»Er besaß einen großen Verstand, ist aber jetzt, wie Sie sehen, schwachsinnig geworden«, sagte Gerasim. »Ist es Ihnen gefällig, in das Arbeitszimmer zu gehen?« Pierre nickte mit dem Kopf. »Das Arbeitszimmer ist in demselben Zustand geblieben, in dem es versiegelt wurde. Sofja Danilowna hat befohlen, wenn jemand, von Ihnen geschickt, herkäme, ihm die Bücher zu verabfolgen.«

Pierre trat in eben jenes Arbeitszimmer, in das er bei Lebzeiten seines edlen Freundes mit solchem Bangen eingetreten war. Das Zimmer, das jetzt verstaubt aussah und seit Osip Alexejewitschs Tode unberührt geblieben war, machte einen noch düsteren Eindruck als früher.

Gerasim öffnete einen Fensterladen und verließ auf den Fußspitzen das Zimmer. Pierre ging im Zimmer umher, trat an den Schrank, in dem die Manuskripte lagen, und nahm eines der einstmals hochwichtigen Heiligtümer des Freimaurerordens heraus. Es waren dies schottische Akten im Original, mit Bemerkungen und Erläuterungen von der Hand seines verstorbenen Freundes. Er setzte sich an den verstaubten Schreibtisch, legte die Handschriften vor sich hin, schlug sie auf, machte sie wieder zu und schob sie schließlich von sich weg, stützte den Kopf auf den Arm und überließ sich seinen Gedanken.

Gerasim blickte mehrere Male behutsam in das Zimmer hinein und sah, daß Pierre immer noch in derselben Haltung dasaß. So waren mehr als zwei Stunden vergangen. Nun erlaubte sich Gerasim, an der Tür ein Geräusch zu machen, um Pierres Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber dieser hörte ihn nicht.

»Befehlen Sie, daß ich die Droschke wegschicke?«

»Ach ja«, antwortete Pierre, der nun zur Besinnung kam und rasch aufstand. »Höre mal«, sagte er, indem er Gerasim an einen Rockknopf faßte und von oben bis unten mit schwärmerischen, feucht glänzenden Augen ansah, »höre mal, weißt du, daß morgen eine Schlacht stattfinden wird?«

»Die Leute haben es gesagt«, antwortete Gerasim.

»Ich bitte dich, niemandem zu sagen, wer ich bin. Und führe mir einen Auftrag aus …«

»Ich stehe zu Ihren Diensten«, sagte Gerasim. »Befehlen Sie etwas zu essen?«

»Nein, ich habe einen anderen Wunsch. Ich brauche einen Anzug, wie ihn geringe Leute tragen, und eine Pistole«, sagte Pierre und errötete plötzlich.

»Zu Befehl«, erwiderte Gerasim, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte.

Den ganzen übrigen Teil dieses Tages verbrachte Pierre ganz allein in dem Arbeitszimmer seines Freundes; wie Gerasim hörte, ging er unruhig von einer Ecke nach der andern und redete dabei mit sich selbst. In demselben Zimmer übernachtete er auch; es war dort ein Nachtlager für ihn zurechtgemacht.

Gerasim nahm mit der langjährigen Übung eines Dieners, der in seinem Leben schon viele Wunderlichkeiten an seinen Herrschaften zu sehen bekommen hatte, Pierres Übersiedelung ohne Verwunderung auf und war anscheinend ganz damit zufrieden, daß er wieder jemand hatte, dem er dienen konnte. Noch an demselben Abend beschaffte er, ohne auch nur sich selbst die Frage vorzulegen, was das für einen Zweck habe, für Pierre einen Kaftan und eine Mütze und versprach, am andern Tag die gewünschte Pistole zu besorgen. Makar Alexejewitsch kam an diesem Abend zweimal, mit seinen Überschuhen schlurrend, an die Tür, blieb dort stehen und blickte Pierre wie forschend an. Aber sobald Pierre sich zu ihm hinwandte, schlug er beschämt und ärgerlich die Schöße seines Schlafrocks übereinander und entfernte sich eilig. Als Pierre gerade in dem Kutscherrock, den ihm Gerasim besorgt und ausgebrüht hatte, mit diesem unterwegs war, um sich beim Sucharew-Turm eine Pistole zu kaufen, traf er die Familie Rostow.

XIX


Am 1. September spätabends gab Kutusow den Befehl, die russischen Truppen sollten sich durch Moskau hindurch auf die Straße nach Rjasan zurückziehen.

Die ersten Abteilungen setzten sich noch in der Nacht in Bewegung. Diese Abteilungen, die in der Nacht marschierten, hatten es nicht eilig und zogen ruhig und langsam dahin; aber diejenigen Truppen, die bei Tagesanbruch aufbrachen, erblickten, als sie sich der Dorogomilowski-Brücke näherten, vor sich dichtgedrängte Truppenmassen, die eilig über die Brücke zogen, jenseits derselben hinaufmarschierten und die Straßen und Gassen verstopften, und ebenso hinter sich endlose nachdrängende Massen. Und nun bemächtigte sich der Soldaten eine unbegründete Hast und Unruhe. Alles stürzte vorwärts nach der Brücke zu, auf die Brücke, in die Furten und in die Kähne. Kutusow ließ sich durch Hinterstraßen führen und gelangte so auf die andre Seite der Moskwa.

Am 2. September um zehn Uhr morgens waren auf dem freien Raum in der Dorogomilowskaja-Vorstadt nur noch die Truppen der Arrieregarde zurückgeblieben. Das Gros der Armee befand sich bereits jenseits der Moskwa und hinter Moskau.

Zu derselben Zeit, am 2. September um zehn Uhr morgens, stand Napoleon unter seinen Truppen auf dem Poklonnaja-Berg und betrachtete die Szenerie, die sich da vor seinen Augen auftat. Vom 26. August bis zum 2. September, von der Schlacht bei Borodino bis zum Einzug des Feindes in Moskau, herrschte an jedem Tag dieser unruhvollen, denkwürdigen Woche jenes außerordentlich schöne Herbstwetter, über das die Menschen immer erstaunt sind: wo die niedrigstehende Sonne mehr wärmt als im Frühling; wo alles in der dünnen, reinen Luft so glänzt, daß es in die Augen beißt; wo die Brust vom Einatmen der duftigen Herbstluft stark und frisch wird; wo sogar die Nächte warm sind, und wo in diesen dunklen, warmen Nächten unaufhörlich, den Menschen zum Schreck und zur Freude, Schwärme goldener Sterne herabfallen.

Am 2. September um zehn Uhr morgens war solches Wetter.

Der Glanz des Morgens war zauberhaft. Vom Poklonnaja-Berg aus gesehen, lag Moskau weit ausgebreitet da, mit seinem Fluß, seinen Gärten und Kirchen; wie es so mit seinen Kuppeln in den Strahlen der Sonne nach Art der Sterne zitterte, schien ihm ein eigenartiges Leben innezuwohnen.

Beim Anblick dieser seltsamen Stadt mit den noch nie gesehenen Formen einer ungewöhnlichen Architektur empfand Napoleon jene mit einem gewissen Neid verbundene, unruhige Neugier, welche die Menschen beim Anblick der Formen eines ganz andersartigen, fremden Landes empfinden. In dieser Stadt pulsierte offenbar ein starkes, eigenartiges Leben. Aus jenen undefinierbaren Anzeichen, an denen man schon aus weiter Entfernung unfehlbar einen lebenden Körper von einem toten unterscheidet, ersah Napoleon vom Poklonnaja-Berg aus das Vibrieren des Lebens in dieser Stadt und fühlte gleichsam das Atmen dieses großen, schönen Leibes.

Jeder Russe, der Moskau sieht, hat die Empfindung, daß diese Stadt eine Art von Mutter ist; jeder Ausländer, der Moskau sieht und sich der mütterlichen Stellung dieser Stadt nicht bewußt wird, muß wenigstens für ihren weiblichen Charakter eine Empfindung haben; und diese Empfindung hatte auch Napoleon.

»Da ist sie endlich, diese berühmte asiatische Stadt mit den unzähligen Kirchen, das heilige Moskau! Es war auch Zeit!« sagte Napoleon, stieg vom Pferd, befahl, einen Plan dieser Stadt vor ihm auszubreiten, und rief den Dolmetscher Lelorgne d’Ideville zu sich.

»Eine vom Feind besetzte Stadt gleicht einem Mädchen, das seine Ehre verloren hat«, dachte er (wie er es auch Tutschkow gegenüber in Smolensk ausgesprochen hatte). Und von diesem Gesichtspunkt aus betrachtete er die vor ihm liegende orientalische Schönheit, die er noch nie gesehen hatte. Es kam ihm selbst seltsam vor, daß sein langgehegter Wunsch, der ihm unerfüllbar erschienen war, nun doch endlich seine Verwirklichung gefunden hatte. In dem hellen morgendlichen Licht betrachtete er bald die Stadt, bald den Plan, stellte nach dem Plan die Einzelheiten fest, und das Bewußtsein, nun der Besitzer dieser Stadt zu sein, hatte für ihn etwas Beunruhigendes und Beängstigendes.

»Aber konnte es denn überhaupt anders kommen?« dachte er. »Da liegt sie, diese Hauptstadt, zu meinen Füßen und erwartet ihr Schicksal. Wo mag jetzt Alexander sein, und was mag er denken? Eine seltsame, eine schöne, eine majestätische Stadt! Und auch dieser Augenblick ist seltsam und majestätisch! Was mögen sie nach diesem Erfolg von mir denken?« dachte er mit Bezug auf seine Truppen. »Da ist sie, die Belohnung für alle diese Kleingläubigen«, dachte er, indem er sich nach den Herren seiner Umgebung und nach den heranrückenden und sich aufstellenden Truppen umblickte. »Ein einziges Wort von mir, eine Bewegung meiner Hand, und diese alte Residenz der Zaren hat aufgehört zu existieren. Aber meine Gnade ist immer bereit, sich zu den Besiegten herabzulassen. Ich muß großmütig und wahrhaftig groß sein … Aber nein, es ist wohl gar nicht wahr, daß ich vor Moskau bin«, ging es ihm plötzlich durch den Kopf. »Indes da liegt die Stadt ja zu meinen Füßen, und die Sonnenstrahlen spielen und zittern auf ihren goldenen Kuppeln und Kreuzen. Aber ich werde sie schonen. Auf die alten Denkmäler der Barbarei und des Despotismus werde ich die großen Worte ›Gerechtigkeit‹ und ›Gnade‹ schreiben … Das wird den Kaiser Alexander am allerpeinlichsten berühren; das weiß ich.« (Napoleon hatte die Vorstellung, daß die hauptsächliche Bedeutung dessen, was sich jetzt vollzog, in einem persönlichen Kampf zwischen ihm und Alexander bestand.) »Von den Höhen des Kreml … ja, das ist der Kreml, ja …! werde ich ihnen gerechte Gesetze geben; ich werde ihnen zeigen, worin die wahre Zivilisation besteht, und werde es dahin bringen, daß die Geschlechter der Bojaren den Namen ihres Eroberers mit Liebe und Verehrung nennen. Ich werde der Deputation sagen, daß ich den Krieg nicht gewollt habe und nicht will; daß ich nur gegen die lügenhafte Politik ihres Hofes Krieg geführt habe; daß ich den Kaiser Alexander liebe und achte, und daß ich in Moskau bereit bin, Frieden zu schließen, wofern die Bedingungen desselben meiner sowie meiner Völker würdig sind. Ich will das Kriegsglück nicht zur Erniedrigung ihres verehrten Kaisers benutzen. ›Bojaren!‹ werde ich ihnen sagen, ›ich will den Krieg nicht, ich will den Frieden und das Wohlergehen aller meiner Untertanen.‹ Übrigens weiß ich vorher, daß ihre Gegenwart meinen Gedanken Schwung verleihen wird und ich zu ihnen reden werde, wie ich stets rede: klar, feierlich, edel. Aber ist es wirklich wahr, daß ich vor Moskau bin? Ja, da ist es!«

»Man führe die Bojaren zu mir!« wandte er sich an seine Suite.

Ein General mit glänzendem Gefolge sprengte sogleich davon, um die Bojaren herbeizuholen.

Es vergingen zwei Stunden. Napoleon hatte gefrühstückt und stand wieder an demselben Platz auf dem Poklonnaja-Berg und wartete auf die Deputation. Seine Rede an die Bojaren hatte er sich im Kopf schon klar zurechtgelegt. Diese Rede war voll Würde und edler Größe, wenigstens nach Napoleons Begriffen.

