Der Jesaul kniff seine hellen Augen zusammen und nickte beifällig mit dem Kopf.
»Freilich ist es dasselbe; darüber ist nicht zu streiten«, erwiderte Denisow. »Aber ich mag es nicht auf mein Gewissen nehmen. Du sagst, sie sterben. Na gut. Aber sie sollen nicht durch meine Schuld sterben.«
Dolochow lachte auf.
»Sie hätten ja auch ihrerseits mich schon zwanzigmal gefangennehmen können. Und wenn sie uns gefangennehmen, mich und dich mit deiner Ritterlichkeit, so hängen sie uns einen wie den andern ohne Unterschied auf.« Er schwieg ein Weilchen. »Aber nun müssen wir uns ans Werk machen. Schickt mir meinen Kosaken mit dem Bündel her. Ich habe zwei französische Uniformen mit. Nun, reitest du mit mir?« fragte er Petja.
»Ich? Ja, ja, unbedingt!« rief Petja tief errötend und warf dabei einen Blick nach Denisow.
Auch jetzt wieder hatte Petja, während Dolochow mit Denisow darüber stritt, was man mit den Gefangenen tun müsse, ein Gefühl der Unbehaglichkeit gehabt; aber es war ihm wieder nicht gelungen, recht zu verstehen, wovon sie sprachen. »Wenn große, angesehene Männer so denken, so wird es so wohl notwendig und gut sein«, dachte er. »Aber vor allen Dingen darf Denisow nicht zu glauben wagen, er könne mir befehlen und ich sei sein gehorsamer Untergebener. Unter allen Umständen reite ich mit Dolochow in das französische Lager. Was er kann, kann ich auch!«
Auf alle Ermahnungen Denisows, den Ritt zu unterlassen, antwortete Petja, auch er sei gewöhnt, in allem sorgsam zu verfahren und nicht so aufs Geratewohl, und denke nie an Gefahr für seine eigene Person.
»Denn das werden Sie ja selbst zugeben müssen: wenn man nicht genau weiß, wieviel da sind … Davon hängt vielleicht das Leben von Hunderten ab, und wir sind unser nur zwei. Und dann habe ich die größte Lust dazu. Und ich reite unbedingt mit, unbedingt. Suchen Sie mich nicht mehr zurückzuhalten«, sagte er, »das bestärkt mich nur in meinem Entschluß …«
IX
Mit französischen Mänteln und Tschakos ausstaffiert, ritten Dolochow und Petja nach jenem Durchhau, von welchem aus Denisow das Lager in Augenschein genommen hatte, und dann, als sie aus dem Wald herausgekommen waren, in den Grund hinunter. Unten angelangt, befahl Dolochow den Kosaken, die ihn begleiteten, dort zu warten, und ritt in starkem Trab den Weg entlang zur Brücke hin. Petja, vor Aufregung seiner selbst kaum mächtig, ritt neben ihm.
»Wenn wir gefaßt werden, so ergebe ich mich nicht lebendig; ich habe eine Pistole«, flüsterte Petja.
»Sprich nicht russisch«, flüsterte Dolochow schnell zurück, und in demselben Augenblick erscholl in der Dunkelheit der Anruf: »qui vive?«, und der Hahn eines Gewehres knackte.
Das Blut stieg Petja ins Gesicht, und er griff nach seiner Pistole.
»Lanciers vom sechsten Regiment«, antwortete Dolochow, ohne den Gang seines Pferdes zu beschleunigen oder zu verlangsamen.
Auf der Brücke stand die schwarze Gestalt einer Schildwache.
»Die Parole!«
Dolochow hielt das Pferd zurück und ritt im Schritt.
»Sagen Sie doch, ist Oberst Gérard hier?« fragte er.
»Die Parole!« sagte die Schildwache noch einmal, ohne auf die Frage zu antworten, und vertrat ihnen den Weg.
»Wenn ein Offizier seine Runde macht, fragen die Schildwachen nicht nach der Parole …«, rief Dolochow, plötzlich auffahrend, und ritt auf die Schildwache los. »Ich frage Sie, ob der Oberst hier ist.«
Und ohne die Antwort des beiseite tretenden Postens abzuwarten, ritt Dolochow im Schritt bergan.
Als er den schwarzen Schatten eines quer über den Weg gehenden Menschen bemerkte, hielt Dolochow diesen Menschen an und fragte ihn, wo der Kommandeur und die Offiziere seien. Der Mann, ein Soldat mit einem Sack auf der Schulter, blieb stehen, trat nahe an Dolochows Pferd heran, berührte es mit der Hand und erzählte schlicht und freundlich, der Kommandeur und die Offiziere seien weiter oben auf der Anhöhe, rechts, auf dem Hof der Ferme, wie er das Gutshaus nannte.
Sie verfolgten den Weg weiter, wobei sie auf beiden Seiten von den Wachfeuern her französische Gespräche hörten. Dann bog Dolochow in den Hof des Gutshauses ein. Nachdem er das Tor passiert hatte, stieg er vom Pferd und näherte sich einem großen, hell lodernden Wachfeuer, um welches herum eine Anzahl von Menschen saßen, die in lauter Unterhaltung begriffen waren. In einem Kessel kochte etwas, und ein Soldat, in einem blauen Mantel und mit einer Zipfelmütze, kniete, vom Feuer hell beleuchtet, davor und rührte darin mit einem Ladestock.
»Ach, das ist ein zähes Tier; das wird gar nicht weich zu kriegen sein«, sagte einer der Offiziere, die auf der gegenüberliegenden Seite des Wachfeuers im Schatten saßen.
»Er wird die Kaninchen schon Mores lehren« (eine französische Redensart), sagte ein anderer lachend.
Beide verstummten und spähten in die Dunkelheit hinein, als sie das Geräusch der Schritte Dolochows und Petjas vernahmen, die mit ihren Pferden auf das Wachfeuer zukamen.
»Guten Abend, meine Herren!« sagte Dolochow laut und deutlich.
Die Offiziere im Schatten hinter dem Wachfeuer kamen in Bewegung, und einer von ihnen, ein Mann von hohem Wuchs, mit langem Hals, ging um das Feuer herum und trat auf Dolochow zu.
»Sind Sie es, Clément?« fragte er. »Wo kommen Sie denn her, hol Sie …« Aber er sprach nicht zu Ende, da er seinen Irrtum gewahr wurde, begrüßte nun, leise die Stirn runzelnd, Dolochow wie einen Unbekannten und fragte ihn, womit er ihm dienen könne.
Dolochow erzählte, er und sein Kamerad suchten ihr Regiment wieder einzuholen, und fragte, indem er sich an alle zusammen wandte, ob die Offiziere nicht etwas vom sechsten Regiment wüßten. Niemand wußte etwas, und es kam Petja so vor, als ob die Offiziere anfingen ihn und Dolochow mit feindseligen, argwöhnischen Blicken zu betrachten. Einige Sekunden lang schwiegen alle.
»Wenn Sie auf die Abendsuppe gerechnet haben, so sind Sie zu spät gekommen«, sagte eine Stimme hinter dem Wachfeuer hervor mit verhaltenem Lachen.
Dolochow antwortete, sie seien satt und müßten noch in der Nacht weiterreiten. Er gab die Pferde an den Soldaten ab, der im Kessel rührte, und kauerte sich bei dem Wachfeuer neben dem Offizier mit dem langen Hals hin. Dieser Offizier blickte Dolochow unverwandt an und fragte ihn noch einmal, von welchem Regiment er wäre. Dolochow antwortete nicht, als ob er die Frage nicht gehört hätte, rauchte ein kurzes französisches Pfeifchen an, das er aus der Tasche geholt hatte, und fragte die Offiziere darüber aus, in welchem Maße die vor ihnen liegende Straße vor Kosaken sicher sei.
»Diese Räuber sind überall«, antwortete ein Offizier hinter dem Wachfeuer hervor.
Dolochow bemerkte, die Kosaken seien nur für solche Nachzügler, wie er und sein Kamerad, zu fürchten; größere Abteilungen zu überfallen würden die Kosaken ja wohl nicht wagen, fügte er in fragendem Ton hinzu. Niemand antwortete etwas darauf.
»Nun, jetzt wird er doch endlich aufbrechen«, dachte Petja, der bei dem Wachfeuer stand und das Gespräch mit anhörte, jeden Augenblick. Aber Dolochow nahm das abgebrochene Gespräch wieder auf und erkundigte sich geradezu, wieviel Mann bei ihnen in jedem Bataillon seien, wieviel Bataillone sie hätten und wieviel Gefangene. Als er nach den russischen Gefangenen fragte, die bei der Abteilung waren, sagte er:
»Ein widerwärtiges Geschäft, diese Leichname hinter sich her zu schleppen. Das beste wäre, die ganze Bande totzuschießen.« Und er schlug ein lautes, so sonderbares Gelächter auf, daß Petja meinte, die Franzosen würden nun sofort den Betrug erkennen, und unwillkürlich einen Schritt vom Wachfeuer zurücktrat.
Niemand antwortete auf Dolochows Worte und auf sein Lachen, und ein französischer Offizier, dessen Gesicht bisher nicht zu sehen gewesen war (er lag in seinen Mantel eingemummt da), richtete sich halb auf und flüsterte einem Kameraden etwas zu. Dolochow stand auf und rief den Soldaten mit den Pferden.
»Ob wohl die Pferde gebracht werden oder nicht?« dachte Petja und trat unwillkürlich näher an Dolochow heran.
Die Pferde wurden gebracht.
»Adieu, meine Herren«, sagte Dolochow.
Petja wollte gleichfalls Adieu sagen, vermochte aber keine Silbe herauszubringen. Die Offiziere sprachen flüsternd miteinander. Dolochow hatte lange damit zu tun, auf sein Pferd hinaufzukommen, das nicht stand; dann ritt er im Schritt aus dem Tor hinaus. Petja ritt hinter ihm her; gern hätte er sich umgedreht, um zu sehen, ob die Franzosen ihnen nachliefen oder nicht; aber er wagte es nicht.
Als die auf die Landstraße gekommen waren, ritt Dolochow nicht zurück aufs Feld, sondern die Straße entlang durch das Dorf. An einer Stelle hielt er an und horchte. »Hörst du?« sagte er. Petja erkannte die Klänge russischer Stimmen und erblickte neben einigen Wachfeuern die dunklen Gestalten der russischen Gefangenen. Dann ritten Dolochow und Petja zu der Brücke hinab und an der Schildwache vorüber, die, ohne ein Wort zu sagen, mürrisch auf der Brücke umherging, und gelangten in den Grund, wo die Kosaken sie erwarteten.
»Nun, jetzt lebe wohl. Bestelle an Denisow: beim Morgengrauen, beim ersten Schuß«, sagte Dolochow und wollte davonreiten; aber Petja griff mit der Hand nach ihm und hielt ihn fest.
»Nein!« rief er. »Was sind Sie für ein Held! Ach, wie prächtig, wie herrlich das alles ist! Wie liebe ich Sie!«
»Gut, gut«, sagte Dolochow.
Aber Petja ließ ihn nicht los, und Dolochow bemerkte in der Dunkelheit, daß Petja sich zu ihm hinbog. Er wollte ihn küssen. Dolochow küßte ihn, lachte auf, wandte sein Pferd und verschwand in der Dunkelheit.
X
Als Petja zu dem Wächterhäuschen zurückkam, fand er Denisow im Flur. Denisow, sehr aufgeregt, unruhig und ärgerlich über sich selbst, daß er Petja fortgelassen hatte, wartete auf ihn.
»Gott sei Dank!« rief er. »Na, Gott sei Dank!« wiederholte er, während er Petjas enthusiastischen Bericht anhörte. »Hol dich der Teufel; ich habe um deinetwillen nicht schlafen können«, fuhr er fort. »Na, Gott sei Dank; nun leg dich nur zur Ruhe. Wir wollen bis zum Morgen noch ein bißchen schlafen.«
»Ja … nein«, antwortete Petja. »Ich bin noch gar nicht schläfrig. Und dann kenne ich auch mich selbst: wenn ich erst einmal einschlafe, dann bin ich nicht so leicht wieder wach zu bekommen. Und dann bin ich auch gewohnt, vor einem Kampf nicht zu schlafen.«
Petja saß noch eine Weile in der Stube, erinnerte sich mit großer Freude an die Einzelheiten seines Rittes und malte sich lebhaft aus, was der morgige Tag bringen werde. Als er dann bemerkte, daß Denisow eingeschlafen war, stand er auf und ging hinaus.
Draußen war es noch ganz dunkel. Der Regen hatte aufgehört, aber es fielen noch Tropfen von den Bäumen. In der Nähe des Wächterhäuschens waren die schwarzen Formen der von den Kosaken errichteten Hütten und der zusammengebundenen Pferde zu erkennen. Hinter dem Häuschen hoben sich schwarz die beiden Fuhrwerke ab, bei denen ebenfalls Pferde standen, und in der Schlucht glühte rot das heruntergebrannte Feuer. Die Kosaken und Husaren schliefen nicht alle: hier und da hörte man zwischen dem Klang der fallenden Regentropfen und dem nahen Geräusch des Kauens der Pferde leise, beinahe flüsternde Stimmen.
Petja trat aus dem Flur hinaus, spähte in der Dunkelheit umher und trat zu den Fuhrwerken hin. Unter den Fuhrwerken schnarchte jemand, und um sie herum standen, ihren Hafer kauend, gesattelte Pferde. In der Dunkelheit erkannte Petja sein eigenes Pferd, das er Karabach1 nannte, obwohl es ein kleinrussisches Pferd war, und trat zu ihm hin.
»Nun, Karabach, morgen wollen wir Ehre einlegen«, sagte er, roch an den Nüstern des Tieres und küßte es.
»Sie schlafen nicht, gnädiger Herr?« sagte ein Kosak, der unter dem einen Fuhrwerk saß.
»Nein. Ah … du heißt ja wohl Lichatschow? Ich bin eben erst zurückgekommen. Wir waren zu den Franzosen geritten.«
Und nun erzählte Petja dem Kosaken ausführlich nicht nur von seinem Ritt, sondern auch warum er mitgeritten sei und warum er der Ansicht sei, daß man besser daran tue, sein Leben aufs Spiel zu setzen, als so aufs Geratewohl etwas zu unternehmen.
»Na, nun sollten Sie sich aber schlafen legen«, meinte der Kosak.
»Nein, ich bin es so gewohnt«, antwortete Petja. »Sind denn vielleicht die Feuersteine an euren Pistolen abgenutzt? Ich habe welche mitgebracht. Brauchst du welche? Du kannst von mir bekommen.«
Der Kosak schob sich ein wenig unter dem Fuhrwerk hervor, um Petja mehr aus der Nähe anzusehen.
»Das kommt daher, weil ich gewohnt bin, in allen Dingen sorgsam zu verfahren«, sagte Petja. »Manche Leute handeln unbedacht, blind drauflos, ohne Vorbereitung, und dann nachher bereuen sie es. Das liegt nicht in meinem Wesen.«
»Das ist recht«, sagte der Kosak.
»Ja, da fällt mir noch etwas ein: bitte, lieber Mann, schleife mir doch meinen Säbel; er ist nicht mehr recht …« (Aber Petja scheute sich zu lügen: der Säbel war noch nie geschliffen worden.) »Kannst du das machen?«
»Warum nicht? Das kann ich schon.«
Lichatschow stand auf, kramte in einem Bündel herum, und bald darauf hörte Petja den kriegerischen Klang von Stahl und Wetzstein. Er stieg auf das Fuhrwerk hinauf und setzte sich auf den Rand desselben. Der Kosak unter dem Fuhrwerk schliff den Säbel.
»Sage mal, schlafen die Leute?« fragte Petja.
»Manche schlafen, manche aber auch nicht.«
»Nun, und wie ist es mit dem Jungen?«
»Wessenni? Der liegt da auf dem Flur. Die Angst macht müde. Er war froh, sich hinlegen zu können.«
Darauf schwieg Petja längere Zeit und horchte auf die Geräusche, die vernehmbar waren. In der Dunkelheit ertönten Schritte, und es zeigte sich eine schwarze Gestalt.
»Was schleifst du denn da?« fragte ein Mann, der zu dem Fuhrwerk herankam.
»Ich schleife dem Herrn da seinen Säbel.«
»Das ist vernünftig«, sagte der Mann, welchen Petja für einen Husaren hielt. »Habt ihr hier einen Becher?«
»Ja, da bei dem Rad.«
Der Husar nahm den Becher.
»Es wird wohl bald hell werden«, sagte er gähnend und ging irgendwohin.
Petja hätte wissen müssen, daß er sich im Wald, bei Denisows Freischar, eine Werst von der Landstraße entfernt befand, daß er auf einem den Franzosen abgenommenen Fuhrwerk saß, um welches herum Pferde angebunden waren, daß unter ihm der Kosak Lichatschow saß und ihm den Säbel schliff, daß der große schwarze Fleck rechts ein Wächterhäuschen war und der rote, helle Fleck unten links ein niedergebranntes Wachfeuer, daß der Mensch, der herbeikam und sich einen Becher holte, ein Husar war, der trinken wollte; aber er wußte das alles nicht und wollte es nicht wissen. Er war in einem Zauberreich, in dem nichts der Wirklichkeit ähnlich war. Der große schwarze Fleck war vielleicht wirklich ein Wächterhäuschen; vielleicht aber war es auch eine Höhle, die tief in das Innere der Erde hineinführte. Der rote Fleck war vielleicht ein Feuer, vielleicht aber auch das Auge eines riesigen Ungeheuers. Vielleicht saß er jetzt wirklich auf einem Fuhrwerk; gut möglich aber auch, daß er nicht auf einem Fuhrwerk saß, sondern auf einem furchtbar hohen Turm, so hoch, daß, wenn man herunterfiel, man bis zur Erde einen ganzen Tag, einen ganzen Monat flog, immerzu flog und flog und niemals nach unten kam. Vielleicht saß unter dem Fuhrwerk einfach der Kosak Lichatschow; gut möglich aber auch, daß dies der bravste, tapferste, wunderbarste, vortrefflichste Mensch auf der Welt war, dessen Namen niemand kannte. Vielleicht war da wirklich ein Husar vorbeigekommen und in das Tal hinabgegangen, um sich Wasser zu holen; vielleicht aber auch war er, der soeben aus den Augen verschwunden war, vollständig verschwunden und existierte nicht mehr.
Was Petja jetzt auch hätte sehen mögen, er hätte sich über nichts gewundert. Er war in einem Zauberreich, in dem alles möglich war.
Er blickte zum Himmel auf. Der Himmel war ebenso zauberhaft wie die Erde. Über den Wipfeln der Bäume zogen Wolken schnell dahin, wie wenn sie die Sterne sichtbar machen wollten. Manchmal schien es, als ob es da oben klar würde und sich der schwarze, reine Himmel zeigte; dann wieder schien es, als ob diese schwarzen Flecke dunkle Wolken wären. Manchmal schien es, als ob der Himmel sich über Petjas Kopf hoch, hoch hinaufhöbe, und dann wieder, als ob er sich ganz und gar herabsenkte, so daß man ihn mit der Hand greifen könnte.
Petja schloß die Augen und wiegte sich hin und her.
Regentropfen fielen klatschend. Es wurde leise gesprochen. Die Pferde fingen an zu wiehern und einander zu schlagen. Es schnarchte jemand.
»Schsch, schsch, schsch, schsch …«, zischte der Säbel beim Schleifen, und auf einmal hörte Petja eine harmonische Orchestermusik, die eine ihm unbekannte, feierlich süße Hymne spielte. Petja war musikalisch, ebenso wie Natascha und mehr als Nikolai; aber er hatte nie Musikunterricht gehabt und nie an Musik gedacht; daher hatten die Weisen, die ihm so unerwartet in den Sinn kamen, schon als etwas ganz Neues für ihn einen besonderen Reiz. Die Musik spielte immer lauter und lauter. Die Melodie schwoll an und ging von einem Instrument auf das andere über. Es entstand das, was man eine Fuge nennt, wiewohl Petja nicht den geringsten Begriff davon hatte, was eine Fuge ist. Jedes Instrument, bald eines, das wie eine Geige, bald eines, das wie eine Trompete klang (aber schöner und reiner als wirkliche Geigen und wirkliche Trompeten), jedes Instrument spielte seinen Part und floß, ehe es noch die Melodie zu Ende gebracht hatte, mit einem andern zusammen, das beinahe das gleiche spielte, und mit einem dritten und einem vierten, und alle flossen sie in eins zusammen und trennten sich wieder und flossen von neuem zusammen, bald zu einer feierlichen Kirchenmusik, bald zu einem großartig schmetternden Siegeslied.
»Ach ja, ich träume das nur«, sagte sich Petja, und der Kopf fiel ihm vornüber. »Das ist alles nur in meinen Ohren. Aber vielleicht ist es eine von mir selbst komponierte Musik. Nun, noch einmal! Vorwärts, meine Musik! Nur zu …!«
Er schloß die Augen. Und von verschiedenen Seiten, anscheinend aus weiter Ferne, erklangen zitternd die Töne, taten sich zusammen, trennten sich, flossen ineinander, und wieder vereinigte sich alles zu demselben süßen, feierlichen Hymnus. »Ach, wie entzückend das ist! Es tönt, soviel ich will und wie ich will«, sagte Petja zu sich selbst. Er versuchte, dieses gewaltige Orchester von Instrumenten zu leiten.
»Jetzt leiser, leiser, wie ersterbend!« Und die Töne gehorchten ihm. »Jetzt voller, heiterer! Noch, noch freudiger!« Und aus einer unbekannten Tiefe stiegen anschwellende, feierliche Klänge herauf. »Jetzt soll die Vokalmusik einfallen«, befahl Petja. Und aus der Ferne ließen sich zuerst Männerstimmen, dann Frauenstimmen vernehmen. Die Stimmen schwollen in gleichmäßiger, feierlicher Kraftsteigerung an. Mit Beklommenheit und Freude zugleich horchte Petja auf ihren außerordentlichen Wohllaut.
Der Gesang floß mit einem triumphierenden Siegesmarsch zusammen, und die Tropfen fielen klingend hernieder, und »schsch, schsch, schsch …« zischte der Säbel, und die Pferde schlugen einander und wieherten; aber dies alles störte die Musik nicht, sondern fügte sich in sie ein.
Petja wußte nicht, wie lange dies dauerte: er war entzückt und wunderte sich fortwährend über sein Entzücken und bedauerte, daß er niemand daran teilnehmen lassen konnte. Die freundliche Stimme Lichatschows weckte ihn.
»Der Säbel ist fertig, Euer Wohlgeboren; nun können Sie einen Franzosen damit der Länge nach durchspalten.«
Petja kam zur Besinnung.
»Es wird schon hell; wahrhaftig, es wird hell!« rief er.
Die vorher unsichtbaren Pferde waren bis zu den Schwänzen sichtbar geworden, und durch die kahlen Zweige erschien eine wäßrige Helligkeit. Petja schüttelte sich, sprang auf, zog einen Rubel aus der Tasche und gab ihn Lichatschow; dann probierte er mit einem Schwung den Säbel und steckte ihn in die Scheide.
»Da ist auch der Kommandeur«, sagte Lichatschow.
Denisow war aus dem Wächterhäuschen herausgetreten, rief Petja an und hieß ihn sich fertigmachen.
Fußnoten
1 Eine kaukasische Pferderasse.
Anmerkung des Übersetzers.
XI
Schnell suchte sich im Halbdunkel ein jeder von der Mannschaft sein Pferd, band es los, zog den Sattelgurt straff, und dann ordneten sie sich abteilungsweise. Denisow stand bei dem Wächterhäuschen und gab die letzten Befehle. Das Fußvolk der Freischar, mit hundert Beinen durch die Nässe patschend, zog voran, um die Landstraße einzuschlagen, und verschwand in dem Nebel, der dem Tagesanbruch vorherging, schnell zwischen den Bäumen. Der Jesaul erteilte den Kosaken noch einen Befehl. Petja hielt sein Pferd am Zügel und wartete ungeduldig auf den Befehl zum Aufsitzen. Sein Gesicht, das er sich mit kaltem Wasser gewaschen hatte, und besonders die Augen brannten ihm wie Feuer, ein Frösteln lief ihm über den Rücken, und durch seinen ganzen Körper ging ein schnelles, gleichmäßiges Zittern.
»Nun, ist bei euch alles bereit?« sagte Denisow. »Mein Pferd!«
Das Pferd wurde gebracht. Denisow wurde auf den Kosaken zornig, weil der Sattelgurt zu schlaff sei; unter heftigen Schimpfreden auf ihn stieg er auf. Petja griff nach dem Steigbügel. Das Pferd wollte ihn seiner Gewohnheit nach ins Bein beißen; aber Petja, der sein Gewicht gar nicht fühlte, sprang schnell in den Sattel, warf noch einen Blick nach den Husaren, die hinter ihm in der Dunkelheit anritten, und sprengte zu Denisow hin.
»Wasili Fedorowitsch, Sie werden mir doch irgendeinen Auftrag geben? Ich bitte Sie dringend … inständig …«, sagte er.
Denisow hatte, wie es schien, Petjas Existenz ganz vergessen gehabt. Er sah sich nach ihm um.
»Ich bitte dich nur um eines«, sagte er in strengem Ton. »Gehorche mir und mische dich in nichts hinein.«
Auf dem ganzen Weg sprach Denisow kein Wort mehr mit Petja und ritt schweigend dahin. Als sie an den Saum des Waldes gelangten, fing es auf dem Feld schon an merklich hell zu werden. Denisow sprach flüsternd etwas mit dem Jesaul, und darauf ritten die Kosaken an Petja und Denisow vorbei. Als sie alle vorbei waren, trieb Denisow sein Pferd an und ritt bergab. Sich auf die Hinterteile setzend und gleitend, stiegen die Pferde mit ihren Reitern in den Grund hinab. Petja ritt neben Denisow. Das Zittern in seinem ganzen Körper nahm immer mehr zu. Es wurde immer heller und heller; nur der Nebel verbarg die ferneren Gegenstände. Als sie unten angelangt waren, blickte Denisow zurück und nickte dann einem neben ihm haltenden Kosaken mit dem Kopf zu.
»Das Signal!« sagte er.
Der Kosak hob den einen Arm in die Höhe; ein Schuß krachte. Und in demselben Augenblick erscholl vorn der Hufschlag dahinjagender Pferde, Schreien von verschiedenen Seiten und noch mehr Schüsse.
In dem Augenblick, als die ersten Töne der Hufschläge und des Geschreis vernehmbar wurden, versetzte Petja seinem Pferd einen Schlag mit der Peitsche, ließ ihm die Zügel und jagte, ohne auf Denisow zu hören, der ihm nachschrie, im Galopp vorwärts. Er hatte die Empfindung, als sei es plötzlich in dem Augenblick, wo der Schuß gefallen war, völlig hell wie am Mittag geworden. Er sprengte auf die Brücke zu. Vor ihm auf der Landstraße jagten die Kosaken dahin. Auf der Brücke stieß er mit einem zurückgebliebenen Kosaken zusammen und sprengte weiter. Vorn liefen irgendwelche Menschen (wahrscheinlich waren es Franzosen) von der rechten Seite der Landstraße nach der linken hinüber. Einer fiel unter den Füßen von Petjas Pferd in den Schmutz.
Bei einem Bauernhaus drängten sich mehrere Kosaken zusammen und taten irgend etwas. Aus der Mitte des Haufens erscholl ein furchtbarer Schrei. Petja jagte zu diesem Haufen hin, und das erste, was er sah, war ein Franzose, der den Schaft einer gegen ihn gerichteten Pike gepackt hielt; das Gesicht des Franzosen war blaß, und sein Unterkiefer zitterte.
