiner Gedanken war, daß Fürst Andrei unglücklich sei, auf einem Irrweg wandle, das wahre Licht nicht kenne, und daß er, Pierre, die Pflicht habe, ihm zu Hilfe zu kommen, ihn zu erleuchten und hinaufzuheben. Aber als er es sich nun zurechtzulegen suchte, wie und was er zu ihm reden solle, sah er sofort voraus, daß Fürst Andrei ihm mit einem einzigen Wort, mit einem einzigen Argument seine ganze Lehre über den Haufen stoßen werde, und er fürchtete sich anzufangen, fürchtete sich, sein teures Allerheiligstes der Möglichkeit einer Verspottung auszusetzen.

»Nein, was haben Sie eigentlich für einen Grund, so zu denken?« begann Pierre plötzlich, indem er den Kopf senkte und die Haltung eines stößigen Ochsen annahm. »Warum denken Sie so? Sie dürfen nicht so denken.«

»So denken? Worüber denn?« fragte Fürst Andrei erstaunt.

»Über das Leben, über die Bestimmung des Menschen. Das dürfen Sie nicht. Ich habe ebenso gedacht, und wissen Sie, was mich gerettet hat? Die Freimaurerei. Nein, lächeln Sie nicht. Die Freimaurerei, das ist nicht eine religiöse, sich nur mit Zeremonien abgebende Sekte, wie auch ich früher glaubte; sondern die Freimaurerei ist die beste, einzige Form, in welcher die besten, ewigen Seiten der Menschheit zum Ausdruck kommen.«

Und nun begann er dem Fürsten Andrei die Freimaurerei so zu erklären, wie er sie auffaßte. Er sagte, die Freimaurerei sei die Lehre des Christentums, befreit von staatlichen und religiösen Fesseln; eine Lehre der Gleichheit, der Brüderlichkeit und der Liebe.

»Nur innerhalb unserer heiligen Bruderschaft wird im wahren Sinn des Wortes gelebt; alles übrige Leben ist nur ein Traum«, sagte Pierre. »Sie wissen ja selbst, mein Freund, daß außerhalb dieses Bundes alles voll Lüge und Unwahrheit ist, und ich bin ganz Ihrer Ansicht, daß dort einem verständigen, guten Menschen nichts anderes übrigbleibt, als, wie Sie es tun, still das Ende seines Lebens abzuwarten und nur darauf bedacht zu sein, anderen Menschen nicht lästig zu werden. Aber machen Sie sich unsere Grundanschauungen zu eigen, treten Sie in unsere Bruderschaft ein, geben Sie sich uns vertrauensvoll hin, lassen Sie sich von uns leiten, und Sie werden sofort dieselbe Empfindung haben, die auch ich gehabt habe: Sie werden sich als ein Glied jener gewaltigen, unsichtbaren Kette fühlen, deren Anfang sich im Himmel verbirgt.«

Fürst Andrei hörte schweigend und vor sich hinblickend an, was Pierre sagte. Einige Male, wo er wegen des Geräusches des Wagens nicht deutlich verstanden hatte, bat er Pierre, die Worte, die ihm entgangen waren, zu wiederholen. An dem besonderen Glanz, der aus den Augen des Fürsten Andrei leuchtete, und an seinem Stillschweigen merkte Pierre, daß seine Worte nicht vergeblich waren, daß Fürst Andrei ihn nicht unterbrechen wollte und nicht vorhatte, sich über das Gesagte lustig zu machen.

Sie gelangten zu dem über die Ufer getretenen Fluß, den sie auf einer Fähre übersetzen mußten. Die Wagen und die Pferde wurden auf die Fähre gebracht und dort zurechtgestellt, und sie selbst gingen ebenfalls auf die Fähre.

Auf das Geländer gestützt, blickte Fürst Andrei schweigend über die weite Fläche des Wassers hin, die in den Strahlen der untergehenden Sonne blitzte.

»Nun, wie denken Sie darüber?« fragte Pierre. »Warum schweigen Sie?«

»Wie ich darüber denke?« erwiderte Fürst Andrei. »Ich habe dich angehört, und das ist ja alles ganz schön; aber du sagst: ›Tritt in unsere Bruderschaft ein, und wir werden dir den Zweck des Lebens und die Bestimmung des Menschen und die Gesetze, die die Welt regieren, zeigen.‹ Aber wer ist das: ›wir‹? Menschen? Woher wißt ihr denn alles? Woher kommt es denn, daß ich allein das nicht sehe, was ihr seht? Ihr seht auf Erden ein Reich des Guten und der Wahrheit, und ich sehe es nicht.«

Pierre unterbrach ihn.

»Glauben Sie an ein zukünftiges Leben?« fragte er.

»An ein zukünftiges Leben?« wiederholte Fürst Andrei Pierres Worte; aber Pierre ließ ihm nicht Zeit zu antworten und faßte diese Wiederholung als Verneinung auf, um so mehr, da ihm die früheren atheistischen Ansichten des Fürsten Andrei bekannt waren.

»Sie sagen, daß Sie ein Reich des Guten und der Wahrheit auf Erden nicht sehen können. Auch ich habe dieses Reich früher nicht gesehen, und man kann es überhaupt nicht sehen, wenn man meint, daß mit unserem Leben alles zu Ende ist. Auf der Erde, namentlich auf diesem Teil der Erde« (Pierre wies auf das Feld) »gibt es keine Wahrheit; da ist alles Lüge und Schlechtigkeit; aber in der Welt, in der ganzen Welt, da gibt es ein Reich der Wahrheit, und wir sind jetzt Kinder der Erde, aber für alle Ewigkeit Kinder der Welt. Fühle ich denn nicht in meiner Seele, daß ich einen Teil dieses gewaltigen, harmonischen Ganzen bilde? Fühle ich denn nicht, daß ich in dieser ungeheuren, zahllosen Menge von Wesen, in denen sich die Gottheit (oder, wenn Sie es anders nennen wollen, die höchste Kraft) offenbart, ein Zwischenglied, eine Zwischenstufe von niedrigeren Wesen zu höheren bin? Wenn ich diese von der Pflanze zum Menschen führende Stufenleiter sehe, sie deutlich sehe, mit welchem Recht kann ich dann annehmen, daß diese Stufenleiter mit mir abbricht und nicht vielmehr weiter und weiter führt? Ich fühle, daß ich nicht verschwinden kann, wie denn überhaupt nichts auf der Welt verschwindet, sondern immer existieren werde und immer existiert habe. Ich fühle, daß es außer mir noch Geister gibt, Geister, die über mir leben, und daß in dieser Welt Wahrheit herrscht.«

»Ja, das ist die Lehre Herders«, erwiderte Fürst Andrei, »aber, lieber Freund, nicht diese Beweisführung ist es, die mich überzeugt, sondern die Erfahrung von Leben und Tod, die ist imstande zu überzeugen. Überzeugt fühlt man sich, wenn man sieht, wie ein liebes, teures Wesen, mit dem man eng verbunden war, dem gegenüber man eine Schuld auf sich geladen hatte, eine Schuld, die man wiedergutzumachen hoffte« (die Stimme begann ihm zu zittern, und er wandte das Gesicht ab), »… und nun muß man sehen, wie dieses Wesen auf einmal leidet, entsetzliche Qualen leidet und aufhört zu sein … Warum? Es muß, es muß darauf eine Antwort vorhanden sein. Und ich glaube, daß eine Antwort vorhanden ist … Siehst du, das ist’s, was zu überzeugen imstande ist; das ist’s, was mich überzeugt hat.«

»Nun ja, nun ja!« antwortete Pierre. »Sage ich denn nicht ganz dasselbe?«

»Nein. Meines Erachtens können uns von der Notwendigkeit eines zukünftigen Lebens nicht Beweise überzeugen, sondern nur die eigene Erfahrung: wenn man im Leben Hand in Hand mit einem Menschen geht und dieser Mensch auf einmal dort im leeren Raum verschwindet und man selbst vor diesem Abgrund stehenbleibt und hineinschaut. Und ich habe hineingeschaut …«

»Nun also! Sie wissen, daß es ein Dort gibt, und daß ein Jemand da ist. Das Dort ist das zukünftige Leben. Der Jemand ist Gott.«

Fürst Andrei antwortete nicht. Der Wagen und die Pferde waren schon längst aus der Fähre an das andere Ufer herausgebracht und die Pferde wieder angespannt, und die Sonne war zur Hälfte untergegangen, und der Abendfrost überzog die Lachen an der Überfahrtstelle mit Eissternchen; aber Pierre und Andrei standen zur Verwunderung der Diener, Kutscher und Fährleute immer noch auf der Fähre und redeten miteinander.

»Wenn es einen Gott und ein zukünftiges Leben gibt«, sagte Pierre, »so gibt es auch Wahrheit und Tugend; und das höchste Glück des Menschen besteht in dem Streben, die Wahrheit und die Tugend zu erreichen. Wir müssen leben, wir müssen lieben, wir müssen glauben, daß wir nicht nur heute und auf diesem Stückchen Erde leben, sondern immer gelebt haben und ewig leben werden, dort, im All« (er wies nach dem Himmel).

Fürst Andrei stand, auf das Geländer der Fähre gelehnt, und hörte seinem Freund zu; dabei blickte er unverwandt in den roten Widerschein der Sonne auf der bläulichen Wasserfläche. Pierre schwieg jetzt. Es herrschte tiefe Stille. Die Fähre lag schon längst ruhig am Ufer, und nur die Wellen der Strömung schlugen mit leisem Geräusch an den Boden der Fähre. Dem Fürsten Andrei kam es vor, als ob dieses Plätschern der Wellen zu Pierres Worten hinzufügte: »Das ist wahr; glaube es nur!«

Fürst Andrei seufzte und schaute mit leuchtendem, kindlichem, freundlichem Blick in Pierres gerötetes, begeistertes Gesicht, auf dem sich aber doch eine gewisse Schüchternheit vor dem geistig überlegenen Freund ausprägte.