Von der Großmut, mit der er in Moskau zu verfahren beabsichtigte, ließ er sich unwillkürlich selbst begeistern. In Gedanken setzte er schon bestimmte Tage zu Reunions im Zarenpalast fest, wobei die russischen Großen sich mit den Großen des französischen Kaisers zusammenfinden sollten. In Gedanken ernannte er einen Gouverneur, einen Mann, der es verstehen werde, die Bevölkerung zu gewinnen. Da er gehört hatte, daß es in Moskau viele Wohltätigkeitsanstalten gebe, so beschloß er in Gedanken, alle diese Anstalten mit seinen Gnadenbeweisen zu überschütten. Er dachte, wie es in Afrika für ihn nötig gewesen sei, mit einem Burnus angetan in einer Moschee zu sitzen, so sei es auch in Moskau erforderlich, sich gnädig zu zeigen wie die Zaren. Und wie denn kein Franzose sich etwas Rührendes denken kann ohne eine Redewendung wie: ›Meine teure, meine zärtliche, meine arme Mutter‹, so nahm, um die Herzen der Russen vollends zu rühren, Napoleon sich vor, an allen diesen Anstalten mit großen Buchstaben die Inschrift anbringen zu lassen: ›Meiner teuren Mutter gewidmet.‹ »Nein, einfach: ›Haus meiner Mutter‹«, beschloß er aber dann bei sich. »Aber bin ich wirklich vor Moskau?« dachte er. »Ja, da liegt ja die Stadt vor mir. Aber warum dauert es denn so lange, bis die Deputation aus der Stadt erscheint?«

Unterdessen fand unter denjenigen Generalen und Marschällen der kaiserlichen Suite, die weiter hinten standen, im Flüsterton eine aufgeregte Beratung statt. Diejenigen, die abgesandt waren, um eine Deputation herbeizuholen, waren mit der Nachricht zurückgekehrt, Moskau sei öde, und alle Einwohner hätten zu Wagen oder zu Fuß die Stadt verlassen. Die Gesichter der beratschlagenden Herren waren blaß und erregt. Was sie ängstigte, war nicht sowohl der Umstand, daß Moskau von seinen Einwohnern verlassen sei (so wichtig auch dieses Ereignis erschien), als vielmehr die Sorge, wie man dies dem Kaiser mitteilen solle, wie man, ohne Seine Majestät in jene schreckliche Lage zu versetzen, die die Franzosen le ridicule nennen, es ihm beibringen könne, daß er vergeblich so lange auf die Bojaren gewartet habe und daß es in der Stadt zwar noch Scharen von Betrunkenen, aber sonst niemand mehr gebe. Einige meinten, man müsse um jeden Preis so etwas wie eine Deputation zusammenbringen; andere bekämpften diese Ansicht und traten dafür ein, man solle den Kaiser behutsam und klug vorbereiten und ihm dann die Wahrheit mitteilen.

»Es wird doch nötig sein, es ihm zu sagen«, wurde bei der Suite geäußert. »Aber, meine Herren …«

Die Lage war um so schwieriger, da der Kaiser, während er über seine großmütigen Absichten nachdachte, geduldig vor dem Stadtplan auf und ab ging und zuweilen unter der vorgehaltenen Hand hervor den nach Moskau führenden Weg überschaute und heiter und stolz lächelte.

»Nein, es ist doch unmöglich …«, hieß es unter Achselzucken wieder bei der Suite; aber niemand wagte, das furchtbare Wort, das allen vorschwebte, auszusprechen: le ridicule.

Inzwischen war der Kaiser von dem vergeblichen Warten müde geworden, fühlte auch mit seinem Instinkt als Schauspieler, daß der erhabene Augenblick, da er sich zu sehr in die Länge zog, viel von seiner Erhabenheit zu verlieren begann; daher gab er ein Zeichen mit der Hand. Ein einzelner Schuß der Signalkanone erscholl, und die Truppen, die Moskau von verschiedenen Seiten umgaben, rückten durch das Twersche, das Kalugasche und das Dorogomilowskaja-Tor in die Stadt ein. Schneller und schneller, eines das andere überholend, im Laufschritt und im Trab, bewegten sich die Regimenter vorwärts, verschwanden in den Wolken des von ihnen aufgerührten Staubes und erfüllten die Luft mit dem verworrenen Getöse ihres Geschreis.

Mitgerissen von der Bewegung der Truppen ritt Napoleon mit ihnen bis zum Dorogomilowskaja-Tor; aber dort hielt er wieder an, stieg vom Pferd und ging, auf die Deputation wartend, lange am Kamerkolleschski-Wall auf und ab.

XX


Moskau aber war öde. Es waren noch Menschen in der Stadt, da ungefähr der fünfzigste Teil aller früheren Einwohner zurückgeblieben war; aber die Stadt war öde. Sie war öde wie ein absterbender, weisellos gewordener Bienenstock.

In einem weisellos gewordenen Bienenstock ist kein Leben mehr, obwohl er bei oberflächlicher Betrachtung ebenso lebendig erscheint wie andere. Ebenso munter tummeln sich in den heißen Strahlen der Mittagssonne Bienen um den weisellosen Stock wie um die andern, lebendigen Stöcke; ebenso riecht er von weitem nach Honig; ebenso kommen aus ihm Bienen herausgeflogen. Aber man braucht nur aufmerksamer darauf zu achten, so merkt man, daß in diesem Stock kein Leben mehr ist. Die Bienen fliegen anders als bei den lebendigen Stöcken, und ein anderer Geruch und ein anderes Geräusch treten dem Imker entgegen. Wenn der Imker an die Wand des kranken Korbes klopft, so vernimmt er nicht die frühere sofortige, gemeinsame Antwort, den zischenden Ton vieler Tausende von Bienen, die drohend den Hinterleib erheben und mit schnellen Flügelschlägen diesen frischen, lebensvollen Laut hervorbringen; sondern es antwortet ihm nur ein vereinzeltes Summen, das dumpf an verschiedenen Stellen des öde gewordenen Korbes erschallt. Aus dem Flugloch strömt nicht wie früher der aromatische Geruch des Honigs und des Giftes, auch nicht die Wärme, die durch das Vollsein erzeugt wird; sondern mit dem Geruch des Honigs vereinigt sich ein Geruch nach Leere und Fäulnis. Bei dem Flugloch sind nicht mehr jene Wachen zu finden, die zur Verteidigung des Stockes ihr Leben hinzugeben bereit waren, den Hinterleib in die Höhe hoben und Alarm gaben. Es fehlt jener gleichmäßige, leise Ton, das Geräusch der Arbeit, das wie das Brodeln siedenden Wassers klingt, und man hört nur unharmonische, vereinzelte Töne, Zeichen der Unordnung. In den Stock fliegen mit scheuer Gewandtheit schwarze, längliche Raubbienen hinein und kommen mit Honig bedeckt wieder heraus; sie stechen nicht, sondern entfliehen vor Gefahren. Früher flogen Bienen nur mit Trachten herein und leer hinaus; jetzt kommen sie mit Trachten herausgeflogen. Der Imker öffnet die untere Klappe und sieht in den unteren Teil des Korbes hinein. Statt der früheren bis auf den Boden herabhängenden, schwarzen, friedlich arbeitenden Ketten kräftiger Bienen, die einander bei den Füßen hielten und unter dem ununterbrochenen Geräusch der Arbeit das Wachs ausreckten, irren einige verschrumpfte Bienen nach verschiedenen Richtungen schläfrig und zwecklos am Boden und an den Wänden des Stockes umher. Während sonst der Fußboden sauber mit Leim überzogen und durch Wehen mit den Flügeln ausgefegt war, liegen jetzt dort Wachsbröckchen, Exkremente von Bienen, sowie halbtote, kaum noch die Beinchen bewegende Bienen, und ganz tote, die nicht weggeräumt sind.

Der Imker öffnet den oberen Deckel und sieht in den Kopf des Bienenstocks hinein. Von den dichten Scharen von Bienen, die sonst auf allen Höhlungen der Waben saßen und die Brut wärmten, ist nichts mehr zu sehen. Der kunstvolle, komplizierte Bau der Waben ist zwar noch vorhanden, aber nicht mehr in dem Zustand jungfräulicher Reinheit wie früher. Alles ist vernachlässigt und beschmutzt. Schwarze Raubbienen schlüpfen hurtig und verstohlen durch die Bauten; die im Stock einheimischen Bienen, die zusammengetrocknet, kürzer geworden, matt und gewissermaßen gealtert aussehen, wandern langsam umher, ohne einem Eindringling zu wehren und ohne mehr etwas zu begehren; sie haben sozusagen das Bewußtsein des Lebens verloren. Drohnen, Hornissen, Hummeln und Schmetterlinge stoßen einfältig im Flug gegen die Wände des Bienenstockes. Hier und da läßt sich zwischen den Waben mit toter Brut und Honig mitunter ein zorniges Brummen hören. An einer Stelle bemühen sich zwei Bienen aus alter Gewohnheit und Erinnerung, den gemeinsamen Wohnsitz, den Bienenstock, zu reinigen, indem sie, sich über ihre Kräfte anstrengend, eine tote Biene oder Hummel hinausschleppen, ohne selbst recht zu wissen, wozu sie das tun. In einer anderen Ecke kämpfen zwei alte Bienen lässig miteinander oder reinigen oder füttern sich gegenseitig, ohne sich darüber klar zu sein, ob sie einander feind oder freund sind. An einer dritten Stelle fällt ein dichtgedrängter Haufe von Bienen über irgendein Opfer her und schlägt und würgt es; und die ermattete oder getötete Biene fällt langsam und leicht wie eine Feder hinunter, oben auf den Haufen der schon daliegenden Leichen. Der Imker wendet zwei der mittleren Waben um, um das Nest zu sehen. Statt der früheren, dichten, schwarzen Massen von tausend und abertausend Bienen, die Rücken an Rücken saßen und das hohe Geheimnis der Arterhaltung hüteten, sieht er nur einige hundert kümmerliche, halbtote, in Lethargie versunkene, übriggebliebene Bienen. Die andern sind, ohne es selbst zu merken, gestorben, während sie auf dem Heiligtum saßen, das sie hüteten und das nun nicht mehr ist; ein Geruch nach Fäulnis und Tod geht von ihnen aus. Nur einige bewegen sich noch, richten sich auf, fliegen matt umher und setzen sich ihrem Feind auf die Hand, vermögen aber nicht mehr, ihn zu stechen und dadurch zu sterben; die übrigen, die toten, fallen wie Fischschuppen leicht hinunter. Der Imker schließt den Deckel, macht mit Kreide ein Zeichen an den Stock und wählt sich dann später eine Zeit, um ihn zu entleeren und auszubrennen.

So öde war Moskau, als Napoleon, müde, beunruhigt und finster, beim Kamerkolleschski-Wall auf und ab ging und auf die Erfüllung jener zwar nur äußerlichen, aber nach seinen Begriffen unerläßlichen Forderung des Anstandes wartete: auf die Entsendung einer Deputation.

Nur in einigen Straßen Moskaus setzten die Menschen, gedankenlos die alten Gewohnheiten beibehaltend, ihr bisheriges Treiben fort, ohne selbst zu verstehen, was sie taten.

Als man dem Kaiser mit der erforderlichen Vorsicht mitgeteilt hatte, daß Moskau von den Einwohnern verlassen sei, warf er demjenigen, der ihm diese Meldung erstattete, einen zornigen Blick zu, wandte sich ab und setzte schweigend seine Wanderung fort.

»Der Wagen soll vorfahren«, befahl er.

Er setzte sich mit dem diensttuenden Adjutanten hinein und fuhr in die Vorstadt. »Moskau von den Einwohnern verlassen! Welch ein außerhalb aller Berechnungen liegendes Ereignis!« sagte er zu sich selbst.

Er fuhr nicht in die Stadt, sondern ließ bei einer Herberge in der Dorogomilowskaja-Vorstadt halten.

Der Theatercoup war mißglückt.

XXI


Die russischen Truppen zogen von zwei Uhr nachts bis zwei Uhr mittags durch Moskau hindurch, und ihnen schlossen sich die letzten der wegfahrenden Einwohner und Verwundeten an.

Das schlimmste Gedränge bei diesem Marsch der Truppen fand bei der Kamenny-, der Moskworezki-und der Jauski-Brücke statt.

Während die Truppen, die sich um den Kreml herum in zwei Kolonnen gespalten hatten, sich auf der Moskworezki- und auf der Kamenny-Brücke drängten, machten sich sehr viele Soldaten den Aufenthalt und das Gewühl zunutze, kehrten von den Brücken um und schlüpften verstohlen und stillschweigend an der Wasili-Blaschenny-Kirche vorbei oder durch das Borowizkija-Tor zurück bergauf nach dem Roten Platz; denn ein gewisser Instinkt sagte ihnen, daß man sich dort ohne Mühe fremdes Gut aneignen könne. Die Menschenmenge, die den Basar in allen seinen Haupt- und Nebengängen erfüllte, war so groß, wie sie überall da zu sein pflegt, wo billige Waren zu haben sind. Aber es fehlten die heuchlerisch-freundlichen, lockenden Stimmen der Verkäufer, es fehlten die umherwandernden Händler und der bunte Schwarm kauflustiger Weiber; man sah nur die Uniformen und Mäntel von Soldaten, die ohne Gewehre schweigsam teils mit Lasten von den Ladenreihen fortgingen, teils ohne Lasten sich dorthin begaben. Die Kaufleute und Ladendiener, deren nur sehr wenige da waren, bewegten sich verstört zwischen den Soldaten, öffneten und schlossen ihre Läden und brachten selbst mit Hilfe von Trägern ihre Waren irgendwohin weg. Auf dem Platz beim Basar standen Tambours und schlugen Appell. Aber der Ton der Trommel veranlaßte die plündernden Soldaten nicht wie früher, sich da zu sammeln, wohin er sie rief, sondern vielmehr weiter von der Trommel wegzulaufen. Zwischen den Soldaten konnte man in den Läden und Gängen Männer bemerken, die an ihren grauen Röcken und rasierten Köpfen als Sträflinge kenntlich waren. Zwei Offiziere, von denen der eine eine Schärpe über der Uniform trug und auf einem abgemagerten dunkelgrauen Pferd saß, der andere einen Mantel anhatte und zu Fuß war, standen an der Ecke der Iljinka-Straße und redeten miteinander. Ein dritter Offizier kam zu ihnen herangesprengt.