»Hurra …! Kinder … Wir haben gesiegt …«, schrie Petja, ließ dem aufgeregten Pferd die Zügel und jagte auf der Dorfstraße vorwärts.
Vorn waren Schüsse zu hören. Kosaken, Husaren und zerlumpte russische Gefangene kamen von beiden Seiten der Landstraße eilig herbei und schrien alle laut und mißtönend etwas, was Petja nicht verstehen konnte. Ein kräftiger, mutiger Franzose, ohne Kopfbedeckung, in einem blauen Mantel, mit rotem, finsterem Gesicht, verteidigte sich mit dem Bajonett gegen mehrere Husaren. Als Petja herangesprengt kam, war der Franzose bereits gefallen. »Wieder zu spät gekommen!« fuhr es Petja durch den Kopf, und er jagte dorthin, von wo die vielen Schüsse ertönten. Die Schüsse wurden auf dem Hof des Gutshauses abgefeuert, wo Petja in der vergangenen Nacht mit Dolochow gewesen war. Die Franzosen hatten dort hinter dem geflochtenen Zaun in dem dicht mit Gebüsch bewachsenen Garten Stellung genommen und schossen auf die Kosaken, die sich am Tor zusammendrängten. Als Petja an das Tor heranritt, erblickte er im Pulverdampf Dolochow, der mit blassem, grünlichem Gesicht seinen Leuten etwas zuschrie. »Nach der Seite herumreiten! Auf das Fußvolk warten!« rief er gerade in dem Augenblick, als Petja sich ihm näherte.
»Warten …? Hurra …!« schrie Petja und sprengte, ohne auch nur einen Augenblick zu zaudern, nach der Stelle hin, von wo die Schüsse ertönten und wo der Pulverdampf am dichtesten war.
Eine Salve erscholl, Kugeln pfiffen, sowohl solche, die nichts trafen, als auch solche, die gegen irgend etwas anklatschten. Die Kosaken und Dolochow jagten hinter Petja her in das Hoftor hinein. Die Franzosen, die in dem dichten, wogenden Rauch steckten, warfen teils die Waffen weg und liefen aus den Büschen heraus den Kosaken entgegen, teils liefen sie bergab nach dem Teich zu. Petja sprengte auf seinem Pferd über den Hof des Gutshauses; aber statt die Zügel festzuhalten, schwenkte er seltsam und schnell beide Arme und glitt immer weiter vom Sattel auf die eine Seite. Das Pferd rannte auf ein Wachfeuer zu, das im Morgenlicht schwelte, prallte zurück, und Petja fiel schwer auf die feuchte Erde nieder. Die Kosaken sahen, wie seine Arme und Beine hastig zuckten, obgleich sein Kopf sich nicht bewegte. Eine Kugel hatte ihn in den Kopf getroffen.
Der höchste bei dieser Abteilung befindliche französische Offizier kam mit einem weißen Tuch am Degen hinter dem Haus hervor zu Dolochow und erklärte, daß sie sich ergäben. Dolochow verhandelte mit ihm, stieg dann vom Pferd und trat zu Petja hin, der regunglos mit ausgebreiteten Armen dalag.
»Der ist fertig«, sagte er mit finsterem Gesicht und ging nach dem Tor, dem herbeireitenden Denisow entgegen.
»Tot?!« schrie Denisow auf, als er schon von weitem sah, in welcher Art Petjas Körper dalag, eine Lage, die ihm nur zu gut bekannt war und zweifellos auf den Tod schließen ließ.
»Der ist fertig«, sagte Dolochow noch einmal, als ob es ihm ein besonderes Vergnügen machte, diese Worte auszusprechen, und begab sich schnell zu den Gefangenen, um welche sich die Kosaken in eiliger Tätigkeit drängten. »Wir nehmen sie nicht mit!« rief er Denisow zu.
Denisow antwortete nicht; er ritt zu Petja heran, stieg vom Pferd und wandte mit zitternden Händen Petjas mit Blut und Schmutz beflecktes, schon erblaßtes Gesicht zu sich hin.
»Ich bin gewöhnt, etwas Süßes zu essen. Vorzügliche Rosinen; nehmen Sie sie alle«, diese Worte Petjas fielen ihm ein. Und die Kosaken blickten sich erstaunt nach den einem Hundegebell ähnlichen Lauten um, mit denen Denisow sich schnell abwandte, an den Zaun trat und sich an ihm festhielt.
Unter den von Denisow und Dolochow befreiten russischen Gefangenen befand sich auch Pierre Besuchow.
XII
In betreff derjenigen Abteilung von Gefangenen, zu welcher Pierre gehörte, war während ihres ganzen Marsches von Moskau an seitens der französischen Behörde keine neue Verfügung eingegangen. Diese Abteilung befand sich am 22. Oktober nicht mehr mit denjenigen Truppen und Wagenzügen zusammen, mit denen sie aus Moskau ausgezogen war. Während der ersten Tagesmärsche war hinter ihr ein Wagenzug mit Zwieback gefahren: die eine Hälfte desselben hatten die Kosaken erbeutet, die andere Hälfte hatte den Gefangenentransport überholt und war weit voraus. Von den zu Fuß gehenden Kavalleristen, die ursprünglich vor dem Gefangenentransport marschiert waren, war auch nicht ein Mann mehr da; sie waren sämtlich verschwunden. An die Stelle der Artillerie, die auf den ersten Tagesmärschen vorn sichtbar gewesen war, waren jetzt die langen Wagenzüge des Marschalls Junot getreten, die von westfälischen Truppen eskortiert wurden. Hinter den Gefangenen fuhr ein Wagenzug mit Kavalleriesachen.
Von Wjasma an marschierte das französische Heer, das früher in drei Teilen marschiert war, in einem einzigen Haufen. Die Symptome der Zersetzung, welche Pierre schon am ersten Rastort nach Moskau wahrgenommen hatte, hatten jetzt den höchsten Grad erreicht.
Die Landstraße, auf der sie marschierten, war zu beiden Seiten mit Pferdekadavern eingefaßt; Soldaten in zerrissener Kleidung, die von verschiedenen Truppenteilen zurückgeblieben waren, schlossen sich in stetem Wechsel bald an die marschierende Kolonne an, bald blieben sie wieder hinter ihr zurück.
Einige Male während des Marsches hatte es falschen Alarm gegeben; die Soldaten der Eskorte hatten die Gewehre erhoben, geschossen und waren Hals über Kopf, einander drängend, davongerannt; dann aber hatten sie sich wieder geordnet und sich wechselseitig wegen der grundlosen Furcht ausgeschimpft.
Diese drei zusammen marschierenden Abteilungen, das Kavalleriedepot, das Gefangenendepot und der Wagenzug Junots, bildeten immer noch eine Art von besonderem Ganzen, obwohl ein jedes der drei schnell zusammengeschmolzen war.
Von dem Kavalleriedepot, welches anfangs aus hundertzwanzig Wagen bestanden hatte, waren jetzt nicht mehr als sechzig übrig; die anderen waren teils von den Feinden erbeutet, teils im Stich gelassen. Von dem Wagenzug Junots waren ebenfalls mehrere Fuhrwerke zurückgelassen oder von den Feinden erbeutet. Drei Fuhrwerke waren von Nachzüglern des Davoutschen Korps überfallen und geplündert worden. Aus den Gesprächen der Deutschen erfuhr Pierre, daß diesem Wagenzug eine größere Eskorte beigegeben war als dem Gefangenentransport, und daß einer ihrer Kameraden, ein deutscher Gemeiner, auf direkten Befehl des Marschalls erschossen worden war, weil man bei ihm einen dem Marschall gehörigen silbernen Löffel gefunden hatte. Am meisten aber war von den drei Abteilungen das Gefangenendepot zusammengeschmolzen. Von den dreihundertdreißig Mann, die aus Moskau ausgezogen waren, waren jetzt kaum noch hundert übrig. Noch mehr als durch die Sättel des Kavalleriedepots und den Wagenzug Junots fühlten sich die eskortierenden Soldaten durch die Gefangenen beschwert und belästigt. Was die Sättel und Junots Löffel anlangte, so begriffen die Soldaten, daß diese Dinge noch zu etwas nutz sein konnten; aber wozu hungernde und frierende Soldaten ebenso frierende und hungernde Russen bewachen und beaufsichtigen mußten, die ermattet unterwegs zurückblieben und dann dem Befehl gemäß erschossen wurden, das war ihnen unbegreiflich, und diese Obliegenheit war ihnen widerwärtig. Die Soldaten der Eskorte schienen in der traurigen Lage, in der sie sich selbst befanden, sich nicht dem Gefühl des Mitleids mit den Gefangenen, das in ihnen versteckt lag, überlassen zu wollen, um dadurch ihre eigene Lage nicht noch mehr zu verschlimmern, und gingen darum mit ihnen besonders barsch und streng um.
Als in Dorogobusch die eskortierenden Soldaten die Gefangenen in einen Pferdestall eingeschlossen hatten und dann selbst fortgegangen waren, um ihre eigenen Magazine zu plündern, hatten mehrere von den Gefangenen die Stallwand untergraben und das Weite gesucht, waren aber von den Franzosen wieder aufgegriffen und erschossen worden.
Die frühere, beim Auszug aus Moskau eingeführte Ordnung, daß die gefangenen Offiziere von den Gemeinen gesondert gingen, war schon längst geschwunden; alle, die gehen konnten, gingen zusammen, und Pierre hatte sich schon am dritten Marschtag wieder zu Karatajew und dem bläulichgrauen Hund gesellt, der sich Karatajew zu seinem Herrn erwählt hatte.
Karatajew war am dritten Tag nach dem Auszug aus Moskau wieder von jenem Fieber befallen worden, an dem er in dem Moskauer Lazarett krank gelegen hatte, und je schwächer Karatajew wurde, um so mehr hielt sich Pierre von ihm fern. Pierre wußte nicht, wie es zuging; aber er mußte sich, seit Karatajew anfing schwach zu werden, Zwang antun, um zu ihm zu gehen. Wenn er sich ihm näherte und das leise Stöhnen hörte, mit dem Karatajew sich gewöhnlich an den Rastorten niederlegte, und den jetzt stärker werdenden Geruch spürte, den Karatajew ausströmte, dann ging Pierre oft so weit wie möglich von ihm weg und dachte nicht mehr an ihn.
In der Gefangenschaft, in der Baracke, hatte Pierre nicht sowohl mit dem Verstand, als vielmehr mit seinem ganzen Wesen und Leben erkannt, daß der Mensch geschaffen sei, um glücklich zu sein, daß das Glück in ihm selbst liege, in der Befriedigung der natürlichen menschlichen Bedürfnisse, und daß alles Unglück nicht vom Mangel, sondern vom Überfluß herkomme. Aber jetzt, in diesen drei letzten Marschwochen, hatte er noch eine neue, tröstliche Wahrheit erkannt: er hatte erkannt, daß es auf der Welt nichts Furchtbares gebe. Er hatte erkannt, daß, wie es auf der Welt keinen Zustand gebe, in dem der Mensch glücklich und vollkommen frei wäre, so es auch keinen Zustand gebe, in dem er unglücklich und unfrei wäre. Er hatte erkannt, daß eine Grenze der Leiden und eine Grenze der Freiheit vorhanden sei, und daß diese Grenze sehr nahe liege; daß der Mensch, der es als ein Leiden empfindet, wenn auf seinem Rosenbett ein einziges Blättchen umgeknickt ist, gerade ebenso leide, wie er jetzt litt, wenn er auf der nackten, feuchten Erde schlief und die eine Seite seines Körpers kalt, die andere warm war; daß, wenn er ehemals seine engen Ballschuhe anzog, er genauso gelitten habe wie jetzt, wo er bereits vollständig barfuß ging (sein Schuhzeug war längst hinüber) und seine Füße mit wunden Stellen und Schorf bedeckt waren. Er erkannte, daß er damals, als er, vermeintlich nach seinem eigenen Willen, seine Frau geheiratet hatte, nicht freier gewesen sei als jetzt, wo man ihn für die Nacht in einem Pferdestall einschloß. Von allem, was in späterer Zeit auch er selbst Leiden nannte, was er aber zur Zeit kaum empfand, waren das Schlimmste die nackten, wunden, mit Schorf überzogenen Füße. Das Pferdefleisch war schmackhaft und nahrhaft; der Salpetergeschmack des Pulvers, das statt des Salzes verwendet wurde, war sogar angenehm; die Kälte war nicht übermäßig, und bei Tag auf dem Marsch war es immer warm, und in der Nacht hatten sie die Wachfeuer; die Läuse, die an ihm fraßen, wärmten seinen Körper. Nur eins war in der ersten Zeit schwer zu ertragen: das waren die Füße.
Als Pierre am zweiten Marschtag beim Wachfeuer die Verletzungen an seinen Füßen besah, hielt er es für unmöglich, mit diesen Füßen weiterzugehen; aber als alle sich erhoben, ging auch er, nur ein wenig hinkend, und nachher, als er warm geworden war, sogar ohne Schmerz, obgleich am Abend seine Füße noch schrecklicher aussahen. Aber er sah sie gar nicht näher an und dachte an andere Dinge.
Erst jetzt begriff Pierre, welche gewaltige Lebenskraft dem Menschen innewohnt und welch ein Segen die ihm verliehene Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit abzulenken, für ihn ist, eine Fähigkeit, die dem Sicherheitsventil an Dampfkesseln gleicht, das den überflüssigen Dampf hinausläßt, sobald seine Spannung ein bestimmtes Maß übersteigt.
Er hatte weder gesehen noch gehört, wie die zurückgebliebenen Gefangenen erschossen wurden, obgleich über hundert von ihnen schon auf diese Weise umgekommen waren. Er dachte nicht an Karatajew, der von Tag zu Tag schwächer wurde und offenbar bald demselben Schicksal verfallen mußte. Noch weniger dachte Pierre an sich selbst. Je schwieriger seine Lage sich gestaltete, je schrecklicher die Zukunft war, um so weiter von seinem jetzigen Zustand abliegende Gedanken, Erinnerungen und Vorstellungen freudiger und beruhigender Art kamen ihm in den Sinn.
XIII
Am 22. Oktober ging Pierre gegen Mittag auf der schmutzigen, schlüpfrigen Landstraße bergan und blickte nach seinen Füßen und den Unebenheiten des Weges. Ab und zu betrachtete er die ihm wohlbekannte Menschenmenge, die ihn umgab; dann wandte er seinen Blick wieder seinen Füßen zu. Das eine wie das andere gehörte in gleicher Weise zu ihm und war ihm vertraut. Der bläuliche, krummbeinige Hund, der sogenannte Graue, lief fröhlich an der Seite des Weges; mitunter drückte er zum Beweis seiner Geschicklichkeit und seiner zufriedenen Stimmung die eine Hinterpfote gegen den Leib und hüpfte auf dreien und dann wieder auf allen vieren und stürzte mit Gebell auf die Krähen los, die auf den Kadavern saßen. Der Graue war vergnügter und sah glatter aus als in Moskau. Auf allen Seiten lag Fleisch von verschiedenen Wesen, vom Menschenfleisch bis zum Pferdefleisch, in verschiedenen Stadien der Zersetzung, und die Wölfe wagten sich wegen der marschierenden Menschen nicht heran, so daß der Graue fressen konnte, soviel er nur irgend mochte.
Es regnete seit dem Morgen, und jedesmal, wenn man meinte, nun sei es vorbei und der Himmel werde sich aufheitern, setzte nach einer kurzen Pause der Regen noch stärker ein. Die vom Regen durchtränkte Landstraße nahm kein Wasser mehr in sich auf, und in den Wagengeleisen rieselten kleine Bäche.
Pierre warf im Gehen mitunter einen Blick nach rechts und links, auch zählte er die Schritte, indem er nach je drei Schritten einen Finger einbog. Sich an den Regen wendend, sagte er in seinem Innern: »Nur zu, nur zu; mach’s nur immer ärger!«
Er meinte, er denke an nichts; aber seine Seele war in irgendeinem Teil ihrer fernsten Tiefe mit hehren, tröstlichen Gedanken beschäftigt. Es war dies der feinste geistige Extrakt aus seinem gestrigen Gespräch mit Karatajew.
Als Pierre tags zuvor im Nachtbiwak bei einem erlöschenden Feuer zu sehr gefroren hatte, war er aufgestanden und zu dem nächsten, besser brennenden Feuer gegangen. Bei dem Feuer, zu dem er gekommen war, saß Platon; er hatte sich mitsamt dem Kopf in einen Mantel wie in ein Meßgewand eingehüllt und erzählte den Soldaten mit seiner ausdauernden, angenehmen, aber schwachen und kränklichen Stimme eine Geschichte, die Pierre schon kannte. Es war bereits Mitternacht. Dies war die Zeit, wo Karatajew sich gewöhnlich von seinem Fieberanfall erholte und besonders lebhaft war. Als Pierre zu dem Wachfeuer kam und Platons schwache, kränkliche Stimme hörte und sein von dem Feuer hell beleuchtetes, mitleiderregendes Gesicht sah, da fühlte er eine Art von unangenehmem Stechen im Herzen. Er erschrak über sein Mitleid mit diesem Menschen und wollte wieder fortgehen; aber ein anderes Wachfeuer war nicht da, und so setzte sich denn Pierre bei diesem hin und versuchte, Platon nicht anzusehen.
»Nun, wie geht es mit deiner Gesundheit?« fragte er.
»Was kommt auf die Gesundheit an? Macht dir auch ‘ne Krankheit Not, Gott schickt nicht sogleich den Tod«, erwiderte Karatajew und kehrte sofort wieder zu der begonnenen Erzählung zurück.
»Also, lieber Bruder«, fuhr Platon mit einem Lächeln auf dem mageren, blassen Gesicht und einem besonders freudigen Glanz in den Augen fort. »Also, lieber Bruder …«
Pierre kannte diese Geschichte schon lange; Karatajew hatte sie ihm allein schon etwa sechsmal erzählt, und immer mit einem besonderen Gefühl der Freude. Aber so gut er sie auch kannte, so hörte er jetzt doch zu, als wäre es etwas ganz Neues, und das stille Entzücken, das offenbar die Seele des erzählenden Karatajew erfüllte, ging auch auf Pierre über. Die Geschichte handelte von einem alten Kaufmann, der ehrbar und gottesfürchtig mit seiner Familie lebte und einmal mit einem Bekannten, einem reichen Kaufmann, nach dem Makarijew-Kloster zur Messe fuhr.
Die beiden Kaufleute kehrten in einer Herberge ein und legten sich schlafen, und am andern Tag wurde der Bekannte des Kaufmanns ermordet und beraubt aufgefunden. Ein blutiges Messer fand man unter dem Kopfkissen des alten Kaufmanns. Der Kaufmann wurde vor Gericht gestellt, mit Knutenhieben gezüchtigt und, nachdem ihm die Nasenlöcher aufgerissen waren (»wie es sich gehört, alles nach der Ordnung«, sagte Karatajew), zur Zwangsarbeit nach Sibirien verschickt.
An dieser Stelle von Karatajews Erzählung war Pierre jetzt dazugekommen, und Karatajew fuhr fort: »Also, lieber Bruder, nach diesem Ereignis waren nun zehn Jahre oder noch mehr vergangen. Der alte Mann lebte als Sträfling. Wie es sich gehört, fügte er sich in alles und tat nichts Übles. Nur um seinen Tod betete er zu Gott. Also gut. Da waren sie einmal in einer Nacht zusammen, die Sträflinge, geradeso wie wir jetzt; und der alte Mann war auch dabei. Und da kam das Gespräch darauf, wofür ein jeder seine Strafe leide, womit er sich gegen Gott versündigt habe. Sie fingen an zu erzählen: der hatte einen Menschen ermordet, der zwei, der hatte Feuer angelegt, der war so mir nichts dir nichts desertiert. Da fragten sie nun auch den alten Mann: ›Wofür leidest du denn deine Strafe, Großväterchen?‹ ›Ich, meine lieben Brüder‹, sagte er, ›leide Strafe für meine Sünden und für die Sünden der Menschheit. Ich habe keinen Menschen gemordet und habe kein fremdes Gut genommen; ich habe immer meinen bedürftigen Mitmenschen von dem Meinigen gegeben. Ich war Kaufmann, meine lieben Brüder, und besaß großen Reichtum.‹ So und so, und er erzählte ihnen, wie alles hergegangen war, alles der Reihe nach. ›Ich beklage mich nicht über mein Schicksal‹, sagte er. ›Gott hat mich heimgesucht. Nur um meine Frau und die Kinder tut es mir leid‹, sagte er. Und da brach der alte Mann in Tränen aus. Nun traf es sich zufällig, daß unter den Anwesenden auch eben jener Mensch war, der den Kaufmann ermordet hatte. ›Wo ist das gewesen, Großväterchen?‹ sagte er. ›Wann, in welchem Monat?‹ So fragte er ihn über alles aus. Und da wurde ihm weh ums Herz. Er ging so auf den alten Mann zu, und auf einmal, baff, warf er sich ihm zu Füßen. ›Um meinetwillen bist du ins Unglück geraten, lieber Alter‹, sagte er. ›Ich sage die reine Wahrheit, Kinder‹, sagte er, ›dieser Mann leidet völlig unschuldig. Ich selbst‹, sagte er, ›habe jene Tat begangen und dir, während du schliefst, das Messer unter den Kopf geschoben. Verzeih mir, Großväterchen‹, sagte er, ›um Christi willen.‹«
Karatajew schwieg, blickte mit freudigem Lächeln ins Feuer und schob die Holzscheite zurecht.
»Und da sagte der alte Mann: ›Gott wird dir verzeihen; wir sind alle vor Gott Sünder‹, sagte er. ›Ich leide für meine Sünden.‹ Und er weinte bitterlich. Und denke dir, mein lieber Falke«, sagte Karatajew, und das entzückte Lächeln auf seinem Gesicht strahlte immer heller und heller, wie wenn in dem, was er jetzt erzählen wollte, der Hauptreiz und der eigentliche Wert der Erzählung läge, »und denke dir, mein lieber Falke: dieser Mörder zeigte sich selbst bei der Obrigkeit an. ›Ich habe‹, sagte er, ›sechs Menschen gemordet‹ (er war ein großer Bösewicht), ›aber am meisten bereue ich das, was ich diesem alten Mann angetan habe. Er soll nicht mehr um meinetwillen weinen.‹ Er legte ihnen alles dar; sie schrieben ein Papier und schickten es an den gehörigen Ort. Das war weit weg, und es dauerte lange, bis Prozeß und Gericht stattgefunden hatten und bis sie alle Papiere geschrieben hatten, wie es bei den Behörden sein muß. Die Sache ging bis zum Zaren. Endlich kam ein Befehl vom Zaren: der Kaufmann solle freigelassen werden, und es solle ihm eine Entschädigung gegeben werden, so hoch, wie sie ihm das Gericht zuerkannt habe. Also dieses Papier war gekommen, und nun fing man an, den alten Mann zu suchen: ›Wo ist der alte Mann, der unschuldig bestraft worden ist? Es ist ein Papier vom Zaren gekommen!‹ Da suchten sie nun.« Karatajews Unterkiefer zitterte. »Aber Gott hatte ihn schon erlöst; er war gestorben. Ja, so war das, mein lieber Falke«, schloß Karatajew seine Erzählung und blickte lange, schweigend und lächelnd, vor sich hin.
Nicht diese Erzählung selbst, sondern ihr verborgener Sinn und die schwärmerische Freude, in der Karatajews Gesicht bei dieser Erzählung erglänzte, und die verborgene Bedeutung dieser Freude, das war’s, was jetzt Pierres Seele mit einer starken, wenn auch unklaren Freudenempfindung erfüllte.
XIV
»An die Plätze!« rief plötzlich eine Stimme. Unter den Gefangenen und den eskortierenden Soldaten entstand eine freudige Erregung, eine Erwartung von etwas Beglückendem, Feierlichem. Von allen Seiten erschollen Kommandorufe, und zur Linken erschienen, im Trab an den Gefangenen vorbeireitend, Kavalleristen in guter Montur auf guten Pferden. Auf allen Gesichtern lag jener Ausdruck von Spannung, wie ihn die Menschen beim Herannahen hoher Machthaber zu zeigen pflegen. Die Gefangenen drängten sich in einen Haufen zusammen; man stieß sie vom Weg herunter; die Soldaten stellten sich in Reih und Glied.
»Der Kaiser! Der Kaiser! Der Marschall! Der Herzog!« wurde bei den Franzosen gerufen.
Und kaum war die wohlgenährte Eskorte vorbeigesprengt, als rasselnd eine mit vier Grauschimmeln bespannte Kutsche vorbeifuhr. Pierre sah einen Augenblick lang das ruhige, schöne, dicke weiße Gesicht eines Mannes mit dreieckigem Hut. Es war einer der Marschälle. Der Blick des Marschalls fiel auf Pierres große, auffällige Gestalt, und den Ausdruck, mit dem der Marschall die Brauen zusammenzog und das Gesicht wegwandte, deutete sich Pierre als Mitleid und als den Wunsch, dieses Mitleid zu verbergen.
Der General, der das Depot führte, trieb sein mageres Pferd an und sprengte mit rotem, erschrockenem Gesicht der Kutsche nach. Einige Offiziere traten zusammen, und viele Soldaten umringten diese Gruppe. Alle Gesichter hatten einen erregten, gespannten Ausdruck.
»Was hat er gesagt? Was hat er gesagt?« hörte Pierre sie fragen.
Während der Marschall vorbeifuhr, hatten sich die Gefangenen in einen Haufen zusammengedrängt, und Pierre hatte Karatajew erblickt, den er an diesem Vormittag noch nicht gesehen hatte. Karatajew saß, in seinen Mantel gehüllt, auf der Erde und lehnte sich an eine Birke. Auf seinem Gesicht leuchtete außer jenem Ausdruck freudiger Rührung, den es gestern bei der Erzählung von dem unschuldigen Leiden des Kaufmanns gezeigt hatte, noch ein Ausdruck stiller Feierlichkeit.
Karatajew blickte Pierre mit seinen guten, runden Augen an, die jetzt von Tränen verschleiert waren, und wollte ihn augenscheinlich mit diesem Blick zu sich rufen, um ihm etwas zu sagen. Aber Pierre fürchtete zu sehr für sich selbst. Er tat, als hätte er Karatajews Blick nicht gesehen, und ging eilig weg.
Als die Gefangenen sich wieder in Bewegung setzten, blickte Pierre zurück. Karatajew saß noch am Rand des Weges bei der Birke, und zwei Franzosen standen neben ihm und sprachen miteinander. Pierre sah sich nicht wieder um. Er ging, ein wenig hinkend, den ansteigenden Weg weiter.
Von hinten, von der Stelle her, wo Karatajew saß, erscholl ein Schuß. Pierre hörte diesen Schuß deutlich; aber in dem Augenblick, wo er ihn hörte, erinnerte er sich, daß er mit einer Berechnung, die er vor dem Vorbeifahren des Marschalls begonnen hatte, noch nicht fertig war, nämlich mit einer Berechnung, wieviel Tagesmärsche sie noch bis Smolensk vor sich hätten. Und er begann zu rechnen. Die beiden französischen Soldaten, von denen der eine ein abgeschossenes, noch rauchendes Gewehr in der Hand hielt, liefen an Pierre vorbei. Sie waren beide blaß, und auf ihren Gesichtern (der eine von ihnen warf Pierre einen scheuen Blick zu) lag ein ähnlicher Ausdruck wie der, welchen Pierre an dem jungen Soldaten bei der Hinrichtung gesehen hatte. Pierre sah den Soldaten an und erinnerte sich, daß dieser Soldat vor zwei Tagen sein Hemd, das er am Wachfeuer hatte trocknen wollen, verbrannt hatte und von seinen Kameraden ausgelacht worden war.