»Ja, wenn es doch so wäre!« sagte Fürst Andrei. »Aber komm, wir wollen einsteigen«, fügte er hinzu und blickte beim Hinausgehen aus der Fähre zum Himmel auf, nach welchem Pierre hingewiesen hatte. Zum erstenmal nach Austerlitz erblickte er wieder jenen hohen, ewigen Himmel, den er gesehen hatte, als er auf dem Schlachtfeld von Austerlitz lag, und ein längst eingeschlafenes, gutes Gefühl, das in seiner Seele ruhte, erwachte plötzlich wieder freudig und jugendfrisch. Dieses Gefühl verschwand dann allerdings, sobald Fürst Andrei wieder in seine gewöhnlichen Lebensverhältnisse eintrat; aber er war sich bewußt, daß dieses Gefühl, obwohl er nicht verstand, es weiterzuentwickeln, doch in seiner Seele fortlebte. Die Wiederbegegnung mit Pierre bildete für den Fürsten Andrei eine Epoche, in welcher, mochte sein Leben auch äußerlich dasselbe bleiben, doch in seiner inneren Welt ein neues Leben begann.

XIII


Es dunkelte schon, als Fürst Andrei und Pierre sich dem Haupteingang des Gutshauses von Lysyje-Gory näherten. In diesem Augenblick lenkte Fürst Andrei lächelnd Pierres Aufmerksamkeit auf einen Tumult, der an der Hintertür stattfand. Eine gekrümmte Alte, mit einem Quersack auf der Schulter, und eine Mannsperson von kleinem Wuchs, in schwarzem Anzug und mit langem Haar waren soeben aus dem Tor herausgekommen, stürzten aber, sowie sie die herbeifahrende Kalesche erblickten, Hals über Kopf wieder hinein. Zwei zum Gut gehörige Frauen kamen auf den Hof herausgelaufen, um die beiden zurückzurufen, und alle vier rannten nun, sich häufig nach der Kalesche umblickend, erschrocken in die Hintertür hinein.

»Das sind Marjas Gottesleute«, sagte Fürst Andrei. »Sie haben uns für meinen Vater gehalten. Das ist das einzige, worin Marja unserm Vater nicht gehorcht: er befiehlt, diese vagabundierenden Wallfahrer wegzujagen; aber sie nimmt sie auf.«

»Was sind denn das: Gottesleute?« fragte Pierre.

Fürst Andrei fand keine Zeit mehr, ihm zu antworten. Die Dienerschaft kam heraus, um die Ankommenden zu empfangen, und er erkundigte sich, wo der alte Fürst wäre und ob er bald erwartet würde.

Der alte Fürst war noch in der Stadt und wurde jeden Augenblick zurückerwartet.

Fürst Andrei führte Pierre in seine eigenen Zimmer, die im Haus seines Vaters stets in voller Ordnung bereit waren, ihn zu empfangen, und begab sich selbst nach der Kinderstube.

»Wir wollen zu meiner Schwester gehen«, sagte Fürst Andrei, als er zu Pierre zurückkam. »Ich habe sie noch nicht gesehen; sie versteckt sich jetzt und sitzt in ihrem Zimmer mit ihren Gottesleuten. Sie wird verlegen werden; aber das ist ihre verdiente Strafe. Und du bekommst dabei die Gottesleute zu sehen. Die Sache ist wirklich interessant, mein Wort darauf.«

»Was sind denn das: Gottesleute?« erkundigte sich Pierre noch einmal.

»Du wirst ja sehen.«

Prinzessin Marja wurde, als sie bei ihr eintraten, wirklich verlegen, und ihr Gesicht bedeckte sich mit roten Flecken. In ihrem behaglichen Zimmer, mit den Lämpchen vor den Heiligenschreinen, saß neben ihr auf dem Sofa hinter dem Samowar ein junger Mensch mit langer Nase und langem Haar, in einer Mönchskutte.

Auf einem Lehnstuhl daneben saß eine runzlige, hagere Alte mit einem sanften Ausdruck in dem kindlichen Gesicht.

»Andrei, warum hast du mich von deinem Kommen nicht vorher benachrichtigt?« sagte die Prinzessin Marja mit sanftem Vorwurf und stellte sich vor ihre Wallfahrer wie eine Glucke vor ihre Küchlein.

»Es ist mir ein großes Vergnügen, Sie zu sehen; ich freue mich sehr«, sagte sie zu Pierre, während er ihr die Hand küßte. Sie hatte ihn schon gekannt, als er noch ein Kind war, und jetzt gewannen ihm seine Freundschaft mit Andrei, sein Unglück mit seiner Frau und vor allem sein gutes, harmloses Gesicht ihr Wohlwollen. Sie blickte ihn mit ihren schönen, leuchtenden Augen an und schien zu sagen: »Ich habe Sie sehr gern; aber bitte, lachen Sie nicht über meine Leutchen hier.« Nachdem sie die ersten Begrüßungsworte gewechselt hatten, setzten sie sich.

»Ah, der liebe, kleine Iwan ist ja auch hier«, sagte Fürst Andrei und deutete lächelnd auf den jungen Wallfahrer.

»Andrei!« rief Prinzessin Marja in flehendem Ton.

»Sie müssen wissen, daß das eine Frau ist«, sagte Andrei zu Pierre auf französisch, wie denn überhaupt die drei untereinander französisch sprachen.

»Andrei, ich bitte dich inständig!« wiederholte Prinzessin Marja.

Es war leicht zu merken, daß sowohl die spöttischen Bemerkungen des Fürsten Andrei über die Wallfahrer als auch die vergeblichen Versuche der Prinzessin Marja, sie in Schutz zu nehmen, eine hergebrachte, feststehende Form des Verkehrs zwischen den beiden waren.

»Aber, liebe Schwester«, sagte Fürst Andrei, »du solltest mir doch im Gegenteil dafür dankbar sein, daß ich meinem Freund Pierre eine Erklärung für deine Intimität mit diesem jungen Mann gebe.«

»Ist es denn wahr?« fragte Pierre interessiert und blickte ernst (wofür ihm Prinzessin Marja besonders dankbar war) durch seine Brille diesem Iwan ins Gesicht, der, als er merkte, daß von ihm die Rede war, seine schlauen Augen von einem zum andern gehen ließ.

Prinzessin Marja war ganz unnötigerweise für »ihre Leutchen« verlegen geworden. Diese selbst zeigten sich ganz und gar nicht ängstlich. Die Alte saß, ohne sich zu rühren, auf ihrem Lehnstuhl; sie hielt die Augen niedergeschlagen, warf aber mitunter schräge Blicke nach den Eingetretenen; ihre Tasse hatte sie, mit dem Boden nach oben, auf die Untertasse gestülpt, das Stückchen Zucker, von dem sie vorher beim Trinken abgebissen hatte, danebengelegt und wartete nun ruhig darauf, daß ihr noch mehr Tee angeboten werde. Iwan trank seinen Tee aus der Untertasse und blickte dabei von unten her mit seinen schlauen, weiberhaften Augen zu den jungen Männern hin.

»Nun, wo bist du denn gewesen? In Kiew?« fragte Fürst Andrei die Alte.

»Jawohl, Väterchen«, antwortete diese redselig. »Gerade zu Weihnachten wurde ich gewürdigt, bei den lieben Heiligen das heilige, himmlische Sakrament zu empfangen. Aber jetzt komme ich aus Kaljasin, Väterchen; da ist großes Heil erschienen …«

»Ging denn der liebe Iwan mit dir zusammen?«

»Ich wandere für mich allein, Wohltäter«, sagte Iwan, der sich Mühe gab, mit tiefer Stimme zu sprechen. »Erst in Juchnow bin ich mit Pelagia zusammengetroffen.«

Pelagia unterbrach ihren Gefährten; sie hatte offenbar die größte Lust zu erzählen, was sie da mitangesehen hatte.

»In Kaljasin, Väterchen, ist großes Heil erschienen.«

»Wieso? Sind neue Reliquien gefunden?« fragte Fürst Andrei.

»Hör doch auf, Andrei!« bat Prinzessin Marja. »Erzähle nicht, Pelagia.«

»Nicht? … Aber Mütterchen, warum soll ich denn nicht erzählen? Ich habe ihn sehr gern. Er ist ein guter Mensch, ein Auserwählter Gottes; ich weiß noch recht gut, wie er, mein Wohltäter, mir einmal zehn Rubel geschenkt hat … Also, als ich in Kiew war, da sagte zu mir ein Verzückter, Kirill … er ist blöden Geistes, aber sehr fromm, ein wahrer Mann Gottes, Sommer und Winter geht er barfuß … also der sagte zu mir: ›Warum wallfahrst du nicht in deiner eigenen Gegend?‹ sagte er. ›Geh nach Kaljasin; da wurde ein wundertätiges Bild der hochheiligen Mutter Gottes gefunden.‹ Als ich das hörte, nahm ich von den lieben Heiligen Abschied und machte mich auf den Weg.«

Alle schwiegen. Nur die Wallfahrerin sprach, in gemessenem Tonfall, wobei sie die Luft in sich hineinzog.

»Ich kam also hin, Väterchen, und da sagten mir die Leute: ›Großes Heil ist erschienen; der hochheiligen Mutter Gottes tröpfelt heiliges Salböl aus dem Bäckchen …‹«

»Nun gut, gut; du kannst ja nachher weitererzählen«, unterbrach Prinzessin Marja errötend die Erzählerin.

»Gestatten Sie eine Frage an die Frau«, sagte Pierre. »Hast du das selbst gesehen?« fragte er.

»Gewiß, Väterchen; ich bin selbst gewürdigt worden, es zu sehen. Auf dem Gesicht der Mutter Gottes war ordentlich so ein Glanz, wie der helle Himmel, und aus dem Bäckchen der Mutter Gottes, da träufelte es nur so, immerzu träufelte es …«

»Aber das ist ja Betrug!« rief Pierre, der der Wallfahrerin aufmerksam zugehört hatte, in seiner Naivität unwillkürlich.

»Ach, Väterchen, was redest du da!« rief Pelagia ganz entsetzt und wandte sich wie um Schutz suchend zu der Prinzessin Marja.

»So wird das Volk betrogen!« sagte Pierre noch einmal.

»Herr Jesus Christus!« rief die Wallfahrerin und bekreuzte sich. »Ach, sage doch so etwas nicht, Väterchen! Da war ein General, der glaubte auch nicht und sagte: ›Die Mönche betrügen das Volk.‹ Und wie er das gesagt hatte, da wurde er sogleich blind. Und da träumte ihm, daß die Mutter Gottes vom Höhlenkloster zu ihm kam und zu ihm sagte: ›Glaube an mich, dann will ich dich heilen.‹ Und da fing er an zu bitten: ›Führt mich zu ihr, führt mich zu ihr!‹ Ich sage dir die reine Wahrheit; ich habe es selbst gesehen. Da brachten sie den Blinden geradewegs zu ihr, und er trat heran und fiel vor ihr nieder und sagte: ›Heile mich! Ich will dir auch alles geben‹, sagte er, ›was mir der Zar verliehen hat.‹ Ich habe es selbst gesehen, Väterchen: ein Ordensstern war an ihr befestigt. Und wirklich, er wurde wieder sehend. Es ist eine Sünde, so zu sprechen. Dafür schickt Gott seine Strafe«, sagte sie in ermahnendem Ton zu Pierre.