»Der General hat befohlen, die Soldaten sofort unter allen Umständen sämtlich von den Läden fortzutreiben. Dieses Benehmen ist ja unerhört! Die Hälfte der Leute ist von der Truppe weggelaufen!«

»Wohin willst du da …? Wo wollt ihr da hin?« schrie er drei Infanteristen an, die ohne Gewehre, die Mantelschöße ein wenig anhebend, nach den Läden zu an ihm vorbeischlüpfen wollten. »Halt, ihr Kanaillen!«

»Ja, versuchen Sie nur, die zusammenzubekommen!« erwiderte einer der beiden andern Offiziere. »Die kriegt man nicht zusammen. Wir müßten schneller marschieren, damit uns die letzten nicht davongehen; das ist das einzige Mittel!«

»Wie sollen wir schneller marschieren? Wir haben dort haltmachen müssen; auf der Brücke ist ein furchtbares Gedränge; man kommt nicht vom Fleck. Oder sollen wir eine Postenkette aufstellen, damit die letzten nicht davonlaufen?«

»Gehen Sie doch einmal hin und jagen Sie sie hinaus!« rief der höchste der Offiziere.

Der Offizier mit der Schärpe stieg vom Pferd, rief einen Tambour heran und ging mit ihm zusammen unter die Arkaden. Ein Haufe Soldaten machte schleunigst, daß er davonkam. Ein Kaufmann mit roten Pusteln auf den Backen neben der Nase und mit einem ruhigen, festen, berechnenden Gesichtsausdruck, trat eilig und in gezierter Manier unter lebhaften Gestikulationen auf den Offizier zu.

»Euer Wohlgeboren«, sagte er, »haben Sie die Gewogenheit und beschützen Sie uns. Auf eine Kleinigkeit soll es uns nicht ankommen; mit dem größten Vergnügen; wenn es Ihnen beliebt, bringe ich sofort, sagen wir, zwei Stücke Tuch heraus, Tuch für einen vornehmen Herrn; mit dem größten Vergnügen; denn wir sehen das ja ein. Aber dies hier, was stellt das vor? Das ist ja der reine Raub! Bitte, haben Sie die Güte! Wenn Sie eine Wache hinstellen wollten, damit man wenigstens die Möglichkeit hätte, den Laden zuzumachen.«

Es drängten sich noch ein paar andere Kaufleute um den Offizier herum.

»Ach was! Unnützes Gebelfer!« sagte einer von ihnen, ein hagerer Mann mit strengem Gesichtsausdruck. »Wem der Kopf abgeschnitten wird, der weint nicht um sein Haar. Mag doch jeder von der Ware nehmen, was ihm gefällt!« Er machte eine energische Handbewegung, als sei ihm das alles gleichgültig, und wendete sich um, so daß er dem Offizier die Seite zukehrte.

»Ja, du hast gut reden, Iwan Sidorowitsch!« sagte der erste Kaufmann ärgerlich. »Bitte, haben Sie die Güte, Euer Wohlgeboren!«

»Was redest du!« rief der Hagere. »Ich habe hier in drei Läden für hunderttausend Rubel Ware. Aber beschützen kann ich die ja doch nicht, da unser Heer abzieht. Ach, ihr Menschen, ihr Menschen! Gottes allmächtigen Willen werdet ihr mit euren schwachen Händen nicht hemmen!«

»Bitte, haben Sie die Güte, Euer Wohlgeboren«, sagte der erste Kaufmann mit einer tiefen Verbeugung.

Der Offizier stand zweifelnd, was er tun sollte, und auf seinem Gesicht malte sich seine Unschlüssigkeit.

»Ach, was geht mich das an!« rief er plötzlich und ging mit schnellen Schritten vorwärts durch die Ladenreihe hin.

Aus einem offenstehenden Laden war Schlägerei und Schimpfen zu hören, und als der Offizier sich ihm näherte, wurde gerade ein Mann in grauem Kittel und mit rasiertem Kopf aus der Tür hinausgeworfen.

Dieser Mensch schlüpfte in gebückter Haltung an den Kaufleuten und dem Offizier vorbei. Der Offizier fuhr die Soldaten an, die sich in dem Laden befanden. Aber in diesem Augenblick erscholl ein furchtbares Geschrei vieler Menschen von der Moskworezki-Brücke her und der Offizier lief auf den Platz.

»Was gibt es? Was gibt es?« fragte er; aber der eine seiner Kameraden sprengte schon in der Richtung nach dem Geschrei davon, an der Wasili-Blaschenny-Kirche vorbei.

Der Offizier stieg zu Pferd und ritt ihm nach. Als er zur Brücke kam, sah er zwei abgeprotzte Kanonen dastehen, Infanterie, die über die Brücke marschierte, einige umgeworfene Bauernwagen, erschrockene Gesichter von Einwohnern und lachende Soldatengesichter. Neben den Kanonen stand ein zweispänniges Fuhrwerk. Hinter den Hinterrädern dieses Fuhrwerkes drängten sich vier Windhunde mit Halsbändern zusammen. Auf dem Fuhrwerk lag ein ganzer Berg von Sachen, und ganz obendrauf, neben einem Kinderstühlchen, das die Beine nach oben streckte, saß eine Frau, die ein durchdringendes, verzweifeltes Jammergeschrei ausstieß. Die Kameraden erzählten dem Offizier, weshalb die Menge so gekreischt habe und das Weib so jammere. General Jermolow sei angeritten gekommen, habe gesehen, daß die Brücke durch Haufen von Einwohnern versperrt sei, und erfahren, daß infolgedessen die Soldaten sich in den Läden zerstreuten; da habe er befohlen, ein paar Geschütze abzuprotzen, als ob er auf die Brücke schießen lassen wolle. Die Menge habe, einander halbtot drückend, unter entsetzlichem Geschrei und Gedränge die Brücke geräumt, so daß die Truppen nun hinübermarschieren könnten.

XXII


Die Stadt selbst war unterdessen öde geworden. Auf den Straßen war kaum noch ein Mensch zu sehen. Die Haustore und Kaufläden waren sämtlich geschlossen; an einzelnen Stellen, wo sich Schenken befanden, ertönte vereinzeltes Schreien oder Gesang von Betrunkenen. Niemand fuhr auf den Straßen, und nur selten hörte man die Schritte von Fußgängern. In der Powarskaja-Straße war es völlig still und einsam. Auf dem großen Hof des Rostowschen Hauses lagen Heuüberbleibsel und Mist von den weggefahrenen Gespannen, und keine Menschenseele war zu sehen. Im Innern des Hauses, in welchem fast die ganze bewegliche Habe der Familie Rostow zurückgeblieben war, befanden sich zwei Menschen im großen Salon. Dies waren der Hausknecht Ignati und der Laufbursche Mischka, Wasiljewitschs Enkel, den man bei seinem Großvater in Moskau gelassen hatte. Mischka hatte das Klavier geöffnet und spielte auf diesem mit einem Finger. Der Hausknecht stand, die Arme in die Seiten stemmend und vergnügt lächelnd, vor dem großen Spiegel.

»Das kann ich mal fein! Nicht wahr, Onkelchen Ignati?« sagte der Junge und begann auf einmal mit beiden Händen auf die Tasten zu schlagen.

»Ja, du bist ein Tausendsassa!« antwortete Ignati und wunderte sich gleichzeitig darüber, wie sein Gesicht im Spiegel immer mehr und mehr lächelte.

»So eine unverschämte Bande! Das muß ich sagen, so eine unverschämte Bande!« rief hinter ihnen eine Stimme; Mawra Kusminitschna war leise in den Salon getreten. »Steht so ein dickmäuliger Kerl da und fletscht die Zähne! Dazu seid ihr auch gerade da! Noch nirgends ist aufgeräumt, und Wasiljewitsch kann sich vor Müdigkeit kaum mehr auf den Beinen halten. Na wartet!«

Ignati hörte auf zu lächeln, schob seinen Gürtel zurecht und ging mit niedergeschlagenen Augen gehorsam aus dem Zimmer.

»Tantchen, ich werde nur ganz leise …«, sagte der Junge.

»Ich werde es dir geben mit ›nur ganz leise‹, du Galgenstrick!« rief Mawra Kusminitschna und holte nach ihm mit der Hand aus. »Geh und mach für deinen Großvater den Samowar zurecht.«

Mawra Kusminitschna wischte den Staub ab, machte das Klavier zu, verließ mit einem schweren Seufzer das Zimmer und schloß die Tür zu.

Als sie auf den Hof hinauskam, überlegte sie, wohin sie jetzt gehen sollte: ob zu Wasiljewitsch in das Nebengebäude, um Tee zu trinken, oder in die Vorratsräume, um dort die Sachen der Herrschaft in Ordnung zu stellen.

Auf der stillen Straße ließen sich rasche Schritte hören. Die Schritte hielten am Pförtchen beim Torweg an; die Klinke klapperte unter einer Hand, die das Pförtchen zu öffnen versuchte.

Mawra Kusminitschna ging zu dem Pförtchen hin.

»Zu wem wünschen Sie?«

»Zu dem Grafen; zum Grafen Ilja Andrejewitsch Rostow.«

»Wer sind Sie denn?«

»Ich bin Offizier. Ich möchte gern den Grafen sprechen«, sagte eine angenehme, russische Stimme, die offenbar einem Herrn aus gutem Stand angehörte.

Mawra Kusminitschna öffnete das Pförtchen. Auf den Hof trat ein etwa achtzehnjähriger Offizier mit einem runden Gesicht, dessen ganzer Schnitt mit dem Rostowschen eine große Ähnlichkeit aufwies.

»Sie sind abgereist, lieber Herr! Gestern nachmittag sind sie abgereist«, sagte Mawra Kusminitschna freundlich.

Der junge Mann, der im Pförtchen stand, schnalzte mit der Zunge, anscheinend unentschlossen, ob er eintreten sollte oder nicht.

»Ach, wie ärgerlich!« sagte er. »Wäre ich doch gestern … Ach, wie schade!«

Unterdessen betrachtete Mawra Kusminitschna aufmerksam und teilnahmsvoll in dem Gesicht des jungen Mannes die ihr wohlbekannten Züge des Rostowschen Geschlechts sowie den zerrissenen Mantel und die schiefgetretenen Stiefel, die er trug.

»Was wünschten Sie denn von dem Grafen?« fragte sie.

»Ja nun … was ist zu machen?« sagte der junge Mann mißmutig und griff nach dem Pförtchen, als beabsichtige er wieder wegzugehen.

Aber er blieb wieder unschlüssig stehen.

»Sehen Sie mal«, sagte er plötzlich, »ich bin ein Verwandter des Grafen, und er ist immer sehr gut gegen mich gewesen. Jetzt nun, wie Sie wohl sehen« (er warf mit einem gutmütigen, fröhlichen Lächeln einen Blick auf seinen Mantel und auf seine Stiefel), »bin ich ganz abgerissen, und Geld habe ich auch keines; da wollte ich den Grafen bitten …«

Mawra Kusminitschna ließ ihn nicht ausreden.

»Bitte, warten Sie ein Augenblickchen, lieber Herr; nur ein kurzes Augenblickchen!« sagte sie.

Und als der Offizier wieder die Hand von dem Pförtchen wegnahm, wandte Mawra Kusminitschna sich um und ging, so schnell sie mit ihren alten Beinen konnte, nach dem hinteren Teil des Hofes, wo sie im Nebengebäude wohnte.

Während Mawra Kusminitschna nach ihrem Zimmer lief, ging der Offizier mit gesenktem Kopf auf dem Hof auf und ab und betrachtete, leise lächelnd, seine zerrissenen Stiefel. »Wie schade, daß ich den Onkel nicht getroffen habe! Aber eine prächtige alte Frau ist das! Wo sie wohl hingelaufen sein mag? Und wie könnte ich wohl erfahren, durch welche Straßen ich auf dem nächsten Weg mein Regiment einholen kann, das jetzt wahrscheinlich schon nach der Rogoschskaja-Straße gelangt ist?« dachte unterdessen der junge Offizier. Da kam Mawra Kusminitschna mit schüchterner, aber zugleich entschlossener Miene um die Ecke herum wieder auf den Hof; in der Hand trug sie ein zusammengefaltetes kariertes Tüchelchen. Sie war noch ein paar Schritte von dem Offizier entfernt, da schlug sie das Tuch auseinander, holte eine weiße Fünfundzwanzigrubelnote daraus hervor und reichte sie eilig dem Offizier hin.

»Wenn Seine Erlaucht der Graf zu Hause wäre, so hätte er sicherlich als Verwandter … Aber vielleicht darf ich jetzt …«

Mawra Kusminitschna wurde verlegen und stockte. Aber der Offizier nahm ohne Ziererei und ohne Hast die Banknote hin und bedankte sich bei Mawra Kusminitschna.

»Wenn der Graf zu Hause wäre …«, sagte diese noch einmal, immer in einem Ton, als ob sie um Entschuldigung bäte. »Christus sei mit Ihnen, lieber Herr! Gott behüte Sie!« Sie verbeugte sich und begleitete ihn bis zum Pförtchen.

Der Offizier eilte lächelnd und den Kopf schüttelnd, wie wenn er über sich selbst lachte, fast im Trab die leeren Straßen hinunter, um sein Regiment bei der Jauski-Brücke einzuholen.