Hinter dem Zug, von der Stelle her, wo Karatajew gesessen hatte, begann der Hund zu heulen. »So ein dummes Tier; worüber heult es denn?« dachte Pierre.
Die Mitgefangenen, die neben Pierre gingen, sahen sich ebensowenig wie er nach der Stelle um, von der der Schuß ertönt war und nun das Geheul des Hundes erscholl; aber ein tiefernster Ausdruck lag auf allen Gesichtern.
XV
Das Kavalleriedepot und die Gefangenen und der Wagenzug des Marschalls machten in dem Dorf Schamschewo halt. Alles drängte sich in Haufen um die Wachfeuer. Pierre trat an ein Wachfeuer heran, aß ein Stück gebratenes Pferdefleisch, legte sich mit dem Rücken nach dem Feuer zu und schlief sofort ein. Er schlief wieder in derselben Weise wie in Moschaisk nach der Schlacht bei Borodino.
Wieder flossen vor seiner Seele Ereignisse der Wirklichkeit mit Traumgebilden zusammen, und wieder legte jemand, ob nun er selbst oder jemand anders, ihm Gedanken dar, und es waren sogar dieselben Gedanken wie in Moschaisk.
»Das Leben ist alles. Das Leben ist Gott. Alles verändert sich, bewegt sich, und diese Bewegung ist Gott. Und solange Leben da ist, ist man sich auch mit Wonne der Gottheit in sich bewußt. Das Leben lieben heißt Gott lieben. Das Schwerste und Beseligendste von allem ist, dieses Leben bei eigenen Leiden, bei unschuldigen Leiden zu lieben.«
»Karatajew!« Unwillkürlich mußte er an diesen denken.
Und plötzlich trat ihm, wie er leibte und lebte, der längst vergessene, milde, alte Lehrer vor die Seele, der ihn in der Schweiz in der Geographie unterrichtet hatte. »Sieh her«, sagte der alte Mann, indem er ihm einen Globus zeigte. Dieser Globus war eine lebendige, wallende Kugel, die keine bestimmten Dimensionen hatte. Die ganze Oberfläche der Kugel bestand aus Tropfen, die fest aneinandergedrückt waren. Und alle diese Tropfen bewegten sich und veränderten ihre Plätze, und bald flossen mehrere in einen zusammen, bald teilte sich einer in viele. Jeder Tropfen war bemüht, sich auszubreiten, möglichst viel Raum einzunehmen; aber andere, die das gleiche Streben hatten, preßten ihn zusammen, vernichteten ihn manchmal, vereinigten sich aber auch manchmal mit ihm zu einem Ganzen.
»Sieh, das ist das Leben«, sagte der alte Lehrer.
»Wie einfach und klar das ist«, dachte Pierre. »Wie ist es nur zugegangen, daß ich das früher nicht gewußt habe!«
In der Mitte ist Gott, und jeder Tropfen strebt danach, sich auszubreiten, um Ihn in möglichst großen Dimensionen widerzuspiegeln. Und der Tropfen wächst und fließt mit andern zusammen und wird zusammengepreßt und verschwindet von der Oberfläche und geht in die Tiefe und taucht wieder empor. Ein solcher Tropfen war auch Karatajew; er ist auseinandergeflossen und verschwunden. »Hast du verstanden, mein Kind?« sagte der Lehrer.
»Hast du verstanden, Donnerwetter!« schrie eine Stimme, und Pierre erwachte.
Er richtete sich auf und setzte sich hin. An dem Wachfeuer hockte ein Franzose, der soeben einen russischen Soldaten weggestoßen hatte, und briet sich am Ladestock ein Stück Fleisch. Er hatte sich die Ärmel aufgestreift, und seine sehnigen, haarigen, roten Arme mit den kurzen Fingern drehten geschickt den Ladestock. Sein braunes, finsteres Gesicht mit den zusammengezogenen Brauen war im Schein der glühenden Kohlen deutlich zu sehen.
»Dem kann das ganz egal sein!« brummte er, sich schnell nach einem andern französischen Soldaten umwendend, der hinter ihm stand. »Weg mit dem Schuft!«
Der Soldat, der den Ladestock drehte, warf Pierre einen finsteren Blick zu. Pierre wandte sich ab und blickte längere Zeit in die Dunkelheit hinein. Ein gefangener russischer Soldat, eben der, welchen der Franzose weggestoßen hatte, saß dort nicht weit von dem Wachfeuer auf der Erde und tätschelte etwas mit der Hand. Schärfer hinsehend, erkannte Pierre das bläulichgraue Hündchen, das mit dem Schwanz wedelnd neben dem Soldaten saß.
»Nun? Bist du auch hergekommen?« sagte Pierre. »Ja, ja, Pla …«, begann er, sprach aber nicht zu Ende.
Vor seinem geistigen Auge tauchten plötzlich gleichzeitig mehrere miteinander zusammenhängende Erinnerungen auf: an den Blick, mit dem Platon ihn angesehen hatte, als er unter dem Baum saß, und an den Schuß, der an dieser Stelle ertönt war, und an das Geheul des Hundes, und an die Verbrechergesichter der beiden Franzosen, die an ihm vorbeigelaufen waren, und an das abgeschossene, rauchende Gewehr, und dazu kam der Gedanke, daß Karatajew an diesem Rastort fehlte, und er war schon nahe daran, zu begreifen, daß Karatajew getötet worden sei: aber gerade in diesem Augenblick stieg in seiner Seele (Gott weiß wodurch hervorgerufen) die Erinnerung an einen Abend empor, den er mit einer schönen Polin im Sommer auf dem Balkon seines Hauses in Kiew verlebt hatte. Und ohne die Eindrücke des heutigen Tages zusammenzufassen und ein Fazit daraus zu ziehen, schloß Pierre die Augen, und das Bild der sommerlichen Landschaft floß zusammen mit der Erinnerung an ein Bad und an die flüssige, wallende Kugel, und er ließ sich in irgendein Gewässer hineinsinken, so daß das Wasser über seinem Kopf zusammenschlug.
Vor Sonnenaufgang weckten ihn laute, rasch aufeinanderfolgende Schüsse und Rufe. Einige Franzosen liefen an Pierre vorbei.
»Die Kosaken!« schrie einer von ihnen, und einen Augenblick darauf sah Pierre eine Schar russischer Gesichter um sich.
Lange konnte er nicht begreifen, was mit ihm vorging. Von allen Seiten hörte er Freudenrufe seiner Kameraden.
»Brüder! Liebe Landsleute! Teure Freunde!« riefen alte Soldaten unter Tränen und umarmten die Kosaken und Husaren.
Die Husaren und Kosaken umringten die Gefangenen und boten ihnen eifrig dies und das an, der eine Kleider, ein anderer Stiefel, ein anderer Brot. Pierre saß mitten unter ihnen; er schluchzte und konnte kein Wort hervorbringen; er umarmte den ersten Soldaten, der ihm nahe kam, und küßte ihn weinend.
Dolochow stand bei dem Gutshaus, dessen Dach zertrümmert war, am Tor und ließ eine Schar entwaffneter Franzosen an sich vorüberziehen. Die Franzosen, die durch alles Vorgefallene in starker Aufregung waren, redeten laut untereinander; aber wenn sie bei Dolochow vorbeikamen, der sich leicht mit der Peitsche gegen die Stiefel schlug und sie mit seinem kalten, gläsernen, nichts Gutes verkündenden Blick ansah, dann verstummte ihr Gespräch. Auf der andern Seite stand ein Kosak Dolochows und zählte die Gefangenen, indem er die Hunderte mit einem Kreidestrich am Tor notierte.
»Wieviel sind es jetzt?« fragte Dolochow den Kosaken, der die Gefangenen zählte.
»Im dritten Hundert«, antwortete der Kosak.
»Einer hinter dem andern, einer hinter dem andern!« sagte Dolochow auf französisch, der sich diesen Ausdruck von den Franzosen zu eigen gemacht hatte, und während seine Augen die vorübergehenden Gefangenen musterten, leuchtete in ihnen ein grausamer Glanz auf.
Denisow ging mit finsterem Gesicht und mit abgenommener Mütze hinter den Kosaken her, die Petja Rostows Leiche nach der Grube trugen, die im Garten gegraben war.
XVI
Vom 28. Oktober an, wo stärkerer Frost einsetzte, nahm die Flucht der Franzosen zwar insofern einen tragischeren Charakter an, als die Mannschaften vor Kälte erstarrten und sich dann an den Wachfeuern halbtot brieten, während der Kaiser, die Könige und Herzöge, in Pelze gehüllt, die Fahrt in ihren Kutschen mit dem geraubten Gut fortsetzten; aber in seinem Wesen erfuhr der Prozeß der Flucht und der Zersetzung der französischen Armee keine Veränderung.
Von Moskau bis Wjasma waren von den 73000 Mann der französischen Armee, die Garde nicht mitgezählt, die während des ganzen Krieges nichts anderes getan hatte als zu plündern, 36000 Mann übriggeblieben (von dem Abgang kamen nicht mehr als 5000 Mann auf Verluste in Kämpfen). Dies war das erste Glied einer Progression, aus welchem sich die folgenden mit mathematischer Gewißheit bestimmen ließen. Die Proportion, in der die französische Armee zusammenschmolz und dahinschwand, blieb dieselbe auf den Strecken von Moskau bis Wjasma, von Wjasma bis Smolensk, von Smolensk bis zur Beresina, von der Beresina bis Wilna, ohne daß der höhere oder geringere Grad der Kälte, der Verfolgung, der Sperrung des Weges und aller sonstigen Momente, einzeln genommen, darauf einen Einfluß gehabt hätte. Hinter Wjasma marschierten die Franzosen nicht mehr in drei Kolonnen, sondern drängten sich in einen Haufen zusammen, und das blieb so bis zum Ende. Berthier schrieb an seinen Herrn folgendes (es ist bekannt, welche Abweichungen von der Wahrheit höhere Kommandeure sich bei Schilderung der Lage der Armee zu erlauben pflegen):
»Ich halte es für meine Pflicht, zu Euer Majestät Kenntnis zu bringen, in welchem Zustand sich Ihre Truppen bei den verschiedenen Armeekorps befinden, welche ich in der Lage gewesen bin, während der letzten zwei oder drei Tage an verschiedenen Stellen des Marsches zu beobachten. Sie sind beinahe in Auflösung begriffen. Die Zahl der Soldaten, die den Fahnen folgen, beträgt bei allen Regimentern höchstens ein Viertel; die übrigen gehen einzeln auf eigene Hand nach verschiednen Richtungen, in der Hoffnung, Lebensmittel zu finden, und um sich der Disziplin zu entziehen. Allgemein betrachten sie Smolensk als den Platz, wo sie sich werden erholen können. In den letzten Tagen sah man viele Soldaten ihre Patronen und Waffen wegwerfen. Welches auch immer die weiteren Absichten Eurer Majestät sein mögen, so verlangt jedenfalls unter diesen Umständen das Interesse Ihres Dienstes, daß die Armee wieder in Smolensk gesammelt und von mancherlei Ballast befreit werde: von kampfunfähigen Leuten, also Kavalleristen ohne Pferde und Soldaten ohne Waffen, sowie von unnützem Train und von einem Teil des Artilleriematerials, da dieses mit den wirklichen Streitkräften nicht mehr im richtigen Verhältnis steht. Überdies sind einige Ruhetage mit guter Verpflegung für die durch Hunger und Anstrengung erschöpften Soldaten notwendig; viele sind in den letzten Tagen auf dem Marsch und in den Biwaks gestorben. Dieser Zustand verschlimmert sich fortwährend und gibt Anlaß zu der Befürchtung, daß, wenn ihm nicht baldigst abgeholfen wird, wir die Truppen bei einem Kampf nicht mehr in der Hand haben. Den 9. November, 30 Werst von Smolensk.«
Als die Franzosen sich in die Stadt Smolensk hineingestürzt hatten, die ihnen als das Gelobte Land vor Augen gestanden hatte, schlugen sie einander um des Proviants willen tot und plünderten ihre eigenen Magazine; nachdem dann alles ausgeraubt war, flohen sie weiter.
Alle zogen weiter, ohne selbst zu wissen, wohin sie marschierten und zu welchem Zweck. Noch weniger als die andern wußte dies das Genie Napoleons, da niemand ihm Befehle erteilte. Aber trotzdem behielten er und seine Umgebung ihre bisherigen Bräuche bei: Erlasse, Briefe, Rapporte und Tagesbefehle wurden geschrieben; sie nannten einander Sire, mein Vetter, Fürst von Eggmühl, König von Neapel usw. Aber die Befehle und Rapporte standen nur auf dem Papier; nichts kam ihnen gemäß zur Ausführung, weil eben nichts ausgeführt werden konnte, und obwohl sie einander Majestät und Hoheit und Vetter titulierten, so hatten sie doch alle die Empfindung, daß sie klägliche, schändliche Menschen waren, die viel Böses getan hatten und nun dafür büßen mußten. Und obwohl sie sich stellten, als sorgten sie für die Armee, so dachte doch ein jeder von ihnen nur an sich und daran, wie er am schnellsten davonkommen und sich retten könnte.
XVII
Die Operationen der russischen und französischen Truppen während des Rückzuges von Moskau bis zum Njemen gleichen einem Blindekuhspiel, bei dem den beiden Spielenden die Augen verbunden werden und der eine ab und zu mit einem Glöckchen klingelt, um dem Greifenden von seinem Aufenthaltsort Kenntnis zu geben. Anfangs setzt derjenige, nach dem gefahndet wird, das Glöckchen häufig in Tätigkeit, ohne seinen Feind zu fürchten; aber wenn es ihm dann schlechtgeht, dann bemüht er sich, unhörbar zu gehen, flüchtet vor seinem Feind und läuft oft, in der Meinung, ihm zu entrinnen, ihm geradezu in die Arme.
Anfangs, in der ersten Periode des Marsches auf der Kalugaer Straße, machten sich die napoleonischen Truppen noch bemerkbar; später aber, als sie die Smolensker Straße erreicht hatten, flohen sie davon, indem sie den Klöppel des Glöckchens mit der Hand andrückten, und liefen oft, während sie zu entkommen wähnten, geradezu auf die Russen los.
Bei der Schnelligkeit, mit der die Franzosen flohen und die Russen hinter ihnen her waren, und der dadurch bewirkten Erschöpfung der Pferde kam das wichtigste Mittel, um eine annähernde Kenntnis der Stellung des Feindes zu gewinnen, in Wegfall: die Kavalleriepatrouillen. Außerdem konnten infolge des häufigen, schnellen Stellungswechsels beider Armeen Nachrichten, auch wenn man solche hatte, nicht zur rechten Zeit eintreffen. Wenn am Zweiten die Nachricht kam, daß die feindliche Armee am Ersten irgendwo gewesen sei, so hatte am Dritten, wo man etwas gegen sie hätte unternehmen können, diese Armee schon wieder zwei Tagesmärsche zurückgelegt und befand sich in einer ganz anderen Stellung.
Die eine Armee floh, die andere verfolgte. Hinter Smolensk boten sich den Franzosen viele verschiedene Wege dar, und man hätte meinen mögen, die Franzosen wären während ihres viertägigen Aufenthaltes in dieser Stadt in der Lage gewesen, in Erfahrung zu bringen, wo der Feind sei, sich einen nützlichen Plan zurechtzulegen und etwas Neues zu unternehmen. Aber nach der viertägigen Rast liefen ihre Haufen wieder weder nach rechts, noch nach links, sondern ohne alle Manöver und ohne alle Überlegung auf der schlechtesten Straße von allen, der alten Straße nach Krasnoje und Orscha, weiter: auf den Spuren, die sie bei ihrem Einmarsch hinterlassen hatten.
Die Franzosen, die den Feind vom Rücken her und nicht von vorn erwarteten, flohen in einem langen Zug, der sich mit manchen Lücken über einen Raum von vierundzwanzig Marschstunden ausdehnte. Allen voraus floh der Kaiser, dann die Könige, dann die Herzöge. Die russische Armee, welche glaubte, Napoleon werde sich rechts wenden und über den Dnjepr gehen, was das einzig Vernünftige war, bog gleichfalls nach rechts ab und gelangte auf die große Straße nach Krasnoje. Und hier stießen, wie beim Blindekuhspiel, die Franzosen auf unsere Vorhut. Bei dem unerwarteten Anblick des Feindes gerieten die Franzosen in Verwirrung, machten vor Überraschung und Schreck halt, flohen aber dann weiter, indem sie die hinter ihnen kommenden Kameraden im Stich ließen. Hier zogen nun die einzelnen Abteilungen der Franzosen, wie wenn sie bei den russischen Truppen Spießruten liefen, drei Tage lang eine nach der andern bei diesen vorbei, zuerst die des Vizeköniges, dann die Davouts, dann die Neys. Alle ließen sie einander im Stich und ebenso ihre ganze Bagage, ihre Artillerie, verloren die Hälfte der Mannschaft und entkamen nur dadurch, daß sie in mehreren Nächten nach rechts hin im Halbkreis um die Russen herumgingen. Ney, der als letzter marschierte (weil er trotz der unglücklichen Lage der Franzosen oder gerade infolge derselben die Diele hatte schlagen wollen, auf die sie gefallen waren, und sich damit aufgehalten hatte, die Mauern von Smolensk in die Luft zu sprengen, die doch niemand störten), Ney, der mit seinem ursprünglich zehntausend Mann starken Korps als letzter marschierte, gelangte zu Napoleon mit nur tausend Mann, nachdem er alle übrigen Mannschaften und alle Kanonen verloren und bei Nacht heimlich mit Benutzung von Waldwegen den Übergang über den Dnjepr bewerkstelligt hatte.
Von Orscha setzten sie ihre Flucht auf der Wilnaer Straße fort, indem sie genau in derselben Weise weiter mit der verfolgenden Armee Blindekuh spielten. An der Beresina gab es wieder Verwirrung, viele ertranken, viele ergaben sich; aber diejenigen, die mit Not und Mühe über den Fluß hinübergekommen waren, flohen weiter. Ihr höchster Befehlshaber hüllte sich in seinen Pelz, setzte sich in einen Schlitten und jagte, seine Kameraden verlassend, allein davon. Wer konnte, floh gleichfalls; wer das nicht konnte, ergab sich oder kam um.
XVIII
Man möchte meinen, in dieser Periode des Feldzuges, bei der Flucht der Franzosen, wo sie alles taten, was nur möglich war, um sich zugrunde zu richten, und wo in keiner Bewegung dieser Menschenschar, vom Einschwenken auf die Kalugaer Straße bis zur Flucht des Führers dieser Armee, der geringste Sinn und Verstand steckte, man möchte meinen, in dieser Periode des Feldzuges sei es den Historikern, die es lieben, die Taten der Massen auf den Willen eines einzelnen Mannes zurückzuführen, nun doch unmöglich, diesen Rückzug in ihrem Sinn darzustellen. Aber nein. Berge von Büchern haben die Historiker über diesen Feldzug geschrieben, und überall ist die Rede von Napoleons Anordnungen und tiefsinnigen Plänen, als von Manövern, durch die er das Heer geleitet habe, und von den genialen Anordnungen seiner Marschälle.
Der Rückzug von Malo-Jaroslawez, während Napoleon doch der Weg nach einem reichen Landstrich offenstand und er die Möglichkeit hatte, die Parallelstraße einzuschlagen, auf der ihn nachher Kutusow verfolgte, dieser nachteilige Rückzug durch eine verwüstete Gegend wird uns als das Resultat von allerlei tiefsinnigen Erwägungen erklärt. Auf ebensolche tiefsinnigen Erwägungen wird sein Rückzug von Smolensk nach Orscha zurückgeführt. Dann wird uns sein Heldenmut bei Krasnoje geschildert, wo er anscheinend sich anschickte, eine Schlacht anzunehmen und sie selbst zu kommandieren, mit einem birkenen Spazierstock umherging und sagte: »Nun habe ich lange genug das Amt des Kaisers ausgefüllt; es ist an der Zeit, daß ich den Posten eines Generals übernehme.« Und trotzdem floh er gleich darauf weiter und überließ die auseinandergeratenen Teile seines Heeres, die sich hinter ihm befanden, ihrem Schicksal.
Dann wird uns die Geistesgröße der Marschälle geschildert, namentlich Neys, eine Geistesgröße, die darin bestand, daß er bei Nacht auf einem Umweg durch den Wald den Übergang über den Dnjepr bewerkstelligte und ohne seine Fahnen, ohne seine Artillerie und mit nur einem Zehntel seiner Truppen nach Orscha flüchtete.
Und endlich stellen uns die Historiker die schließliche Abreise des großen Kaisers von seiner heldenmütigen Armee als etwas Großes, Geniales dar. Sogar diese letzte Handlung, darin bestehend, daß er sich davonmachte, eine Handlung, die die menschliche Sprache als den höchsten Grad der Gemeinheit bezeichnet, deren man jedes Kind sich schämen lehrt, auch diese Handlung erhält in der Sprache der Historiker ihre Rechtfertigung.
Da, wo es nicht mehr möglich ist, die so dehnbaren Gummifäden der historischen Beurteilung noch weiter auszurecken, weil die betreffende Handlung aufs klarste alledem zuwiderläuft, was die ganze Menschheit gut und gerecht nennt, da erscheint bei den Historikern als Retter der Begriff der Größe. Die Größe schließt, wie es scheint, die Möglichkeit aus, den Maßstab des Guten und Bösen anzulegen. Für einen Großen gibt es nichts Böses. Es gibt keine Untat, die man einem großen Mann als Schuld anrechnen könnte.
»Das ist groß!« sagen die Historiker, und da gibt es weder gut noch böse mehr, sondern nur groß und nicht groß. Groß ist gut, nicht groß ist böse. Die Größe ist nach der Anschauung der Historiker eine Eigenschaft gewisser besonderer Wesen, die sie Helden nennen. Und Napoleon, der sich, in einen warmen Pelz vermummt, nach Hause davonmachte, weg nicht nur von seinen Kameraden, sondern von den Menschen, die er (nach seiner Meinung) dorthin geführt hatte, Napoleon hatte die Empfindung, daß seine Handlungsweise groß sei, und sein Gewissen war ruhig.
»Vom Erhabenen« (und er sah in sich etwas Erhabenes) »zum Lächerlichen ist nur ein Schritt«, hat er gesagt. Die ganze Welt sagt seit fünfzig Jahren fortwährend: »Erhaben! Groß! Napoleon der Große!« Aber vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt!
Und niemand kommt auf den Gedanken, daß, wenn man eine Größe als existierend zugibt, die mit dem Maßstab des Guten und Bösen nicht meßbar ist, man damit nur seine eigene Nichtigkeit und unmeßbare Kleinheit zugibt.
Für uns, denen Christus den Maßstab des Guten und Bösen gegeben hat, gibt es nichts Unmeßbares. Und es gibt keine Größe, wo nicht Schlichtheit, Herzensgüte und Wahrhaftigkeit ist.
XIX
Welcher Russe hätte nicht, sooft er die Darstellungen der letzten Periode des Feldzuges von 1812 las, ein peinliches Gefühl des Ärgers, der Unzufriedenheit und der Unklarheit empfunden? Wer hätte sich nicht folgende Fragen vorgelegt:
Woher kam es, daß nicht alle Franzosen gefangengenommen oder vernichtet wurden, obgleich alle drei Armeen sie in überlegener Zahl umringten, und obgleich die in der Auflösung begriffenen, hungernden und frierenden Franzosen sich haufenweise ergaben, und obgleich (wie uns die Geschichte erzählt) die Absicht der Russen eben darin bestand, alle Franzosen aufzuhalten, abzuschneiden und gefangenzunehmen?
Woher kam es, daß das russische Heer, welches, als es den Franzosen an Zahl nachstand, ihnen die Schlacht bei Borodino lieferte, woher kam es, daß dieses selbe Heer nun, als es die Franzosen von drei Seiten einschloß und die Absicht hatte, sie gefangenzunehmen, dieses Ziel nicht erreichte? Besitzen die Franzosen wirklich eine so gewaltige Überlegenheit über uns, daß wir, trotzdem wir sie mit numerisch stärkeren Streitkräften einschlossen, sie nicht schlagen konnten? Wie ist das zugegangen?
Die Geschichte, d.h. das, was man mit diesem Namen benennt, sagt uns in Beantwortung dieser Fragen, das sei daher gekommen, daß Kutusow und Tormasow und Tschitschagow und der und der nicht die und die Manöver ausgeführt hätten.
Aber warum führten sie diese Manöver nicht aus? Und wenn sie daran schuld waren, daß das gesteckte Ziel nicht erreicht wurde, warum wurden sie nicht vor Gericht gestellt und hingerichtet? Aber selbst wenn man zugibt, daß Kutusow, Tschitschagow usw. die Schuld an dem strategischen Mißerfolg der Russen trugen, so bleibt es doch unbegreiflich, weshalb unter den Verhältnissen, in denen sich die russischen Truppen bei Krasnoje und an der Beresina befanden (in beiden Fällen waren die Russen in der Überzahl), nicht das französische Heer mitsamt den Marschällen, den Königen und dem Kaiser gefangengenommen wurde, wenn anders die Absicht der Russen darin bestand.
Die von den russischen Kriegshistorikern gegebene Erklärung dieser sonderbaren Erscheinung, Kutusow habe den Angriff gehindert, ist deswegen unrichtig, weil wir wissen, daß Kutusows Wille bei Wjasma und bei Tarutino die Truppen nicht vom Angriff zurückzuhalten vermochte.
Warum wurde das russische Heer, das mit schwächeren Kräften bei Borodino den Sieg über den Feind errang, der damals auf der Höhe seiner Kraft stand, bei Krasnoje und an der Beresina trotz seiner Überzahl von den zerrütteten Haufen der Franzosen besiegt?
Wenn die Absicht der Russen darin bestand, Napoleon und die Marschälle abzuschneiden und gefangenzunehmen, und nicht nur diese Absicht nicht erreicht wurde, sondern alle Versuche, sie zu erreichen, jedesmal auf die schmählichste Weise vereitelt wurden, so wird diese letzte Periode des Feldzuges ganz zu Recht von den Franzosen als eine Reihe von Siegen und ganz zu Unrecht von den russischen Historikern als siegreich für die Russen dargestellt.
Die russischen Kriegshistoriker, soweit sie meinen, daß die Logik für sie verbindlich ist, gelangen unwillkürlich, trotz aller lyrischen Ergüsse über Mannhaftigkeit und Hingebung, zu dem Schluß und Bekenntnis, daß der Rückzug der Franzosen von Moskau eine Reihe von Siegen Napoleons und von Niederlagen Kutusows ist. Aber auch wenn wir den nationalen Ehrgeiz ganz aus dem Spiel lassen, fühlen wir, daß dieser Schluß an und für sich einen Widerspruch enthält, da die Reihe der Siege der Franzosen sie zur völligen Vernichtung, dagegen die Reihe der Niederlagen der Russen sie zur gänzlichen Vernichtung des Feindes und zur Befreiung ihres Vaterlandes führte.
Die Quelle dieses Widerspruches liegt darin, daß die Historiker, welche diese Ereignisse unter Zugrundelegung der Briefe der Herrscher und Generale, der Berichte, Rapporte, Pläne usw. studieren, für diese letzte Periode des Krieges des Jahres 1812 unrichtigerweise eine Absicht voraussetzen, die niemals bestanden hat, nämlich die Absicht, Napoleon samt seinen Marschällen und seiner Armee abzuschneiden und gefangenzunehmen.