»Was soll denn aber der Ordensstern an dem Muttergottesbild?« fragte Pierre.

»Die Mutter Gottes wird eben zum General befördert sein«, sagte Fürst Andrei lächelnd.

Pelagia wurde auf einmal ganz blaß und schlug die Hände zusammen.

»Väterchen, Väterchen, was begehst du da für eine Sünde! Denke daran, daß du einen Sohn hast!« rief sie, und ihr soeben noch blasses Gesicht überzog sich plötzlich mit dunkler Röte. »Väterchen, Gott möge dir verzeihen, was du da gesagt hast!« Sie bekreuzte sich. »Lieber Herrgott, verzeihe ihm! Mütterchen, was gehen hier für Dinge vor!« wandte sie sich an die Prinzessin Marja. Sie stand auf und machte sich, beinahe weinend, daran, ihr Bündel zurechtzumachen. Man konnte ihr anmerken, daß es ihr einerseits ängstlich und wider das Gewissen war, Wohltaten in einem Haus zu genießen, wo solche Reden geführt wurden, und es ihr andererseits leid tat, jetzt auf die Wohltaten dieses Hauses verzichten zu müssen.

»Aber wie kann euch beiden das nur Vergnügen machen!« sagte Prinzessin Marja. »Warum seid ihr denn zu mir gekommen?«

»Nein, nein, ich mache ja nur Spaß, liebe Pelagia«, sagte Pierre. »Prinzessin, mein Wort darauf, ich hatte die Frau nicht kränken wollen; ich habe es nur so hingeredet. Nimm es dir nicht zu Herzen, ich habe nur gescherzt«, wandte er sich, in dem Wunsch, seine Schuld wiedergutzumachen, mit schüchternem Lächeln an Pelagia. »Ich habe es nicht böse gemeint, und er hat es auch nur so hingeredet, er hat nur gescherzt.«

Pelagia blieb mißtrauisch stehen; aber auf Pierres Gesicht prägte sich eine so aufrichtige Reue aus, und Fürst Andrei blickte so milde und freundlich bald die Wallfahrerin, bald Pierre an, daß sie sich allmählich beruhigte.

XIV


Die Wallfahrerin hatte sich beruhigt, ließ sich wieder zum Reden bringen und erzählte nun lange von dem Vater Amfilochi, der einen so heiligen Lebenswandel geführt hatte, daß seine Hände nach Weihrauch rochen, und weiter erzählte sie, wie bei ihrer letzten Wallfahrt nach Kiew Mönche, mit denen sie bekannt war, ihr die Schlüssel zu den Höhlen gegeben hatten, und wie sie, mit Zwiebacken versehen, zweimal vierundzwanzig Stunden hintereinander in den Höhlen bei den Heiligen zugebracht hatte. »Ich bete bei dem einen und erweise ihm meine Verehrung, und dann gehe ich zu einem andern. Ich schlafe ein bißchen, und dann gehe ich wieder und verrichte meine Andacht. Und eine solche Stille, Mütterchen, ist da, eine Seligkeit, daß man gar nicht wieder an das Tageslicht zurückkehren möchte.«

Pierre hörte ihr aufmerksam und ernsthaft zu. Fürst Andrei verließ das Zimmer. Bald nach ihm ging auch Prinzessin Marja mit Pierre hinaus, den sie in den Salon führte; die Gottesleute ließ sie allein ihren Tee austrinken.

»Sie sind ein sehr guter Mensch«, sagte sie zu ihm.

»Ach, ich hatte die Frau wirklich nicht kränken wollen; ich verstehe diese Empfindungen recht wohl und weiß sie zu schätzen.«

Prinzessin Marja blickte ihn schweigend an und lächelte freundlich.

»Ich kenne Sie ja schon lange und habe Sie lieb wie einen Bruder«, sagte sie dann. »Wie finden Sie Andrei?« fragte sie eilig, ohne ihm Zeit zu lassen, etwas auf ihre freundlichen Worte zu erwidern. »Sein Zustand beunruhigt mich sehr. Es war im Winter mit seiner Gesundheit besser; aber im Frühjahr brach die Wunde wieder auf, und der Arzt meinte, er solle wegreisen und eine Kur gebrauchen. Auch in seelischer Hinsicht habe ich um ihn große Sorge. Er hat nicht einen solchen Charakter wie wir Frauen, daß er sich seinen Kummer durch Klagen erleichtern und ihn ausweinen könnte. Er trägt ihn in seinem Innern eingeschlossen mit sich herum. Heute ist er ja heiter und lebhaft; aber das ist nur die Wirkung Ihrer Ankunft; er ist sonst nur selten so. Wenn Sie ihn doch überreden könnten, ins Ausland zu reisen! Er braucht eine Tätigkeit; dieses gleichmäßige, ruhige Leben richtet ihn zugrunde. Die andern bemerken das nicht; aber ich sehe es.«

Nach neun Uhr abends stürzten die Diener vor das Portal, da sie das Schellengeklingel der herankommenden Equipage des alten Fürsten hörten. Fürst Andrei und Pierre traten ebenfalls hinaus.

»Wer ist das?« fragte der alte Fürst, als er aus dem Wagen stieg und Pierre erblickte.

»Ah, freut mich sehr! Küsse mich!« sagte er, als er erfahren hatte, wer der unbekannte junge Mann war.

Der alte Fürst war guter Laune und behandelte Pierre sehr freundlich.

Vor dem Abendessen kam Fürst Andrei in das Zimmer seines Vaters und fand dort den alten Fürsten in einem hitzigen Disput mit Pierre begriffen. Pierre suchte zu beweisen, daß einmal eine Zeit kommen werde, wo es keine Kriege mehr geben würde. Der alte Fürst bestritt dies, indem er seinen Gegner neckte und foppte, aber ohne sich dabei zu ärgern.

»Laß den Menschen das Blut aus den Adern laufen, und gieße ihnen Wasser hinein; dann wird es keine Kriege mehr geben. Das sind Weiberphantasien, Weiberphantasien«, sagte er; aber er klopfte dabei Pierre freundlich auf die Schulter. Darauf ging er an den Tisch, an welchem Fürst Andrei, der sich offenbar an diesem Gespräch nicht zu beteiligen wünschte, in den Papieren blätterte, die der alte Fürst aus der Stadt mitgebracht hatte. Der alte Fürst trat zu ihm und begann mit ihm von Dienstsachen zu sprechen.

»Der Adelsmarschall Graf Rostow hatte nur die Hälfte der Mannschaften zusammengebracht, die er hatte zusammenbringen sollen. Kam der Mann in die Stadt und ließ sich beikommen, mich zum Diner einzuladen – na, ich habe ihm ein nettes Diner angerichtet …! …! Da! Sieh einmal dieses Papier durch …! Na, mein Sohn«, fuhr er fort, »dein Freund ist ein braver, junger Mann« (er klopfte Pierre auf die Schulter), »ich habe ihn liebgewonnen! Er macht mich warm. Ein anderer redet vernünftig, und doch mag man ihm nicht zuhören; aber dieser hier schwatzt dummes Zeug und macht mich alten Mann warm. Na, nun geht nur, geht«, sagte er. »Vielleicht komme ich noch zum Abendessen und sitze ein Weilchen bei euch. Dann wollen wir weiter disputieren. Freunde dich nur auch mit meiner närrischen Tochter, Prinzessin Marja, an«, rief er dem fortgehenden Pierre noch aus der Tür nach.

Pierre lernte erst jetzt, bei diesem Besuch in Lysyje-Gory, die ganze Bedeutung und Annehmlichkeit seiner Freundschaft mit dem Fürsten Andrei schätzen. Diese Annehmlichkeit kam ihm nicht sowohl in seinem Verhältnis zum Fürsten Andrei selbst, als vielmehr in seinen Beziehungen zu allen Familienmitgliedern und Hausgenossen zur Empfindung. Pierre fühlte sich dem alten, mürrischen Fürsten und der sanften, schüchternen Prinzessin Marja gegenüber, obgleich er beide fast gar nicht kannte, gleich von vornherein wie ein alter Freund. Und auch sie hatten ihn alle bereits liebgewonnen. Nicht nur blickte Prinzessin Marja, deren Herz er durch sein freundliches Benehmen gegen die Wallfahrer gewonnen hatte, ihn mit ganz besonders helleuchtenden Augen an, sondern auch der kleine einjährige Fürst Nikolai, wie ihn der Großvater nannte, lächelte Pierre an und ließ sich von ihm auf den Arm nehmen. Michail Iwanowitsch und Mademoiselle Bourienne sahen ihn mit frohem Lächeln an, wenn er mit dem alten Fürsten ein Gespräch führte.

Der alte Fürst kam zum Abendessen, augenscheinlich um Pierres willen. Er behandelte ihn während der beiden Tage seines Aufenthalts in Lysyje-Gory mit außerordentlicher Freundlichkeit und lud ihn ein, ihn häufiger zu besuchen.

Als Pierre abgefahren war und alle Familienmitglieder zusammenkamen, tauschten sie, wie das immer nach der Abreise eines neuen Bekannten geschieht, ihre Urteile über ihn aus, und, was nur selten vorkommt, alle redeten von ihm nur Gutes.

XV


Als Rostow diesmal vom Urlaub zurückkehrte, kam es ihm zum erstenmal zum vollen Bewußtsein, wie fest und stark die Bande waren, die ihn mit Denisow und dem ganzen Regiment verknüpften.

Als er sich dem Lagerplatz seines Regiments näherte, machte er ein ähnliches Gefühl durch, wie früher bei der Annäherung an das Haus in der Powarskaja-Straße. Als er den ersten Husaren in der aufgeknöpften Uniform seines Regiments erblickte, als er den rothaarigen Dementjew erkannte, als er die Pfosten mit den daran angebundenen Pferden, lauter Füchsen, sah, als Lawrenti erfreut seinem Herrn zurief: »Der Graf ist gekommen!« und der zottige Denisow, der auf seinem Bett gelegen und geschlafen hatte, aus der Erdhütte herausgelaufen kam und ihn umarmte und die Offiziere den Ankömmling umringten: da hatte Rostow dieselbe Empfindung wie damals, als ihn seine Mutter, sein Vater und seine Schwestern umarmten, und die Freudentränen, die ihm in die Kehle kamen, hinderten ihn zu sprechen. Auch das Regiment war ein Haus, ein unwandelbar liebes, teures Haus, ebenso wie das Haus seiner Eltern.