Mawra Kusminitschna aber stand noch lange mit feuchten Augen an dem geschlossenen Pförtchen, wiegte nachdenklich den Kopf hin und her, und ein warmes Gefühl mütterlicher Zärtlichkeit und Teilnahme für den ihr unbekannten jungen Offizier erfüllte ihr Herz.

XXIII


Aus einem noch nicht fertiggebauten Haus der Warwarka-Straße, in dessen Erdgeschoß sich eine Schenke befand, erscholl Geschrei und Gesang Betrunkener. In einem kleinen, schmutzigen Zimmer saßen auf Bänken um Tische herum etwa zehn Fabrikarbeiter. Sie waren sämtlich betrunken und von Schweiß bedeckt, hatten trübe Augen und sangen aus voller Kehle und mit weitgeöffnetem Mund ein Lied. Sie sangen unharmonisch, ohne daß sich einer um den andern kümmerte, mit Mühe und Anstrengung, augenscheinlich nicht etwa, weil sie große Lust zum Sinken gehabt hätten, sondern nur um zu zeigen, daß sie bummelten und betrunken waren. Einer von ihnen, ein großer, blonder Bursche in einem saubern, langen, blauen Rock, stand neben den Sitzenden. Sein Gesicht mit der feinen, geraden Nase wäre schön gewesen, wenn er nicht diese schmalen, eingezogenen, sich unaufhörlich bewegenden Lippen und diese trüben, finsteren, starren Augen gehabt hätte. Er stand neben den Sängern und schwenkte, offenbar sich irgend etwas Besonderes dabei denkend, seinen rechten bis an den Ellbogen durch Aufstreifen des Ärmeln nackten, weißen Arm feierlich und linkisch hin und her, wobei er die schmutzigen Finger in unnatürlicher Manier auseinanderspreizte. Der Ärmel an diesem Arm rutschte fortwährend herunter, und der Bursche streifte ihn dann mit der linken Hand sorgsam wieder auf, als ob es eine besondere Wichtigkeit habe, daß dieser weiße, von Adern überzogene, umhergeschwenkte Arm unbedingt nackt sei. Mitten während des Singens erschollen im Flur und auf der Freitreppe heftige Scheltworte und Schläge. Der lange Bursche machte eine energische Bewegung mit dem Arm.

»Aufhören!« schrie er befehlend. »Da ist Schlägerei, Kinder!« Und indem er fortwährend seinen Ärmel aufstreifte, ging er auf die Freitreppe hinaus.

Die Fabrikarbeiter folgten ihm. Diese Leute, die an diesem Vormittag unter der Führung des langen Burschen in der Schenke tranken, hatten dem Schankwirt Leder aus der Fabrik gebracht, und dafür war ihnen Branntwein gegeben worden. Die Gesellen aus den benachbarten Schmieden hatten den fröhlichen Lärm gehört und geglaubt, die Schenke werde gewaltsam geplündert; daher wollten sie nun ebenfalls in das Lokal eindringen. Auf der Freitreppe war es zur Schlägerei gekommen.

Der Schankwirt prügelte sich in der Tür mit einem Schmied, und in dem Augenblick, als die Fabrikarbeiter herauskamen, riß sich der Schmied von dem Schankwirt los und fiel dabei mit dem Gesicht auf das Pflaster.

Ein andrer Schmied, der in die Tür eindringen wollte, warf sich mit der Brust gegen den Schankwirt.

Der Bursche mit dem aufgestreiften Ärmel schlug im Gehen dem Schmied, der sich in die Tür drängte, ins Gesicht und schrie wild.

»Kinder! Sie schlagen die Unsrigen!«

In diesem Augenblick erhob sich der erste Schmied von der Erde, strich mit den Fingern durch das Blut auf seinem zerschlagenen Gesicht und schrie mit weinerlicher Stimme:

»Hilfe! Mörder …! Sie schlagen einen Menschen tot! Brüder, helft!«

»Ach herrje, herrje, einen Menschen haben sie totgeschlagen!« kreischte ein Weib, das aus dem Tor des Nachbarhauses herauskam. Ein Haufe Menschen sammelte sich um den blutigen Schmied.

»Hast du noch nicht genug daran, die Leute beraubt und ihnen das Hemd vom Leib genommen zu haben«, sagte jemand, zu dem Schankwirt gewendet, »daß du auch noch einen Menschen totschlägst? Du Mörder!«

Der lange Bursche stand auf der Freitreppe und richtete seine trüben Augen bald nach dem Schankwirt, bald nach den Schmieden hin, wie wenn er überlegte, mit wem er sich jetzt schlagen solle.

»Du Mörder!« schrie er auf einmal den Schankwirt an. »Bindet ihn, Kinder!«

»Na ja, du wirst mich binden lassen! Einen Kerl wie mich!« schrie der Schankwirt und wehrte die auf ihn Eindringenden ab. Dann riß er sich die Mütze vom Kopf und warf sie auf die Erde. Und wie wenn diese Handlung irgendeine geheime, drohende Bedeutung hätte, blieben die Fabrikarbeiter, die den Schankwirt umringten, unschlüssig stehen.

»Ich weiß recht gut, was Vorschrift ist, lieber Freund! Ich gehe zur Polizei. Denkst du, ich gehe nicht hin? Mit Gewalt über andere Menschen herzufallen, das ist heutzutage niemandem erlaubt!« rief der Schankwirt und hob seine Mütze auf.

»Wollen hingehen, gut! Wollen hingehen, gut!« riefen einander der lange Bursche und der Schankwirt abwechselnd zu, und beide gingen zusammen die Straße entlang.

Der mit Blut befleckte Schmied ging neben ihnen her. Die Fabrikarbeiter und allerlei unbeteiligtes Volk folgte ihnen redend und schreiend.

An der Ecke der Maroseika-Straße, bei einem großen Haus, dessen Fensterläden geschlossen waren und an dem das Aushängeschild eines Schuhmachermeisters angebracht war, standen etwa zwanzig Schuhmacher, magere, kraftlose Gestalten, mit niedergeschlagenem Gesichtsausdruck, in langen Kitteln oder zerrissenen Röcken.

»Er soll dem Volk Löhnung zahlen, wie es sich gehört!« sagte ein magerer Geselle mit dünnem Bart und finster zusammengezogenen Brauen. »Aber er hat uns das Blut ausgesogen, und damit soll nun die Sache abgetan sein. An der Nase hat er uns herumgeführt, uns zum besten gehalten, eine ganze Woche lang. Und jetzt, nachdem er uns in die größte Not gebracht hat, hat er selbst sich davongemacht.«

Als der redende Geselle den Volkshaufen und den blutbefleckten Mann sah, brach er ab, und alle Schuhmacher schlossen sich eilig und neugierig dem dahinziehenden Schwarm an.

»Wohin gehen denn die Leute?«

»Das ist doch klar; zur Obrigkeit gehen sie.«

»Haben denn die Unsrigen wirklich nicht gesiegt?«

»Was denkst du dir bloß! Hör nur, was die Leute sagen.«

Es folgten Fragen und Antworten. Der Schankwirt benutzte das Anwachsen des Menschenhaufens, löste sich von der Menge und kehrte nach seiner Schenke zurück.

Der lange Bursche bemerkte das Verschwinden seines Feindes, des Schankwirts, gar nicht; mit dem nackten Arm gestikulierend, hörte er nicht auf zu reden und lenkte dadurch die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Er war es, um den sich die Menge ganz besonders herumdrängte, in der Hoffnung, von ihm eine Aufklärung der sie beunruhigenden Zweifel zu erhalten.

»Der wird uns zeigen, was Vorschrift ist und was Gesetz ist! Dazu ist die Obrigkeit eingesetzt. Habe ich nicht recht, rechtgläubige Brüder?« sagte der lange Bursche mit leisem Lächeln. »Er denkt wohl, es ist keine Obrigkeit mehr da? Ohne Obrigkeit geht es nicht. Da würden viele zu rauben anfangen.«

In der Menge redeten die Leute bunt durcheinander: »Wozu spricht der von solcher Lappalie …! Wie ist es? Also wird Moskau wirklich aufgegeben werden …! Ach, das haben sie dir aus Spaß gesagt, und du hast es geglaubt. Unsere Truppen, die herkommen, sind eine gewaltige Menge. Darum haben sie den Feind bis hierher gelassen … Dazu ist die Obrigkeit da … Hört nur, was das Volk sagt!« Bei diesen letzten Worten wies man auf den langen Burschen hin.

An der Mauer von Kitaigorod, der Innenstadt, umgab ein anderer, kleinerer Trupp Menschen einen Mann, der einen Friesmantel trug und ein Blatt Papier in der Hand hielt.

»Ein Erlaß! Ein Erlaß wird vorgelesen! Ein Erlaß wird vorgelesen!« wurde bei dem großen Schwarm gerufen, und das Volk strömte zum Vorleser hin.

Der Mann im Friesmantel las ein Flugblatt vom 31. August vor. Als die Menge ihn umringte, schien er verlegen zu werden; aber auf die Forderung des langen Burschen hin, der sich bis zu ihm durchgedrängt hatte, begann er, mit einem leichten Zittern in der Stimme, das Flugblatt noch einmal von Anfang an vorzulesen.

»Ich werde morgen früh zu dem durchlauchtigen Fürsten fahren«, las er (»zu dem Durchlauchtigen!« wiederholte der lange Bursche feierlich, wobei sein Mund lächelte, während die Brauen sich zusammenzogen), »um mich mit ihm zu besprechen, mit ihm gemeinsam zu handeln und unsere Truppen bei der Vernichtung der schändlichen Feinde zu unterstützen; auch wir werden uns dabei beteiligen, ihnen die Jacke …«, fuhr der Vorleser fort und hielt einen Augenblick inne (»Habt ihr es gehört?« rief der Bursche triumphierend. »Der wird ihnen schon ihren Lohn geben …«), »die Jacke vollzuhauen und diese ungebetenen Gäste zum Teufel zu schicken. Ich werde um Mittag zurückkommen, und dann wollen wir ans Werk gehen; wir werden uns dranmachen, es den Bösewichtern gehörig besorgen und die Sache ein für allemal erledigen.«

Diese letzten Worte wurden von dem Vorleser unter vollständigem Stillschweigen gelesen. Der lange Bursche ließ traurig den Kopf hängen. Es war klar, daß diese letzten Worte bei niemand Anklang fanden. Namentlich die Worte: »Ich werde um Mittag zurückkommen«, erregten offenbar sogar ein starkes Mißvergnügen bei dem Vorleser und bei den Zuhörern. Das Denken des Volkes war auf einen hohen Ton gestimmt; dies aber war doch gar zu einfach und mit einer unangebrachten Verständlichkeit gesagt; das war von der Art, wie es ein jeder von ihnen auch hätte sagen können; so durfte mithin nicht ein Erlaß reden, der von der höchsten Obrigkeit ausging.

Alle standen in gedrücktem Schweigen da. Der lange Bursche arbeitete mit den Lippen und wiegte sich hin und her.

»Sollen wir den fragen …? Ist er das selbst …? Ja, der wird auch gerade auf unsere Bitte hören …! Was ist dabei …? Er wird es uns schon sagen …«, hörte man auf einmal in den hintersten Reihen der Volksmenge reden, und die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich dem Wagen des Polizeimeisters zu, der, von zwei Dragonern zu Pferd eskortiert, auf den Platz gefahren kam.

Der Polizeimeister war an diesem Morgen auf Befehl des Grafen ausgefahren, um die Barken auf der Moskwa in Brand zu stecken, und hatte anläßlich dieses Auftrages von den Eigentümern eine große Summe Geldes eingeheimst, die sich augenblicklich in seiner Tasche befand; als er den Volkshaufen sah, der sich auf ihn zu bewegte, ließ er den Kutscher anhalten.

»Was ist das für eine Zusammenrottung?« schrie er die vordersten an, die sich einzeln und schüchtern seinem Wagen näherten.

»Was ist das für eine Zusammenrottung? frage ich euch«, wiederholte der Polizeimeister, da er keine Antwort erhalten hatte.

»Diese Leute, Euer Wohlgeboren«, sagte der Kanzlist im Friesmantel, »diese Leute, Euer Wohlgeboren, wünschten gemäß der Aufforderung Seiner Erlaucht des Grafen dem Vaterland zu dienen, ohne ihr Leben zu schonen; es ist keineswegs ein Aufruhr, wie ihn Seine Erlaucht der Graf verboten hat …«

»Der Graf ist nicht weggefahren, er ist hier; und was euch betrifft, so werden die nötigen Anordnungen getroffen werden«, sagte der Polizeimeister. »Fahr zu!« sagte er zum Kutscher.

Die Menge blieb stehen, drängte sich um diejenigen, die die Worte des Polizeimeisters gehört hatten, und blickte dem davonfahrenden Wagen nach.

Der Polizeimeister sah sich in diesem Augenblick ängstlich um, sagte seinem Kutscher etwas, und die Pferde griffen noch schneller aus.

»Wir sind betrogen, Kinder! Er soll uns zum Grafen selbst hinführen!« rief der lange Bursche.

»Laßt ihn nicht weg, Kinder! Der Graf soll uns Rechenschaft geben! Haltet ihn auf!« riefen viele Stimmen, und das Volk rannte dem Wagen nach.

Die Menge gelangte hinter dem Polizeimeister her mit lärmendem Gerede nach der Lubjanka-Straße.

»Na ja, die vornehmen Herren und die Kaufleute sind weggefahren, und wir müssen dafür zugrunde gehen. Sind wir denn Hunde? Wie?« Dergleichen wurde immer häufiger in der Menge gerufen.