Diese Absicht hat nie bestanden und konnte nicht bestehen, weil sie keinen Sinn hatte und ihr Erreichen vollkommen unmöglich war.
Diese Absicht hatte keinen Sinn, erstens weil die zerrüttete Armee Napoleons, so schnell sie nur konnte, aus Rußland floh, d.h. eben das tat, was jeder Russe nur wünschen konnte. Welchen Zweck konnte es haben, allerlei Operationen gegen die Franzosen auszuführen, die so schon so schnell flohen, wie sie nur konnten?
Zweitens war es sinnlos, sich Leuten in den Weg zu stellen, die ihre gesamte Energie auf die Flucht richteten.
Drittens war es sinnlos, Opfer an eigenen Leuten zu bringen zum Zweck der Vernichtung der französischen Truppen, die schon ohne äußere Ursachen in solcher Progression zugrunde gingen, daß sie ohne jede Versperrung des Weges nicht mehr Mannschaften über die Grenze bringen konnten, als sie im Dezember wirklich hinübergebracht haben, d.h. ein Hundertstel des ganzen Heeres.
Viertens war der Wunsch, den Kaiser, die Könige und Herzöge gefangenzunehmen, sinnlos, da die Gefangennahme dieser Leute die weiteren Schritte Rußlands im höchsten Grade erschwert hätte, wie das die geschicktesten Diplomaten jener Zeit, J. Maistre und andere, anerkannt haben. Noch sinnloser war der Wunsch, die französischen Armeekorps gefangenzunehmen, während doch die eigenen Truppen bis Krasnoje auf die Hälfte zusammengeschmolzen waren und man den gefangenen Armeekorps ein paar Divisionen als Eskorte hätte zuteilen müssen, und während doch die eigenen Soldaten nicht immer ihre vollen Rationen erhielten und die bereits früher gefangengenommenen Feinde Hungers starben.
Der ganze tiefsinnige Plan, Napoleon und seine Armee abzuschneiden und gefangenzunehmen, war dasselbe, wie wenn ein Gärtner, um das Vieh aus dem Garten herauszutreiben, das ihm seine Beete zertritt, an das Tor liefe und das Vieh auf den Kopf schlüge. Das einzige, was man zur Entschuldigung einer solchen Handlungsweise des Gärtners sagen könnte, wäre, daß er sehr aufgeregt gewesen sei. Aber von den Urhebern jenes Projektes ließ sich auch dies nicht sagen, da sie selbst von dem Zertreten der Beete keinen Schaden hatten.
Aber abgesehen davon, daß ein Abschneiden Napoleons und seiner Armee sinnlos war, war es auch unmöglich.
Unmöglich war es deswegen, weil, wie schon die Bewegungen von Kolonnen auf eine Entfernung von fünf Werst in einer einzigen Schlacht sich erfahrungsmäßig niemals mit den Plänen decken, so auch die Wahrscheinlichkeit, daß Tschitschagow, Kutusow und Wittgenstein rechtzeitig an einem festgesetzten Punkt zusammentreffen würden, äußerst gering war, ja geradezu der Unmöglichkeit gleichkam. Und so dachte darüber auch Kutusow, der schon damals, als ihm der Plan zuging, sich dahin äußerte, Diversionen auf weite Entfernungen brächten nicht die gewünschten Resultate.
Zweitens war es unmöglich, weil, um das Beharrungsvermögen aufzuheben, mit welchem sich Napoleons Heer rückwärts bewegte, außerordentlich viel mehr Truppen erforderlich gewesen wären, als die Russen besaßen.
Drittens war dies deswegen unmöglich, weil der militärische Ausdruck »abschneiden« keinen Sinn hat. Abschneiden kann man ein Stück Brot, aber nicht eine Armee. Eine Armee abzuschneiden, ihr den Weg zu versperren, ist unmöglich, weil es ringsumher immer noch viel Raum gibt, wo sie mit einem Umweg gehen kann, und weil auch die Nacht da ist, in der man nicht gesehen wird; davon könnten sich die militärischen Gelehrten schon aus den Beispielen der Kämpfe bei Krasnoje und an der Beresina überzeugen. Gefangennehmen aber kann man niemand, wenn nicht derjenige, den man gefangennimmt, damit einverstanden ist, so wie es unmöglich ist, eine Schwalbe zu greifen, obwohl man sie fassen kann, wenn sie sich einem auf die Hand setzt. Gefangennehmen kann man jemand, der sich, wie die Deutschen, nach den Regeln der Strategie und Taktik ergibt. Aber die französischen Truppen hielten das mit vollem Recht nicht für zweckmäßig, da der gleiche Tod durch Hunger und Kälte sie auf der Flucht und in der Gefangenschaft erwartete.
Viertens aber, und das ist der Hauptgrund, war es deswegen unmöglich, weil, seit die Welt steht, noch nie ein Krieg unter so furchtbaren Umständen geführt worden ist wie der vom Jahre 1812 und die russischen Truppen bei der Verfolgung der Franzosen alle ihre Kräfte anstrengten und nicht mehr leisten konnten, ohne sich selbst zugrunde zu richten.
Bei dem Marsch der russischen Armee von Tarutino nach Krasnoje stellte sich ein Abgang von fünfzigtausend Mann an Kranken und Nachzüglern heraus, das ist eine Zahl, die der Einwohnerschaft einer großen Gouvernementshauptstadt gleichkommt. Die Armee verlor die Hälfte ihres Bestandes ohne Schlachten.
Und von dieser Periode des Feldzuges, wo die Truppen ohne Stiefel und Pelze, bei mangelhafter Verpflegung, ohne Branntwein, monatelang im Schnee und bei fünfzehn Grad Kälte übernachteten; wo der Tag nur sieben bis acht Stunden dauerte und im übrigen Nacht war, in welcher die Wirkung der Disziplin aufhört; wo die Mannschaften nicht wie in einer Schlacht nur auf einige Stunden in die Zone des Todes hineingeführt wurden, in welcher es keine Disziplin gibt, sondern monatelang jeden Augenblick mit dem Tod des Verhungerns und Erfrierens kämpfen mußten; wo in einem Monat die Hälfte der Armee umkam: von dieser Periode des Feldzuges erzählen uns die Historiker, wie Miloradowitsch einen Flankenmarsch dorthin und dorthin und Tormasow einen solchen dorthin und dorthin hätte unternehmen sollen, und wie Tschitschagow seine Truppen dorthin und dorthin hätte führen sollen (im Schnee, der bis über die Knie reichte), und wie dieser und jener den Feind zurückwarf und abschnitt usw., usw.
Die dem Heer angehörigen Russen, von denen die Hälfte starb, taten alles, was sie tun konnten und mußten, um ein der Nation würdiges Ziel zu erreichen, und konnten nichts dafür, daß andere Russen, die in ihren warmen Stuben saßen, unausführbare Pläne entwarfen.
Dieser ganze seltsame, jetzt unbegreiflich erscheinende Widerspruch zwischen dem wirklich Geschehenen und der geschichtlichen Darstellung rührt nur daher, daß die Historiker, die diese Ereignisse dargestellt haben, eine Geschichte der schönen Empfindungen und Äußerungen dieses und jenes Generals geschrieben haben, aber nicht eine Geschichte der Ereignisse.
Ihnen erscheinen irgendwelche Aussprüche Miloradowitschs und die Auszeichnungen, die diesem und jenem General zuteil wurden, und die Pläne und Vorschläge solcher Leute sehr interessant; aber für die fünfzigtausend Menschen, die in den Lazaretten und Gräbern zurückblieben, interessieren sie sich überhaupt nicht, weil dies keinen Gegenstand ihres Studiums bildet.
Und doch braucht man nur das Studium der Rapporte und der allgemeinen Kriegspläne beiseite zu lassen und in die Bewegung jener Hunderttausende von Menschen einzudringen, die an den Ereignissen direkt und unmittelbar beteiligt waren: und alle die Fragen, die vorher unlösbar schienen, finden plötzlich in überaus leichter, einfacher Weise ihre unzweifelhafte Lösung.
Eine Absicht, Napoleon und seine Armee abzuschneiden, hat niemals existiert, außer in der Phantasie von etwa einem Dutzend Menschen. Diese Absicht konnte nicht existieren, weil sie sinnlos und ihre Erreichung unmöglich war.
Die Nation hatte nur eine Absicht: ihr Land von den Eindringlingen zu säubern. Diese Absicht ist erreicht worden, erstens ganz von selbst, da die Franzosen flohen und daher weiter nichts nötig war, als diese Bewegung nicht aufzuhalten; zweitens wurde diese Absicht erreicht durch die Wirksamkeit des Volkskrieges, der die Franzosen vernichtete, und drittens dadurch, daß das große russische Heer den Franzosen auf dem Fuß folgte, bereit, Gewalt anzuwenden, falls die Flucht der Franzosen zum Stillstand käme.
Das russische Heer mußte wirken wie die Peitsche auf ein laufendes Tier. Und der erfahrene Treiber wußte, daß es am vorteilhaftesten ist, die Peitsche hoch zu halten und mit ihr zu drohen, nicht aber das laufende Tier mit ihr auf den Kopf zu schlagen.
Fünfzehnter Teil
I
Wenn der Mensch ein Tier sterben sieht, so ergreift ihn Entsetzen: ein Leben, wie es ihm selbst innewohnt und ihn zu dem macht, was er ist, wird da vor seinen Augen vernichtet und hört auf zu sein. Aber wenn das sterbende Wesen ein Mensch ist und ein geliebter Mensch, dann empfindet man, außer dem Entsetzen über die Vernichtung eines Lebens, in der Seele einen Riß und eine Wunde, die, ebenso wie eine leibliche Wunde, machmal den Tod herbeiführt, manchmal zwar wieder heilt, aber immer schmerzhaft bleibt und sich vor jeder äußeren Berührung scheut, durch die sie wieder gereizt werden könnte.
Nach dem Tod des Fürsten Andrei hatten Natascha und Prinzessin Marja beide in gleicher Weise diese Empfindung. Seelisch gebeugt und niedergedrückt von der drohend über ihnen hängenden Wolke des Todes, wagten sie nicht dem Leben ins Antlitz zu schauen. Vorsichtig hüteten sie ihre offenen Wunden vor verletzenden, schmerzlichen Berührungen. Alles mögliche: eine schnell auf der Straße vorüberfahrende Equipage, die mahnende Mitteilung, daß es Zeit sei zum Mittagessen zu kommen, die Anfrage des Stubenmädchens, welches Kleid sie bereitmachen solle, und als das Schlimmste eine Äußerung unaufrichtiger, lauer Teilnahme, all dergleichen reizte in schmerzhafter Weise die Wunde, erschien ihnen als eine Kränkung, störte die notwendige Stille, in der sie beide auf den ersten, furchtbaren Chorgesang lauschten, den sie mit ihren Seelen immer noch zu hören glaubten, und hinderte sie, in jene geheimnisvollen, unendlichen Fernen hineinzublicken, die sich ihnen für einen Augenblick erschlossen hatten.
Nur wenn sie beide miteinander allein waren, fühlten sie sich sicher vor schmerzlichen Verletzungen. Sie redeten nur wenig miteinander, und immer nur über ganz unwichtige Gegenstände. Eine wie die andere vermied es in gleicher Weise, irgend etwas zu erwähnen, was auf die Zukunft hindeutete.
Bei dem, was sie sagten, die Voraussetzung zugrunde zu legen, daß sie noch eine Zukunft vor sich hatten, das erschien ihnen als eine Beleidigung gegen sein Andenken. Noch vorsichtiger vermieden sie in ihren Gesprächen alles, was auf den Verstorbenen Bezug haben konnte. Sie hatten das Gefühl, daß das, was sie durchlebt und empfunden hatten, sich nicht mit Worten ausdrücken lasse. Sie hatten das Gefühl, daß, wenn sie mit Worten Einzelheiten seines Lebens erwähnten, dadurch die Erhabenheit und Heiligkeit des Mysteriums verletzt werde, das sich vor ihren Augen vollzogen hatte.
Indem sie so in ihren Reden beständig Zurückhaltung übten, fortwährend sorgsam alles vermieden, wodurch das Gespräch auf ihn hingelenkt werden konnte, immer von allen Seiten her an der Grenze dessen, was nicht gesagt werden durfte, haltmachten, trat ihnen das, was sie empfanden, noch reiner und klarer vor die Seele.
Aber eine reine, volle Trauer ist ebenso unmöglich wie eine reine, volle Freude. Zuerst von den beiden erfuhr dies Prinzessin Marja. Infolge ihrer Stellung als alleinige, unabhängige Herrin ihres Schicksals und als Vormund und Erzieherin ihres Neffen wurde sie durch das Leben aus jener Welt der Trauer herausgerissen, in der sie die ersten zwei Wochen hindurch gelebt hatte. Sie hatte von Verwandten Briefe erhalten, auf die sie antworten mußte; das Zimmer, in dem Nikolenka untergebracht war, erwies sich als feucht, und er begann zu husten; Alpatytsch kam nach Jaroslawl mit geschäftlichen Abrechnungen sowie mit dem Vorschlag und Rat, Prinzessin Marja möge nach Moskau in das Haus in der Wosdwischenka-Straße ziehen, das unversehrt geblieben war und nur geringer Reparaturen bedurfte. Das Leben blieb nicht stehen, und Prinzessin Marja konnte sich seinen Anforderungen nicht entziehen. So schwer es ihr wurde, aus jener Welt einsamer Beschaulichkeit, in der sie bisher gelebt hatte, herauszutreten, so sehr sie es bedauerte und sich gewissermaßen schämte, Natascha allein zu lassen: die Sorgen des Lebens verlangten ihre tätige Teilnahme, und sie konnte nicht umhin, sich ihnen zu widmen. Sie sah mit Alpatytsch die Rechnungen durch, konferierte mit Dessalles über ihren Neffen und traf Anordnungen und Vorbereitungen für ihre Übersiedelung nach Moskau.
Natascha blieb allein und begann auch ihrerseits der Prinzessin Marja aus dem Weg zu gehen, seit diese sich mit den Vorbereitungen zu ihrem Umzug beschäftigte.
Prinzessin Marja machte der Gräfin den Vorschlag, ihr Natascha nach Moskau mitzugeben, und Mutter und Vater erklärten sich freudig damit einverstanden, da sie sahen, daß die körperlichen Kräfte ihrer Tochter von Tag zu Tag mehr abnahmen, und der Meinung waren, eine Ortsveränderung und eine Behandlung durch Moskauer Ärzte würde ihr Nutzen bringen.
»Ich reise nirgends hin«, antwortete Natascha, als sie ihr von diesem Vorschlag Mitteilung machten. »Laßt mich nur, bitte, ganz in Ruhe!« Und damit lief sie aus dem Zimmer, nur mühsam die Tränen nicht sowohl des Grams als des Ärgers und Ingrimms zurückhaltend.
Seit Natascha sich von der Prinzessin Marja verlassen und in ihrem Gram allein fühlte, saß sie den größten Teil des Tages über allein in ihrem Zimmer mit hinaufgezogenen Beinen in einer Sofaecke, zerriß oder zerknetete etwas mit ihren schlanken, nervös zuckenden Fingern und blickte starr und regungslos nach irgendeinem Gegenstand hin, auf den sich ihre Augen einmal geheftet hatten. Diese Einsamkeit machte sie matt und war ihr eine Qual; aber trotzdem war sie ihr geradezu notwendig. Sowie jemand zu ihr ins Zimmer trat, stand sie schnell auf, änderte die Richtung und den Ausdruck ihres Blickes, griff nach einem Buch oder einer Näharbeit und wartete offenbar mit Ungeduld darauf, daß der, welcher sie gestört hatte, wieder hinausginge.
Es war ihr stets so zumute, als werde sie im nächsten Augenblick das verstehen und durchdringen, worauf ihr geistiger Blick mit furchtbarer, ihre Kräfte übersteigender Anstrengung fragend gerichtet war.
Gegen Ende des Dezembers saß Natascha eines Tages in einem schwarzen Wollkleid, den Zopf nachlässig in einen Kauz zusammengesteckt, mager und blaß, mit hinaufgezogenen Beinen in ihrer Sofaecke, knitterte nervös die Enden ihres Gürtels zusammen und breitete sie wieder auseinander und blickte unverwandt nach der Türnische.
Sie schaute dahin, wohin er fortgegangen war, nach dem jenseitigen Leben. Und das jenseitige Leben, an das sie früher nie gedacht hatte und das ihr früher so fern, so unwahrscheinlich vorgekommen war, erschien ihr jetzt näher, vertrauter, verständlicher als das diesseitige Leben, in welchem alles entweder Öde und Verwüstung oder Leid und Kränkung war.
Sie schaute dorthin, wo sie wußte, daß er war; aber sie konnte ihn nicht anders sehen als in der Gestalt, die er hier gehabt hatte. Sie sah ihn wieder so, wie er in Mytischtschi, in Troiza und in Jaroslawl gewesen war.
Sie sah sein Gesicht, hörte seine Stimme und wiederholte seine Worte und die Worte, die sie zu ihm gesprochen hatte, und ersann sich manchmal für sich und für ihn neue Worte, die sie beide damals hätten sagen können.
Er hatte vor ihr gelegen auf seinem Lehnstuhl in seinem samtenen Pelz, den Kopf auf die magere, blasse Hand gestützt, die Brust furchtbar eingesunken, die Schultern hochgezogen, die Lippen fest zusammengepreßt; die Augen hatten geglänzt, und auf seiner bleichen Stirn hatte sich eine Falte zusammengezogen und war dann wieder verschwunden. Sein eines Bein hatte ein ganz klein wenig gezittert. Natascha hatte gewußt, daß er mit einem qualvollen Schmerz rang. »Was hat es für eine Bewandtnis mit diesem Schmerz? Wozu ist dieser Schmerz da? Was fühlt der Kranke? Wie tut es ihm weh?« hatte Natascha gedacht. Er hatte bemerkt, daß ihre Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war, hatte die Augen in die Höhe gehoben und, ohne daß er gelächelt hätte, zu reden begonnen.
»Eines ist schrecklich«, hatte er gesagt, »sich für das ganze Leben mit einem leidenden Menschen zu verbinden. Das ist eine lebenslängliche Qual.« Und er hatte sie mit einem prüfenden Blick angeschaut. Natascha hatte, wie sie das immer tat, so auch damals geantwortet, ehe sie das, was sie antworten wollte, überdacht hatte; sie hatte gesagt: »Das kann ja nicht so bleiben, das wird nicht so bleiben; Sie werden wieder gesund werden, ganz gesund.«
Jetzt sah sie ihn wieder vor sich und durchlebte noch einmal von Anfang alles, was sie damals empfunden hatte. Sie erinnerte sich an den langen, traurigen, ernsten Blick, mit dem er sie bei diesen ihren Worten angeschaut hatte, und verstand, welch ein Vorwurf und welch eine Verzweiflung in diesem langen Blick gelegen hatte.
»Ich stimmte ihm darin zu«, sagte Natascha jetzt zu sich selbst, »daß es schrecklich wäre, wenn er immer leidend bliebe. Meine Antwort damals hatte nur den Sinn, daß es für ihn schrecklich sein würde, und er faßte sie anders auf. Er glaubte, es würde für mich schrecklich sein. Er hatte damals noch den Wunsch weiterzuleben und fürchtete sich vor dem Tod. Und ich habe ihm so plump, so dumm geantwortet. Das habe ich nicht gemeint. Ich meinte etwas ganz anderes. Wenn ich gesagt hätte, was ich wirklich meinte, so hätte ich gesagt: selbst wenn er immerzu im Sterben läge, immerzu vor meinen Augen dahinstürbe, so würde ich dennoch glücklich sein im Vergleich mit dem, was ich jetzt bin. Jetzt ist nichts und niemand mehr da. Hat er wohl gewußt, wie ich dachte? Nein. Er hat es nicht gewußt und wird es nie erfahren. Und jetzt läßt sich das nie, nie wiedergutmachen.« Und nun sprach er wieder zu ihr dieselben Worte; aber jetzt antwortete ihm Natascha in ihrer Phantasie anders. Sie unterbrach ihn und sagte: »Schrecklich für Sie, aber nicht für mich. Sie wissen, daß ohne Sie mir das Leben leer und öde ist; mit Ihnen zu leiden ist für mich das schönste Glück.« Und er ergiff ihre Hand und drückte sie so, wie er sie an jenem furchtbaren Abend vier Tage vor seinem Tod gedrückt hatte. Und in ihrer Phantasie sagte sie ihm jetzt noch andere zärtliche Liebesworte, die sie ihm damals hätte sagen können. »Ich liebe dich …! Dich … Ich liebe dich, liebe dich …«, sagte sie, indem sie die Hände krampfhaft zusammendrückte und die Zähne mit grausamer Anstrengung aufeinanderpreßte. Und ein süßer Gram überkam sie, und schon traten ihr die Tränen in die Augen; aber auf einmal fragte sie sich, wem sie das alles sage, wo er sei und was er jetzt sei. Und wieder wurde alles von einem trockenen, harten Zweifel verhüllt, und wieder schaute sie mit nervös zusammengezogenen Brauen im Geist dahin, wo er war. Und da, da war es ihr, als durchdringe sie das Geheimnis. Aber gerade in dem Augenblick, als das Unbegreifliche sich ihr schon zu offenbaren schien, traf ein lautes Klappern der Türklinke schmerzlich ihr Ohr. Eilig und ohne Vorsicht, mit einem ängstlichen, ihr sonst fremden Gesichtsausdruck trat das Stubenmädchen Dunjascha ins Zimmer.
»Bitte, kommen Sie recht schnell zum Papa«, sagte Dunjascha mit eigentümlich erregter Miene. »Ein Unglück … es ist ein Brief gekommen über Petja Iljitsch«, stieß sie schluchzend hervor.
II
Außer dem allgemeinen Gefühl der Entfremdung gegen alle Menschen empfand Natascha in dieser Zeit ein besonderes Gefühl der Entfremdung gegen die Mitglieder ihrer eigenen Familie. Alle ihre Angehörigen: der Vater, die Mutter, Sonja, waren ihr so gewohnte, alltägliche Erscheinungen, daß alle Worte und Gefühle derselben ihr wie eine Profanierung jener Welt vorkamen, in der sie in der letzten Zeit gelebt hatte, und sie benahm sich gegen sie nicht nur gleichgültig, sondern befand sich ihnen gegenüber in einer feindseligen Stimmung. Sie hatte gehört, was Dunjascha über Petja Iljitsch und ein Unglück gesagt hatte, es aber nicht verstanden.
»Was ist da bei denen für ein Unglück geschehen, was kann bei ihnen überhaupt für ein Unglück vorkommen? Bei denen nimmt ja alles seinen alten, gewohnten, ruhigen Gang«, sagte sich Natascha in Gedanken.
Als sie in den Saal trat, kam der Vater eilig aus dem Zimmer der Gräfin heraus. Sein Gesicht war von Falten überzogen und feucht von Tränen. Augenscheinlich war er aus jenem Zimmer herausgelaufen, um den Tränen, die ihn zu ersticken drohten, freien Lauf zu lassen. Als er Natascha erblickte, machte er mit beiden Armen eine Gebärde der Verzweiflung und brach in ein schmerzliches, krampfhaftes Schluchzen aus, bei dem sich sein rundes, weiches Gesicht verzerrte.
»Pe … Petja … Geh hinein, geh hinein, sie ruft nach dir …« Und wie ein Kind aufschluchzend, ging er hastig mit kleinen Schritten auf seinen schwach gewordenen Beinen auf einen Stuhl zu, fiel beinah auf ihn nieder und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.
Auf einmal lief gleichsam ein elektrischer Strom durch Nataschas ganzes Wesen. Eine Art von furchtbarem, schmerzhaftem Schlag traf ihr Herz. Sie empfand einen entsetzlichen Schmerz; es war ihr, als wäre in ihrem Innern etwas von ihr losgerissen und als sei sie dem Tod nahe. Aber gleich nach diesem Schmerz fühlte sie eine Befreiung von dem Verbot zu leben, das auf ihr gelastet hatte. Als sie den Vater sah und durch die Tür einen schrecklichen, lauten Schrei der Mutter hörte, hatte sie augenblicklich sich und ihren Gram vergessen.
Sie lief auf den Vater zu; der aber winkte ihr matt mit der Hand ab und wies auf die Tür der Mutter. Prinzessin Marja, blaß, mit zitternder Kinnlade, kam aus der Tür, ergriff Natascha bei der Hand und sagte etwas zu ihr. Natascha sah sie nicht und hörte sie nicht. Mit schnellen Schritten trat sie in die Tür, blieb, wie im Kampf mit sich selbst, einen Augenblick stehen und lief dann zu ihrer Mutter hin.
Die Gräfin lag in seltsamer, unbequemer Haltung ausgestreckt auf einem Lehnstuhl und schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Sonja und die Stubenmädchen hielten sie an den Armen.
»Ruft Natascha, ruft Natascha!« schrie die Gräfin. »Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr … Er lügt … Ruft Natascha!« schrie sie und stieß die Umstehenden von sich. »Geht alle fort, es ist nicht wahr! Er soll tot sein? Hahaha …! Es ist nicht wahr!«
Natascha kniete sich mit dem einen Bein auf den Lehnstuhl, beugte sich über die Mutter, umarmte sie, hob sie mit überraschender Kraft in die Höhe, drehte das Gesicht der Mutter zu sich hin und schmiegte sich an sie.
»Mamachen …! Täubchen …! Hier bin ich, du Liebe, Gute. Mamachen …«, flüsterte sie ihr zu, ohne auch nur eine Sekunde lang zu schweigen.
Sie ließ die Mutter nicht los, rang zärtlich mit ihr, forderte Kissen und Wasser und knöpfte und riß ihr das Kleid auf.
»Du Liebe, Gute, Täubchen … Liebstes Mamachen …«, flüsterte sie unaufhörlich, küßte ihr den Kopf, die Hände, das Gesicht, und fühlte, wie ihr selbst die Tränen stromweise aus den Augen liefen und sie an Nase und Wangen kitzelten.
Die Gräfin drückte die Hand der Tochter, schloß die Augen und wurde für einen Augenblick ruhig. Plötzlich aber erhob sie sich mit einer Schnelligkeit, die ihr sonst nicht eigen war, sah verstört um sich, und als sie Natascha erblickte, begann sie aus Leibeskräften deren Kopf zusammenzudrücken. Dann wandte sie Nataschas Gesicht, das sich vor Schmerz in Falten verzogen hatte, zu sich und blickte lange hinein.
»Natascha, du hast mich lieb«, sagte sie in leisem, zutraulichem Flüsterton. »Natascha, du wirst mich nicht täuschen? Du wirst mir die ganze Wahrheit sagen?«
Natascha sah sie mit Augen, die in Tränen schwammen, an, und auf ihrem Gesicht lag nur eine Bitte um Verzeihung und um Liebe.
»Mamachen, du Liebe, Gute«, sagte sie noch einmal und strengte alle Kraft ihrer Liebe an, um nach Möglichkeit das Übermaß des Kummers, der die Mutter erdrückte, dieser abzunehmen und es auf die eigenen Schultern zu laden.
Aber die Mutter, die es durchaus nicht für möglich halten wollte, daß sie selbst lebe, während ihr geliebter, blühender Junge tot sei, rettete sich aus der Wirklichkeit, mit der sie in hoffnungslosem Kampf rang, wieder in die Welt des Irrsinns.