Nachdem er sich beim Regimentskommandeur gemeldet, die Zuweisung zu seiner früheren Eskadron erhalten, wieder einmal den Dejourdienst und das Furagieren durchgemacht, sich in alle die kleinen Regimentsinteressen hineingefunden und sich von neuem an das Gefühl gewöhnt hatte, der Freiheit beraubt und in einen engen, starren Rahmen eingeschmiedet zu sein, da hatte Rostow dieselbe Empfindung wie unter dem Dach des Elternhauses: ein Gefühl der Beruhigung, ein Gefühl, daß er hier einen festen Stand habe, und das freudige Bewußtsein, hier zu Hause, an dem ihm zukommenden Platz zu sein. Hier war nicht jener ganze Wirrwarr der freien Welt, in dem er nicht seinen richtigen Platz fand und sich bei der Wahl irrte; hier war keine Sonja, der gegenüber man sich aussprechen oder auch nicht aussprechen mußte. Hier kam man nicht in die Lage, zu überlegen, ob man da-und dahin fahren oder nicht fahren solle; hier hatte man nicht die Möglichkeit, den ganzen Tag nach Belieben auf die mannigfaltigste Weise auszufüllen; hier gab es nicht jene zahllosen Menschen, von denen ihm einer gerade so nah und so fern stand wie der andere, nicht jene unklaren, unbestimmten pekuniären Beziehungen zum Vater, nicht die schreckliche Erinnerung an die große Summe, die er im Spiel an Dolochow verloren hatte! Hier beim Regiment war alles klar und einfach. Die ganze Welt zerfiel in zwei ungleiche Teile: der eine Teil war unser Pawlograder Regiment, der andere alles übrige. Und dieses Übrige ging einen nichts an. Im Regiment war einem all und jedes bekannt: wer Leutnant und wer Rittmeister war, wer ein guter und wer ein schlechter Mensch, und vor allen Dingen, wer ein guter und wer ein schlechter Kamerad war. Der Marketender gab Kredit; das Gehalt bekam man alle vier Monate; zu überlegen und zu wählen war nichts; man brauchte nur zu vermeiden, was im Pawlograder Regiment als schlechtes Benehmen angesehen wurde, und, wenn man einen Auftrag bekam, das auszuführen, was klar und deutlich angeordnet und befohlen war; dann war alles gut.

Nachdem Rostow in diese festen Verhältnisse des Regimentslebens von neuem eingetreten war, empfand er eine ähnliche Freude und Beruhigung wie ein Müder, der sich hinlegt, um sich zu erholen. Das Regimentsleben hatte für ihn während dieses Feldzuges insofern noch einen besonderen Reiz, als er nach dem Spielverlust an Dolochow (er konnte sich diesen Fehltritt trotz aller Tröstungen seitens seiner Angehörigen nicht verzeihen) den Vorsatz gefaßt hatte, sich im Dienst nicht so zu verhalten wie früher, sondern, um seine Schuld wiedergutzumachen, musterhaft zu dienen und ein ganz ausgezeichneter Kamerad und Offizier zu sein, das heißt, ein vortrefflicher Mensch, was ihm nur »da draußen« schwer erschien, beim Regiment aber sehr wohl möglich.


Nach mannigfachen Rückmärschen und Vormärschen und den Schlachten bei Pultusk und bei Preußisch-Eylau hatte sich unsere Armee bei Bartenstein konzentriert. Man erwartete die Ankunft des Kaisers beim Heer und den Beginn eines neuen Feldzuges.

Das Pawlograder Regiment, das zu demjenigen Teil der Armee gehörte, welcher im Jahr 1805 im Felde gewesen war, hatte sich in Rußland erst wieder komplettieren müssen und war dadurch für die ersten Kämpfe dieses Feldzuges zu spät gekommen. Es war weder bei Pultusk noch bei Preußisch-Eylau dabeigewesen und war nun, nachdem es sich wieder mit der aktiven Armee vereinigt hatte, für die zweite Hälfte des Feldzugs dem Platowschen Korps zugeteilt worden.

Das Platowsche Korps operierte unabhängig von der übrigen Armee. Einige Male kamen die Pawlograder dazu, an Feuergefechten mit dem Feind sich zu beteiligen; sie machten Gefangene und erbeuteten sogar einmal das Gepäck des Marschalls Oudinot. Im April standen die Pawlograder einige Wochen lang bei einem von Grund aus zerstörten, menschenleeren deutschen Dorf, ohne sich vom Fleck zu rühren.

Es kamen Tauwetter und Schmutz, auch wieder Kälte. Die Flüsse waren reißend, die Wege unfahrbar geworden; mehrere Tage lang wurde weder Futter für die Pferde noch Proviant für die Mannschaften geliefert. Da die Zufuhr unmöglich war, zerstreuten sich die Leute über die von den Einwohnern verlassenen Dörfer, um Kartoffeln zu suchen; aber auch davon war wenig zu finden.

Alles war aufgezehrt und die Einwohner fast sämtlich geflüchtet; die wenigen zurückgebliebenen waren ärmer als Bettler, und es war ihnen nichts mehr zu nehmen; ja, statt von ihnen etwas zu bekommen, gaben die sonst so wenig zum Mitleid geneigten Soldaten ihnen oft noch das Letzte, was sie selbst hatten.

Das Pawlograder Regiment hatte bei den Gefechten nur einen Abgang von zwei Verwundeten gehabt; aber infolge von Hunger und Krankheiten verlor es fast die Hälfte seines Bestandes. Wer ins Lazarett kam, dem war der Tod so sicher, daß die Soldaten, welche an Fieber oder an Anschwellungen litten, die von der schlechten Nahrung herkamen, lieber den Dienst weiter ertrugen und sich mit übermenschlicher Anstrengung in Reih und Glied fortschleppten, als daß sie ins Lazarett gingen. Seit Anfang des Frühlings fanden die Soldaten häufig eine aus der Erde herauskommende, spargelähnliche Pflanze, die sie aus nicht recht verständlichem Grund süße Marienwurzel nannten; sie zerstreuten sich über die Wiesen und Felder, um diese süße Marienwurzel (die sehr bitter schmeckte) zu suchen, gruben sie mit den Säbeln aus und aßen sie, obwohl der Genuß dieser schädlichen Pflanze verboten war. Im Frühjahr war bei den Soldaten eine neuartige Krankheit aufgetreten, Anschwellungen der Hände, der Füße und des Gesichtes, und die Ärzte betrachteten als die Ursache dieser Krankheit den Genuß jener Wurzel. Aber trotz des Verbots nährten sich die Pawlograder Husaren von Denisows Eskadron hauptsächlich von der süßen Marienwurzel, weil schon seit länger als einer Woche mit dem letzten Zwiebacksvorrat gespart und pro Mann nur noch ein halbes Pfund ausgegeben wurde und die Kartoffeln der letzten Zufuhr teils erfroren, teils ausgewachsen waren.

Auch die Pferde waren seit länger als einer Woche übel daran: sie bekamen nur das Stroh von den Hausdächern zu fressen, waren entsetzlich abgemagert und trugen noch ihr Winterhaar, das sich in Klümpchen zusammenballte.

Trotz dieses argen Elends lebten die Soldaten und die Offiziere genauso wie immer. Wie sonst, so traten die Husaren auch jetzt, wenn auch mit blassen, geschwollenen Gesichtern und in zerrissenen Uniformen, zum Appell an, gingen zum Haarkämmen und -schneiden, säuberten die Pferde und die Ausrüstungsgegenstände, schleppten statt des Futters das Stroh von den Dächern herbei und gingen, um ihr Mittagbrot zu essen, zu den Kesseln, von denen sie hungrig wieder aufstanden, wobei sie über ihre garstige Nahrung und über ihren Hunger noch ihre Späßchen machten. Ebenso wie sonst zündeten sich die Soldaten in ihrer dienstfreien Zeit offene Feuer an, um daran nackt zu schwitzen, rauchten ihre Pfeifen, verlasen die ausgewachsenen, fauligen Kartoffeln, kochten sie und erzählten sich Geschichten von den Potjomkinschen und Suworowschen Feldzügen oder Märchen von dem schlauen Alexei oder von dem Popenknecht Nikolai.

Die Offiziere wohnten wie gewöhnlich zu zweit oder zu dritt in den abgedeckten, halbzerstörten Häusern. Die älteren sorgten für die Beschaffung von Stroh und Kartoffeln, überhaupt für die Lebensbedürfnisse der Mannschaften, die jüngeren vergnügten sich wie immer teils mit Kartenspiel (Geld war in Hülle und Fülle da, wenngleich es an Proviant fehlte), teils mit harmlosen Spielen wie »Ring und Nagel«1 und Knüttelwerfen. Von dem allgemeinen Gang der Dinge wurde nur wenig gesprochen, teils weil man nichts Positives wußte, teils weil man dunkel ahnte, daß der allgemeine Verlauf des Krieges kein günstiger war.