XXIV


Am Abend des 1. September kehrte Graf Rastoptschin nach seinem Zusammensein mit Kutusow nicht in der besten Stimmung nach Moskau zurück. Er fühlte sich gekränkt und beleidigt, weil er keine Einladung zum Kriegsrat erhalten hatte und weil Kutusow sein Anerbieten, sich an der Verteidigung der Hauptstadt zu beteiligen, gar keiner Beachtung gewürdigt hatte; auch war er erstaunt über die neue Anschauung, die ihm im Lager entgegengetreten war, wonach die Frage nach der Ruhe in der Hauptstadt und der patriotischen Gesinnung ihrer Einwohner nicht etwa nur als eine sekundäre, sondern als eine völlig gleichgültige und unerhebliche betrachtet wurde. In dieser Stimmung also kehrte Graf Rastoptschin nach Moskau zurück. Nachdem er zu Abend gegessen hatte, legte er sich unausgekleidet auf das Sofa und wurde nach Mitternacht durch einen Kurier geweckt, der ihm einen Brief von Kutusow überbrachte. Kutusow schrieb darin, da die Truppen sich hinter Moskau auf die Rjasansche Straße zurückzögen, so möchte der Graf einige Polizeibeamte abschicken, um die Truppen durch die Stadt hindurchzuführen. Diese Nachricht war für Rastoptschin keine Neuigkeit. Nicht erst seit der Begegnung mit Kutusow am vorhergehenden Tag auf dem Poklonnaja-Berg, sondern schon seit der Zeit unmittelbar nach der Schlacht bei Borodino, als alle Generale, die nach Moskau kamen, einstimmig sagten, es sei unmöglich, eine Schlacht zu liefern, und als auf seine, des Grafen Anordnung schon allnächtlich fiskalisches Eigentum weggeschafft wurde und die Hälfte der Einwohner wegzog, schon seitdem hatte Graf Rastoptschin gewußt, daß Moskau preisgegeben werden würde; aber nichtsdestoweniger überraschte und kränkte es den Grafen, daß ihm diese Nachricht in Form eines einfachen Billetts, in Verbindung mit einem Befehl Kutusows mitgeteilt und ihm noch dazu bei Nacht, in der Zeit des ersten Schlafes, zugestellt wurde.

Als Graf Rastoptschin in der Folgezeit Aufklärungen über seine Tätigkeit während dieser Periode gab, hat er in seinen Memoiren an mehreren Stellen geschrieben, er habe damals zwei wichtige Ziele verfolgt: die Ruhe in Moskau aufrechtzuerhalten und die Einwohner zum Wegzug zu veranlassen. Läßt man diese zwiefache Absicht gelten, so erscheint jede einzelne Handlung Rastoptschins als tadelfrei. Warum wurden die Moskauer Heiligtümer, die Waffen, die Patronen, das Pulver, die Getreidevorräte nicht aus der Stadt geschafft? Warum wurden Tausende von Einwohnern durch die Vorspiegelung, Moskau werde dem Feind nicht überlassen werden, getäuscht und zugrunde gerichtet? Um die Ruhe in der Hauptstadt aufrechtzuerhalten, antwortet die Aufklärung des Grafen Rastoptschin. Warum wurden ganze Ballen wertloser Akten aus den Bureaus der Behörden und Leppichs Luftballon und andere Dinge wegtransportiert? Um die Stadt leer zurückzulassen, antwortet die Aufklärung des Grafen Rastoptschin. Man braucht nur als wahr anzunehmen, daß das ruhige Verhalten des Volkes irgendwie in Frage gestellt war, und jede Handlung des Grafen Rastoptschin wird gerechtfertigt erscheinen.

Alle Schreckenstaten seiner Gewaltherrschaft suchten ihre Begründung nur in seiner Sorge um das ruhige Verhalten des Volkes.

Aber worauf gründete sich die Furcht des Grafen Rastoptschin hinsichtlich des ruhigen Verhaltens des Volkes in Moskau im Jahre 1812? Welcher Grund lag vor, eine Neigung zu Aufruhr in der Stadt vorauszusetzen? Die meisten Einwohner waren weggezogen; die auf dem Rückzug befindlichen Truppen erfüllten Moskau. Wie war unter solchen Umständen zu erwarten, daß das Volk einen Aufruhr veranstalten werde?

Weder in Moskau noch überhaupt in ganz Rußland ist bei der Invasion des Feindes etwas vorgekommen, was mit Aufruhr irgendwelche Ähnlichkeit gehabt hätte. Am 1. und 2. September waren über zehntausend Menschen in Moskau zurückgeblieben; aber abgesehen von einem Volkshaufen, der sich auf dem Hof des Oberkommandierenden von Moskau versammelte und den er selbst durch sein Verfahren dorthin zu kommen veranlaßt hatte, tat sich das Volk nirgends zusammen. Offenbar wäre eine Aufregung beim Volk noch weniger zu erwarten gewesen, wenn nach der Schlacht bei Borodino, als die Preisgabe Moskaus bereits sicher oder wenigstens wahrscheinlich war, Graf Rastoptschin, statt das Volk durch Austeilung von Waffen und durch Flugblätter zu erregen, Maßregeln zur Wegschaffung aller Heiligtümer, des Pulvers, der Munition und der fiskalischen Gelder getroffen und dem Volk geradeheraus gesagt hätte, daß man die Stadt dem Feind überlassen werde.

Rastoptschin, ein phantastischer, sanguinischer Mensch, der sich immer in den höchsten Verwaltungskreisen bewegt hatte, besaß zwar patriotisches Empfinden, aber nicht das geringste Verständnis für das Volk, das er zu leiten beabsichtigte. Gleich von der Zeit an, als der Feind in Smolensk eingerückt war, hatte sich Rastoptschin in Gedanken die Rolle eines Leiters des nationalen Empfindens der Stadt Moskau, dieses »Herzens von Rußland«, zurechtgelegt. Er meinte nicht nur (wie das jeder höhere Verwaltungsbeamte meint), die äußeren Handlungen der Einwohner von Moskau zu leiten, sondern glaubte auch ihre Stimmung mittels seiner Aufrufe und Flugblätter lenken zu können, die in einer possenhaften Sprache geschrieben waren, welche das Volk im Mund seiner Standesgenossen geringachtet und für die es kein Verständnis hat, wenn es sie von Höherstehenden vernimmt. Die schöne Rolle eines Leiters des nationalen Empfindens gefiel dem Grafen Rastoptschin dermaßen, und er hatte sich so in sie hineingelebt, daß die Notwendigkeit, diese Rolle aufzugeben, die Notwendigkeit der Preisgabe Moskaus ohne jeden heroischen Effekt, ihn in Bestürzung versetzte und er plötzlich den Boden unter den Füßen verlor und schlechterdings nicht wußte, was er nun tun sollte. Obwohl er von der bevorstehenden Preisgabe Moskaus wußte, mochte er im Innersten seiner Seele bis zum letzten Augenblick nicht daran glauben und tat nichts nach dieser Richtung hin. Die Einwohner zogen gegen seinen Wunsch weg. Wenn die Behörden auswanderten, so geschah das nur auf Verlangen der Beamten, denen der Graf ungern nachgab. Er selbst interessierte sich lediglich für die Rolle, die er sich zurechtgemacht hatte. Wie das häufig bei Menschen vorkommt, die mit einer lebhaften Phantasie begabt sind, wußte er zwar schon längst, daß Moskau dem Feind werde überlassen werden, wußte es aber nur mit dem Verstand, ohne daß er imstande gewesen wäre, im Innersten seiner Seele daran zu glauben und sich mit der Phantasie in diese neue Lage hineinzuversetzen.

Seine ganze eifrige, energische Tätigkeit (inwieweit sie nützlich war und auf das Volk wirkte, ist eine andere Frage) war nur darauf gerichtet, bei den Einwohnern jenes Gefühl zu erwecken, das in ihm selbst lebendig war: einen patriotischen Haß gegen die Franzosen und Selbstvertrauen.

Aber als der Krieg seine wahren, geschichtlichen Dimensionen annahm, als es unzureichend war, seinen Franzosenhaß nur durch Worte auszudrücken, und unmöglich, es durch eine Schlacht zu tun, als das Selbstvertrauen sich gerade bei der Frage der Verteidigung Moskaus als nutzlos erwies, als die ganze Bevölkerung, wie ein Mann, ihre Habe im Stich ließ und aus Moskau hinausströmte und durch diese negative Handlung die ganze Kraft ihres nationalen Empfindens an den Tag legte: da wurde die Rolle, die sich Rastoptschin ausgesucht hatte, auf einmal sinnlos. Er hatte plötzlich das Gefühl, daß er allein dastehe, schwach und lächerlich sei und keinen Boden unter den Füßen habe …

Als er aus dem Schlaf aufgeweckt worden war und das in kühlem, befehlendem Ton abgefaßte Billett Kutusows erhalten hatte, geriet Rastoptschin in um so größere Entrüstung, je mehr er sich schuldig fühlte. In Moskau war alles zurückgeblieben, was gerade ihm anvertraut war, alles fiskalische Eigentum, das wegschaffen zu lassen seine Pflicht gewesen wäre. Alles jetzt noch wegzuschaffen, dazu war keine Möglichkeit.

»Wer ist nun schuld daran, wer hat es so weit kommen lassen?« fragte er sich. »Selbstverständlich ich nicht. Bei mir war alles bereit; ich hielt Moskau in fester Hand. Nun sieht man, wohin sie es gebracht haben! Die Schurken, die Verräter!« dachte er, ohne es sich so recht klarzumachen, wer denn diese Schurken und Verräter seien, aber in dem Gefühl, daß er diese Verräter, wer es auch immer sei, hassen müsse, die an der schiefen, lächerlichen Lage, in der er sich jetzt befand, die Schuld trügen.

Diese ganze Nacht über erteilte Rastoptschin Befehle, da man von allen Seiten Moskaus zu ihm kam, um solche von ihm einzuholen. Seine nähere Umgebung hatte den Grafen noch nie so finster und reizbar gesehen.

»Euer Erlaucht, es ist jemand aus dem Majoratsdepartement da; der Direktor läßt um Verhaltungsmaßregeln bitten … Aus dem Konsistorium, vom Senat, von der Universität, aus dem Findelhaus; der Vikar hat hergeschickt und läßt fragen … Wie befehlen Sie, daß es mit der Feuerwehr gehalten wird …? Der Gefängnisinspektor … Der Inspektor aus dem Irrenhaus …« Die ganze Nacht über wurde dem Grafen einer nach dem andern gemeldet.

Auf alle diese Anfragen gab der Graf kurze, ärgerliche Antworten, aus denen seine Auffassung der Lage ersichtlich war: daß es keinen Zweck mehr habe, jetzt noch Befehle zu erteilen, daß das ganze so sorgsam von ihm vorbereitete Werk nun von jemand zerstört sei, und daß dieser Jemand die ganze Verantwortung für alles werde zu tragen haben, was jetzt vorgehen werde.

»Na, sage diesem Tölpel«, antwortete er auf die Anfrage aus dem Majoratsdepartement, »er soll hierbleiben und seine Akten bewachen.«

»Na, was fragst du für Unsinn über die Feuerwehr? Wenn sie Pferde haben, mögen sie nach Wladimir fahren. Nichts den Franzosen dalassen.«

»Euer Erlaucht, der Inspektor aus dem Irrenhaus ist da; was befehlen Sie?«

»Was ich befehle? Das Personal mag sämtlich davongehen, weiter nichts … Und die Verrückten sollen sie in die Stadt freilassen. Wenn bei uns Verrückte Armeen kommandieren, so ist es Gottes Wille, daß auch diese frei seien.«

Auf die Frage wegen der Sträflinge, die im Gefängnis saßen, schrie der Graf den Inspektor zornig an:

»Was? Ich soll dir wohl zwei Bataillone zur Eskorte geben? Habe ich nicht! Laß sie raus, abgemacht!«

»Euer Erlaucht, es sind auch politische darunter: Mjeschkow, Wereschtschagin.«

»Wereschtschagin! Ist der noch nicht aufgehängt?« rief Rastoptschin. »Bring ihn zu mir her.«

XXV


Um neun Uhr vormittags, als die russischen Truppen schon durch Moskau hindurchzogen, kam niemand mehr, um Anordnungen des Grafen einzuholen. Wer wegziehen konnte, zog von selbst weg, und die Zurückbleibenden trafen selbst Entscheidung darüber, was sie tun sollten.

Der Graf hatte befohlen, seinen Wagen anzuspannen, um nach Sokolniki zu fahren, und saß nun finster und schweigsam, mit gelblichem Gesicht und mit zusammengelegten Händen in seinem Arbeitszimmer.

Jeder hohe Verwaltungsbeamte hat in ruhigen, nicht stürmischen Zeiten die Vorstellung, daß nur infolge seiner Anstrengungen sich die ganze ihm unterstellte Bevölkerung bewegt, und in diesem Gefühl seiner Unentbehrlichkeit findet jeder hohe Verwaltungsbeamte den hauptsächlichsten Lohn seiner Mühe und Arbeit. Es ist ja auch begreiflich, daß, solange das Meer der Weltgeschichte ruhig ist, der Verwaltungsbeamte, der von seinem schwachen Kahn aus sich mit einer Stange gegen das Schiff des Volkes stemmt und selbst sich mit Händen und Füßen bewegt, glauben muß, das Schiff, gegen das er sich stemmt, bewege sich infolge seiner Anstrengungen. Aber es braucht sich nur ein Sturm zu erheben, das Meer unruhig zu werden und das Schiff sich von selbst zu bewegen, so wird ein Verharren in diesem Irrtum unmöglich. Das Schiff geht unabhängig in mächtiger Fahrt vorwärts, die Stange reicht nicht mehr an das sich bewegende Schiff heran, und der hohe Beamte geht auf einmal aus seiner Stellung als Machthaber und als Quelle der Kraft in die eines nichtigen, unnützen, schwachen Menschen über.