Natascha hatte später keine Erinnerung dafür, wie dieser Tag und diese Nacht und der folgende Tag und die folgende Nacht vergangen waren. Sie schlief nicht und wich ihrer Mutter nicht von der Seite. Nataschas beharrliche, geduldige Liebe hielt gleichsam die Gräfin ununterbrochen fest umschlungen, nicht in dem Sinn, als ob sie sie zu belehren oder zu trösten versuchte, sondern als wollte sie sie auffordern, zum Leben zurückzukehren.
In der dritten Nacht beruhigte sich die Gräfin für ein Weilchen, und Natascha schloß die Augen, stützte den Arm auf die Lehne des Sessels, auf dem sie saß, und legte den Kopf in die Hand. Das Bett knarrte; Natascha öffnete die Augen. Die Gräfin saß aufrecht auf dem Bett und sprach leise vor sich hin.
»Wie freue ich mich, daß du gekommen bist, lieber Sohn. Du wirst müde sein; möchtest du Tee?« Natascha trat zu ihr. »Du bist hübscher und männlicher geworden«, fuhr die Gräfin fort und ergriff die Tochter bei der Hand.
»Mamachen, was sprechen Sie da!«
»Natascha, er lebt nicht mehr, er lebt nicht mehr.«
Die Gräfin umarmte ihre Tochter und begann zum erstenmal zu weinen.
III
Prinzessin Marja hatte ihre Abreise aufgeschoben. Sonja und der Graf versuchten, Natascha abzulösen; aber dies war ihnen nicht möglich. Sie sahen, daß Natascha die einzige war, die die Mutter vor wahnsinniger Verzweiflung bewahren konnte. Drei Wochen lang wohnte Natascha mit ihrer Mutter zusammen, ohne sie je zu verlassen; sie schlief auf einem Lehnstuhl in ihrem Zimmer, gab ihr zu trinken und zu essen und redete fortwährend mit ihr; sie redete, weil schon allein der zärtliche, liebkosende Klang ihrer Stimme für die Gräfin etwas Beruhigendes hatte.
Die seelische Wunde der Mutter konnte nicht heilen. Petjas Tod hatte ihr die Hälfte ihrer Lebenskraft geraubt. Als sie die Nachricht von Petjas Tod empfangen hatte, war sie eine frische, rüstige Fünfzigerin gewesen; einen Monat darauf trat sie aus ihrem Zimmer als eine fast abgestorbene Greisin, die am Leben keinen Anteil mehr nahm. Aber durch dieselbe Wunde, die der Gräfin die halbe Lebenskraft entrissen hatte, durch diese neue Wunde war Natascha wieder zum Leben erweckt worden.
Mit einer seelischen Wunde, die von einer Verletzung sozusagen des geistigen Leibes herrührt, ist es dieselbe Sache wie mit einer körperlichen Wunde. So sonderbar es auch scheinen mag: nachdem die Wunde gleichsam in der Tiefe der Seele zu bluten aufgehört hat und ihre Ränder sich geschlossen haben, heilt sie, wie eine körperliche, allein durch die von innen hervordrängende Lebenskraft.
Ebenso heilte Nataschas Wunde. Sie hatte gemeint, ihr Leben sei abgeschlossen. Aber plötzlich zeigte ihr die Liebe zur Mutter, daß der Kern ihres Lebens, die Liebe, in ihr noch lebendig war. Die Liebe war wieder erwacht, und mit ihr auch das Leben.
Die letzten Tage des Fürsten Andrei hatten um Natascha und Prinzessin Marja ein Band geschlungen. Das neue Unglück brachte sie einander noch näher. Prinzessin Marja hatte ihre Abreise aufgeschoben und in den letzten drei Wochen Natascha wie ein krankes Kind gewartet und gepflegt. Die letzten Wochen, welche Natascha im Zimmer der Mutter verbracht hatte, hatten ihre physischen Kräfte arg mitgenommen.
Eines Tages bemerkte Prinzessin Marja um die Mittagszeit, daß Natascha in einem Fieberschauer zitterte; sie nahm sie mit sich auf ihr Zimmer und veranlaßte sie, sich dort auf ihr Bett zu legen. Natascha legte sich auch hin; aber als Prinzessin Marja die Vorhänge heruntergelassen hatte und nun hinausgehen wollte, rief Natascha sie zu sich heran.
»Ich mag nicht schlafen, Marja; setz dich doch ein Weilchen zu mir.«
»Du bist müde; versuche nur zu schlafen.«
»Nein, nein. Warum hast du mich hierhergebracht? Sie wird nach mir fragen.«
»Es geht ihr ja doch bedeutend besser. Sie hat heute so lieb und gut gesprochen«, sagte Prinzessin Marja.
Natascha lag auf dem Bett und betrachtete in dem Halbdunkel des Zimmers das Gesicht der Prinzessin.
»Hat sie Ähnlichkeit mit ihm?« dachte Natascha. »Ja, sie hat mit ihm Ähnlichkeit und auch wieder nicht. Aber sie ist ein besonderes, fremdes, ganz neuartiges, mir unbekanntes Wesen. Und sie hat mich gern. Wie mag es nur in ihrem Herzen aussehen? In ihrem Herzen wohnt gewiß nur Gutes. Aber wie mag sie über mich denken? Wie mag sie mich beurteilen? Ja, sie ist ein herrliches Wesen!«
»Marja«, sagte sie schüchtern und zog deren Hand zu sich heran. »Marja, halte mich nicht für schlecht. Nein? Marja, Täubchen! Wie lieb ich dich habe! Wir wollen gute Freundinnen sein, recht gute Freundinnen.«
Und Natascha umarmte Prinzessin Marja und bedeckte ihre Hände und ihr Gesicht mit Küssen. Prinzessin Marja fühlte sich durch diesen Gefühlsausbruch Nataschas beschämt und beglückt.
Von diesem Tag an bildete sich zwischen Prinzessin Marja und Natascha jene leidenschaftliche, zärtliche Freundschaft heraus, wie sie nur zwischen Frauen vorkommt. Sie küßten sich fortwährend, wechselten zärtliche Worte miteinander und verbrachten die meiste Zeit zusammen. Ging die eine hinaus, so wurde die andere unruhig und beeilte sich, sich ihr wieder zuzugesellen. Sie befanden sich beide untereinander in größerem Einklang, als jede einzelne mit sich selbst. Das Gefühl, das zwischen ihnen bestand, war stärker als bloße Freundschaft; eine jede von ihnen fühlte geradezu, daß sie eigentlich nur bei Anwesenheit der andern wahrhaft leben könne.
Manchmal schwiegen sie ganze Stunden lang; machmal begannen sie, wenn sie schon in den Betten lagen, noch miteinander zu reden und redeten so bis zum Morgen. Sie sprachen größtenteils von der fernen Vergangenheit. Prinzessin Marja erzählte von ihrer Kindheit, von ihrer Mutter, ihrem Vater, von ihrer Gedankenwelt; und Natascha, die sich früher mit ruhiger Verständnislosigkeit von diesem Leben der Ergebung und Demut und von der Poesie christlicher Selbstverleugnung abgewandt hatte, lernte jetzt, wo sie sich durch das Band der Liebe mit Prinzessin Marja verknüpft fühlte, auch die Vergangenheit der Prinzessin Marja lieben und diese ihr vorher unverständliche Seite des Lebens verstehen. Sie beabsichtigte nicht, Demut und Selbstverleugnung ihrem eigenen Charakter beizugesellen, da sie andere Freuden zu suchen gewohnt war; aber sie begriff und liebte nun an andern diese ihr bisher unverständliche Tugend. Und auch der Prinzessin Marja erschloß sich, wenn sie Nataschas Erzählungen von ihrer Kindheit und ersten Mädchenzeit anhörte, eine ihr bisher unverständliche Seite des Lebens, der Glaube an das Leben und an den Genuß des Lebens.
Wie früher, sprachen sie auch jetzt nie von »ihm«; sie hatten die Vorstellung, daß sie durch Worte sich an der Erhabenheit des Gefühls, das in ihren Herzen lebte, versündigen würden; aber dieses Schweigen über ihn hatte die Wirkung, daß sie, ohne selbst sich dessen bewußt zu werden, seiner allmählich vergaßen.
Natascha wurde so mager und blaß und ihre Körperkräfte nahmen dermaßen ab, daß alle beständig von ihrer Gesundheit sprachen; und ihr war dies angenehm. Manchmal aber überkam sie plötzlich eine Angst nicht nur vor dem Tod, sondern auch vor Krankheit, Schwäche, Verlust ihrer Schönheit, und unwillkürlich betrachtete sie dann aufmerksam ihren nackten Arm und erschrak über seine Magerkeit, oder sie musterte morgens im Spiegel ihr langgezogenes und, wie es ihr vorkam, Mitleid erweckendes Gesicht. Sie hatte die Vorstellung, das müsse so sein, war aber doch traurig darüber.
Einmal ging sie schnell die Treppe hinauf und kam dabei stark außer Atem. Sofort ersann sie sich noch eine Verrichtung unten und lief dann von dort noch einmal nach oben, um ihre Kraft auf die Probe zu stellen und sich zu beobachten.
Ein andermal rief sie nach Dunjascha, und ihre Stimme kam dabei ins Zittern. Sie rief sie noch einmal, obgleich sie schon ihre Schritte hörte, und zwar mit dem Brustton, mit dem sie sang, und horchte, was er für einen Klang habe.
Sie wußte es nicht und hätte es nicht geglaubt: aber durch die Schlammschicht, die ihre Seele bedeckte und ihr undurchdringlich schien, kamen schon von unten dünne, zarte, junge Grasspitzen hindurch, von denen zu erwarten war, daß sie sich bald fester verwurzeln und mit ihren lebensfrischen Trieben den Kummer, welcher Natascha niederdrückte, so überdecken würden, daß er bald nicht mehr zu sehen und zu merken sein würde. Die Wunde heilte von innen heraus.
Ende Januar reiste Prinzessin Marja nach Moskau, und der Graf bestand darauf, daß Natascha mit ihr fahren sollte, um die dortigen Ärzte zu konsultieren.
IV
Nach dem Zusammenstoß bei Wjasma, wo Kutusow das Verlangen seines Heeres, den Feind zurückzuwerfen, abzuschneiden usw., nicht hatte zügeln können, ging der weitere Marsch der fliehenden Franzosen und der sie verfolgenden Russen ohne Kämpfe vor sich. Die Flucht war so eilig, daß die russische Armee, die die Franzosen verfolgte, ihnen nicht nachkommen konnte und die Pferde der Kavallerie und Artillerie den Dienst versagten und die Nachrichten über die Bewegungen der Franzosen stets unzuverlässig waren.
Die Mannschaften des russischen Heeres waren durch dieses ununterbrochene Marschieren, täglich vierzig Werst, so erschöpft, daß sie nicht schneller vorwärts konnten.
Um den Grad der Erschöpfung der russischen Armee zu begreifen, braucht man sich nur die Bedeutung der Tatsache klarzumachen, daß die russische Armee, die aus Tarutino in einer Stärke von hunderttausend Mann ausgerückt war und an Verwundeten und Gefallenen während des ganzen Marsches von Tarutino nicht mehr als fünftausend Mann, an Gefangenen nicht hundert verloren hatte, in Krasnoje nur noch fünfzigtausend Mann stark anlangte.
Der schnelle Marsch der Russen hinter den Franzosen her wirkte auf die russische Armee genau ebenso aufreibend wie die Flucht auf die Franzosen. Der Unterschied war nur der, daß die russische Armee nach ihrem eigenen Willen marschierte, ohne daß sie das Verderben zu fürchten gehabt hätte, wie es als drohende Wolke über der französischen Armee hing, und darin, daß die zurückbleibenden Maroden bei den Franzosen in die Hände des Feindes fielen, während die zurückbleibenden Russen in ihrer Heimat waren. Die Hauptursache für die Verringerung des napoleonischen Heeres war die Schnelligkeit des Marsches, und als zweifelloser Beweis dafür dient die entsprechende Verringerung der russischen Truppen.
Kutusows ganze Tätigkeit war, wie dies auch bei Tarutino und Wjasma der Fall gewesen war, nur darauf gerichtet, soweit es in seiner Macht stand, diese für die Franzosen unheilvolle Bewegung nicht zu hemmen (wie es die Herrschaften in Petersburg und die russischen Generale bei der Armee wollten), sondern sie zu fördern und die Bewegung der eigenen Truppen zu erleichtern.
Seit sich aber bei den Truppen eine starke Erschöpfung fühlbar machte und die gewaltigen Menschenverluste eintraten, die eine Folge des schnellen Marschierens waren, hatte Kutusow außer dem oben angegebenen Grund noch einen zweiten, der ihn veranlaßte, die Bewegungen der Truppen zu verlangsamen und abzuwarten. Der Zweck der russischen Truppen war die Verfolgung der Franzosen. Der Weg, den die Franzosen einschlugen, war unbekannt; je näher auf den Fersen daher unsere Truppen den Franzosen folgten, eine um so größere Strecke hatten sie zurückzulegen. Nur wenn sie in einiger Entfernung folgten, war es möglich, durch Benutzung des kürzesten Weges die Franzosen abzuschneiden. Alle die kunstvollen Manöver, die die Generale in Vorschlag brachten, liefen auf Truppenverschiebungen und Vergrößerung der Märsche hinaus, während doch das einzig vernünftige Ziel darin bestand, diese Märsche zu verkleinern. Und auf dieses Ziel war während des ganzen Feldzuges von Moskau bis Wilna Kutusows Tätigkeit gerichtet, nicht etwa nur gelegentlich und zeitweilig, sondern mit solcher Konsequenz, daß er es auch nicht ein einziges Mal aus den Augen verlor.
Kutusow wußte nicht mit dem Verstand oder durch die Wissenschaft, sondern er wußte und fühlte mit seinem ganzen russischen Wesen, was jeder russische Soldat fühlte: daß die Franzosen besiegt waren, daß die Feinde flohen und daß man sie hinausbegleiten mußte; zugleich aber fühlte er in vollem Einklang mit den Soldaten die ganze drückende Last dieses hinsichtlich der Schnelligkeit und der Jahreszeit unerhörten Marsches.
Aber die Generale, namentlich die nicht-russischen, die den Wunsch hatten sich auszuzeichnen, irgend jemand in Erstaunen zu versetzen, zu irgendeinem Zweck irgendeinen Herzog oder König gefangenzunehmen, diese Generale waren jetzt, wo doch jeder Kampf widerlich und sinnlos war, der Ansicht, gerade jetzt sei die richtige Zeit, um eine Schlacht zu liefern und irgend jemand zu besiegen. Kutusow zuckte nur die Achseln, wenn sie ihm einer nach dem andern allerlei Projekte zu Manövern mit diesen schlecht beschuhten, der Pelze entbehrenden, halb verhungerten Soldaten vorlegten, die in einem Monat ohne Schlachten auf die Hälfte zusammengeschmolzen waren und mit denen man, selbst wenn sich die weitere Verfolgung unter den günstigsten Umständen vollzog, bis zur Grenze noch eine weitere Strecke zu durchmessen hatte, als die bisher zurückgelegte.
Ganz besonders trat dieses Streben, sich auszuzeichnen und zu manövrieren, zurückzuwerfen und abzuschneiden, dann hervor, wenn die russischen Truppen auf die der Franzosen stießen.
So war dies bei Krasnoje der Fall, wo man eine der drei französischen Kolonnen zu finden erwartet hatte und auf Napoleon selbst mit dem ganzen Heer stieß. Trotz aller Mittel, die Kutusow anwandte, um diesem verderblichen Zusammenstoß auszuweichen und seine Truppen zu schonen, kam es doch zu einer drei Tage dauernden Bekämpfung der aufgelösten Scharen der Franzosen durch die erschöpften Soldaten der russischen Armee.
Toll hatte eine schriftliche Disposition verfaßt: »Die erste Kolonne marschiert usw.« Und wie immer verlief nichts der Disposition gemäß. Prinz Eugen von Württemberg beschoß die vorbeilaufenden Scharen der Franzosen von einem Berg aus und forderte Verstärkungen, die er aber nicht erhielt. Die Franzosen flüchteten in den Nächten um die Russen herum, zerstreuten sich, verbargen sich in den Wäldern und arbeiteten sich, ein jeder so gut er konnte, weiter vorwärts.
Miloradowitsch, der geäußert hatte, von dem ökonomischen Angelegenheiten seiner Abteilung wolle er nichts wissen, er, der niemals zu finden war, wenn man ihn brauchte, der Ritter ohne Furcht und Tadel, wie er sich selbst gern nannte, ein Freund von Unterhandlungen mit den Franzosen, schickte Parlamentäre, forderte zur Ergebung auf, verlor die Zeit und tat nicht, was ihm befohlen war.
»Ich schenke euch diese Kolonne, Kinder«, sagte er, indem er an seine Truppen heranritt und den Kavalleristen die Franzosen zeigte.
Und die Kavalleristen ritten auf ihren Pferden, die sich kaum bewegen konnten und die sie mit den Sporen und Säbeln antreiben mußten, im Trab mühsam zu der ihnen geschenkten Kolonne, d.h. zu einem Haufen halb erfrorener, halb verhungerter Franzosen, hin, und die geschenkte Kolonne streckte die Waffen und ergab sich; was sie schon längst gewollt hatte.
Bei Krasnoje wurden sechsundzwanzigtausend Mann gefangengenommen und Hunderte von Geschützen erbeutet, sowie auch ein Stock, den man einen Marschallstab nannte, und man stritt darüber, wer sich dabei besonders ausgezeichnet habe, und war mit dem Resultat zufrieden; nur bedauerte man sehr, daß man nicht Napoleon oder wenigstens einen Helden zweiten Ranges, einen Marschall, gefangengenommen hatte, und machte sich deswegen gegenseitig Vorwürfe; ganz besonders aber richteten sich die Vorwürfe gegen Kutusow.
Diese Leute, die sich von ihren Leidenschaften bestimmen ließen, waren nur blinde Vollstrecker des so traurigen Gesetzes der Notwendigkeit; aber sie hielten sich für Helden und meinten, das, was sie ausgeführt hatten, sei die würdigste, edelste Tat. Sie beschuldigten Kutusow und sagten, er habe sie gleich vom Beginn des Feldzuges an daran gehindert, Napoleon zu besiegen; er sei nur auf die Befriedigung seiner Leidenschaften bedacht und habe nicht aus Polotnjanyje Sawody weggehen wollen, weil er sich dort behaglich gefühlt habe; er habe bei Krasnoje den Marsch gehemmt, weil er auf die Kunde von Napoleons Anwesenheit vollständig den Kopf verloren gehabt habe; man könne vermuten, daß er sich im Einverständnis mit Napoleon befinde, von ihm gekauft sei1, usw. usw.
Und nicht genug, daß die Zeitgenossen, von ihren Leidenschaften hingerissen, so sprachen, auch die Nachwelt und die Geschichte haben Napoleon einen »großen Mann« genannt; Kutusow aber haben die Ausländer als einen schlauen, ausschweifenden, schwächlichen, höfisch gesinnten alten Mann bezeichnet, die Russen als einen wankelmütigen, unentschlossenen Menschen, als eine Art Strohmann, der nur durch seinen russischen Namen nützlich gewirkt habe.
Fußnoten
1 Vgl. Wilsons Aufzeichnungen.
Anmerkung des Verfassers.
V
In den Jahren 1812 und 1813 beschuldigte man Kutusow geradezu, grobe Fehler begangen zu haben. Der Kaiser war mit ihm unzufrieden. Und in einem Geschichtswerk, das unlängst auf Allerhöchsten Befehl verfaßt worden ist, wird gesagt, Kutusow sei ein schlauer, höfischer Lügner gewesen, der vor dem Namen Napoleon Angst gehabt und durch seine Fehler bei Krasnoje und an der Beresina die russischen Truppen des Ruhmes einer völligen Besiegung der Franzosen beraubt habe.1
Das ist das Schicksal nicht der »großen Männer« von der Art, wie sie der russische Verstand nicht anerkennt, sondern das Schicksal jener seltenen, immer einsam dastehenden Männer, die, den Willen der Vorsehung erkennend, ihm ihren eigenen, persönlichen Willen unterordnen. Haß und Geringschätzung seitens der Menge sind die Strafe dieser Männer dafür, daß sie für die höchsten Gesetze Verständnis gehabt haben.
Für die russischen Geschichtsschreiber (es ist sonderbar und schrecklich zu sagen) ist Napoleon, dieses nichtigste aller Werkzeuge der Geschichte, dieser Mann, der nie und nirgends, nicht einmal in der Verbannung etwas von Menschenwürde hat blicken lassen, Napoleon ist für sie ein Gegenstand des Entzückens und der Begeisterung; er ist »ein großer Mann«. Kutusow dagegen, der vom Anfang bis zum Ende seiner Tätigkeit im Jahre 1812, von Borodino bis Wilna, kein einziges Mal, durch keine Handlung und kein Wort sich selbst untreu wurde, der ein in der Geschichte seltenes Beispiel von Selbstverleugnung und von der Fähigkeit, in der Gegenwart die zukünftige Bedeutung eines Ereignisses zu erkennen, bietet, Kutusow wird von ihnen als ein unschlüssiger, kläglicher Mensch geschildert, und wenn sie von Kutusow und dem Jahr 1812 reden, so klingt es immer, als schämten sie sich ein bißchen.
Und doch ist es schwer, eine historische Persönlichkeit zu finden, deren Tätigkeit mit solcher Unwandelbarkeit beständig auf dasselbe Ziel gerichtet gewesen wäre. Es ist schwer, ein würdigeres und in höherem Grad mit dem Willen der ganzen Nation im Einklang befindliches Ziel zu ersinnen. Noch schwerer ist es, in der Geschichte ein zweites Beispiel zu finden, wo das Ziel, das sich eine historische Persönlichkeit gesetzt hat, in einer so vollkommenen Weise erreicht worden wäre wie das Ziel, auf dessen Erreichung die gesamte Tätigkeit Kutusows im Jahre 1812 gerichtet war.
Kutusow sprach nie von vierzig Jahrhunderten, die von den Pyramiden herabsähen, von den Opfern, die er dem Vaterland bringe, von dem, was er zu vollbringen beabsichtige oder schon vollbracht habe; er sprach überhaupt nicht über sich, er schauspielerte nicht, er erschien stets als ein ganz einfacher, gewöhnlicher Mensch und redete die einfachsten, gewöhnlichsten Dinge. Er schrieb Briefe an seine Töchter und an Madame Stahl, las Romane, liebte die Gesellschaft schöner Frauen, scherzte mit den Generalen, den Offizieren und Soldaten und widersprach niemals denen, die ihm etwas beweisen wollten. Als Graf Rastoptschin auf der Jauski-Brücke zu Kutusow herangefahren kam und ihm den persönlichen Vorwurf machte, er sei an dem Untergang Moskaus schuld, und sagte: »Sie haben ja doch versprochen, Moskau nicht preiszugeben, ohne eine Schlacht geliefert zu haben!«, da antwortete Kutusow: »Ich werde auch Moskau nicht ohne Schlacht preisgeben«, obwohl Moskau bereits preisgegeben war. Als Araktschejew im Auftrag des Kaisers zu ihm kam und sagte, man müsse Jermolow zum Befehlshaber der Artillerie ernennen, antwortete Kutusow: »Das habe ich selbst soeben gesagt«, obgleich er einen Augenblick vorher etwas ganz anderes gesagt hatte. Was machte er sich daraus, er, der inmitten der verständnislosen, ihn umgebenden Menge der einzige war, der damals die ganze gewaltige Bedeutung jenes Ereignisses begriff, was machte er sich daraus, ob Graf Rastoptschin das Unglück der Hauptstadt sich selbst oder ihm zur Last legte? Und noch weniger interessierte es ihn, wer zum Befehlshaber der Artillerie ernannt wurde.
Dieser alte Mann war durch die Erfahrung seines Lebens zu der Überzeugung gelangt, daß nicht Gedanken und die zu ihrem Ausdruck dienenden Worte es sind, wodurch die Menschen in Bewegung gesetzt werden, und so sprach er denn nicht nur in den oben genannten Fällen, sondern fortwährend ganz sinnlose Worte, die ersten besten, die ihm einfielen.
Aber dieser selbe Mann, der mit seinen Worten so lässig umging, hat während seiner ganzen Tätigkeit kein einziges Mal ein Wort gesagt, das nicht mit jenem einzigen Ziel in Übereinstimmung gewesen wäre, nach dessen Erreichung im ganzen Verlauf des Krieges sein Streben ging. Mit sichtlichem Widerstreben, mit der schmerzlichen Überzeugung, daß man ihn doch nicht verstehen werde, sprach er wiederholentlich unter den verschiedensten Umständen seinen Gedanken aus. Um mit der Schlacht bei Borodino zu beginnen, mit welcher seine Mißhelligkeiten mit seiner Umgebung ihren Anfang nahmen, so war er der einzige, welcher sagte, die Schlacht bei Borodino sei ein Sieg; und dies hat er sowohl mündlich als auch in seinen Rapporten und Berichten bis an sein Lebensende wiederholt. Er war der einzige, welcher sagte, der Verlust Moskaus sei nicht der Verlust Rußlands. Auf Lauristons Friedensanerbietungen antwortete er, ein Friede sei unmöglich; so denke das ganze Volk. Er allein sagte während des Rückzuges der Franzosen, alle unsere Manöver seien unnötig; alles mache sich ganz von selbst besser, als wir es nur wünschen könnten; man müsse dem Feind eine goldene Brücke bauen; weder die Schlacht bei Tarutino noch die bei Wjasma noch die bei Krasnoje sei nötig gewesen; man müsse noch Truppen haben, wenn man an die Grenze komme; für zehn Franzosen gebe er noch keinen einzigen Russen hin.
Und er allein, dieser Höfling, wie man ihn uns darstellt, er, der angeblich Araktschejew belog, in der Absicht, dem Kaiser zu gefallen, er allein, dieser Höfling, sagte in Wilna, obgleich er sich dadurch die Ungnade des Kaisers zuzog, eine weitere Kriegführung im Ausland sei nutzlos und schädlich.
Aber seine Aussprüche allein würden nicht beweisen, daß er damals die Bedeutung des Ereignisses erfaßte. Seine Taten, alle ohne die geringste Abweichung, sind sämtlich auf ein und dasselbe dreifache Ziel gerichtet: erstens, alle seine Kräfte zum Zweck eines Zusammenstoßes mit den Franzosen anzuspannen; zweitens, sie zu besiegen, und drittens, sie aus Rußland zu vertreiben, unter möglichster Erleichterung der Leiden des Volkes und des Heeres.
Er, dieser Zauderer Kutusow, dessen Devise Geduld und Zeit war, der Feind alles entschiedenen Handelns, er lieferte die Schlacht bei Borodino, nachdem er die Vorbereitungen zu ihr mit einer beispiellosen Feierlichkeit ausgestattet hatte. Er, dieser Kutusow, der bei der Schlacht bei Austerlitz vor dem Beginn derselben sagte, sie werde verloren werden, er behauptete bei Borodino, trotzdem die Generale versicherten, die Schlacht sei verloren, und obwohl man nie von einem Beispiel dafür gehört hat, daß ein Heer sich nach einer gewonnenen Schlacht hätte zurückziehen müssen, er allein behauptete im Gegensatz zu allen bis zu seinem Lebensende, die Schlacht bei Borodino sei ein Sieg. Er allein bestand während des ganzen Rückzuges der Franzosen darauf, keine Schlachten zu liefern, da sie nun nutzlos seien, und keinen neuen Krieg zu beginnen und die Grenzen Rußlands nicht zu überschreiten.