Rostow wohnte wie früher mit Denisow zusammen, und ihr Freundschaftsbund war seit ihrem Urlaub noch enger und inniger geworden. Denisow sprach nie von Rostows Angehörigen; aber aus der geradezu zärtlichen Freundschaft, die der Vorgesetzte ihm, seinem Untergebenen, bewies, ersah Rostow, daß des alten Husaren unglückliche Liebe zu Natascha zu diesem hohen Grad von Zuneigung mitwirkte. Denisow war offenbar bemüht, Rostow möglichst selten Gefahren auszusetzen und ihn nach Kräften zu behüten, und wenn Rostow aus einem Gefecht heil und unversehrt zurückkam, begrüßte er ihn immer mit ganz besonderer Freude. Auf einem Dienstritt fand Rostow in einem verlassenen, zerstörten Dorf, wohin er gekommen war, um Lebensmittel zu suchen, einen alten Polen und dessen Tochter mit einem Säugling. Sie entbehrten der nötigsten Kleider, hungerten, konnten das Haus nicht verlassen und hatten keine Mittel, um fortzufahren. Rostow transportierte sie ins Lager, brachte sie in seinem Quartier unter und sorgte einige Wochen lang, bis der alte Mann sich einigermaßen erholt hatte, für ihren Unterhalt. Da machte sich einmal ein Kamerad Rostows, als von Frauen die Rede war, über Rostow lustig und sagte, der sei doch der schlauste von allen; es wäre aber nur in der Ordnung, wenn er nun auch die Kameraden mit der von ihm geretteten hübschen Polin bekanntmachte. Rostow faßte diesen Scherz als Beleidigung auf, bekam einen roten Kopf unangenehme Dinge, daß Denisow nur mit Mühe ein Duell zwischen den beiden verhindern konnte. Als der Offizier weggegangen war und Denisow, der selbst Rostows Beziehungen zu der Polin nicht kannte, ihm wegen seiner Heftigkeit Vorwürfe machte, da sagte Rostow zu ihm:

»Schilt mich nur aus … Aber sie ist mir wie eine Schwester, und ich kann dir nicht beschreiben, wie mich das beleidigt hat … weil … nun, und deshalb …«

Denisow schlug ihm auf die Schulter und begann, ohne Rostow anzusehen, mit schnellen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen, was er in Augenblicken starker Erregung zu tun pflegte.

»Seid ihr Rostows ein närrisches Volk!« sagte er dabei, und Rostow bemerkte Tränen in seinen Augen.

Fußnoten


1 Es kommt darauf an, mit der Spitze eines großköpfigen Nagels in einen auf der Erde liegenden Ring zu treffen.

Anmerkung des Übersetzers.


XVI

Im April versetzte die Nachricht von der Ankunft des Kaisers bei der Armee die Truppen in freudige Erregung. Rostow hatte nicht das Glück, an der Truppenschau teilnehmen zu können, die der Kaiser in Bartenstein abhielt: die Pawlograder befanden sich auf Vorposten, weit vor Bartenstein.

Sie lagen dort im Biwak. Denisow und Rostow wohnten in einer Erdhütte, die die Soldaten für sie ausgegraben und mit Reisig und Rasen gedeckt hatten. Die Erdhütte war in folgender Weise, die damals in Aufnahme gekommen war, konstruiert: es wurde ein Graben ausgehoben, etwa ein Meter breit, anderthalb Meter tief und zweieinhalb Meter lang. An dem einen Ende des Grabens wurden Stufen angelegt, und dies war der Zugang; der Graben selbst bildete das Zimmer; in diesem befand sich bei besonderen Günstlingen des Glücks, wie es der Eskadronchef war, an dem fernsten, den Stufen gegenüberliegenden Ende ein auf Pfählen ruhendes Brett, das den Tisch vorstellte. Auf den beiden Langseiten des Grabens war die Erde in einer Breite von zwei Dritteln Meter abgestochen, so daß zwei Betten oder Sofas entstanden. Das Dach war so konstruiert, daß man in der Mitte stehen konnte, und auf den Betten konnte man sogar sitzen, wenn man nahe an den Tisch heranrückte. Bei Denisow, der eine luxuriöse Wohnung hatte, da ihn die Soldaten seiner Eskadron gut leiden konnten, war an der Giebelseite des Daches noch ein Brett angebracht, und in dieses Brett war eine zerbrochene, aber wieder zusammengeklebte Fensterscheibe eingesetzt. Wenn es sehr kalt war, wurde auf die Stufen (in das Wartezimmer, wie Denisow diesen Teil der Hütte nannte) Glut von den Feuern der Soldaten auf einem gebogenen Eisenblech gestellt, und es wurde davon so warm, daß die Offiziere, von denen immer eine ganze Menge bei Denisow und Rostow zu Besuch war, in Hemdsärmeln zu sitzen pflegten.

Im April hatte Rostow eines Tages Dejour gehabt. Gegen acht Uhr morgens kehrte er nach einer schlaflosen Nacht nach Hause zurück, ließ Glut bringen, wechselte die vom Regen durchnäßte Wäsche, sprach sein Gebet, trank Tee, wärmte sich an den Kohlen, legte seine Sachen in seinem Winkelchen und auf dem Tisch in Ordnung, streckte sich in Hemdsärmeln auf dem Rücken aus und schob die Hände unter den Kopf. Die Gesichtshaut brannte ihm von dem Wind, dem er die Nacht über ausgesetzt gewesen war; aber er überließ sich angenehmen Gedanken über die Beförderung, die ihm nächster Tage als Lohn für seinen letzten Rekognoszierungsritt zuteil werden müsse, und wartete auf Denisow, der irgendwohin gegangen war. Rostow wollte gern mit ihm sprechen.

Hinter der Hütte wurde die laut kreischende Stimme Denisows hörbar, der offenbar sehr erregt war. Rostow rückte an das Fenster heran, um zu sehen, mit wem Denisow denn so zusammengeraten sei, und erblickte den Wachtmeister Toptschejenko.

»Ich habe dir doch befohlen, du sollst sie diese Wurzel, diese Marienwurzel, nicht fressen lassen!« schrie Denisow. »Aber ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Lasartschuk welche vom Feld hergebracht hat.«

»Ich habe es verboten, Euer Hochwohlgeboren«, antwortete der Wachtmeister. »Aber sie hören ja nicht.«

Rostow legte sich wieder auf sein Bett und dachte mit innigem Vergnügen: »Mag er sich jetzt abmühen und abplacken; ich habe meine Arbeit hinter mir und kann hier ruhig liegen. Famos!« Durch die Wand hindurch hörte er, daß außer dem Wachtmeister auch noch Lawrenti sprach, jener gewandte, schlaue Bursche Denisows. Lawrenti erzählte etwas von Fuhren, Zwieback und Ochsen, die er gesehen habe, als er weggeritten sei, um Lebensmittel zu beschaffen.

Hinter der Hütte erscholl wieder die sich entfernende, laut schreiende Stimme Denisows; es waren die Worte vernehmbar: »Satteln! Der zweite Beritt!«

»Wohin mögen die reiten?« dachte Rostow.

Fünf Minuten darauf kam Denisow in die Hütte herein, legte sich mit seinen schmutzigen Füßen auf das Bett, rauchte ärgerlich an seiner Pfeife, warf alle seine Sachen unordentlich durcheinander, hing sich die Kosakenpeitsche über die Schulter, band den Säbel um den Leib und schickte sich an, die Hütte zu verlassen. Auf Rostows Frage, wohin er denn wolle, antwortete er zornig und unbestimmt, er habe etwas zu tun.

»Mögen Gott und der Kaiser meine Richter sein!« sagte Denisow beim Hinausgehen, und Rostow hörte, wie hinter der Hütte die Füße mehrerer Pferde durch den Schmutz patschten. Es lag ihm nichts daran, zu erfahren, wohin Denisow ritt. Nachdem er in seiner Ecke warm geworden war, schlief er ein und trat erst gegen Abend aus der Hütte heraus. Denisow war noch nicht zurückgekehrt. Es war ein schöner, klarer Abend geworden. Bei der benachbarten Erdhütte spielten zwei Offiziere und ein Junker Ring und Nagel; unter Gelächter »pflanzten sie Rettiche« in die weiche, schmutzige Erde. Rostow gesellte sich zu ihnen. Mitten im Spiel erblickten die Offiziere einige Fuhrwerke, die sich ihnen näherten; etwa fünfzehn Husaren auf mageren Pferden ritten hinterher. Die von den Husaren eskortierten Fuhrwerke nahmen ihren Weg zu den Pferdebeständen hin, wo sie sogleich von einem großen Schwarm Husaren umringt wurden.

»Na, nun hat Denisow immer den Kopf hängenlassen, und nun ist doch noch Proviant gekommen«, sagte Rostow.

»Wahrhaftig!« riefen die Offiziere. »Na, das ist mal eine Freude für die Soldaten!«

Ein wenig hinter den Soldaten ritt Denisow, begleitet von zwei Infanterieoffizieren zu Pferd, mit denen er ein erregtes Gespräch führte.

Rostow ging ihm entgegen.

»Ich warne Sie, Major«, sagte einer der Infanterieoffiziere, ein kleiner, magerer Mann, der offenbar sehr ergrimmt war.

»Ich habe Ihnen schon mehrmals gesagt, daß ich es nicht wieder herausgebe«, antwortete Denisow.

»Sie werden sich deswegen zu verantworten haben, Major; das ist ja Gewalt – den eigenen Truppen die Transporte wegzunehmen! Unsere Leute haben seit zwei Tagen nichts zu essen gehabt.«

»Meine seit zwei Wochen nicht«, erwiderte Denisow.

»Das ist Raub; Sie werden dafür zur Verantwortung gezogen werden, mein Herr!« sagte der Infanterieoffizier noch einmal mit erhobener Stimme.

»Warum hängen Sie sich an mich wie die Kletten? He?« schrie Denisow, der plötzlich heftig wurde, den Offizieren zu. »Die Verantwortung trage ich, und nicht Sie; und nun schwadronieren Sie mir hier nicht die Ohren voll, oder es passiert Ihnen etwas. Machen Sie, daß Sie wegkommen!«

»Schön, schön!« rief der kleine Offizier, ohne sich einschüchtern zu lassen und ohne wegzureiten. »Straßenraub begehen, ich will Ihnen zeigen, was das zu bedeuten hat …«

»Zum Teufel, weg mit Ihnen, aber schleunigst! Oder es passiert was!« Denisow wendete sein Pferd zum Offizier hin.

»Schön, schön!« sagte der Offizier in drohendem Ton, wandte sein Pferd und ritt im Trab davon, wobei er auf dem Sattel hin und her gerüttelt wurde.

»Ein Hund auf einem Zaun, ein lebendiger Hund auf einem Zaun!« rief ihm Denisow nach, die stärkste Spötterei eines Kavalleristen über einen reitenden Infanteristen. Dann ritt er zu Rostow heran und lachte auf.

»Ich habe es der Infanterie weggenommen; ich habe ihnen mit Gewalt einen Transport weggenommen!« sagte er. »Na, sollten etwa unsere Leute Hungers sterben?«

Die Fuhrwerke, die zu den Husaren gekommen waren, waren für ein Infanterieregiment bestimmt gewesen; aber Denisow, der von Lawrenti erfahren hatte, daß keine Bedeckungsmannschaft bei diesem Transport war, hatte ihn mit seinen Husaren gewaltsam weggenommen. Nun wurde Zwieback in Menge an die Soldaten verteilt und sogar den anderen Eskadronen davon abgegeben.