Rastoptschin empfand dies, und das war es, was ihn so reizbar machte.

Der Polizeimeister, den die Volksmenge angehalten hatte, trat zu dem Grafen ins Zimmer, und mit ihm zugleich der Adjutant, welcher meldete, daß der Wagen bereitstehe. Beide sahen bleich aus. Nachdem der Polizeimeister über die Ausführung seines Auftrags Bericht erstattet hatte, teilte er dem Grafen mit, daß eine große Volksmenge, draußen auf dem Hof stehe und ihn zu sehen wünsche.

Rastoptschin stand, ohne ein Wort zu erwidern, auf, begab sich mit schnellen Schritten in seinen luxuriös ausgestatteten, hellen Salon, trat an die Balkontür und griff nach der Klinke; aber er ließ sie wieder los und ging an ein Fenster, von dem aus er die ganze Volksmenge besser sehen konnte. Der lange Bursche stand unter den vordersten und redete etwas mit ernster Miene und beständigen Gestikulationen. Der Schmied mit dem blutigen Gesicht stand in finsterer Haltung neben ihm. Durch die geschlossenen Fenster war das dumpfe Stimmengewirr zu hören.

»Ist der Wagen bereit?« fragte Rastoptschin, vom Fenster zurücktretend.

»Jawohl, Euer Erlaucht«, antwortete der Adjutant.

Rastoptschin trat wieder an die Balkontür.

»Aber was wollen sie denn eigentlich?« fragte er den Polizeimeister.

»Euer Erlaucht, sie sagen, sie hätten sich auf Ihren Befehl versammelt, um gegen die Franzosen zu ziehen, und dann schrien sie etwas von Verrat. Aber die Volksmenge ist gewalttätig, Euer Erlaucht. Ich bin nur mit Mühe von ihr losgekommen. Ich erlaube mir den Vorschlag, Euer Erlaucht …«

»Sie können gehen; ich weiß ohne Sie, was ich zu tun habe«, schrie Rastoptschin ärgerlich.

Er stand an der Balkontür und blickte auf die Menge hinunter. »Das haben sie nun aus Rußland gemacht! Das haben sie aus mir gemacht!« dachte er und fühlte, wie in seinem Herzen ein unbändiger Ingrimm gegen jemand aufstieg, dem die Schuld an allem Geschehenen beigemessen werden könnte. Wie das bei hitzigen Menschen oft vorkommt, hatte sich der Zorn seiner schon bemächtigt, während er immer noch nach einem Gegenstand für denselben suchte. »Da ist sie nun, diese Bande, die Hefe des Volkes«, dachte er, indem er auf die Volksmenge hinblickte, »der Pöbel, den sie durch ihre Dummheit aufgewiegelt haben. Dieser Pöbel braucht ein Opfer«, ging es ihm durch den Kopf, als er den gestikulierenden langen Burschen ansah. Und dieser Gedanke kam ihm deshalb in den Kopf, weil er selbst ein solches Opfer, einen Gegenstand für seinen Zorn, brauchte.

»Ist der Wagen bereit?« fragte er noch einmal.

»Jawohl, Euer Erlaucht. Was befehlen Sie in betreff Wereschtschagins? Er wartet an der Freitreppe«, antwortete der Adjutant.

»Ah!« rief Rastoptschin, wie von einem plötzlichen Einfall überrascht.

Schnell riß er die Tür auf und trat mit entschlossenen Schritten auf den Balkon hinaus. Die Gespräche verstummten sofort; die Mützen wurden abgenommen, und alle Augen richteten sich nach oben zu dem draußen stehenden Grafen.

»Guten Tag, Kinder!« sagte der Graf schnell und laut. »Ich danke euch, daß ihr gekommen seid. Ich werde sofort zu euch nach unten kommen; aber vor allen Dingen müssen wir mit einem Bösewicht fertigwerden. Wir müssen einen Bösewicht bestrafen, der schuld daran ist, daß Moskau zugrunde geht. Wartet einen Augenblick auf mich!«

Der Graf kehrte ebenso schnell wieder in sein Zimmer zurück und schlug die Tür kräftig hinter sich zu.

Durch die Menge lief ein beifälliges Gemurmel der Befriedigung. »Seht ihr wohl, er wird schon mit allen Bösewichtern fertigwerden! Und du sagtest, er wäre ein heimlicher Franzose … er wird ihnen schon ihren Lohn geben!« sagten die Leute, als wollten sie sich untereinander wegen ihres mangelnden Zutrauens Vorwürfe machen.

Einige Minuten darauf trat aus dem Hauptportal eilig ein Offizier heraus, gab den dort stehenden Dragonern einen Befehl, und diese nahmen zum Zeichen des Gehorsams eine stramme Haltung an. Die Menge strömte in Spannung vom Balkon zur Freitreppe hin. Rastoptschin trat mit schnellen Schritten und zorniger Miene aus dem Haus auf die Freitreppe hinaus und warf einen raschen Blick um sich, wie wenn er jemand suchte.

»Wo ist er?« fragte der Graf.

In demselben Augenblick, in dem er das sagte, sah er, wie um die Ecke des Hauses zwischen zwei Dragonern ein junger Mensch herumkam, mit langem, dünnem Hals und halb abrasiertem, halb von Haar bedecktem Kopf. Dieser junge Mann trug einen kurzen, mit blauem Tuch überzogenen Pelz von Fuchsfell, der ehemals elegant gewesen war, jetzt aber sehr abgenutzt aussah, und schmutzige Sträflingshosen von Hanfleinwand, die in ungeputzte, schiefgetretene, dünne Stiefel hineingesteckt waren. An den dünnen, schwachen Beinen hingen schwere Fußfesseln, die den unsicheren Gang des jungen Mannes noch mehr erschwerten.

»Ah!« machte Rastoptschin. Er wandte seinen Blick von dem jungen Mann im Fuchspelz schnell ab und sagte, indem er auf die unterste Stufe der Freitreppe wies: »Stellt ihn hierher!«

Der junge Mann trat, mit den Fußfesseln klirrend, schwerfällig auf die ihm angewiesene Stufe, drehte, indem er mit einem Finger den ihn kneifenden Kragen des Pelzes festhielt, den langen Hals zweimal hin und her und legte seufzend mit einer demütigen Gebärde seine schmalen, an körperliche Arbeit offenbar nicht gewöhnten Hände vor dem Leib zusammen.

Einige Sekunden, während deren der junge Mensch sich auf der Stufe zurechtstellte, vergingen unter Stillschweigen. Nur in den hinteren Reihen der nach einem Punkt hindrängenden Menge hörte man Räuspern, Stöhnen, Stoßen und das Geräusch hin und her tretender Füße.

Rastoptschin, der gewartet hatte, bis der junge Mensch auf dem angewiesenen Platz stand, zog finster die Brauen zusammen und rieb sich mit der Hand das Gesicht.

»Kinder!« sagte Rastoptschin mit metallisch klingender, volltönender Stimme, »dieser Mensch, Wereschtschagin, das ist der Schurke, durch den Moskau zugrunde geht.«

Der junge Mensch in dem kurzen Fuchspelz stand in demütiger Haltung da, die Hände vor dem Leib zusammengelegt, die ganze Gestalt ein wenig zusammengekrümmt. Sein abgemagertes, durch den rasierten Kopf entstelltes jugendliches Gesicht mit dem hoffnungslosen Ausdruck war zu Boden gesenkt. Bei den ersten Worten des Grafen hatte er langsam den Kopf erhoben und von unten nach dem Grafen hingeblickt, als wollte er ihm etwas sagen oder wenigstens seinen Blick auffangen. Aber Rastoptschin sah ihn nicht an. An dem langen, dünnen Hals des jungen Mannes schwoll die Ader hinter dem Ohr wie ein Strick an und färbte sich bläulich, und plötzlich wurde sein Gesicht rot.

Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Er blickte nach der Volksmenge hin, und wie wenn der Ausdruck, den er auf den Gesichtern der Leute wahrnahm, seine Hoffnung ein wenig belebt hätte, lächelte er traurig und schüchtern; dann ließ er den Kopf wieder sinken und stellte sich mit den Füßen auf der Stufe zurecht.

»Er hat seinen Zaren und sein Vaterland verraten, er hat sich diesem Bonaparte hingegeben, er allein unter allen Russen hat dem Namen eines Russen Schande gemacht, und durch seine Schuld geht Moskau zugrunde«, sagte Rastoptschin mit gleichmäßiger, scharfer Stimme; plötzlich aber sah er schnell auf Wereschtschagin hinunter, der immer noch in derselben demütigen Haltung dastand. Wie wenn dieser Anblick ihn in Empörung versetzt hätte, hob er den Arm in die Höhe und rief, zum Volk gewendet, fast schreiend:

»Vollstreckt selbst an ihm das Urteil! Ich übergebe ihn euch!«

Das Volk schwieg und drängte sich nur noch enger aneinander. So dicht einander zu berühren, diese verdorbene, stickige Luft zu atmen, sich nicht bewegen zu können und auf etwas Unbekanntes, Unbegreifliches, Furchtbares zu warten, das wurde unerträglich. Diejenigen, die sich in den vorderen Reihen befanden und alles, was vor ihnen vorging, gesehen und gehört hatten, standen alle mit angstvoll aufgerissenen Augen und offenem Mund da und hielten unter Anspannung aller ihrer Kräfte mit ihrem Rücken den Andrang ihrer Hintermänner auf.

»Schlagt ihn nieder …! Möge der Verräter umkommen und nicht länger den Namen eines Russen verunehren!« schrie Rastoptschin. »Schlagt ihn nieder! Ich befehle es!«

Durch die Menge, die nicht sowohl die Worte als den zornigen Klang der Stimme Rastoptschins gehört hatte, ging ein Ton wie ein Stöhnen; sie bewegte sich vorwärts, blieb dann aber wieder stehen.

»Graf!« sagte inmitten des wieder eingetretenen momentanen Schweigens Wereschtschagin mit schüchterner und zugleich etwas theatralisch klingender Stimme. »Graf, nur Gott, der über uns ist …« Er hatte den Kopf aufgerichtet, und von neuem füllte sich die dicke Ader an seinem dünnen Hals mit Blut, und eine schnelle Röte trat auf sein Gesicht und verschwand wieder.

Er kam nicht dazu, das, was er sagen wollte, zu Ende zu sprechen.

»Schlagt ihn nieder! Ich befehle es!« schrie Rastoptschin, der auf einmal ebenso blaß wurde wie Wereschtschagin.

»Blank ziehen!« schrie der Offizier den Dragonern zu und zog selbst den Säbel aus der Scheide.

Eine zweite, noch stärkere Welle ging durch die Volksmenge dahin, setzte, als sie zu den ersten Reihen gelangt war, die vorn Stehenden in Bewegung und trug sie schaukelnd bis dicht an die Stufen der Freitreppe. Der lange Bursche stand mit gleichsam versteinertem Gesichtsausdruck, den Arm regungslos erhoben, neben Wereschtschagin.

»Haut zu!« sagte, beinahe flüsternd, der Offizier zu den Dragonern.

Und einer von den Soldaten versetzte mit wutentstelltem Gesicht Wereschtschagin plötzlich mit der flachen Klinge einen Hieb über den Kopf.

»Ah!« schrie Wereschtschagin vor Überraschung kurz auf, indem er sich erschrocken umblickte und nicht zu begreifen schien, warum man ihm das tat. Ein ähnliches Stöhnen der Überraschung und des Schrecks lief durch die Menge. »O mein Gott!« rief jemand in klagendem Ton.

Aber unmittelbar nach diesem Ausruf der Überraschung, den Wereschtschagin unwillkürlich ausgestoßen hatte, schrie er kläglich vor Schmerz auf, und dieser Schrei war sein Verderben. Jene bereits dem Höchstdruck ausgesetzte Schranke menschlichen Gefühls, durch die bisher noch die Menge zurückgehalten war, wurde nun augenblicklich durchbrochen. Das Verbrechen war begonnen; jetzt mußte es auch durchgeführt werden. Das klagende Stöhnen des Vorwurfs wurde übertäubt von dem drohenden Zorngebrüll der Menge. Wie die letzte, siebente Meereswoge, die die Schiffe zerschmettert, so wälzte sich von den hinteren Reihen her diese letzte Woge unwiderstehlich heran, gelangte bis zu den vordersten Reihen, schlug auf sie nieder und verschlang alles. Der Dragoner, der dem Unglücklichen den ersten Schlag versetzt hatte, wollte noch einmal zuschlagen. Wereschtschagin stürzte mit einem Angstschrei, die Arme zum Schutz über den Kopf haltend, auf die Volksmenge zu. Der lange Bursche, gegen den er prallte, umklammerte Wereschtschagins dünnen Hals mit seinen Händen und fiel, einen wilden Schrei ausstoßend, mit ihm zusammen unter die Füße der brüllenden Menge, die sich über sie warf.