Die Bedeutung jenes Ereignisses zu verstehen, ist heutzutage (wenn man nur nicht der Tätigkeit der Massen Ziele unterschiebt, die nur in den Köpfen von etwa einem Dutzend Menschen existierten) eine leichte Sache, da das ganze Ereignis mit seinen Folgen klar vor uns liegt.
Aber auf welche Weise vermochte es damals dieser alte Mann, allein, im Widerspruch zu der Meinung aller, die Bedeutung der bei diesem Ereignis sich äußernden nationalen Idee mit solcher Sicherheit zu erkennen, daß er dieser Idee auch nicht ein einziges Mal während seiner ganzen Tätigkeit untreu wurde?
Die Quelle dieser ungewöhnlichen Einsicht in den Sinn dessen, was sich da vollzog, lag in jenem nationalen Empfinden, das er in seiner ganzen Reinheit und Kraft in sich trug.
Nur durch die Erkenntnis, daß dieses Empfinden in Kutusow lebendig war, wurde das Volk veranlaßt, auf so seltsame Weise den in Ungnade gefallenen alten Mann gegen den Willen des Zaren zum Repräsentanten des Nationalkrieges zu erwählen. Und nur dieses Empfinden war es, was ihn auf jene höchste Höhe des Menschentums stellte, von der herab er als Oberkommandierender alle seine Kräfte nicht darauf richtete, Menschen zu töten und zu vernichten, sondern sie zu retten und zu schonen.
Diese schlichte, bescheidene und darum wahrhaft majestätische Gestalt ließ sich nicht in jene lügenhafte Form eines europäischen Heros, eines vermeintlichen Lenkers der Menschen bringen, in jene Form, die die Geschichtsschreibung ersonnen hat.
Für einen Lakaien kann es keinen wahrhaft großen Mann geben, weil ein Lakai seinen eigenen Begriff von Größe hat.
Fußnoten
1 Vgl. in Bogdanowitschs Geschichte des Jahres 1812 die Charakteristik Kutusows und die Erörterung über die unbefriedigenden Resultate der Kämpfe bei Krasnoje.
Anmerkung des Verfassers.
VI
Der 5. November war der erste Tag der sogenannten Schlacht bei Krasnoje. Am Spätnachmittag, als schon (nach vielen Streitigkeiten und Fehlern der Generale, die nicht an ihre Bestimmungsorte gelangt waren, und nachdem Adjutanten mit Gegenbefehlen hierhin und dorthin geschickt waren) klar geworden war, daß der Feind überall floh und eine Schlacht nicht stattfinden könne und nicht stattfinden werde, ritt Kutusow von Krasnoje nach Dobroje, wohin an diesem Tag das Hauptquartier verlegt war.
Es war ein heller Frosttag. Kutusow ritt mit einer großen Suite von Generalen, die mit ihm unzufrieden waren und hinter seinem Rücken zischelten, auf seinem wohlgenährten Schimmelchen nach Dobroje. Auf dem ganzen Weg drängten sich Gruppen von Franzosen, die an diesem Tag gefangengenommen waren, um die Wachfeuer, um sich zu wärmen; es waren ihrer an diesem Tag siebentausend eingebracht worden. Nicht weit von Dobroje stand am Weg neben einer langen Reihe französischer Geschütze ohne Bespannung ein gewaltiger Haufe Gefangener in lärmendem Gespräch, alle in abgerissener Kleidung und mit Verbänden und Vermummungen, die sie sich aus dem, was ihnen zur Hand gewesen war, hergestellt hatten. Bei der Annäherung des Oberkommandierenden verstummte das Gespräch, und alle Augen richteten sich auf Kutusow, der in seiner weißen Mütze mit rotem Besatz und in seinem wattierten Mantel, der über seinen gewölbten Schultern einen großen Buckel bildete, langsam auf dem Weg hinritt. Einer der Generale berichtete ihm, wo die Geschütze erbeutet und die französischen Soldaten gefangengenommen seien.
Kutusow schien von ernsten Gedanken in Anspruch genommen zu sein und hörte nicht auf das, was der General sagte. Unzufrieden kniff er die Augen zusammen und betrachtete aufmerksam und unverwandt die Gestalten der Gefangenen, die einen besonders kläglichen Anblick boten. Großenteils waren die französischen Soldaten durch erfrorene Nasen und Backen entstellt; fast alle hatten rote, geschwollene, eiternde Augen.
Ein Häufchen Franzosen stand dicht an der Landstraße, und zwei von ihnen (das Gesicht des einen war ganz mit Beulen und Schorfkrusten bedeckt) zerrissen mit den Händen ein Stück rohes Fleisch. Es lag etwas Schreckliches, Tierisches in dem huschenden Blick, den sie nach den Vorbeireitenden hinwarfen, und in dem grimmigen Ausdruck, mit dem der Soldat mit den Schorfkrusten Kutusow ansah; aber er wandte sich sofort wieder ab und setzte seine Tätigkeit fort.
Kutusow sah diese beiden französischen Soldaten lange aufmerksam an; er runzelte die Stirn, kniff die Augen noch mehr zusammen und wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. An einer andern Stelle bemerkte er einen russischen Soldaten, der lachend einem Franzosen auf die Schulter klopfte und freundlich zu ihm redete. Kutusow wiegte wieder mit demselben Ausdruck den Kopf.
»Was sagst du?« fragte er den General, der immer noch in seiner Meldung fortfuhr und die Aufmerksamkeit des Oberkommandierenden auf die erbeuteten französischen Feldzeichen lenken wollte, die vor der Front des Preobraschenski-Regimentes standen.
»Ah, die Feldzeichen!« sagte Kutusow, der sich augenscheinlich nur mit Mühe von dem Gegenstand losriß, der seine Gedanken beschäftigte.
Zerstreut blickte er um sich. Tausende von Augen schauten von allen Seiten auf ihn hin; alles war gespannt, was er nun sagen werde.
Vor dem Preobraschenski-Regiment hielt er an, stieß einen schweren Seufzer aus und schloß die Augen. Einer der Herren aus der Suite gab den Soldaten, die die Feldzeichen hielten, einen Wink, sie möchten nähertreten und die Feldzeichen mit den Schäften rings um den Oberkommandierenden aufstellen. Kutusow schwieg einige Sekunden; dann fügte er sich offenbar ungern dem Zwang, den ihm seine Stellung auferlegte, hob den Kopf in die Höhe und begann zu reden. Scharen von Offizieren umringten ihn. Er ließ einen aufmerksamen Blick über den Kreis der Offiziere hingleiten, von denen er eine Anzahl erkannte.
»Ich danke euch allen!« sagte er, sich zu den Soldaten und dann wieder zu den Offizieren wendend. In der Stille, die um ihn herum herrschte, waren seine langsam gesprochenen Worte deutlich zu hören. »Ich danke euch allen für eure schweren, treuen Dienste. Der Sieg ist ein vollständiger, und Rußland wird euch nicht vergessen. Ihr habt euch ewigen Ruhm erworben!«
Er schwieg eine Weile und blickte um sich.
»Beuge, beuge ihm den Kopf«, sagte er zu einem Soldaten, der einen französischen Adler hielt und ihn zufällig vor der Fahne der Preobraschenzen senkte. »Tiefer, tiefer, jawohl, so! Hurra, Kinder!« rief er, zu den Soldaten gewendet, mit einer schnellen Bewegung des Kinnes.
»Hurra-ra-ra!« brüllten Tausende von Stimmen.
Während die Soldaten schrien, krümmte sich Kutusow auf dem Sattel zusammen, beugte den Kopf herunter, und sein einziges Auge leuchtete in einem milden, anscheinend etwas spöttischen Glanz.
»Ich will euch was sagen, Brüder«, begann er von neuem, als das Geschrei verstummt war.
Seine Stimme und seine Miene hatten sich plötzlich verändert: jetzt sprach nicht mehr der Oberkommandierende, sondern es redete ein schlichter, alter Mann, der jetzt seinen Kameraden offenbar etwas sehr Notwendiges mitzuteilen wünschte.
In der Schar der Offiziere und in den Reihen der Soldaten ging eine Bewegung vor, um deutlicher zu hören, was er jetzt sagen werde.
»Ich will euch was sagen, Brüder. Ich weiß, ihr habt es jetzt schwer; aber was ist zu machen! Habt nur Geduld; es dauert ja nicht mehr lange. Wenn wir unsere Gäste werden hinausbegleitet haben, dann können wir uns erholen. Der Zar wird euch eure Dienste nicht vergessen. Ihr habt es schwer; aber ihr seid doch wenigstens in der Heimat; diese jedoch … seht, wie weit es mit ihnen gekommen ist!« sagte er, auf die Gefangenen weisend. »Sie sind elender als die elendesten Bettler! Solange sie stark und mächtig waren, haben wir alle Kraft darangesetzt, um sie zu besiegen; aber jetzt können wir mit ihnen Mitleid haben und sie schonen. Sie sind ja doch auch Menschen. Nicht wahr, Kinder?«
Er schaute rings um sich, und als er in allen Blicken, die unverwandt mit respektvoller Verwunderung auf ihn gerichtet waren, Zustimmung zu seinen Worten las, da leuchtete auf dem Gesicht des alten Mannes immer heller und heller ein mildes Lächeln auf, bei dem sich sternförmige Runzeln um die Mundwinkel und um die Augen bildeten. Er schwieg ein Weilchen und senkte den Kopf, wie wenn er unentschlossen wäre, ob er noch mehr sagen solle. Plötzlich fügte er, den Kopf in die Höhe hebend, hinzu:
»Aber auch das möchte ich noch sagen: wer hat sie geheißen zu uns kommen? Es geschieht ihnen ganz recht; jagt sie …« Hier am Schluß bediente er sich einer recht unanständigen, volkstümlichen Redewendung.
Und die Peitsche schwingend, sprengte er im Galopp, zum erstenmal im ganzen Feldzug, fort von den fröhlich lachenden, Hurra! rufenden Soldaten, die nun ihre Reihen auflösten.
Die Worte, die Kutusow gesprochen hatte, waren von den Truppen kaum verstanden worden. Es wäre wohl niemand imstande gewesen, den Inhalt der zuerst feierlichen und gegen den Schluß gutmütig altväterischen Ansprache des Feldmarschalls wiederzugeben; aber es war nicht nur der herzliche Sinn dieser Ansprache verstanden worden, sondern dasselbe Gefühl erhabener Feierlichkeit im Verein mit einer mitleidigen Gesinnung gegen die Feinde und dem Bewußtsein, sich im Recht zu befinden, dasselbe Gefühl, das in dem altväterischen, gutmütigen Schimpfwort, und zwar gerade in diesem, seinen Ausdruck gefunden hatte, dieses selbe Gefühl lag auch in der Seele eines jeden Soldaten und äußerte sich durch ein Freudengeschrei, das lange nicht verstummen wollte. Als dann einer der Generale sich an den Oberkommandierenden mit der Frage wandte, ob er den Wagen befehle, brach Kutusow, im Begriff zu antworten, unerwartet in Schluchzen aus: er befand sich offenbar in starker Erregung.
VII
Am 8. November, dem letzten Tag der Kämpfe bei Krasnoje, brach schon das Abenddunkel herein, als die Truppen an den Ort kamen, wo sie übernachten sollten. Der ganze Tag war still und kalt gewesen, mit leichtem Schneefall; zum Abend klärte es sich nun auf. Durch die Schneeflöckchen hindurch wurde der blauschwarze Sternenhimmel sichtbar, und die Kälte nahm zu.
Ein Musketierregiment, das in einer Stärke von dreitausend Mann aus Tarutino ausmarschiert war, kam jetzt, nur noch neunhundert Mann stark, als eines der ersten an dem für das Nachtlager in Aussicht genommenen Ort an, in einem Dorf an der großen Heerstraße. Die Quartiermeister, die das Regiment empfingen, erklärten, alle Bauernhäuser seien voll von kranken und toten Franzosen, von Kavalleristen und hohen Offizieren. Nur ein einziges Häuschen sei für den Regimentskommandeur vorhanden.
Der Regimentskommandeur ritt zu seinem Quartier hin. Das Regiment zog durch das Dorf hindurch und stellte bei den äußersten Häusern an der Heerstraße die Gewehre zusammen.
Wie ein großes Ameisenvolk machte sich das Regiment an die Arbeit, das Nachtlager und die Abendmahlzeit herzurichten. Ein Teil der Soldaten zerstreute sich, bis an die Knie im Schnee, in einem rechts vom Dorf gelegenen Birkenwald, und sogleich erscholl im Wald der Klang der Beile und Seitengewehre, das Krachen zerbrochener Äste und fröhliche Stimmen. Ein anderer Teil war rings um den Mittelpunkt des Biwaks, den die Fuhrwerke des Regiments und die in einem Haufen zusammenstehenden Pferde bildeten, eifrig damit beschäftigt, die Kessel und den Zwieback hervorzuholen und den Pferden Futter zu geben. Ein dritter Teil hatte sich im Dorf verteilt, richtete Quartiere für die höheren Offiziere ein, trug die in den Häusern liegenden Leichen von Franzosen hinaus und schleppte Bretter, trockenes Holz und Dachstroh weg, um Wachfeuer anzuzünden, und Flechtwerk von Zäunen, um daraus Schutzwände herzustellen.
Etwa fünfzehn Soldaten rüttelten am Rand des Dorfes, außerhalb des Bereiches der Häuser, mit fröhlichem Geschrei an der hohen geflochtenen Wand einer Scheune, von der bereits das Dach abgenommen war.
»Na nun, jetzt, alle mit einemmal, legt euch dagegen!« riefen mehrere Stimmen, und in der Dunkelheit der Nacht schwankte die große, mit Schnee bestäubte, geflochtene Wand mit frostigem Knistern hin und her. Immer häufiger knackten die unteren Pfosten, und endlich stürzte die Wand mitsamt den Soldaten, die sich dagegengestemmt hatten, zu Boden. Es erscholl ein lautes, derb fröhliches Schreien und Lachen.
»Nun zu zweien anfassen! Reicht mal einen Hebebaum her! So ist’s recht! Wo willst du denn da hin?«
»Nun also, alle zusammen … Wartet mal, Kinder …! Mit Gesang.«
Alle schwiegen, und eine mäßig starke, samtartige, angenehme Stimme stimmte ein Lied an. Am Ende der dritten Strophe, gleichzeitig mit dem Ausklingen des letzten Tones, schrien zwanzig Stimmen zusammen: »Uuuu! Sie rührt sich! Alle zusammen! Immer kräftig zufassen, Kinder …!« Aber trotz der gemeinsamen Anstrengungen bewegte sich die Wand nur wenig vom Fleck, und in dem Stillschweigen, das nun eintrat, hörte man schweres Keuchen.
»Heda, ihr von der sechsten Kompanie! Ihr Kerle! Ihr Racker! Helft uns mal … Wir tun euch auch schon mal wieder einen Gefallen.«
Etwa zwanzig Mann von der sechsten Kompanie, die gerade in das Dorf gingen, vereinigten sich mit denen, die die Wand fortzuschleppen suchten; und die zehn Meter lange und zwei Meter breite Wand bewegte sich, indem sie sich krumm zog und den keuchenden Soldaten die Schultern zerdrückte und zerschnitt, auf der Dorfstraße vorwärts.
»So geh doch zu, vorwärts …! Fällt der Kerl hin, na so was …! Was bleibst du denn stehen, du …«
Lustige, derbe Schimpfworte erschollen unaufhörlich.
»Was fällt euch denn ein?« rief auf einmal jemand, der auf die Träger zugelaufen kam, im Ton des Vorgesetzten. »Dadrin sind die Herren, der General selbst ist im Haus, und ihr verfluchten Kerle macht hier mit euren Schimpfereien solchen Spektakel. Na wartet, ich will euch lehren!« schrie der Feldwebel, und ausholend versetzte er dem erstbesten Soldaten, den er vor sich hatte, einen Schlag in den Rücken. »Könnt ihr euch denn nicht ruhig verhalten?«
Die Soldaten verstummten. Der Soldat, den der Feldwebel geschlagen hatte, wischte sich hustend das Gesicht, das bei dem Stoß gegen die geflochtene Wand ganz blutig geworden war.
»Na, dieser Satan, gleich so zu hauen! Die ganze Fresse hat er mir blutig gemacht«, sagte der Soldat schüchtern, als der Feldwebel weggegangen war.
»Das schmeckt dir wohl nicht?« spöttelte ein andrer, und ihre Stimmen dämpfend, gingen die Soldaten weiter.
Sobald sie aus dem Dorf hinaus waren, redeten sie wieder ebenso laut wie vorher und spickten ihre Gespräche wieder mit denselben zwecklosen Schimpfworten.
In dem Bauernhaus, an dem die Soldaten vorbeigekommen waren, hatten sich die höheren Offiziere versammelt, und es war beim Tee ein lebhaftes Gespräch über den vergangenen Tag und über die für den nächsten Tag in Aussicht genommenen Manöver im Gange. Es bestand die Absicht, einen Flankenmarsch nach links zu machen, den Vizekönig abzuschneiden und gefangenzunehmen.
Als die Soldaten die Wand nach ihrem Lagerplatz hingeschleppt hatten, brannten schon auf verschiedenen Seiten die Kochfeuer. Das Holz knisterte, der Schnee schmolz, und die dunklen Schatten der Soldaten huschten in dem ganzen Raum, den das Biwak einnahm, auf dem niedergetretenen Schnee hierhin und dorthin.
Beile und Seitengewehre waren überall an der Arbeit. Alles geschah ohne jeden Befehl. Es wurde Holz als Vorrat für die Nacht herangeschleppt; Reisighütten wurden für die Offiziere gebaut; in den Kesseln kochte das Abendessen; Gewehre und Munition wurden in Ordnung gebracht.
Die geflochtene Wand, die die achte Kompanie herangeschleppt hatte, wurde auf der Nordseite halbkreisförmig aufgestellt und mit Stangen gestützt; vor ihr wurde ein Feuer angezündet. Der Zapfenstreich erklang, die Soldaten wurden durchgezählt, aßen zu Abend und lagerten sich zur Nachtruhe um ihre Feuer. Manche besserten ihr Schuhzeug aus, andere rauchten ihre Pfeife, wieder andere entkleideten sich vollständig und brühten sich die Läuse aus.
VIII
Man könnte glauben, unter diesen schlimmen, beinah undenkbar schlimmen Verhältnissen, in denen sich damals die russischen Soldaten befanden, ohne warmes Schuhzeug, ohne Pelze, ohne Dach über dem Kopf, im Schnee bei achtzehn Grad Kälte, sogar ohne das erforderliche Quantum Proviant, da dieser nicht immer der Armee nachkommen konnte, man könnte glauben, die Soldaten hätten das traurigste, kläglichste Schauspiel bieten müssen.
Aber im Gegenteil: niemals, selbst unter den besten materiellen Verhältnissen nicht, hatte das Heer einen fröhlicheren, muntereren Eindruck gemacht. Dies kam daher, daß jeder Tag aus dem Heer alles ausschied, was schlaff oder schwach zu werden anfing. Alles, was körperlich oder seelisch schwach war, war schon längst zurückgeblieben; zur Stelle waren nur die tüchtigsten Elemente des Heeres, die kräftigsten an Geist und Körper.
Bei der achten Kompanie, die sich die schöne Schutzwand errichtet hatte, hatten sich besonders viel Leute gesammelt. Auch zwei Feldwebel hatten sich zu ihnen gesetzt, und ihr Wachfeuer brannte heller als die andern. Für das Recht, im Schutz der geflochtenen Wand zu sitzen, forderten sie eine Beisteuer an Holz.
»Sieh da, Makjejew, wo kommst du denn her …« (Hier folgte ein arges Schimpfwort.) »Hattest du dich verkrümelt, oder hatten dich die Wölfe gefressen? Hol mal Holz!« rief ein Soldat mit rotem Gesicht und rotem Haar, der vor dem Rauch die Augen zukniff und blinzelte, aber trotzdem nicht vom Feuer wich. »Na, oder geh du, Krähe, und hol Holz!« wandte er sich an einen andern Soldaten. Der Rote war nicht Unteroffizier, nicht einmal Gefreiter; aber er war ein kräftiger Mensch, und daher kommandierte er diejenigen, die schwächer waren als er. Der zuletzt Angeredete, ein magerer, kleiner Soldat, mit spitzer, kleiner Nase, den sie Krähe nannten, stand gehorsam auf und war im Begriff fortzugehen, um den Auftrag auszuführen; aber in diesem Augenblick trat in den Lichtkreis des Wachfeuers die schlanke, schöne Gestalt eines jungen Soldaten, der eine Last Holz trug.
»Gib her. Das ist ja schön!«
Das Holz wurde zerkleinert und auf Glut gelegt; dann bliesen die Soldaten mit dem Mund hinein und wehten mit den Schößen der Mäntel, bis die Flamme zu zischen und zu knistern anfing. Sich heransetzend, zündeten sie ihre Pfeifen an. Der junge, schöne Soldat, der das Holz gebracht hatte, stemmte die Arme in die Seiten und begann hurtig und behende mit seinen frierenden Beinen auf dem Fleck umherzutanzen.
»Ach, wenn ich so als Musketier im schönen, kalten Tau marschier«, sang er dazu, und es klang, als ob er bei jeder Silbe des Liedes das Schlucken hätte.
»He, du! Die Sohlen fliegen dir weg!« rief der Rote, da er bemerkte, daß dem Tänzer an dem einen Stiefel die Sohle herabhing. »Ja, das Tanzen ruiniert die Stiefel.«
Der Tänzer hielt inne, riß die herunterbaumelnde Sohle ab und warf sie ins Feuer.
»Da hast du recht, Bruder«, sagte er, setzte sich hin, holte aus dem Tornister ein Stück blaues französisches Tuch hervor und wickelte es sich um den Fuß. »Ganz steifgefroren waren mir die Beine«, fügte er hinzu und streckte die Beine zum Feuer hin.
»Wir werden bald neue Stiefel geliefert bekommen. Es heißt, wenn wir die Feinde alle totgeschlagen haben, bekommen wir jeder zwei Paar.«
»Nun seh einer an, der Hundesohn, der Petrow, ist auch zurückgeblieben«, sagte der Feldwebel der Kompanie.
»Ich habe es ihm schon lange angemerkt«, äußerte ein andrer Soldat.
»Freilich, so ein elendes Menschchen …«
»In der dritten Kompanie, heißt es, haben gestern beim Appell neun Mann gefehlt.«
»Na, sag selbst, wenn du dir die Füße erfroren hast, wie willst du gehen?«
»Ach was, redet nicht dummes Zeug!« sagte der Feldwebel.
»Du hast wohl auch Lust zurückzubleiben?« sagte ein alter Soldat vorwurfsvoll zu demjenigen, der darauf hingedeutet hatte, daß er sich die Füße erfroren habe.
»Was denkst du denn eigentlich?« sagte auf einmal, sich hinter dem Wachfeuer aufrichtend, mit weinerlicher, zitternder Stimme der Soldat mit der spitzen Nase, der Krähe genannt wurde. »Wer von vornherein voll und kräftig war, der wird dabei mager, und wer von vornherein mager war, der stirbt. So zum Beispiel ich. Ich kann nicht mehr«, sagte er plötzlich in entschlossenem Ton, sich an den Feldwebel wendend. »Ordne an, daß ich ins Lazarett komme; ich habe schreckliches Gliederreißen; sonst muß ich eben auch zurückbleiben …«
»Na, es wird schon gehen, es wird schon gehen«, erwiderte der Feldwebel ruhig. Der kleine Soldat schwieg, und das Gespräch nahm seinen Fortgang.
»Heute sind doch eine solche Menge gefangene Franzosen eingebracht worden; aber Stiefel hatte, man kann geradezu sagen, kein einziger ordentliche an, kaum etwas, was den Namen Stiefel verdient«, begann einer der Soldaten ein neues Thema.
»Die Kosaken haben ihnen allen die Stiefel ausgezogen. Heute räumten die Kosaken für ihren Oberst ein Bauernhaus auf und trugen die toten Franzosen hinaus. Es war ein Jammer, das anzusehen, Kinder«, erzählte der Tänzer. »Sie raubten die Leichen aus; da lebte einer noch, ihr könnt mir’s glauben, und redete etwas in seiner Sprache.«
»Aber ein sauberes Volk ist es, Kinder«, sagte der erste wieder. »Weiß wie Birkenrinde; und tapfere Leute sind es, das muß man sagen, vornehme Leute.«
»Na ja, was meinst du? Bei denen werden sie aus allen Ständen zum Militär genommen.«
»Aber sie verstehen gar nichts von unserer Sprache«, sagte der Tänzer mit verwundertem Lächeln. »Ich sagte zu einem: ›Aus welchem Land bist du?‹ Aber er redete etwas auf seine Art. Ein schnurriges Volk!«
»Wißt ihr, das ist doch ganz wunderbar, Brüder«, fuhr der fort, der sich über die weiße Hautfarbe der Feinde gewundert hatte, »da haben mir die Bauern bei Moschaisk gesagt, als sie angefangen hätten die Toten wegzuräumen, da, wo die Schlacht gewesen ist, also da sagten sie: ›Denk dir bloß‹, sagten sie, ›da hatten ihre Toten nun einen ganzen Monat lang gelegen. Und doch‹, sagten sie, ›waren ihre Toten wie Papier so weiß und sauber und rochen nicht ein bißchen.‹«
»Woher kam das? Wohl von der Kälte?« fragte einer.
»Ja, du bist ein Schlauer! Von der Kälte! Damals war es ja doch heiß. Wenn es von der Kälte käme, dann würden unsere Leute doch ebensowenig verfault sein. ›Aber‹, sagten sie, ›wenn man zu einem von Unsern kam, da war er ganz verwest und voller Würmer. Wir haben sie‹, sagten sie, ›in Tücher geschlagen, uns mit dem Gesicht abgewendet und sie so weggezogen: es war nicht zum Aushalten. Aber ihre‹, sagten sie, ›waren wie Papier so weiß und rochen nicht ein bißchen.‹«
Alle schwiegen eine kleine Weile.
»Das kommt gewiß von der Nahrung«, sagte der Feldwebel. »Die haben Herrenkost gefressen.«
Niemand erwiderte etwas darauf.
»Und dann erzählten mir noch diese Bauern bei Moschaisk, wo die Schlacht gewesen ist, es wären die Bauern von zehn Dörfern zusammengetrieben worden, und zwanzig Tage lang wären sie gefahren und hätten doch nicht alle Leichen zusammenbekommen. ›Na und die Wölfe!‹ sagten sie …«
»Ja, das war eine wirkliche Schlacht«, sagte der alte Soldat. »Das ist etwas, woran man lange denken kann. Aber alles, was nachher gekommen ist, war bloß unnütze Quälerei für die Mannschaften.«
»Das ist richtig, Onkelchen. Vorgestern liefen wir auf sie los. Denk mal, sie ließen uns gar nicht erst herankommen. Flink warfen sie die Gewehre weg und fielen auf die Knie. ›Pardon!‹ riefen sie. Und das ist nur so ein einzelnes Beispiel. Platow, so wird erzählt, hat den Polion selbst zweimal gefangengenommen. Aber er kannte das Zauberwort nicht. Er hatte ihn schon gefangen und hielt ihn in den Händen, da verwandelte er sich in einen Vogel und flog davon; weg war er. Und ihn zu töten ist auch keine Möglichkeit.«
»Ja, im Schwindeln bist du stark, Kiselew. Ich staune immer über dich.«
»Wieso im Schwindeln? Es ist die reine Wahrheit.«
»Wenn ich’s auf meine Art machen könnte, ich würde ihn, sowie ich ihn gefangen hätte, in die Erde eingraben, und dann an den Galgen. Was hat der für viele Menschen zugrunde gerichtet!«
»Jedenfalls werden wir ein Ende machen; er soll nicht davonkommen«, sagte der alte Soldat gähnend.