Am andern Tag ließ der Regimentskommandeur Denisow zu sich kommen und sagte zu ihm, indem er sich die Hand mit ausgespreizten Fingern vor die Augen hielt: »Ich will die Sache so ansehen; ich weiß von nichts und werde keine Untersuchung anstellen; aber ich rate Ihnen, nach dem Hauptquartier zu reiten und die Geschichte dort beim Proviantamt in Ordnung zu bringen und womöglich zu quittieren, daß Sie soundsoviel Proviant empfangen haben; sonst wird die Forderung dem Infanterieregiment angeschrieben, es wird eine Untersuchung angestellt, und die Sache kann einen üblen Ausgang nehmen.«

Denisow ritt vom Regimentskommandeur geradewegs nach dem Hauptquartier, mit der aufrichtigen Absicht, diesen Rat zu befolgen. Aber am Abend kehrte er zu seiner Erdhütte in einem Zustand zurück, wie ihn Rostow bei seinem Freund noch nie gesehen hatte. Denisow konnte nicht sprechen und kaum Luft bekommen. Als Rostow ihn fragte, was ihm fehle, stieß er nur mit heiserer, schwacher Stimme unverständliche Schimpfworte und Drohungen aus. Erschrocken über Denisows Zustand, riet ihm Rostow, sich auszukleiden und Wasser zu trinken, und schickte nach dem Arzt.

»Mich wegen Raubes vor Gericht stellen – oh! Gib mir noch mehr Wasser! Meinetwegen können sie mich verurteilen; aber Schurken werde ich immer prügeln, ja, das werde ich … Und dem Kaiser werde ich es sagen. Gebt mir Eis«, fügte er hinzu.

Der Regimentsarzt kam und erklärte einen Aderlaß für notwendig. Eine Menge schwarzen Blutes, ein tiefer Teller voll, kam aus Denisows haarigem Arm heraus; dann erst war er imstande zu erzählen, was ihm begegnet war.

»Ich komme also hin«, erzählte Denisow. »›Wo ist hier euer Chef?‹ frage ich. Man wies mich zurecht. Ob ich nicht die Güte haben wollte, ein wenig zu warten. ›Ich habe meinen Dienst‹, sage ich. ›Ich bin dreißig Werst hergeritten und habe keine Zeit zu warten; melde mich an.‹ Na schön; da kommt nun dieser Oberspitzbube herein und erlaubt sich ebenfalls, mich zu belehren: ›Das ist Raub!‹ – ›Raub‹, sage ich ihm, ›begeht nicht, wer Proviant nimmt, um seine Soldaten zu ernähren, sondern wer ihn nimmt, um seine eigene Tasche zu füllen.‹ Ob ich nicht gefälligst schweigen wollte. ›Schön‹, sage ich. ›Quittieren Sie‹, sagt er, ›bei dem Intendanten; Ihre Angelegenheit wird vorschriftsmäßig an die höhere Stelle weitergegeben werden.‹ Ich gehe zum Intendanten. Ich trete ein … am Tisch sitzt … Nein, wer? Nun denke mal! Wer ist der Kerl, der uns Hungers sterben läßt?« schrie Denisow und schlug mit der Faust des kranken Armes so heftig auf den Tisch, daß dieser beinahe zusammenbrach und die daraufstehenden Gläser hüpften. »Teljanin!! ›Was?‹ schreie ich. ›Du läßt uns verhungern?!‹ Und damit gab ich ihm eins in die Fresse, und noch eins; es war mir gerade so handgerecht. ›So ein Schuft … so ein Halunke!‹ schrie ich und prügelte auf ihn los. Es war mir eine ordentliche Herzenserleichterung, kann ich sagen«, rief Denisow und fletschte vergnügt und grimmig unter dem schwarzen Schnurrbart seine weißen Zähne. »Ich hätte ihn totgeschlagen, wenn sie ihn mir nicht aus den Händen gerissen hätten.«

»Aber warum schreist du denn so? Beruhige dich doch!« sagte Rostow. »Dein Arm fängt ja wieder an zu bluten. Warte, wir müssen einen neuen Verband machen.«

Denisow wurde noch einmal verbunden und auf das Bett gelegt; er schlief bald ein. Am andern Tag erwachte er in ruhiger, heiterer Stimmung.

Aber am Mittag kam der Regimentsadjutant mit ernster, trüber Miene zu Denisows und Rostows gemeinsamer Erdhütte und überbrachte mit Bedauern ein dienstliches Schreiben vom Regimentskommandeur an den Major Denisow, worin diesem Fragen betreffs des Vorfalls vom vorhergehenden Tag vorgelegt wurden. Der Adjutant teilte mit, die Sache werde voraussichtlich eine recht schlimme Wendung nehmen; es sei eine kriegsgerichtliche Kommission ernannt worden, und bei der jetzt herrschenden Strenge gegen das Marodieren und gegen die Eigenmächtigkeit der einzelnen Truppenteile könne die Sache, im glücklichsten Fall, mit einer Degradation enden.

Von seiten der Beleidigten war der Hergang folgendermaßen dargestellt worden: nach der Wegnahme des Provianttransportes sei der Major Denisow, ohne irgendwie dazu aufgefordert zu sein, in betrunkenem Zustand beim Oberproviantmeister erschienen, habe ihn einen Dieb genannt und ihn mit Schlägen bedroht, und als man ihn dann hinausgebracht habe, sei er in das Bureau gestürzt, habe zwei Beamte mit Schlägen übel zugerichtet und dem einen von ihnen den Arm verrenkt.

Auf die erneuten Fragen Rostows erklärte Denisow lachend, es sei leicht möglich, daß ihm dort noch ein anderer unter die Hände gekommen sei; aber das alles sei Unsinn und dummes Zeug; es fiele ihm gar nicht ein, sich vor irgendeinem Gericht zu fürchten, und wenn diese Schurken sich erdreisten sollten, mit ihm anzubinden, so werde er ihnen eine Antwort erteilen, an die sie lange denken würden.

Denisow sprach geringschätzig von dieser ganzen Angelegenheit; aber Rostow kannte ihn zu gut, als daß er nicht hätte bemerken sollen, daß Denisow im stillen, obwohl er es vor anderen zu verbergen suchte, vor dem Gericht bange war und sich ernste Gedanken über diese Sache machte, von der offenbar zu befürchten war, daß sie für ihn üble Folgen haben werde. Alle Tage kamen nun Dienstschreiben mit Anfragen und gerichtliche Vorladungen, und am ersten Mai wurde Denisow angewiesen, seine Eskadron dem rangältesten Offizier nach ihm zu übergeben und im Hauptquartier des Korps zu erscheinen, um sich wegen der Wegnahme des Provianttransportes und wegen der im Proviantamt verübten Gewalttätigkeiten zu verantworten. Am Tage vor diesem Termin unternahm Platow mit zwei Kosakenregimentern und zwei Husareneskadronen eine größere Rekognoszierung gegen den Feind. Denisow ritt, wie immer, mit seiner Tapferkeit paradierend, über die Vorpostenlinie hinaus; da traf ihn die Kugel eines französischen Tirailleurs in die Weichteile des einen Oberschenkels. Vielleicht hätte sich Denisow zu anderer Zeit um einer so leichten Wunde willen nicht vom Regiment entfernt; aber jetzt benutzte er diesen Unfall, meldete nach dem Hauptquartier, daß er zu dem gerichtlichen Termin nicht erscheinen könne, und begab sich ins Lazarett.

XVII


Im Juni fand die Schlacht bei Friedland statt, an welcher die Pawlograder nicht teilnahmen, und gleich darauf wurde der Waffenstillstand verkündigt. Rostow, der die Abwesenheit seines Freundes schmerzlich empfand und seit dessen Weggang keine Nachricht von ihm hatte und sich über den Gang seiner Gerichtssache und um seine Wunde beunruhigte, benutzte den Waffenstillstand und erbat sich Urlaub, um sich im Lazarett nach Denisow umzusehen.

Das Lazarett befand sich in einem kleinen preußischen Städtchen, das zweimal durch russische und französische Truppen verwüstet worden war. Gerade weil es Sommer und draußen auf dem Feld so schön war, bot dieses Städtchen mit den durchlöcherten Dächern, den zerbrochenen Zäunen, den schmutzigen Straßen, den zerlumpten Einwohnern und den betrunkenen und kranken Soldaten, die sich dort umhertrieben, ein besonders trauriges Schauspiel.

In einem steinernen Gebäude, an welchem die Fensterrahmen und Fensterscheiben zum Teil herausgeschlagen waren, war das Lazarett untergebracht. Auf dem Hof, der von Überresten eines zerbrochenen Zaunes umgeben war, gingen und saßen in der Sonne einige blaß und geschwollen aussehende Soldaten mit Verbänden.

Sowie Rostow in die Haustür trat, schlug ihm der Krankenhaus- und Verwesungsgeruch entgegen. Auf der Treppe begegnete er einem russischen Militärarzt mit der Zigarre im Mund. Hinter dem Arzt her kam ein russischer Heilgehilfe.

»Ich kann mich doch nicht zerreißen«, sagte der Arzt. »Komm heut abend zu Makar Alexejewitsch; ich werde dasein.«

Der Heilgehilfe fragte ihn nach etwas.

»Ach, mach das, wie du willst! Es ist ja ganz gleich!« Der Arzt erblickte Rostow, der die Treppe heraufkam. »Was wollen Sie hier, Euer Wohlgeboren?« sagte er. »Was wollen Sie hier? Sie wollen sich wohl, da Sie keine Kugel getroffen hat, hier den Typhus holen? Das ist hier ein Haus der Ansteckung, bester Herr!«

»Wieso?« fragte Rostow.

»Typhus, bester Herr! Wer hereinkommt, stirbt. Nur wir beide, ich und Makjejew« (er zeigte auf den Heilgehilfen), »rackern uns hier noch ab. Von uns Ärzten sind hier schon fünfe weggestorben. Wenn ein neuer hier antritt, so ist er in einer Woche fertig«, sagte der Arzt mit sichtlichem Vergnügen. »Wir haben um preußische Ärzte gebeten; aber unsere Verbündeten haben keine Neigung herzukommen.«

Rostow erklärte ihm, er wünsche einen Husarenmajor Denisow, der hier liege, zu besuchen.