Die einen schlugen und zerrten Wereschtschagin, die andern den langen Burschen. Und das Geschrei der gequetschten Menschen und derjenigen, die den langen Burschen zu retten suchten, diente nur dazu, die Wut der Menge noch zu steigern. Lange konnten die Dragoner den blutüberströmten, halbtot geschlagenen Fabrikarbeiter nicht befreien. Und lange konnten, trotz der fieberhaften Eile, mit der die Menge das einmal begonnene Werk zu Ende zu führen suchte, diejenigen, die Wereschtschagin schlugen, würgten und zerrten, ihn nicht töten; denn die Menge preßte sie von allen Seiten zusammen, schwankte dabei, sie in ihrer Mitte fest umschlossen haltend, wie eine einzige Masse von einer Seite zur andern und ließ ihnen weder die Möglichkeit, ihn vollends zu töten, noch auch, ihn loszulassen.

»Schlagt ihn doch mit dem Beil! Zu, zu …! Habt ihr ihn erwürgt …? Der Verräter! Hat seinen Herrn Jesus Christus verraten …! Er lebt noch … Der hat ein zähes Leben …! Wie die Taten, so der Lohn. Mit dem Beil …! Ist er denn noch lebendig?«

Erst als das Opfer sich nicht mehr wehrte und sein Schreien in ein gleichmäßiges, langgezogenes Röcheln übergegangen war, begann die Menge eilig um den daliegenden, blutbefleckten Leichnam herum Platz zu machen. Ein jeder trat heran, betrachtete, was geschehen war, und drängte mit einer Miene des Schreckens, des Vorwurfs und des Staunens zurück.

»O mein Gott! Das Volk ist doch wie ein wildes Tier! Wer kann dagegen aufkommen?« wurde in der Menge geredet. »Und es ist ein so junger Mensch … gewiß aus dem Kaufmannsstand. Ja, dieses Volk, dieses Volk …! Sie sagen, es ist nicht der richtige … Gewiß wird es nicht der richtige sein … O Gott …! Sie haben noch einen andern zerhauen; es heißt, er ist kaum noch am Leben … Ach, dieses Volk …! Fürchtet sich vor keiner Sünde …« So redeten jetzt dieselben Menschen, die soeben noch mit gerast hatten, und betrachteten mit schmerzlich klagender Miene den toten Körper mit dem bläulich gewordenen, von Blut und Staub beschmutzten Gesicht und dem zerschlagenen langen, dünnen Hals.

Ein diensteifriger Polizeibeamter, der es ungehörig fand, daß ein Leichnam auf dem Hof Seiner Erlaucht liege, befahl den Dragonern, den Körper auf die Straße zu schleppen. Die beiden Dragoner ergriffen ihn an den verunstalteten Beinen und zogen ihn nach draußen. Der blutige, von Staub verunreinigte, rasierte Kopf an dem langen Hals schleifte, sich drehend, auf der Erde. Das Volk drängte sich von dem Leichnam weg.

In dem Augenblick, als Wereschtschagin hingefallen war und die Menge sich mit wildem Geheul um ihn gedrängt und über dem Niedergesunkenen hin und her geschwankt hatte, war Rastoptschin plötzlich blaß geworden, und statt nach dem hinteren Ausgang zu gehen, wo ihn sein Wagen erwartete, ging er, ohne selbst zu wissen, wohin er ging und warum er das tat, mit gesenktem Kopf schnellen Schrittes den Korridor entlang, der nach den Zimmern des unteren Stockwerks führte. Das Gesicht des Grafen war bleich, und er vermochte nicht, seinen wie im Fieber zitternden Unterkiefer still zu halten.

»Euer Erlaucht, hierher … Wohin belieben Euer Erlaucht zu gehen …? Hierher, bitte!« sagte hinter ihm her ein Diener mit ängstlich zitternder Stimme.

Graf Rastoptschin war nicht imstande, etwas zu erwidern; gehorsam machte er kehrt und schlug die ihm gewiesene Richtung ein. An der Hintertür stand sein Wagen. Das ferne Getöse der brüllenden Menge war auch hier noch zu hören. Graf Rastoptschin setzte sich eilig in den Wagen und befahl dem Kutscher, ihn nach seinem Landhaus in Sokolniki zu fahren.

Als er in die Mjasnizkaja-Straße einbog und das Geschrei der Volksmenge nicht mehr hörte, begann er sich über sich selbst zu ärgern. Mit Verdruß dachte er jetzt an die Beängstigung und Aufregung, die er vor seinen Untergebenen hatte merken lassen. »Der Pöbel ist schrecklich, geradezu scheußlich«, dachte er auf französisch. »Sie sind wie die Wölfe, die man auch nur durch Fleisch zur Ruhe bringen kann.« »Graf, nur Gott, der über uns ist …« Diese Worte Wereschtschagins fielen ihm auf einmal ein, und ein unangenehmes Gefühl der Kälte lief ihm den Rücken entlang. Aber dieses Gefühl war nur ein momentanes, und Graf Rastoptschin lächelte sofort geringschätzig über sich selbst. »Ich hatte andere Pflichten«, dachte er. »Ich mußte das Volk beruhigen. Es sind schon gar manche Opfer um des Gemeinwohls willen umgekommen und werden noch viele umkommen.« Und nun dachte er über die allgemeinen Pflichten nach, die er gegen seine Familie, gegen die seiner Obhut anvertraute Hauptstadt und gegen sich selbst hatte, d.h. nicht gegen Fjodor Wasiljewitsch Rastoptschin persönlich (er war der Ansicht, daß Fjodor Wasiljewitsch Rastoptschin sich für das Gemeinwohl aufopfere), sondern gegen sich als den Oberkommandieren von Moskau, den Repräsentanten der Staatsgewalt und den Bevollmächtigten des Zaren. »Wäre ich weiter nichts als Fjodor Wasiljewitsch, so wäre mir eine ganz andere Richtlinie für mein Verhalten vorgezeichnet; so aber mußte ich das Leben und die Würde des Oberkommandierenden beschützen.«

Jetzt, wo er auf den weichen Federn der Equipage leise geschaukelt wurde und die furchtbaren Laute der Volksmenge nicht mehr hörte, beruhigte Rastoptschin sich physisch, und wie das immer so geht, lieferte ihm, gleichzeitig mit der physischen Beruhigung, der Verstand auch Gründe für die Beruhigung der Seele. Der Gedanke, welcher dem Grafen zur Beruhigung verhalf, war nicht neu. Seit die Welt steht und die Menschen einander totschlagen, begeht nie ein Mensch ein Verbrechen gegen einen Mitmenschen, ohne sich durch ebendiesen Gedanken zu beruhigen. Dieser Gedanke ist das vermeintliche Gemeinwohl.

Einem Menschen, der nicht von Leidenschaft befallen ist, ist dieses Gemeinwohl niemals bekannt; aber ein Mensch, der ein Verbrechen begeht, weiß immer ganz genau, worin dieses Gemeinwohl besteht. Und Rastoptschin wußte es jetzt.

Weit entfernt, daß er sich in seinen Reflexionen Vorwürfe über die von ihm begangene Tat gemacht hätte, fand er vielmehr allen Grund, mit sich selbst zufrieden zu sein, weil er es so geschickt verstanden hatte, diese gute Gelegenheit zu benutzen: einen Verbrecher zu bestrafen und gleichzeitig das Volk zu beruhigen.

»Wereschtschagin war gerichtet und zum Tod verurteilt«, dachte Rastoptschin (allerdings war Wereschtschagin vom Senat nur zu Zwangsarbeit verurteilt worden). »Er war ein Verräter und Staatsfeind; ich durfte ihn nicht unbestraft lassen, und so erreichte ich denn mit einem Schlag zweierlei: ich beruhigte das Volk, indem ich ihm ein Opfer preisgab, und bestrafte einen Verbrecher.«

Als der Graf nach seinem Landhaus gekommen war und sich nun dort mit seinen häuslichen Angelegenheiten beschäftigte, beruhigte er sich vollständig.

Eine halbe Stunde darauf fuhr er in schnellem Trab über das Feld von Sokolniki; an das, was geschehen war, dachte er nicht mehr; er erwog und überlegte nur, was nun weiter kommen werde. Er fuhr jetzt zur Jauski-Brücke, wo sich, wie ihm gesagt war, Kutusow befand.

Graf Rastoptschin legte sich in Gedanken die zornigen, spitzen Vorwürfe zurecht, die er Kutusow wegen der von diesem begangenen Täuschung zu machen beabsichtigte. Er wollte es diesem alten, höfisch schlauen Fuchs schon zu verstehen geben, daß die Verantwortung für all das Unglück, das aus der Preisgabe der Hauptstadt und dem Zusammenbruch Rußlands (wie Rastoptschin dachte) hervorgehen werde, einzig und allein auf seinen vor Altersschwäche allen Verstandes baren Kopf falle. Während Rastoptschin so im voraus überlegte, was er zu Kutusow sagen wollte, rückte er zornig in seinem Wagen hin und her und blickte ärgerlich nach rechts und links.

Das Feld von Sokolniki war menschenleer. Nur am Rand desselben, bei dem Armenhaus und dem Irrenhaus, waren kleine Gruppen von Menschen in weißen Anzügen zu sehen sowie einige einzelne Leute derselben Art, die über das Feld gingen und irgend etwas schrien und lebhaft mit den Armen gestikulierten.

Einer von ihnen kam von der Seite herangelaufen, um dem Wagen des Grafen Rastoptschin den Weg abzuschneiden. Graf Rastoptschin selbst und sein Kutscher und die Dragoner, alle sahen sie mit einem unklaren Gefühl von Schrecken und Neugier nach diesen freigelassenen Irren und besonders nach dem, der zu ihnen herangelaufen kam.

Auf seinen langen, mageren Beinen hin und her schwankend, lief dieser Irrsinnige in seinem flatternden Kittel aus Leibeskräften vorwärts, ohne die Augen von Rastoptschin wegzuwenden; dabei schrie er ihm mit heiserer Stimme etwas zu und machte ihm Zeichen, daß er anhalten möchte. Das mit ungleichmäßigen Bartflocken bewachsene, finstere, feierlich ernste Gesicht des Irren war mager und gelblich. Die schwarzen, achatartigen Pupillen in den safrangelben Augäpfeln liefen unruhig umher.

»Warte mal! Halt an, sage ich!« schrie er mit durchdringender Stimme und fügte dann ganz außer Atem noch etwas mit großem Nachdruck und heftigen Armbewegungen hinzu.

Nun hatte er den Wagen erreicht und lief neben ihm her.

»Dreimal haben sie mich totgeschlagen, und dreimal bin ich von den Toten auferstanden. Sie haben mich gesteinigt und gekreuzigt … Ich werde auferstehen … auferstehen … auferstehen. Sie haben meinen Leib zerstückelt. Das Reich Gottes wird zerstört werden … Dreimal werde ich es zerstören, und dreimal werde ich es wieder aufrichten!« schrie er immer lauter und lauter.

Graf Rastoptschin wurde plötzlich ebenso blaß wie vorhin, als die Menge sich auf Wereschtschagin gestürzt hatte. Er wandte sich weg. Der Wagen jagte dahin, so schnell die Pferde nur laufen konnten; aber noch lange hörte Graf Rastoptschin hinter sich das sinnlose, verzweifelte Schreien und sah vor seinen Augen das erstaunte, erschrockene, blutbefleckte Gesicht des Verräters im kurzen Pelzrock.

So frisch diese Erinnerung auch noch war, so fühlte Rastoptschin doch schon jetzt, daß sie tief, tief in sein Herz gegraben war. Er fühlte schon jetzt deutlich, daß die blutige Spur dieser Erinnerung nie vernarben werde, sondern diese furchtbare Erinnerung vielmehr bis an sein Lebensende in seinem Herzen fortdauern werde, je länger um so schmerzlicher und peinvoller. Er glaubte jetzt den Klang seiner eigenen Worte zu hören: »Haut ihn nieder! Ihr steht mir dafür mit eurem Kopf!« »Warum habe ich diese Worte gesprochen? Sie sind mir nur so unversehens in den Mund gekommen. Ich hätte sie ungesprochen lassen können«, dachte er, »dann wäre alles Weitere nicht geschehen.« Er sah das erschrockene und darauf plötzlich einen grimmigen Ausdruck annehmende Gesicht des Dragoners, der dann zugeschlagen hatte, und den Blick stillschweigenden, schüchternen Vorwurfs, den dieser junge Mensch im Fuchspelz auf ihn gerichtet hatte. »Aber ich habe das nicht um meinetwillen getan. Ich mußte so handeln. Der Pöbel, der Verräter, das Gemeinwohl«, dachte er.

An der Jauski-Brücke drängten sich die Truppen immer noch. Es war heiß. Kutusow saß mit finsterer, niedergeschlagener Miene auf einer Bank bei der Brücke und spielte mit der Peitsche im Sand, als geräuschvoll eine Equipage zu ihm herangefahren kam. Ein Mann in Generalsuniform, einen Hut mit Federbusch auf dem Kopf, mit unstet umherlaufenden, halb zornigen, halb ängstlichen Augen trat an Kutusow heran und redete ihn französisch an. Es war Graf Rastoptschin. Er sagte Kutusow, er sei hergekommen, weil die Hauptstadt Moskau nicht mehr existiere und es nur noch eine Armee gebe.

»Es wäre anders gekommen, wenn Euer Durchlaucht mir nicht gesagt hätten, daß Sie Moskau nicht, ohne eine Schlacht zu liefern, preisgeben würden; dann hätte sich alles dies nicht ereignet!« sagte er.