Das Gespräch verstummte; die meisten legten sich zur Ruhe.
»Nein, die Sterne, diese Unmenge! Sieh nur, die Weiber haben die Leinwand ausgelegt«, sagte ein Soldat, die Milchstraße betrachtend.
»O Gott, o Gott!«
»Das bedeutet ein fruchtbares Jahr, Kinder.«
»Wir werden noch Holz brauchen.«
»Den Rücken wärmt man sich, und der Bauch erfriert einem. Wunderlich!«
»Was stößt du denn? Ist denn das Feuer für dich allein da? Was? Seh bloß einer, wie der Mensch sich hingefläzt hat.«
Bei dem nun eingetretenen Stillschweigen hörte man das Schnarchen einiger Schläfer; die andern drehten sich so und so herum und wärmten sich, nur selten ein paar Worte miteinander wechselnd. Von einem etwa hundert Schritte entfernten Wachfeuer tönte vielstimmiges, heiteres Lachen herüber.
»Hört mal, wie fidel sie in der fünften Kompanie sind«, sagte ein Soldat. »Und was für eine Menge Menschen da ist!«
Ein Soldat stand auf und ging zur fünften Kompanie hin.
»Das gibt’s was zu lachen«, sagte er, als er zurückkam. »Es haben sich da zwei Franzosen eingefunden. Der eine ist ganz erforen; aber der andre ist ein forscher Kerl; es ist zum Erstaunen. Er singt Lieder.«
»Oh, da wollen wir hin und es uns ansehen.«
Mehrere Soldaten begaben sich zur fünften Kompanie.
IX
Die fünfte Kompanie hatte ihren Platz unmittelbar am Wald. Ein gewaltiges Wachfeuer brannte hell mitten im Schnee und beleuchtete die vom Reif beschwerten Zweige der Bäume.
Um Mitternacht hörten die Soldaten der fünften Kompanie im Wald Schritte im Schnee und das Knacken von Zweigen.
»Kinder, ein Bär«, sagte einer der Soldaten.
Alle hoben die Köpfe in die Höhe und horchten, und aus dem Wald traten in den hellen Lichtkreis des Wachfeuers zwei seltsam gekleidete menschliche Gestalten, die sich aneinander festhielten.
Es waren zwei Franzosen, die sich im Wald versteckt gehalten hatten. Sie traten an das Wachfeuer heran und sagten mit heiserer Stimme etwas in einer den Soldaten unverständlichen Sprache. Der eine war von hohem Wuchs, trug eine Offiziersmütze und schien ganz entkräftet zu sein. Als er an das Wachfeuer herangekommen war, wollte er sich hinsetzen, fiel aber auf die Erde. Der andere, ein kleiner, stämmiger Gemeiner, der sich ein Tuch um die Backen gebunden hatte, war kräftiger. Er hob seinen Kameraden auf, zeigte auf seinen eigenen Mund und sagte etwas dabei. Die Soldaten umringten die Franzosen, legten dem Kranken einen Mantel unter und brachten beiden Grütze und Schnaps.
Der entkräftete französische Offizier war Ramballe, der andre mit dem Tuch um den Kopf sein Bursche Morel.
Als Morel Schnaps getrunken und einen Kessel voll Grütze gegessen hatte, wurde er plötzlich von einer krankhaften Lustigkeit ergriffen und begann zu den Soldaten, die ihn nicht verstanden, ohne Unterbrechung zu reden. Ramballe lehnte das Essen ab, lag schweigend auf den Ellbogen gestützt am Feuer und blickte ohne jedes Zeichen von Teilnahme mit seinen geröteten Augen auf die russischen Soldaten. Ab und zu ließ er ein gedehntes Stöhnen vernehmen und schwieg dann wieder. Morel zeigte auf die Schultern seines Gefährten und suchte den Soldaten deutlich zu machen, daß das ein Offizier sei und daß er der Erwärmung bedürfe. Ein russischer Offizier, der zu dem Wachfeuer trat, schickte zu dem Obersten und ließ fragen, ob er vielleicht einen französischen Offizier zu sich ins Haus nehmen wolle, damit dieser sich erwärme; und als der Abgeschickte zurückkehrte und meldete, der Oberst habe befohlen, den Offizier hinzubringen, forderte der russische Offizier den kranken Ramballe auf, hinzugehen. Dieser stand auf und wollte gehen; aber er schwankte und wäre gefallen, wenn ihn nicht ein danebenstehender Soldat gestützt hätte.
»Nun? Du tust es wohl auch nicht wieder?« sagte ein Soldat zu Ramballe mit spöttischem Augenzwinkern.
»Ach, du Schafskopf! Was redest du da für unpassendes Zeug! So ein Bauer, der richtige Bauer!« so erschollen von vielen Seiten die Vorwürfe gegen den Soldaten, der sich die Spöttelei erlaubt hatte.
Die Soldaten umringten Ramballe; zwei von ihnen bildeten aus ihren Armen einen Sitz, auf den er gehoben wurde, und trugen ihn nach dem Bauernhaus. Ramballe schlang seine Arme um die Hälse der Soldaten und sagte, während sie ihn trugen, in kläglichem Ton auf französisch:
»Oh ihr tapferen Soldaten, o meine guten, guten Freunde! Ihr seid noch Menschen! O ihr tapferen Soldaten, ihr meine guten Freunde!« Und er lehnte sich wie ein Kind gegen die Schulter des einen Soldaten.
Unterdessen saß Morel, von den Soldaten umringt, auf dem besten Platz.
Morel, der kleine, stämmige Franzose mit entzündeten, tränenden Augen, hatte sich nicht nur nach Weiberart ein Tuch über die Uniformmütze gebunden, sondern trug auch einen schlechten Weiberpelz. Er war augenscheinlich etwas betrunken, umarmte den neben ihm sitzenden Soldaten und sang mit heiserer, abgebrochener Stimme ein französisches Lied. Die Soldaten sahen ihn an und hielten sich die Seiten vor Lachen.
»Na zu, na zu, bring es mir auch bei, ja? Ich werde es schnell lernen. Ja?« sagte der spaßlustige Sänger, welchen Morel umarmte.
»Vive Henri quatre. Vive ce roi vaillant!« sang Morel und zwinkerte mit dem einen Auge. »Ce diable à quatre …«
»Wiwarikà! Wif ceruwaru! cidjablakà …«, wiederholte der Soldat, den Arm schwenkend, und hatte wirklich die Melodie erfaßt.
»Sieh mal, wie geschickt! Ho-ho-ho-ho-ho!« erscholl von vielen Seiten ein derbes, fröhliches Lachen.
Morel runzelte zwar die Stirn, lachte aber gleichfalls.
»Na, vorwärts, noch mehr, noch mehr!«
»Qui eut le triple talent
De boire, de battre
Et d’être un vert galant.«
»Das klang auch sehr schön. Na, nun du, Saletajew!«
»Kü …«, brachte Saletajew mühsam heraus. »Kü-ü-ü …«, begann er, die Silbe dehnend und mit Anstrengung den Mund breit ziehend »letriptala de bu de ba i detrawagala«, sang er.
»Ei, vorzüglich! Du bist ja der reine Franzose, das muß man sagen! Ho-ho-ho-ho …! Na, wie ist’s? Möchtest du noch essen?«
»Gib ihm nur noch Grütze; der hat einen solchen Hunger gehabt, daß er so bald nicht satt wird.«
Es wurde ihm nochmals Grütze gereicht, und lachend machte sich Morel an den dritten Kessel voll. Ein vergnügtes Lächeln lag auf den Gesichtern aller jungen Soldaten, die Morel anblickten. Die alten Soldaten, die es für unpassend hielten, sich mit solchen Torheiten abzugeben, lagen auf der andern Seite des Wachfeuers, richteten sich aber auch manchmal auf den Ellbogen auf und sahen lächelnd zu Morel hin.
»Sie sind auch Menschen«, sagte einer von ihnen und wickelte sich in seinen Mantel. »Auch der Wermut hat seine Wurzel, auf der er wächst.«
»O Gott, o Gott, wie sternenklar! Zum Erstaunen! Das gibt Kälte …«
Alles wurde still. Als wüßten sie, daß sie jetzt niemand sah, trieben die Sterne am dunklen Himmel ihre Spiele. Bald hell aufflammend, bald trüber werdend, bald zusammenzuckend, führten sie geschäftig miteinander flüsternde Gespräche über irgend etwas Freudiges, aber Geheimnisvolles.
X
Die französischen Truppen schmolzen gleichmäßig in mathematisch regelmäßiger Progression zusammen. Und jener Übergang über die Beresina, über den so viel geschrieben worden ist, war nur eine der Zwischenstufen in der Vernichtung des französischen Heeres und keineswegs die entscheidende Katastrophe des Feldzuges. Wenn über die Beresina so viel geschrieben worden ist und noch geschrieben wird, so kam das von seiten der Franzosen nur daher, daß auf den eingestürzten Beresinabrücken die bis dahin über einen größeren Zeitraum verteilten Leiden, die die französische Armee auszuhalten hatte, sich plötzlich in einen Moment zusammendrängten, zu einem tragischen Schauspiel, das allen im Gedächtnis blieb. Von seiten der Russen aber ist über die Beresina nur deshalb so viel geredet und geschrieben worden, weil in weiter Entfernung vom Kriegsschauplatz, in Petersburg, ein Plan ausgearbeitet war, und zwar von Pfuel, Napoleon an der Beresina in einer strategischen Falle zu fangen. Jedermann war überzeugt, daß alles sich in Wirklichkeit genau so abspielen werde, wie es im Plan stand, und daher behauptete man nachher hartnäckig, daß gerade der Übergang über die Beresina den Untergang der Franzosen herbeigeführt habe. In Wirklichkeit aber waren die Folgen des Überganges über die Beresina für die Franzosen hinsichtlich des Verlustes an Geschützen und Gefangenen weit weniger unheilvoll als die Kämpfe bei Krasnoje, wie das die Zahlen beweisen.
Die einzige Bedeutung des Überganges über die Beresina besteht darin, daß dieser Übergang in augenfälliger und zweifelloser Weise die Unrichtigkeit aller Abschneidungspläne und die Richtigkeit des einzig möglichen, sowohl von Kutusow als auch von sämtlichen Truppen (von der Masse) geforderten Verfahrens bewies: nämlich dem Feind lediglich zu folgen. Der Haufe der Franzosen lief mit stets wachsender Geschwindigkeit vorwärts und wandte alle seine Energie auf die Erreichung dieses Zieles. Er lief wie ein verwundetes Wild, und es war ihm unmöglich, auf seinem Weg haltzumachen. Das bewies nicht sowohl die Einrichtung des Überganges wie der Zug über die Brücken. Als die Brücken eingestürzt waren, da liefen massenhaft Soldaten, nachdem sie ihre Waffen weggeworfen hatten, sowie was sich an Einwohnern von Moskau und Frauen mit Kindern in dem Zug der Franzosen befand, alle unter der Einwirkung des Beharrungsvermögens, statt sich zu ergeben, vorwärts, in die Kähne und in das eiskalte Wasser.
Dieses Streben war ganz vernünftig. Die Lage der Fliehenden und der Verfolger war gleich übel. Blieb man nun bei den Seinigen, so hoffte ein jeder in der Not auf die Hilfe eines Kameraden und hatte unter den Seinigen einen bestimmten Platz, der ihm gehörte. Ergab sich aber jemand den Russen, so befand er sich in derselben kümmerlichen Lage, stellte sich aber auf eine niedrigere Stufe, wenn es bei der Befriedigung der Lebensbedürfnisse mit anderen teilen hieß. Hatten auch die Franzosen keine zuverlässigen Nachrichten darüber, daß die Hälfte der Gefangenen, mit denen die Russen nichts anzufangen wußten, trotz alles guten Willens derselben, sie zu retten, vor Kälte und Hunger umgekommen war, so ahnten sie doch, daß es sicher so sei. Die mitleidigsten, franzosenfreundlichsten russischen Kommandeure und die in russischen Diensten stehenden Franzosen konnten nichts für die Gefangenen tun. Die Not, in der sich das russische Heer selbst befand, war die Ursache, weshalb die Franzosen zugrunde gingen. Es ging doch nicht an, den hungrigen, frierenden Soldaten, die man notwendig brauchte, Brot und Kleidung wegzunehmen, um sie den Franzosen zu geben, die einem zwar keinen Schaden taten, nicht gehaßt wurden und keine Schuld trugen, aber einfach überflüssig waren. Manche taten selbst dies; aber das war eben nur eine Ausnahme.
Hinter ihnen war der sichere Untergang; vor ihnen winkte noch Hoffnung. Die Schiffe waren verbrannt; es gab keine andere Rettung als durch gemeinsame Flucht; und so waren denn auf diese gemeinsame Flucht alle Kräfte der Franzosen gerichtet.
Je weiter die Franzosen flohen, je kläglicher die Reste ihres Heeres wurden, namentlich nach dem Übergang über die Beresina, auf den man an gewissen russischen Stellen infolge des Petersburger Planes besondere Hoffnungen gesetzt hatte, um so heftiger entbrannten die Leidenschaften der russischen Kommandeure, die sich untereinander und namentlich den Oberkommandierenden Kutusow beschuldigten. Da sie annahmen, daß das Mißlingen des Petersburger Beresinaplanes ihm zur Last gelegt werde, so brachten sie es immer deutlicher zum Ausdruck, wie unzufrieden sie mit ihm waren und wie gering sie ihn schätzten, und machten sich immer unverhohlener über ihn lustig. Dies äußerte sich selbstverständlich in respektvoller Form, in einer Form, bei der Kutusow nicht einmal fragen konnte, wessen man ihn eigentlich beschuldigte und warum. Sie sprachen nicht ernst mit ihm; wenn sie ihm eine Meldung erstatteten und seine Entscheidung einholten, so machten sie eine Miene, als ob sie eine traurige Zeremonie erfüllten; hinter seinem Rücken aber blinzelten sie einander zu und suchten ihn auf Schritt und Tritt zu täuschen.
Alle diese Leute betrachteten es, eben deswegen, weil sie ihn nicht verstehen konnten, als eine ausgemachte Sache, daß mit dem Alten nicht zu reden sei, daß er niemals die ganze Gedankentiefe ihrer Pläne begreifen werde, daß er ihnen immer nur seine Phrasen (denn sie hielten es nur für Phrasen) zur Antwort geben werde: von der goldenen Brücke, und daß man nicht mit einem Haufen von Landstreichern über die Grenze ziehen dürfe usw. All das hatten sie schon von ihm zu hören bekommen. Und alles, was er sagte, zum Beispiel, daß man auf den Proviant warten müsse, daß die Mannschaften keine Stiefel hätten, das alles klang so gewöhnlich, alles dagegen, was sie selbst vorschlugen, war so kunstvoll und verständig, daß es für sie keinem Zweifel unterlag, daß er ein alter Dummkopf, sie aber geniale Heerführer waren, die leider der Befehlsgewalt entbehrten.
Besonders nachdem die Armee Wittgensteins, dieses hochangesehenen Admirals, des »Helden von Petersburg«, dazugestoßen war, erreichte diese Stimmung und das Geklatsch der Generalstäbler den höchsten Grad. Kutusow sah dies alles, zuckte aber nur seufzend die Achseln. Nur einmal nach dem Übergang über die Beresina wurde er ärgerlich und schrieb an Bennigsen, der an den Kaiser einen separaten Bericht eingesandt hatte, folgenden Brief:
»Aus Anlaß Ihrer Krankheitsanfälle wollen Eure Hohe Exzellenz sogleich nach Empfang dieses Schreibens sich nach Kaluga begeben und dort die weiteren Befehle und Bestimmungen Seiner Kaiserlichen Majestät abwarten.«
Aber gleich nach Bennigsens Beseitigung kam zur Armee der Großfürst Konstantin Pawlowitsch, der schon den Anfang des Feldzuges mitgemacht hatte und damals auf Kutusows Veranlassung die Armee hatte verlassen müssen. Als der Großfürst jetzt wieder bei der Armee erschien, machte er dem Oberkommandierenden Kutusow Mitteilung davon, daß der Kaiser mit den geringen Erfolgen unserer Waffen und der Langsamkeit der Bewegungen unzufrieden sei; der Kaiser beabsichtige, in den nächsten Tagen persönlich zur Armee zu kommen.
Der alte Mann, der im Hofleben ebensoviel Erfahrung besaß wie im Kriegsleben, dieser Kutusow, der im August desselben Jahres gegen den Willen des Kaisers zum Oberkommandierenden gewählt worden war, er, der den Großfürsten-Thronfolger von der Armee entfernt hatte, er, der kraft seiner Befehlsgewalt im Gegensatz zu dem Willen des Kaisers die Preisgabe Moskaus angeordnet hatte, dieser Kutusow erkannte jetzt sofort, daß seine Zeit um sei, daß er seine Rolle ausgespielt habe und daß er diese vermeintliche Befehlsgewalt nicht mehr besitze. Und nicht nur aus den Verhältnissen bei Hof erkannte er das. Er sah außerdem, daß die kriegerische Aktion, bei der er seine Rolle gespielt hatte, beendet war, und fühlte, daß er seinen Auftrag erfüllt habe. Und ferner empfand er gerade in dieser selben Zeit in seinem alten Körper eine große physische Müdigkeit und das dringende Bedürfnis physischer Erholung.
XI
Am 29. November zog Kutusow in Wilna ein, in sein gutes Wilna, wie er es nannte. Zweimal in seiner dienstlichen Laufbahn war er in Wilna Gouverneur gewesen. In dem reichen, unversehrt gebliebenen Wilna fand Kutusow, abgesehen von manchem Komfort, der er schon so lange hatte entbehren müssen, alte Freunde und Erinnerungen. Und sofort warf er alle Sorgen um Krieg und Politik von sich und überließ sich dem gewohnten, gleichmäßigen Leben, soweit die um ihn herum brodelnden Leidenschaften ihm dazu die Ruhe ließen, als ob alles, was jetzt in der Weltgeschichte geschehen war und demnächst geschehen sollte, ihn gar nicht berührte.
Tschitschagow, der so leidenschaftlich wie kaum ein anderer die Forderung erhob, man müsse den Feind abschneiden und zurückwerfen, Tschitschagow, der ursprünglich eine Diversion nach Griechenland, dann eine solche nach Warschau hatte machen wollen, aber schlechterdings nie Lust hatte dahin zu gehen, wohin zu gehen ihm befohlen wurde, Tschitschagow, der durch die Kühnheit seiner Ausdrucksweise dem Kaiser gegenüber bekannt war, Tschitschagow, der Kutusow dadurch eine Wohltat erwiesen zu haben glaubte, daß er im Jahre 1811, als er abgeschickt war, um ohne Kutusows Vorwissen mit der Türkei Frieden zu schließen, und sich von dem bereits erfolgten Abschluß des Friedens überzeugt hatte, dem Kaiser gegenüber anerkannte, das Verdienst des Friedensschlusses gehöre Kutusow, derselbe Tschitschagow war der erste, der Kutusow in Wilna am Schloß, wo dieser Wohnung nehmen wollte, begrüßte. Tschitschagow, der die Marineinterimsuniform mit dem kurzen Seitengewehr trug und die Mütze unter dem Arm hielt, überreichte Kutusow den Frontrapport und die Stadtschlüssel. Das geringschätzig-respektvolle Verhalten der jüngeren Leute dem kindisch gewordenen Alten gegenüber brachte auch Tschitschagow, der von den gegen Kutusow erhobenen Beschuldigungen bereits Kenntnis erlangt hatte, durch sein ganzes Benehmen im höchsten Grade zum Ausdruck.
Im Gespräch mit Tschitschagow sagte Kutusow zu ihm unter anderm, die ihm bei Borisow vom Feind weggenommenen Equipagen nebst dem Tafelgeschirr seien unversehrt und würden ihm wieder zugestellt werden.
»Sie wollen mir wohl damit sagen, daß ich keine Teller hätte. Ich bin im Gegenteil in der Lage, Ihnen hinreichend Geschirr zur Verfügung zu stellen, selbst wenn Sie große Diners geben wollen«, sagte Tschitschagow auffahrend; da er selbst es stets bei jedem Wort darauf anlegte, seine Überlegenheit zu zeigen, so setzte er bei Kutusow dasselbe voraus.
Kutusow lächelte in seiner feinen, scharfen Art und erwiderte achselzuckend: »Ich meine nur das, was ich sage.«
In Wilna ließ Kutusow dem Willen des Kaisers zuwider den größten Teil der Truppen haltmachen. Wie die Herren aus seiner nächsten Umgebung sagten, führte er während seines Aufenthalts in Wilna ein recht ausschweifendes Leben, so daß seine Körperkräfte sehr abnahmen. Nur ungern befaßte er sich mit den Angelegenheiten des Heeres, überließ alles seinen Generalen und widmete sich, während er den Kaiser erwartete, allerlei Vergnügungen und Zerstreuungen.
Der Kaiser, der mit seiner Suite (dem Grafen Tolstoi, dem Fürsten Wolkonski, Araktschejew und anderen) am 7. Dezember von Petersburg abgereist war, langte am 11. Dezember in Wilna an und fuhr in seinem Reiseschlitten direkt nach dem Schloß. Vor dem Schloß standen trotz der starken Kälte etwa hundert Generale und Stabsoffiziere in voller Paradeuniform und eine Ehrenwache des Semjonower Regiments.
Ein Kurier, der mit einem schweißbedeckten Dreigespann dem Kaiser zum Schloß vorausgejagt war, rief: »Er kommt!« Konownizyn stürzte in den Flur, um es Kutusow zu melden, der in der kleinen Portiersloge wartete.
Einen Augenblick darauf trat die dicke, große Gestalt des Alten, in voller Paradeuniform, die Brust mit all seinen Orden bedeckt, den Bauch mit der Schärpe umspannt, in wiegendem Gang auf die Freitreppe heraus. Kutusow setzte seinen Feldmarschallhut auf, nahm die Handschuhe in die Hand, stieg seitwärts mit Mühe die Stufen hinab und ließ sich unten den zur Überreichung an den Kaiser fertiggestellten Rapport geben.
Ein Rennen, ein Flüstern, noch ein in höchster Eile vorbeifliegendes Dreigespann – und alle Augen richteten sich auf den heranjagenden Schlitten, in welchem man schon die Gestalten des Kaisers und Wolkonskis erkennen konnte.
Alles dies versetzte einer fünfzigjährigen Gewöhnung zufolge den alten General physisch in starke Erregung; besorgt und eilig tastete er an sich herum und rückte seinen Hut zurecht, und in dem Augenblick, als der Kaiser, aus dem Schlitten steigend, die Augen zu ihm aufhob, nahm er eine gerade, straffe Haltung an, überreichte den Rapport und begann in gemessenem, einschmeichelndem Ton zu reden.
Der Kaiser sah Kutusow mit einem schnellen Blick vom Kopf bis zu den Füßen an, machte einen Augenblick lang ein finsteres Gesicht, überwand sich aber sofort, trat auf ihn zu, breitete die Arme aus und umarmte den alten General. Sowohl weil Kutusow von jeher bei solchen Anlässen gerührt zu werden pflegte, als auch weil er diesmal seine stillen Gedanken dabei hatte, wirkte diese Umarmung auf ihn wie gewöhnlich: er fing an zu schluchzen.
Der Kaiser begrüßte die Offiziere und die Semjonower Ehrenwache und ging, nachdem er dem alten Mann noch einmal die Hand gedrückt hatte, mit ihm ins Schloß hinein.
Als er mit dem Feldmarschall unter vier Augen war, sprach ihm der Kaiser seine Unzufriedenheit mit der Langsamkeit der Verfolgung und mit den bei Krasnoje und an der Beresina von ihm begangenen Fehlern aus und teilte ihm seine Ideen über den bevorstehenden Feldzug im Ausland mit. Kutusow machte weder Einwendungen noch Bemerkungen. Sein Gesicht zeigte dieselbe gedankenlos gehorsame Miene, mit der er sieben Jahre vorher die Befehle des Kaisers auf dem Schlachtfeld von Austerlitz angehört hatte.
Als Kutusow aus dem Zimmer des Kaisers heraustrat und mit seinem schwerfälligen, gleitenden Gang, den Kopf tief gesenkt, durch den Saal ging, veranlaßte ihn eine Stimme stehenzubleiben.
»Euer Durchlaucht«, sagte jemand.
Kutusow hob den Kopf in die Höhe und sah lange dem Grafen Tolstoi in die Augen, der mit einem kleinen Gegenstand auf einer silbernen Schale vor ihm stand. Kutusow schien nicht zu verstehen, was man von ihm wollte.
Auf einmal war es, als ob er zu sich käme; ein ganz leises Lächeln huschte über sein aufgedunsenes Gesicht, und mit einer tiefen, ehrfurchtsvollen Verbeugung nahm er den Gegenstand, der auf der Schale lag. Es war das Georgskreuz erster Klasse.
XII
Am folgenden Tag fand beim Feldmarschall Diner und Ball statt, welche der Kaiser mit seiner Anwesenheit beehrte. Dem Feldmarschall war das Georgskreuz erster Klasse verliehen, und der Kaiser erwies ihm die höchsten Ehren; aber dennoch wußten alle, daß der Kaiser mit ihm unzufrieden war. Der Anstand wurde gewahrt, und der Kaiser gab das erste Beispiel dazu; aber einem jeden war bekannt, daß dem Alten an vielem die Schuld gegeben wurde und daß er zu nichts taugte. Als auf dem Ball Kutusow nach dem alten, aus der Zeit der Kaiserin Katharina stammenden Brauch beim Eintritt des Kaisers in den Ballsaal ihm die erbeuteten Feldzeichen zu Füßen legen ließ, runzelte der Kaiser unfreundlich die Stirn und sprach ein paar Worte vor sich hin, die manche als »Alter Komödiant!« verstanden.
Die Unzufriedenheit des Kaisers mit Kutusow wuchs in Wilna noch namentlich dadurch, daß Kutusow die Bedeutung des bevorstehenden Feldzuges offenbar nicht begreifen wollte oder nicht begreifen konnte.
Als am Vormittag des folgenden Tages der Kaiser zu den bei ihm versammelten Offizieren die Äußerung tat: »Sie haben nicht nur Rußland gerettet, Sie haben Europa gerettet«, da sagten sich bereits alle, daß der Krieg noch nicht beendet war.
Kutusow war der einzige, der das nicht begreifen wollte; er sprach offen seine Meinung dahin aus, ein neuer Krieg könne Rußlands Lage nicht verbessern und seinen Ruhm nicht erhöhen; er könne nur seine Lage verschlechtern und es von der hohen Stufe des Ruhmes herabziehen, auf der es jetzt stehe. Er bemühte sich, dem Kaiser die Unmöglichkeit der Aufbringung neuer Truppen zu beweisen; er sprach von der schwierigen Lage der Bevölkerung, von der Möglichkeit eines Mißerfolges usw.
Bei solcher Denkart erschien der Feldmarschall naturgemäß nur als Hindernis und Hemmschuh für den bevorstehenden Krieg.
Zur Vermeidung von Zusammenstößen mit dem Alten fand sich von selbst ein Ausweg, der darin bestand, daß, wie bei Austerlitz und wie es am Anfang des Feldzuges mit Barclay geschehen war, dem Oberkommandierenden, ohne ihn durch einen Gewaltakt in Aufregung zu versetzen und ohne ihm darüber eine Erklärung zu geben, der Boden der Befehlsgewalt, auf dem er stand, unter den Füßen weggezogen und diese Befehlsgewalt dem Kaiser selbst übertragen wurde.