»Weiß nichts von ihm; kenne ich nicht, bester Herr. Bedenken Sie nur: ich allein habe drei Lazarette mit mehr als vierhundert Kranken! Ein Glück noch, daß wohltätige preußische Damen uns Kaffee und Scharpie schicken, zwei Pfund monatlich; sonst wären wir ganz verloren.« Er lachte. »Vierhundert, bester Herr, und dabei schicken sie mir immer noch neue her. Es sind ja doch wohl vierhundert, nicht wahr?« wandte er sich an den Heilgehilfen. Der Heilgehilfe sah erschöpft aus. Offenbar wartete er mit Ungeduld, ob der redselige Doktor nicht bald weggehen werde.

»Ein Major Denisow«, sagte Rostow noch einmal. »Er ist bei Molitten verwundet worden.«

»Der wird wohl gestorben sein. Nicht wahr, Makjejew?« fragte der Arzt in gleichgültigem Ton den Heilgehilfen.

Der Heilgehilfe jedoch gab keine bejahende Antwort.

»War das so ein langer, mit rötlichem Haar?« fragte der Arzt.

Rostow beschrieb Denisows Äußeres.

»Ja, ja, so einer ist hiergewesen!« rief der Arzt erfreut. »Der ist wahrscheinlich gestorben; übrigens kann ich es ja genauer feststellen lassen; es ist eine Liste bei uns vorhanden. Hast du die Liste, Makjejew?«

»Die Liste ist bei Makar Alexejewitsch«, antwortete der Heilgehilfe. »Aber kommen Sie doch in die Offiziersstuben herein; da können Sie ja selbst sehen, ob der Herr da ist«, fügte er, sich zu Rostow wendend, hinzu.

»Ach, gehen Sie lieber nicht hinein, bester Herr«, sagte der Arzt, »sonst müssen Sie am Ende noch selbst hierbleiben.«

Aber Rostow machte dem Arzt eine Abschiedsverbeugung und bat den Heilgehilfen, ihn zu führen.

»Aber machen Sie mir nachher keine Vorwürfe!« rief ihm der Arzt noch vom Fuß der Treppe aus nach.

Rostow betrat mit dem Heilgehilfen einen Korridor. Der Lazarettgeruch war auf diesem dunklen Korridor so stark, daß Rostow nach seiner Nase griff und einen Augenblick stehenbleiben mußte, um zum Weitergehen Kraft zu sammeln. Auf der rechten Seite öffnete sich eine Tür, und es schob sich ein auf Krücken gehender, hagerer Mann mit gelblicher Hautfarbe heraus; er war barfuß und nur mit Unterzeug bekleidet. Sich an den Türpfosten lehnend, blickte er mit neidisch funkelnden Augen die Vorübergehenden an. Bei einem Blick durch die Tür sah Rostow, daß die Kranken und Verwundeten dort auf dem Fußboden lagen, auf Stroh und Mänteln.

»Darf ich hineingehen und es mir ansehen?« fragte Rostow.

»Was ist daran zu sehen?« erwiderte der Heilgehilfe.

Aber gerade weil der Heilgehilfe ihn augenscheinlich nicht gern hineinließ, trat Rostow in dieses Soldatenzimmer ein. Der Geruch, an den er sich auf dem Korridor schon einigermaßen gewöhnt gehabt hatte, war hier noch stärker. Er nahm sich hier etwas anders aus: er war schärfer, und es war zu merken, daß er gerade von hier ausging.

In einem langen Zimmer, in das die Sonne durch große Fenster grell hereinschien, lagen die Kranken und Verwundeten in zwei Reihen, mit den Köpfen nach den Wänden zu, so daß in der Mitte ein Durchgang frei blieb. Ein großer Teil von ihnen schlief oder lag in stumpfer Teilnahmslosigkeit da und beachtete die Eintretenden nicht. Diejenigen, die bei klarem Bewußtsein waren, richteten sich sämtlich auf oder hoben wenigstens ihre mageren, gelblichen Gesichter in die Höhe, und alle blickten mit dem gleichen Gesichtsausdruck, in welchem sich die Hoffnung auf Hilfe mit vorwurfsvollem Neid auf fremde Gesundheit paarte, nach Rostow hin. Rostow ging bis in die Mitte des Zimmers, blickte durch die offenstehenden Türen in die beiden danebenliegenden Zimmer hinein und sah auf beiden Seiten dasselbe Bild. Er blieb stehen und schaute schweigend um sich herum. So etwas zu sehen, darauf war er nicht gefaßt gewesen. Dicht vor ihm lag, fast quer über dem Durchgang in der Mitte, auf dem bloßen Fußboden ein Kranker, wahrscheinlich ein Kosak, da sein Kopf den eigenartigen runden Haarschnitt aufwies. Dieser Kosak lag auf dem Rücken, die großen Arme und Beine weit auseinandergespreizt. Sein Gesicht war blaurot, die Augen vollständig verdreht, so daß nur das Weiße sichtbar war, und an seinen nackten Füßen und den noch rot aussehenden Händen traten die geschwollenen Adern wie Stricke hervor. Er schlug fortwährend mit dem Hinterkopf auf den Fußboden und murmelte etwas mit heiserer Stimme, indem er immer dasselbe Wort wiederholte. Rostow horchte auf das, was er sagte, hin und verstand das Wort, das er fortwährend sprach. Dieses Wort war: »Trinken, trinken, trinken!« Rostow blickte um sich und suchte mit den Augen jemand, der den Kranken auf seinen Platz legen und ihm Wasser reichen könnte.

»Wer wartet hier die Kranken?« fragte er den Heilgehilfen.

In diesem Augenblick kam aus dem anstoßenden Zimmer ein Trainsoldat herein, der den Dienst eines Krankenwärters versah, ging mit strammem Schritt auf Rostow zu und machte vor ihm militärisch Front.

»Wünsche Gesundheit1, Euer Hochwohlgeboren!« schrie dieser Soldat mit lauter Stimme und blickte, die Augen herauspressend, Rostow starr an; er hielt ihn offenbar für einen höheren Lazarettbeamten.

»Schaff doch diesen Mann fort, und gib ihm Wasser«, sagte Rostow, auf den Kosaken weisend.

»Zu Befehl, Euer Hochwohlgeboren«, erwiderte der Soldat mit vergnügtem Gesicht; er verwandte noch größere Anstrengung darauf, die Augen herauszudrücken und strammzustehen, rührte sich aber nicht vom Fleck.

»Nein, hier ist nichts auszurichten«, dachte Rostow und schlug die Augen nieder; er wollte schon das Zimmer verlassen, da bemerkte er, daß von der rechten Seite her ein Blick mit besonderer Absichtlichkeit auf ihn gerichtet war, und sah danach hin. Fast ganz in der Ecke saß auf einem Mantel, mit gelbem, skelettartigem, finsterem Gesicht und unrasiertem grauen Bart, ein alter Soldat und blickte Rostow unverwandt an. Der Nebenmann des alten Soldaten auf der einen Seite flüsterte ihm etwas zu und zeigte dabei auf Rostow. Rostow merkte, daß der Alte ihn um etwas zu bitten beabsichtigte. Er trat näher heran und sah, daß der Alte nur das eine Bein gebogen hielt, das andere aber ihm bis über das Knie hinauf fehlte. Der andere Nebenmann des Alten lag etwas weiter von ihm entfernt, ohne sich zu rühren, mit zurückgeworfenem Kopf; es war ein junger Soldat mit einer wachsartigen Blässe auf dem stumpfnasigen, mit Sommersprossen bedeckten Gesicht; die Augen waren ganz unter die Lider verdreht. Rostow warf einen forschenden Blick auf den stumpfnasigen Soldaten, und ein Schauder lief ihm über den Rücken.

»Aber dieser hier ist ja, wie es scheint …«, wandte er sich an den Heilgehilfen.

»Wir haben schon so gebeten, Euer Wohlgeboren«, sagte der alte Soldat mit zitterndem Unterkiefer. »Schon frühmorgens ist er gestorben. Wir sind ja doch auch Menschen und keine Hunde …«

»Ich werde gleich Leute herschicken und ihn fortschaffen lassen«, sagte der Heilgehilfe eilig. »Bitte, kommen Sie, Euer Wohlgeboren.«

»Ja, wir wollen gehen, wir wollen gehen«, erwiderte Rostow hastig, und indem er mit niedergeschlagenen Augen und in gekrümmter Haltung sich bemühte, unbemerkt durch die Doppelreihe dieser vorwurfsvoll und neidisch nach ihm hinblickenden Augen hindurchzugehen, verließ er das Zimmer.

Fußnoten


1 Der vorschriftsmäßige Gruß.

Anmerkung des Übersetzers.


XVIII

Den Korridor weiter entlang führte der Heilgehilfe Rostow zu der Offiziersabteilung, die aus drei Zimmern bestand, deren Verbindungstüren geöffnet waren. In diesen Zimmern waren Betten vorhanden; die verwundeten und kranken Offiziere saßen und lagen darauf. Einige gingen, mit Lazarettschlafröcken bekleidet, in den Zimmern umher. Die erste Person, auf welche Rostow in den Offizierszimmern traf, war ein kleines, mageres Männchen mit nur einem Arm, das in Schlafmütze und Lazarettschlafrock, eine kleine Tabakspfeife zwischen den Zähnen, im ersten Zimmer auf und ab ging. Rostow blickte ihn an und suchte in seinem Gedächtnis nach, wo er ihn wohl schon gesehen habe.

»Nun sehen Sie einmal, an was für einem Ort uns Gott wieder zusammenführt«, sagte der kleine Mann. »Tuschin, Tuschin; erinnern Sie sich? Ich transportierte Sie bei Schöngrabern auf einem Geschütz. Aber mir haben sie ein Stückchen vom Leib abgeschnitten; da!« fügte er lächelnd hinzu und deutete auf den leeren Rockärmel. »Sie suchen Wasili Dmitrijewitsch Denisow; der ist unser Wohnungskamerad!« sagte er, als er hörte, zu wem Rostow wollte. »Hier, hier!« und Tuschin führte ihn in eines der anderen Zimmer, aus welchem das Gelächter mehrerer Personen heraustönte.

»Wie ist es nur möglich, hier zu lachen, ja überhaupt nur zu leben?« dachte Rostow, der immer noch den Leichengeruch zu spüren glaubte, den er in der Soldatenabteilung eingeatmet hatte, und immer noch um sich herum die neidischen Blicke sah, die ihn von beiden Seiten begleiteten, und das Gesicht des jungen Soldaten mit den gebrochenen Augen.

Denisow lag im Bett, mit dem Kopf unter der Decke, und schlief, obgleich es bald zwölf Uhr war.

»Ah, Rostow! Guten Tag, guten Tag!« schrie er mit derselben lauten Stimme wie ehemals beim Regiment; aber Rostow merkte an Denisows Gesichtsausdruck, Tonfärbung und Worten mit Betrübnis, daß sich hinter dieser gewöhnlichen Form der Ungezwungenheit und Lebhaftigkeit neue Gedanken, Gedanken trauriger Art, verbargen.

Seine Wunde war trotz ihrer Geringfügigkeit immer noch nicht verheilt, obgleich schon sechs Wochen vergangen waren, seit er sie empfangen hatte. Sein Gesicht hatte dasselbe blasse, gedunsene Aussehen, wie die Gesichter aller Lazarettinsassen. Aber das überraschte Rostow nicht sonderlich; was ihn betroffen machte, war, daß Denisow sich über seinen Besuch nicht zu freuen schien, und daß das Lächeln, mit dem er ihn ansah, etwas Gezwungenes hatte. Denisow erkundigte sich weder nach dem Regiment noch nach dem allgemeinen Gang der Dinge. Sooft Rostow davon zu sprechen anfing, hörte Denisow nicht zu.

Rostow hatte sogar die Empfindung, daß es Denisow unangenehm war, an das Regiment und überhaupt an jenes andere, freie Leben, das sich außerhalb des Lazaretts abspielte, erinnert zu werden. Es schien, daß er sich bemühte, jenes frühere Leben zu vergessen, und sich nur noch für seine Affäre mit den Proviantbeamten interessierte. Auf Rostows Frage, in welchem Stadium sich die Angelegenheit befinde, zog er sogleich unter seinem Kopfkissen ein Schreiben, das er von der Gerichtskommission erhalten hatte, und das Konzept seiner Antwort darauf hervor. Sowie er seine Antwort vorzulesen begann, wurde er lebhaft und machte Rostow besonders auf die Anzüglichkeiten aufmerksam, die er seinen Feinden darin gesagt hatte. Denisows Lazarettgenossen, die bereits angefangen hatten, sich um Rostow als einen neuen Ankömmling aus der freien Welt zu sammeln, gingen allmählich wieder auseinander, als Denisow sein Schriftstück vorzulesen begann. An ihren Gesichtern merkte Rostow, daß alle diese Herren diese ganze Geschichte bereits zu wiederholten Malen gehört hatten, und daß sie ihnen schon langweilig geworden war. Nur Denisows Bettnachbar, ein dicker Ulan, blieb auf seiner Matratze sitzen und rauchte mit finster zusammengezogenen Augenbrauen seine Pfeife, und auch der kleine, einarmige Tuschin hörte weiter zu und schüttelte ab und zu mißbilligend mit dem Kopf. Mitten im Vorlesen unterbrach der Ulan Denisow.

»Meiner Ansicht nach«, sagte er, zu Rostow gewendet, »müßte er einfach ein Gnadengesuch an den Kaiser einreichen. Es heißt, daß jetzt große Belohnungen verteilt werden sollen, und da würde ihm wahrscheinlich verziehen werden …«

»Ich soll den Kaiser um Gnade bitten!« rief Denisow mit einer Stimme, der er die frühere Energie und Heftigkeit zu geben suchte, der man aber nur eine nutzlose Gereiztheit anhörte. »Was soll mir denn verziehen werden? Wenn ich ein Räuber wäre, dann würde ich um Gnade bitten; so aber komme ich vor Gericht, weil ich Räuber entlarvt habe. Mögen sie über mich zu Gericht sitzen; ich fürchte mich vor niemand: ich habe dem Zaren und dem Vaterland ehrlich gedient und nicht gestohlen! Und da wollen sie mich degradieren und … Hör mal, ich werde das ganz unverblümt schreiben; so werde ich schreiben: ›Wenn ich Staatsgut gestohlen hätte wie gewisse andere Leute‹ …«

»Fein ausgedrückt; das ist nicht zu bestreiten«, sagte Tuschin. »Aber darauf kommt es jetzt nicht an, Wasili Dmitrijewitsch.« Er wandte sich ebenfalls an Rostow. »Man muß sich in der Welt beugen, und das will Wasili Dmitrijewitsch nicht. Der Auditeur hat Ihnen doch gesagt, daß Ihre Sache schlecht steht.«

»Na, meinetwegen kann sie schlecht stehen!« erwiderte Denisow.

»Der Auditeur hat Ihnen doch auch eine Bittschrift verfaßt«, fuhr Tuschin fort; »die brauchen Sie ja nur zu unterschreiben und durch diesen Herrn« (er wies auf Rostow) »abzusenden. Der Herr hat gewiß irgendwelche Verbindungen beim Stab. Eine bessere Gelegenheit können Sie gar nicht finden.«

»Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich mich nicht erniedrigen werde«, unterbrach ihn Denisow und fuhr wieder fort, sein Schriftstück vorzulesen.

Rostow wagte nicht, seinem Freund zuzureden, obgleich ihm sein natürliches Gefühl sagte, daß der von Tuschin und dem andern Offizier angeratene Weg der aussichtsreichste sei, und obgleich er sich glücklich geschätzt hätte, wenn er Denisow hätte hilfreich sein können; aber er kannte Denisows unbeugsamen Willen und sein hitziges Rechtsgefühl nur zu gut.

Als Denisow mit dem Vorlesen seiner bissigen Antwort, das über eine Stunde gedauert hatte, fertig war, sagte Rostow darüber kein Wort und verbrachte den übrigen Teil des Tages in trübster Stimmung, in der Gesellschaft der sich wieder um ihn sammelnden Lazarettgenossen Denisows, indem er erzählte, was er wußte, und die Erzählungen der anderen anhörte. Denisow beobachtete die ganze Zeit hindurch ein finsteres Schweigen.

Spät am Abend machte sich Rostow fertig, um wieder wegzureiten, und fragte Denisow, ob er ihm nichts aufzutragen habe.

»Ja, warte«, antwortete dieser, sah sich nach den Offizieren um, holte unter dem Kopfkissen seine Papiere hervor, ging an ein Fensterbrett, auf dem er ein Schreibzeug stehen hatte, und setzte sich nieder, um zu schreiben.

»Ich sehe ein: man kann nicht mit dem Kopf durch die Mauer rennen«, sagte er, als er vom Fenster wieder aufstand, und reichte seinem Freund Rostow einen großen Brief. Es war das von dem Auditeur verfaßte, an den Kaiser gerichtete Bittgesuch, in welchem Denisow, ohne die Vergehungen der Proviantbeamten zu erwähnen, einfach um Gnade bat.

»Überreiche das. Ich sehe ein …«

Er sprach den Satz nicht zu Ende und lächelte in einer schmerzlich gezwungenen Weise.

XIX


Nachdem Rostow zum Regiment zurückgekehrt war und dem Kommandeur über den Stand von Denisows Angelegenheit Bericht erstattet hatte, fuhr er mit dem Brief an den Kaiser nach Tilsit.

Am 13. Juni fand die Zusammenkunft der Kaiser von Frankreich und Rußland in Tilsit statt. Boris Drubezkoi hatte den hochgestellten Herrn, in dessen persönlichem Dienst er war, gebeten, dem Gefolge zugeteilt zu werden, das mit nach Tilsit gehen sollte.

»Ich möchte gern den großen Mann sehen«, sagte er und meinte damit Napoleon, den er bisher immer, ebenso wie alle andern Leute, Bonaparte genannt hatte.

»Du meinst Bonaparte?« fragte ihn der General lächelnd.

Boris blickte seinen General fragend an und durchschaute sogleich, daß es sich um eine scherzhafte Prüfung handelte.

»Euer Durchlaucht, ich meine den Kaiser Napoleon«, antwortete er. Der General klopfte ihm lächelnd auf die Schulter.

»Du wirst es einmal weit bringen«, sagte er zu ihm und nahm ihn mit.

Boris befand sich am Tag der Kaiserzusammenkunft mit wenigen anderen mit auf dem Niemen. Er sah das Floß mit den Initialen der beiden Kaisernamen; er sah, wie Napoleon am andern Ufer an der französischen Garde entlanggeritten kam; er sah das nachdenkliche Gesicht Kaiser Alexanders, als dieser schweigend in einer Schenke am Ufer des Niemen saß und auf Napoleons Ankunft wartete; er sah, wie die beiden Kaiser in Kähne stiegen, und wie Napoleon, der früher zum Floß gelangt war, mit schnellen Schritten vorwärtsging und, als er dem Kaiser Alexander begegnete, ihm die Hand reichte, und wie dann beide in dem Pavillon verschwanden. Seit seinem Eintritt in die höheren Sphären hatte Boris es sich zur Regel gemacht, das, was um ihn herum vorging, aufmerksam zu beobachten und sich Notizen darüber aufzuschreiben. Während der Zusammenkunft in Tilsit erkundigte er sich nach den Namen der Persönlichkeiten, die mit Napoleon gekommen waren, nach den Uniformen, die sie trugen, und horchte achtsam auf jedes Wort, das von wichtigen Personen gesprochen wurde. In dem Augenblick, als die Kaiser in den Pavillon traten, sah er nach der Uhr und vergaß nicht, wieder nachzusehen, als Alexander aus dem Pavillon heraustrat. Das Zusammensein hatte eine Stunde und dreiundfünfzig Minuten gedauert: er notierte sich das gleich an jenem Abend mit anderen Tatsachen, die, wie er sich sagte, eine historische Bedeutung hatten. Da die Suite des Kaisers nur sehr klein war, so war es für jemand, dem es auf eine gute Karriere ankam, eine sehr wichtige Sache, bei der Kaiserzusammenkunft in Tilsit anwesend gewesen zu sein, und jetzt, wo es ihm gelungen war, nach Tilsit zu kommen, fühlte Boris, daß seine Stellung von nun an eine völlig gesicherte sei. Man kannte ihn nicht nur, sondern man beachtete ihn auch und hatte sich daran gewöhnt, ihn zu sehen. Zweimal hatte er Aufträge an den Kaiser selbst auszurichten gehabt, so daß der Kaiser ihn von Ansehen kannte, und die Herren aus der Umgebung des Kaisers sahen Boris nicht mehr, wie früher, als eine unbekannte Erscheinung erstaunt an, sondern sie hätten sich jetzt vielmehr gewundert, wenn er nicht dagewesen wäre.

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