Zu diesem Zweck wurde der Stab allmählich umgestaltet, die ganze sachliche Bedeutung des Kutusowschen Stabes auf ein Nichts reduziert und auf den Kaiser übertragen. Toll, Konownizyn und Jermolow erhielten andere Stellungen. Alle sagten laut, der Feldmarschall sei recht schwach geworden und seine Gesundheit zerrüttet.
Seine Gesundheit mußte schwach sein, damit man seine Stelle dem geben konnte, der ihn ersetzen sollte. Und seine Gesundheit war auch wirklich schwach.
Wie es sich ganz natürlich und einfach und allmählich gemacht hatte, daß Kutusow aus der Türkei nach Petersburg in den Kameralhof gekommen war, um die Landwehr zu organisieren, und dann zur Armee, gerade in dem Augenblick, als er dort notwendig war, genau ebenso natürlich, allmählich und einfach machte es sich jetzt, wo Kutusows Rolle ausgespielt war, daß an seinen Platz ein neuer Mann trat, ein Mann, wie ihn die Zeit verlangte.
Der Krieg von 1812 sollte außer seiner nationalen, jedem russischen Herzen teuren Bedeutung auch noch eine andere, europäische Bedeutung haben.
Der Bewegung der Völker von Westen nach Osten sollte eine Bewegung der Völker von Osten nach Westen folgen, und für diesen neuen Krieg war ein neuer Feldherr erforderlich, der andere Eigenschaften und Anschauungen besaß als Kutusow und sich von anderen Beweggründen leiten ließ.
Alexander I. war für die Bewegung der Völker vom Osten nach dem Westen und für die Wiederherstellung der Grenzen der Reiche ebenso notwendig, wie Kutusow für die Rettung und den Ruhm Rußlands notwendig gewesen war.
Kutusow hatte kein Verständnis für die Bedeutung der Worte: Europa, Gleichgewicht, Napoleon. Er konnte kein Verständnis dafür haben. Der Repräsentant des russischen Volkes, der Russe, hatte, nachdem der Feind vernichtet, Rußland befreit war und die höchste Stufe seines Ruhmes erreicht hatte, als Russe nichts mehr zu tun. Dem Repräsentanten des Nationalkrieges blieb nun nichts weiter übrig als zu sterben. Und er starb.
XIII
Pierre empfand, wie das meistens so zu gehen pflegt, die ganze Schwere der physischen Entbehrungen und Anstrengungen, die er in der Gefangenschaft durchgemacht hatte, erst, als diese Anstrengungen und Entbehrungen ein Ende genommen hatten. Nach seiner Befreiung aus der Gefangenschaft reiste er nach Orjol, wurde am dritten Tag nach seiner Ankunft, als er sich gerade anschickte, nach Kiew zu fahren, krank und mußte in Orjol drei Monate lang das Bett hüten; er hatte, wie die Ärzte sagten, das Gallenfieber. Trotzdem ihn die Ärzte behandelten, ihn zur Ader ließen und ihm allerlei Medizin zu trinken gaben, wurde er dennoch wieder gesund.
Alles, was ihm in der Zeit von seiner Befreiung bis zu seiner Krankheit begegnet war, hatte bei ihm fast gar keinen Eindruck zurückgelassen. Er erinnerte sich nur an das feuchte, trübe Wetter, bald mit Regen, bald mit Schnee, an eine innerliche physische Mattigkeit, einen Schmerz in den Beinen und in der Seite; er erinnerte sich an den allgemeinen Eindruck, den der Anblick so vielen menschlichen Unglücks und Leidens auf ihn gemacht hatte; er erinnerte sich an die ihm lästige Neugier der Offiziere und Generale, die ihn nach allerlei befragten, an die Mühe, die er gehabt hatte, einen Wagen und Pferde aufzutreiben, und ganz besonders erinnerte er sich an seine damalige Unfähigkeit zu denken und zu fühlen. Am Tage seiner Befreiung hatte er Petja Rostows Leiche gesehen. An demselben Tag hatte er erfahren, daß Fürst Andrei nach der Schlacht bei Borodino noch länger als einen Monat gelebt und erst kürzlich in Jaroslawl bei Rostows gestorben sei. An demselben Tag hatte Denisow, der ihm diese Nachricht mitgeteilt hatte, im Gespräch auch des Todes Helenens gedacht, von dem er voraussetzte, daß er Pierre schon längst bekannt sei. All dies war Pierre damals nur sonderbar erschienen; er hatte das Gefühl gehabt, daß er nicht imstande sei, die Bedeutung aller dieser Nachrichten zu begreifen. Er hatte sich damals beeilt, nur so schnell wie möglich aus den Gegenden, wo die Menschen einander töteten, wegzufahren nach irgendeinem stillen Zufluchtsort und dort seine Gedanken zu sammeln, sich zu erholen und all das Neue und Seltsame zu durchdenken, was er in dieser Zeit erfahren hatte. Aber sowie er nach Orjol gekommen war, war er krank geworden. Als er von seiner Krankheit wieder zur Besinnung kam, sah er zwei seiner Leute um sich, die aus Moskau gekommen waren, Terenti und Wasili, sowie die älteste Prinzessin, die in Jelez, auf einem Gut Pierres, wohnte und auf die Nachricht von seiner Befreiung und seiner Krankheit zu ihm gereist war, um ihn zu pflegen.
Während seiner Genesung entwöhnte sich Pierre nur allmählich von der ihm bereits zur Gewohnheit gewordenen Lebensweise der letzten Monate und gewöhnte sich wieder daran, daß ihn am Morgen niemand weitertrieb, daß ihm niemand sein warmes Bett wegnahm und daß ihm mit Sicherheit sein Mittagessen, sein Tee und sein Abendessen bevorstand. Aber im Traum sah er sich noch lange als Gefangenen mit jener ganzen Umgebung. Ebenso allmählich gelangte Pierre zum Verständnis jener Nachrichten, die er nach seiner Befreiung aus der Gefangenschaft erfahren hatte: vom Tod des Fürsten Andrei, vom Tod seiner Frau, von der Vernichtung der Franzosen.
Das frohe Gefühl der Freiheit, jener vollen, unentreißbaren, dem Menschen innewohnenden Freiheit, deren er sich zum erstenmal nach dem Ausmarsch aus Moskau am ersten Rastort bewußt geworden war, erfüllte Pierres Seele während seiner Rekonvaleszenz. Er wunderte sich darüber, daß diese innerliche, von äußeren Umständen unabhängige Freiheit sich jetzt wie zum Überfluß und zum Luxus noch mit einer äußerlichen Freiheit umgab. Er war allein in der fremden Stadt, ohne Bekannte. Niemand verlangte etwas von ihm; nirgends lud man ihn ein. Alles, was er wünschte, hatte er; der Gedanke an seine Frau, der ihn früher fortwährend gepeinigt hatte, war in seinem Kopf nicht mehr vorhanden, da auch sie selbst nicht mehr existierte.
»Ach, wie schön, wie herrlich!« sagte er zu sich, wenn man ihm den sauber gedeckten Tisch mit der appetitlich riechenden Bouillon heranrückte, oder wenn er sich am Abend in sein weiches, reines Bett legte, oder wenn er sich erinnerte, daß seine Frau und die Franzosen nicht mehr waren. »Ach, wie schön, wie herrlich!«
Und nach alter Gewohnheit stellte er sich die Frage: »Nun, und was jetzt? Was werde ich jetzt tun?« Und sogleich gab er sich selbst die Antwort: »Nichts. Ich werde leben. Ach, wie herrlich!«
Das, womit er sich früher gequält hatte, was er beständig gesucht hatte, nämlich ein Lebensziel, existierte jetzt für ihn gar nicht. Nicht in dem Sinne, daß dieses gesuchte Lebensziel nur jetzt augenblicklich für ihn zufällig nicht existiert hätte, sondern er fühlte, daß es ein solches Lebensziel nicht gab und nicht geben konnte. Und gerade dieses Fehlen eines Lebenszieles verlieh ihm jenes volle, freudige Bewußtsein der Freiheit, das ihn jetzt beglückte. Er konnte kein Lebensziel haben, weil er jetzt den Glauben hatte, nicht den Glauben an irgendwelche Grundsätze oder Worte oder Ideen, sondern den Glauben an den lebendigen, stets zu fühlenden Gott. Vorher hatte er Ihn in Zielen gesucht, die er sich selbst gesetzt hatte. Dieses Suchen nach einem Ziel war nur ein Suchen nach Gott gewesen. Und plötzlich hatte er in seiner Gefangenschaft nicht durch Worte, nicht durch Vernunftschlüsse, sondern durch das unmittelbare Gefühl das erkannt, was ihm schon vor langer Zeit die Kinderfrau gesagt hatte, daß Gott hier und da und überall sei. Er hatte in der Gefangenschaft erkannt, daß Gott in Karatajew größer, unendlicher und unbegreiflicher sei als in dem Baumeister des Weltalls, von dem die Freimaurer redeten. Es war ihm zumute wie jemandem, der das, was er sucht, dicht neben sich vor seinen Füßen findet, nachdem er lange seine Sehkraft angestrengt hat, um in die Ferne zu blicken. Er hatte sein ganzes Leben lang hierhin und dorthin gespäht, über die Köpfe der ihn umgebenden Menschen weg, und das Richtige wäre gewesen, ohne besondere Anstrengung der Augen einfach vor sich hin zu schauen.
Er hatte es vorher nicht verstanden, in irgend etwas das Große, Unbegreifliche und Unendliche zu sehen. Er hatte nur gefühlt, daß es irgendwo sein müsse, und nach ihm gesucht. In allem Nahen, Begreiflichen hatte er nur das Begrenzte, Kleinliche, Irdische, Sinnlose gesehen. Er hatte sich mit einem geistigen Fernrohr bewaffnet und in die Ferne geschaut, dahin, wo dieses Kleinliche, Irdische, in den Nebel der Ferne gehüllt, ihm groß und unendlich erschien, nur weil es nicht deutlich sichtbar war. So war ihm das westeuropäische Leben, die Politik, die Freimaurerei, die Philosophie, die Philanthropie erschienen. Aber auch in jene Ferne war damals, in den Augenblicken, die er seine Schwäche nannte, sein Geist eingedrungen, und er hatte dort dasselbe Kleinliche, Irdische, Sinnlose gesehen. Jetzt aber hatte er gelernt, das Große, Ewige und Unendliche in allem zu sehen, und warf darum ganz natürlich, um es zu sehen und seinen Anblick zu genießen, jenes Fernrohr weg, durch das er bisher über die Köpfe der Menschen hinweggesehen hatte, und betrachtete freudig um sich herum das ewig sich verändernde, ewig große, unbegreifliche und unendliche Leben. Und in je größerer Nähe er sich die Gegenstände für sein Schauen wählte, um so ruhiger und glücklicher wurde er. Die furchtbare Frage nach dem Warum, die früher alle Bauwerke seines Verstandes zerstört hatte, existierte jetzt für ihn nicht mehr. Jetzt hatte er für diese Frage nach dem Warum in seiner Seele immer die einfache Antwort bereit: weil es einen Gott gibt, jenen Gott, ohne dessen Willen kein Haar von eines Menschen Haupt fällt.
XIV
Pierre hatte sich in seinem äußeren Wesen fast gar nicht verändert. Dem Anschein nach war er noch ganz derselbe, der er früher gewesen war. Ebenso wie früher war er zerstreut und schien sich nicht mit dem, was er vor Augen hatte, sondern mit etwas Eigenem, Besonderem zu beschäftigen. Der Unterschied zwischen seinem früheren und seinem jetzigen Zustand bestand darin, daß er früher, wenn er vergessen hatte, was vor ihm war oder was man zu ihm sagte, mit schmerzlich gerunzelter Stirn gleichsam den erfolglosen Versuch machte, etwas von ihm weit Entferntes zu erkennen. Jetzt dagegen war er zwar gleichfalls oft achtlos gegen das, was man ihm sagte und was vor ihm war; aber jetzt schaute er mit einem leisen, gewissermaßen spöttischen Lächeln das an, was vor ihm war, und hörte das an, was man ihm sagte, obwohl er offenbar etwas ganz anderes sah und hörte. Früher hatten ihn die Leute für einen zwar guten, aber unglücklichen Menschen angesehen und sich deshalb unwillkürlich von ihm ferngehalten; jetzt spielte beständig ein Lächeln der Lebensfreude um seinen Mund, und in seinen Augen leuchtete die Anteilnahme an dem Ergehen der andern und die Frage: »Seid ihr auch wohl ebenso zufrieden wie ich?« Und die Leute fühlten sich wohl im Verkehr mit ihm.
Früher hatte er viel geredet, war beim Reden heftig geworden und hatte wenig zugehört; jetzt ließ er sich nur selten durch das Gespräch hinreißen und verstand es, so zuzuhören, daß die Leute ihm gern ihre innersten Geheimnisse offenbarten.
Die Prinzessin, die ihn nie hatte leiden können und, seit sie sich ihm nach dem Tod des alten Grafen verpflichtet fühlte, eine besonders feindliche Gesinnung gegen ihn gehegt hatte, merkte zu ihrem Ärger und zu ihrer Verwunderung nach einem kurzen Aufenthalt in Orjol, wohin sie mit der Absicht gekommen war, ihm zu zeigen, daß sie es trotz seiner Undankbarkeit für ihre Pflicht halte, ihn zu pflegen – die Prinzessin merkte bald, daß sie ihn gern hatte. Pierre bemühte sich in keiner Weise um die Zuneigung der Prinzessin. Er betrachtete sie nur mit einem neugierigen Interesse. Früher hatte die Prinzessin die Empfindung gehabt, daß in dem Blick, mit dem er sie ansah, Gleichgültigkeit und Spott lägen, und sie hatte, wie anderen Leuten gegenüber, so auch ihm gegenüber eine Verteidigungsstellung angenommen und nur die streitbare Seite ihres Wesens herausgekehrt; jetzt dagegen fühlte sie, daß er sich sozusagen bis zu den innersten Partien ihres Seelenlebens durchgegraben hatte, und so zeigte sie ihm denn, anfangs noch mit Mißtrauen, dann aber mit wirklicher Dankbarkeit, die verborgenen guten Seiten ihres Charakters.
Der listigste Mensch hätte sich nicht geschickter in das Vertrauen der Prinzessin einstehlen können, als es Pierre dadurch tat, daß er die Erinnerungen an die beste Zeit ihrer Jugend bei ihr wachrief und eine freundliche Teilnahme dafür bekundete. Und doch bestand Pierres ganze List nur darin, daß er sein eigenes Vergnügen suchte, indem er in der verbitterten, vertrockneten und in ihrer Art hochmütigen Prinzessin menschliche Empfindungen weckte.
»Ja, er ist ein sehr, sehr braver Mensch, wenn er sich unter dem Einfluß guter Menschen befindet, solcher Menschen wie ich«, sagte die Prinzessin zu sich selbst.
Die Veränderung, die mit Pierre vorgegangen war, beobachteten in ihrer Weise auch seine Diener Terenti und Wasili. Sie fanden, daß er weit leutseliger geworden sei. Wenn Terenti seinem Herrn beim Auskleiden behilflich gewesen war und ihm gute Nacht gewünscht hatte, so zögerte er oft mit dem Hinausgehen, blieb mit den Stiefeln und Kleidern in der Hand stehen und wartete, ob sich der Herr nicht in ein Gespräch mit ihm einlassen wollte. Und meist hielt Pierre ihn noch zurück, wenn er merkte, daß Terenti Lust hatte, noch ein wenig zu reden.
»Na, sag doch mal …, ja, sag mal, wie habt ihr euch denn eigentlich Essen beschafft?« fragte er dann wohl.
Und dann begann Terenti eine Erzählung von der Zerstörung Moskaus und von dem seligen Grafen und stand lange mit den Kleidern da und redete und redete; manchmal hörte er auch an, was Pierre erzählte, und ging dann mit dem angenehmen Bewußtsein, daß der Herr ihm nahestehe und ihm freundlich gesinnt sei, ins Vorzimmer hinaus.
Der Arzt, welcher Pierre behandelte und ihn täglich besuchte, hielt es zwar, wie das für Ärzte obligatorisch ist, für seine Pflicht, sich den Anschein zu geben, als sei ihm jede Minute um der leidenden Menschheit willen kostbar, saß aber trotzdem stundenlang bei Pierre und erzählte ihm seine Lieblingsgeschichten und seine Beobachtungen über das Benehmen der Kranken im allgemeinen und der Damen im besonderen.
»Ja, mit einem solchen Mann sich zu unterhalten, das ist ein Vergnügen«, sagte er. »Das ist eine andere Sache, wie wenn man unsere Leute hier aus der Provinz vor sich hat.«
In Orjol wohnten einige gefangene französische Offiziere, und der Arzt brachte einen von ihnen, einen jungen Italiener, mit sich zu Pierre.
Dieser Offizier kam von da an häufig zu Pierre, und die Prinzessin mußte oft über die zärtlichen Gefühle lachen, die der Italiener für Pierre an den Tag legte. Der Italiener fühlte sich offenbar nur dann glücklich, wenn er zu Pierre kommen und sich mit ihm unterhalten und ihm von seiner Vergangenheit, von seinem häuslichen Leben und von seiner Zuneigung zu ihm erzählen und ihm gegenüber seiner Erbitterung gegen die Franzosen und speziell gegen Napoleon freien Lauf lassen konnte.
»Wenn alle Russen Ihnen auch nur ein wenig ähnlich sind«, sagte er zu Pierre, »so ist es geradezu ein Frevel, mit einem Volk, wie das Ihrige, Krieg zu führen. Sie, die Sie so viel von den Franzosen erlitten haben, hegen nicht einmal einen Groll gegen diese Menschen.«
Und diese leidenschaftliche Zuneigung des Italieners hatte sich Pierre jetzt nur dadurch erworben, daß er in ihm die besseren Triebe seiner Seele angeregt und daran seine Freude gehabt hatte.
Gegen Ende von Pierres Aufenthalt in Orjol kam sein alter Bekannter, der Freimaurer Graf Willarski, zu ihm, derselbe Willarski, der ihn im Jahre 1807 in die Loge eingeführt hatte. Willarski war mit einer reichen Russin verheiratet, die große Güter im Gouvernement Orjol besaß, und bekleidete in der Stadt interimistisch ein Amt im Proviantwesen.
Als Willarski erfahren hatte, daß Besuchow in Orjol sei, kam er, obwohl er nie näher mit ihm bekannt gewesen war, zu ihm und ließ es nicht an jenen Freundschaftsbezeigungen fehlen, die gewöhnlich Menschen einander erweisen, welche sich in der Wüste treffen. Willarski langweilte sich in Orjol und war glücklich, wieder einmal mit einem Menschen aus seiner Sphäre und, wie er annahm, mit den gleichen Interessen zusammenzukommen.
Aber zu seiner Verwunderung bemerkte Willarski bald, daß Pierre dem, was er selbst für das wahre und echte Leben hielt, sehr fern stand und, wie er bei sich selbst Pierres Wesen charakterisierte, in Apathie und Egoismus versunken war.
»Sie vernachlässigen sich, lieber Freund«, sagte er zu ihm.
Trotzdem hatte Willarski an dem Umgang mit Pierre jetzt mehr Vergnügen als früher und besuchte ihn täglich. Für Pierre dagegen, wenn er Willarski ansah und ihm zuhörte, war es ein seltsamer, schwer faßlicher Gedanke, daß er selbst vor gar nicht so langer Zeit ein ebensolcher Mensch gewesen sein sollte.
Willarski war verheiratet, hatte Kinder und war durch die Verwaltung der Güter seiner Frau, durch seinen Dienst und durch die Sorge für seine Familie stark beschäftigt. Er war aber der Ansicht, daß alle diese Beschäftigungen nur Hindernisse für das wahre Leben und sämtlich nur geringwertig seien, weil sie nur auf sein und seiner Familie persönliches Wohl abzielten. Militärische, administrative, politische und freimaurerische Angelegenheiten nahmen beständig sein Interesse in hohem Grad in Anspruch. Pierre machte keinen Versuch, ihn von seiner Anschauung abzubringen, erlaubte sich auch nicht, ein tadelndes Urteil auszusprechen, sondern betrachtete mit seinem jetzt stets ruhigen, fröhlichen, etwas spöttischen Lächeln diesen seltsamen, ihm so wohlbekannten Typus.
In seinem Verkehr mit Willarski, mit der Prinzessin, mit dem Arzt und mit allen Leuten, mit denen er jetzt zu tun hatte, zeigte Pierre einen neuen Charakterzug, der ihm die Zuneigung aller erwarb: die Anerkennung der Berechtigung eines jeden Menschen, in seiner eigenen Weise zu denken, zu empfinden und die Dinge anzuschauen, und die Anerkennung der Unmöglichkeit, jemand durch Worte zu einer andern Überzeugung zu bringen. Diese berechtigte Eigentümlichkeit eines jeden Menschen, die früher auf Pierre die Wirkung gehabt hatte, ihn in Aufregung zu versetzen und gereizt zu machen, bildete jetzt die Grundlage des teilnehmenden Interesses, das er den Menschen zuwandte. Der mitunter geradezu diametrale Widerspruch, in welchem die Ansichten der Menschen mit ihrem Leben und untereinander standen, machte ihm Freude und rief bei ihm ein mildes, spöttisches Lächeln hervor.
In praktischen Dingen fühlte Pierre jetzt zu seiner Überraschung, daß er einen Schwerpunkt besaß, an dem es ihm früher gefehlt hatte. Früher hatte jede Geldangelegenheit, namentlich Bitten um Geld, die bei seinem großen Reichtum sehr oft an ihn gerichtet wurden, ihn in die schlimmste Aufregung und Ratlosigkeit versetzt. »Soll ich geben oder nicht?« hatte er sich in solchen Fällen gefragt. »Ich habe es, und er sagt, er brauche es nötig. Aber ein andrer sagt, er brauche es noch nötiger. Wer braucht es nun am nötigsten? Und vielleicht sind sie beide Betrüger?« Aus all solchen Zweifeln hatte er früher keinen Ausgang finden können und allen gegeben, solange er etwas zu geben hatte. Und in ganz ebensolchen Zweifeln hatte er sich früher bei jeder sein Vermögen betreffenden Frage befunden, wenn ihm der eine sagte, er müsse es so, und der andere, er müsse es anders machen.
Jetzt fand er zu seinem Erstaunen, daß es in all diesen Fragen keine Zweifel und Bedenken mehr für ihn gab. Es hatte jetzt in seinem Innern ein Richter seinen Sitz genommen, der nach gewissen, ihm selbst unbekannten Gesetzen entschied, was Pierre tun und nicht tun solle.
Er war in Geldsachen ebenso gleichgültig wie früher; aber jetzt wußte er mit unzweifelhafter Sicherheit, was er tun mußte und was nicht. Zum erstenmal funktionierte dieser neue Richter anläßlich der Bitte eines gefangenen französischen Obersten, der zu Pierre kam, ihm viel von seinen Heldentaten erzählte und zum Schluß die Bitte oder beinahe die Forderung an ihn richtete, ihm viertausend Francs zu geben, damit er sie seiner Frau und seinen Kindern schicken könne. Pierre schlug ihm dies ohne die geringste Mühe und Anstrengung ab und wunderte sich hinterdrein, wie einfach und leicht das vonstatten gegangen war, was ihm früher als eine unlösbar schwere Aufgabe erschienen war. Zu derselben Zeit aber, als er dem Obersten eine abschlägige Antwort gab, sagte er sich, er müsse notwendig eine List gebrauchen, um vor seiner Abreise aus Orjol den italienischen Offizier zu bewegen, Geld von ihm anzunehmen, dessen er augenscheinlich sehr bedürftig war.
Ein neuer Beweis dafür, daß sein Blick für praktische Dinge an Festigkeit gewonnen hatte, war ihm die Entscheidung, die er in der Frage der Schulden seiner Frau und in der Frage der Wiederherstellung oder Nichtwiederherstellung der Moskauer Häuser und der Landhäuser traf.
Der Oberadministrator war zu ihm nach Orjol gekommen, und Pierre hatte mit ihm eine allgemeine Berechnung seiner veränderten Einkünfte angestellt. Der Brand Moskaus hatte ihn nach dem ungefähren Überschlag des Oberadministrators etwa zwei Millionen Rubel gekostet.
Um diese Verluste wieder einzubringen, legte der Oberadministrator ihm einen Anschlag vor, bei welchem trotz dieser Verluste seine Einnahmen nicht abnehmen, sondern sogar steigen würden, wenn er es ablehne, die von der Gräfin hinterlassenen Schulden zu bezahlen, wozu er nicht verpflichtet sei, und wenn er darauf verzichte, die Moskauer Häuser und die Landhäuser wiederherzustellen, die ihn jährlich achtzigtausend Rubel kosteten und nichts einbrächten.
»Ja, ja, das ist richtig«, sagte Pierre, fröhlich lächelnd. »Ich brauche weder das eine noch das andere zu tun. Ich bin dann also durch die Zerstörung Moskaus bedeutend reicher geworden.«
Aber im Januar kam der Haushofmeister Saweljitsch aus Moskau, erzählte ihm von den Zuständen in Moskau und von einem Kostenvoranschlag, den ihm der Baumeister für die Wiederherstellung der Häuser und der Landhäuser gemacht hatte, und redete davon wie von einer entschiedenen Sache. Um dieselbe Zeit erhielt Pierre Briefe aus Petersburg von dem Fürsten Wasili und anderen Bekannten. In diesen Briefen war von den Schulden seiner Frau die Rede. Und Pierre gelangte zu der Überzeugung, daß der Plan, der ihm vom Oberadministrator vorgelegt war und der ihm so gut gefallen hatte, doch nicht das Richtige sei und daß er zur Erledigung der Angelegenheiten seiner Frau nach Petersburg fahren und in Moskau bauen müsse. Warum das notwendig sei, das wußte er nicht; aber er wußte mit aller Bestimmtheit, daß es notwendig sei. Seine Einnahmen verminderten sich infolge dieses Entschlusses um drei Viertel. Aber es war notwendig; das fühlte er.
Willarski reiste nach Moskau, und sie verabredeten, zusammen zu fahren.
Pierre hatte schon während der ganzen Zeit seiner Rekonvaleszenz in Orjol ein Gefühl der Freude, der Freiheit und der Lebenslust empfunden; aber als er bei dieser Reise sich in der freien Welt fand und Hunderte von neuen Gesichtern sah, da wurde diese Empfindung noch stärker. Während der ganzen Reise empfand er die Freude eines Schülers in den Ferien. Alle Leute: den Postillion, den Postmeister, die Bauern auf der Landstraße und in den Dörfern, alle sah er mit neuen Augen an. Die Anwesenheit und die Bemerkungen Willarskis, der beständig über die Armut in Rußland, über die Rückständigkeit hinter Europa und den Mangel an Bildung klagte, hatten nur die Wirkung, Pierres Freude noch zu erhöhen. Dort, wo Willarski die Starrheit des Todes sah, erblickte Pierre eine überaus mächtige Lebenskraft, jene Kraft, die im Schnee auf dieser gewaltigen Fläche das Leben dieses unverdorbenen, besonderen, eigenartigen Volkes unterhielt. Er widersprach seinem Reisegefährten nicht, sondern lächelte fröhlich beim Zuhören, als sei er mit ihm einverstanden; er sagte sich, daß diese erheuchelte Zustimmung das kürzeste Mittel sei, um Dispute zu vermeiden, bei denen doch nichts herauskommen konnte.