Kutusow blickte Rastoptschin an, und wie wenn er den Sinn der an ihn gerichteten Worte nicht verstände, bemühte er sich mit Anstrengung, auf dem Gesicht des mit ihm Redenden etwas Besonderes, das etwa in diesem Augenblick darauf geschrieben wäre, zu lesen. Rastoptschin wurde verlegen und verstummte. Kutusow wiegte sachte den Kopf hin und her, und ohne seinen forschenden Blick von Rastoptschins Gesicht wegzuwenden, sagte er leise:

»Ja, ich werde Moskau dem Feind nicht überlassen, ohne eine Schlacht geliefert zu haben.«

Ob nun Kutusow, als er diese Worte sprach, an etwas ganz anderes dachte, oder ob er sie absichtlich sagte, obwohl er wußte, daß sie sinnlos waren, jedenfalls gab Graf Rastoptschin darauf keine Antwort und trat eilig von Kutusow zurück. Und seltsam: der Oberkommandierende von Moskau, der stolze Graf Rastoptschin, nahm eine Peitsche in die Hand, ging zur Brücke hin und machte sich laut schreiend daran, die Fuhrwerke, die sich dort zusammendrängten, auseinanderzutreiben.

XXVI


Um vier Uhr nachmittags rückten Murats Truppen in Moskau ein. Voran ritt eine Abteilung Württemberger Husaren, dahinter folgte zu Pferd mit einer großen Suite der König von Neapel selbst.

Ungefähr in der Mitte des Arbatskaja-Platzes, nahe bei der Nikola-Jawlenny-Kirche, hielt Murat an und erwartete Nachrichten von der Vorhut über den Zustand, in dem sich die städtische Festung, »le Kremlin«, befinde.

Um Murat sammelte sich ein kleines Häufchen von Einwohnern Moskaus, die in der Stadt zurückgeblieben waren. Alle betrachteten mit scheuer Verwunderung den sonderbaren, mit Federn und Gold geschmückten Heerführer mit seinem lang herabwallenden Haar.

»Na, ist das er selbst, der ihr Zar? Er sieht ja nicht übel aus!« wurde leise geäußert.

Der Dolmetscher ritt auf den Volkshaufen zu.

»Nehmt die Mützen ab … die Mützen ab!« ermahnten sich die Leute untereinander.

Der Dolmetscher wandte sich an einen alten Hausknecht und fragte ihn, ob es noch weit bis zum Kreml sei. Der Hausknecht, der erstaunt nach der ihm fremden polnischen Klangfarbe hinhorchte und die Sprache des Dolmetschers nicht als Russisch erkannte, verstand nicht, was zu ihm gesagt wurde, und versteckte sich hinter den anderen.

Murat ritt an den Dolmetscher heran und befahl ihm, zu fragen, wo sich die russischen Truppen befänden. Einer der Russen verstand, wonach er gefragt wurde, und nun antworteten dem Dolmetscher plötzlich mehrere Stimmen zugleich. Ein französischer Offizier kam von der Vorhut zu Murat geritten und meldete, daß das Festungstor verrammelt sei und wahrscheinlich dort ein Hinterhalt liege. »Schön«, sagte Murat, und sich zu einem der Herren von der Suite wendend, gab er Befehl, vier leichte Geschütze vorrücken zu lassen und das Tor zu beschießen.

Die Artillerie kam im Trab aus der Kolonne herausgefahren, die hinter Murat marschierte, und durchquerte den Arbatskaja-Platz. Nachdem sie dann bis zum Ende der Wosdwischenka-Straße gefahren war, machte sie halt und stellte sich auf dem dortigen Platz auf. Einige französische Offiziere trafen bei den Geschützen die erforderlichen Anordnungen, stellten sie in angemessenen Abständen auf und betrachteten den Kreml durch ein Fernrohr.

Im Kreml ertönte das Vespergeläut, und diese Klänge machten die Franzosen stutzig. Sie glaubten, dies sei ein Aufruf zu den Waffen. Einige Infanteristen liefen unter Anführung eines Offiziers auf das Kutafjewskija-Tor zu. Das Tor war mit Balken und Holzplatten verstellt. Zwei Flintenschüsse ertönten aus dem Tor, als der Offizier mit seinen Leuten sich ihm näherte. Der General, der bei den Kanonen hielt, rief dem Offizier einige Kommandoworte zu, und der Offizier lief mit seinen Soldaten zurück.

Es ertönten aus dem Tor noch drei Schüsse.

Einer dieser Schüsse streifte das Bein eines französischen Soldaten, und ein seltsames Geschrei einiger weniger Stimmen ließ sich hinter der Verrammelung hören. Auf den Gesichtern der Franzosen, des Generals, der Offiziere und der Soldaten, trat gleichzeitig wie auf Kommando an die Stelle des bisherigen heiteren, ruhigen Ausdrucks der energische, gespannte Ausdruck der Bereitschaft zu Kampf und Leiden. Für sie alle, vom Marschall herunter bis zum letzten Gemeinen, war dieser Ort nicht die Wosdwischenka- und die Mochowaja-Straße, das Kutafjewskija- und das Troizkija-Tor, sondern eine neue Stätte eines wahrscheinlich blutigen Kampfes. Und alle bereiteten sich auf diesen Kampf vor. Die Rufe aus dem Tor waren verstummt. Bei den Geschützen bliesen die Artilleristen die glimmenden Lunten an. Der Offizier kommandierte: »Feuer!« und zwei pfeifende Töne der Blechbüchsen ertönten nacheinander. Die Kartätschkugeln schlugen gegen die Steinquadern des Tores, die Balken und Holzplatten, und zwei Rauchwolken stiegen auf dem Platz auf.

Einige Augenblicke, nachdem das Prasseln der Kugeln an dem steinernen Kreml verstummt war, erscholl ein seltsamer Ton über den Köpfen der Franzosen. Ein gewaltiger Dohlenschwarm erhob sich über den Mauern und kreiste unter lautem Kreischen und dem Lärm vieler tausend Flügel in der Luft herum. Zugleich mit diesem Geräusch ertönte der einzelne Schrei einer menschlichen Stimme im Tor, und aus dem Rauch erschien eine Menschengestalt, ohne Mütze, in einem Kaftan. Sie hielt eine Flinte in der Hand und zielte auf die Franzosen. »Feuer!« kommandierte der Artillerieoffizier zum zweitenmal, und gleichzeitig erschollen ein Flintenschuß und zwei Kanonenschüsse. Wieder verhüllte Rauch das Tor.

Hinter der Verrammelung rührte sich nichts mehr, und die französischen Infanteristen mit ihren Offizieren gingen zu dem Tor hin. Im Tor lagen drei Verwundete und vier Tote. Zwei Personen in Kaftanen waren unten an den Mauern entlang nach der Snamenka-Straße entflohen.

»Schafft das weg!« sagte ein Offizier und zeigte auf die Balken und die Leichen. Und die Franzosen warfen, nachdem sie auch die Verwundeten getötet hatten, die Leichen über die Festungsmauer hinab.

Wer diese Menschen waren, das wußte niemand. Es wurde mit Bezug auf sie nur gesagt: »Schafft das weg!«, und dann wurden sie weggeräumt und hinausgeworfen, damit sie keinen üblen Geruch verbreiteten. Nur Thiers hat ihrem Andenken einige wohlklingende Zeilen gewidmet: »Diese armseligen paar Menschen waren in die heilige Feste eingedrungen, hatten sich einiger Gewehre aus dem Arsenal bemächtigt und schossen nun (diese armseligen paar Menschen) auf die Franzosen. Einige von ihnen wurden niedergehauen, und der Kreml wurde von ihrer Gegenwart gereinigt.«

An Murat wurde zurückgemeldet, daß der Weg freigemacht sei. Die Franzosen rückten durch das Tor ein und lagerten sich auf dem Senatsplatz. Aus den Fenstern des Senatsgebäudes warfen die Soldaten Stühle auf den Platz hinaus und zündeten davon Feuer an.

Andere Abteilungen zogen durch den Kreml hindurch und quartierten sich in der Maroseika-, der Lubjanka- und der Pokrawka-Straße ein. Wieder andere schlugen ihre Quartiere in der Wosdwischenka-, der Snamenka-, der Nikolskaja- und der Twerskaja-Straße auf. Überall aber glich die Art der Unterkunft der Franzosen, da sie die Hausbesitzer nicht vorfanden, nicht Quartieren, wie Truppen sie sonst in Städten haben, sondern einem Lager, nur daß dieses Lager eben in einer Stadt aufgeschlagen war.

Die französischen Soldaten rückten zwar in abgerissener Kleidung, hungrig, ermattet und auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Zahl reduziert in Moskau ein, aber doch immer noch in guter Ordnung. Sie bildeten ein ermüdetes, erschöpftes, aber noch kampffähiges, bedrohliches Heer. Aber ein Heer waren sie nur bis zu dem Augenblick, wo sie sich in die Quartiere verteilten. Sowie sie sich in die verlassenen reichen Häuser verteilt hatten, war das Heer für immer vernichtet, und was nun da war, waren weder Zivilisten noch Soldaten, sondern ein Mittelding, sogenannte Marodeure. Als fünf Wochen später dieselben Leute wieder aus Moskau auszogen, bildeten sie kein Heer mehr. Es war eine Schar Marodeure, von denen ein jeder im Tornister oder auf einem der Wagen eine Menge Sachen mit sich führte, die ihm wertvoll schienen und von denen er sich nicht trennen mochte. Ein jeder dieser Menschen sah beim Auszug aus Moskau nicht mehr wie früher sein Ziel darin, Eroberungen zu machen, sondern nur darin, das Erworbene festzuhalten. Wie ein Affe, der die Hand in den engen Hals eines Kruges gesteckt und eine Handvoll Nüsse gefaßt hat, die Faust nicht aufmacht, um das Ergriffene nicht zu verlieren, und dadurch sein Verderben herbeiführt, so mußten die Franzosen offenbar beim Auszug aus Moskau deswegen zugrunde gehen, weil sie ihren Raub mit sich schleppten und ebensowenig imstande waren, sich seiner zu entäußern, wie der Affe imstande ist, die Hand mit den Nüssen aufzumachen. Zehn Minuten nach dem Einrücken eines jeden französischen Regimentes in irgendeinen Stadtteil Moskaus gab es keinen Soldaten und keinen Offizier mehr. Durch die Fenster der Häuser konnte man Leute in Militärmänteln und Militärstiefeletten sehen, die lachend durch die Zimmer gingen; in den Kellern, in den Speisekammern wirtschafteten ebensolche Leute unter den Vorräten herum; auf den Höfen öffneten ebensolche Leute die Tore der Schuppen und Ställe oder schlugen sie ein; in den Küchen zündeten sie Feuer an, kneteten mit aufgestreiften Ärmeln, buken und kochten; sie erschreckten die Frauen und Kinder, brachten sie durch Späßchen zum Lachen und liebkosten sie. Solcher Leute war überall, in den Läden und in den Häusern, eine große Menge vorhanden; aber ein Heer gab es nicht mehr.

Noch an demselben Tag ließen die obersten französischen Heerführer einen Befehl nach dem andern ergehen: es solle den Truppen verboten werden, sich durch die Stadt zu zerstreuen; es solle ihnen streng verboten werden, sich gegen die Einwohner gewalttätig zu benehmen und zu marodieren; es solle noch an diesem Abend ein allgemeiner Appell abgehalten werden; aber trotz all solcher Maßregeln ergossen sich die Leute, die vorher ein Heer gebildet hatten, nach allen Seiten in der reichen, mit Vorräten und anderen guten Dingen wohlausgestatteten, menschenleeren Stadt. Wie eine hungrige Herde über ein kahles Feld in geschlossenem Trupp dahinzieht, aber sich sogleich unaufhaltsam auflöst, sowie sie auf eine fette Weide stößt, so löste sich auch das Heer in der reichen Stadt unaufhaltsam auf.

Einwohner gab es in Moskau so gut wie keine, und die Soldaten strömten vom Kreml, in den sie zuerst eingezogen waren, ungehemmt nach allen Richtungen der Windrose auseinander und versickerten dort wie Wasser im Sand. Wenn Kavalleristen in ein Kaufmannshaus kamen, in dem die Besitzer ihre ganze Habe zurückgelassen hatten, und dort nicht nur Ställe für ihre Pferde, sondern auch sonst alles reichlich fanden, so gingen sie doch noch nach nebenan, um lieber ein anderes Haus in Benutzung zu nehmen, das ihnen noch besser vorkam. Viele okkupierten mehrere Häuser zugleich und schrieben mit Kreide daran, von wem sie in Besitz genommen seien, und stritten und schlugen sich sogar darum mit anderen Abteilungen. Ohne sich ordentlich einquartiert zu haben, liefen Soldaten wieder auf die Straße, um sich die Stadt zu besehen, und rannten, da sie hörten, daß alles verlassen sei, nach solchen Orten, wo sie umsonst Kostbarkeiten erlangen konnten. Die Kommandeure gingen umher, um diesem Treiben der Soldaten zu steuern, wurden aber unwillkürlich selbst mit hineingezogen. In den Magazinen der Wagenfabriken waren eine Anzahl von Equipagen zurückgeblieben, und die Generale drängten sich dort herum und suchten sich Kaleschen und Kutschen aus. Die zurückgebliebenen Einwohner luden die höheren Offiziere ein, bei ihnen Wohnung zu nehmen, in der Hoffnung, sich dadurch vor Plünderung zu schützen. Die Reichtümer waren unermeßlich, so daß gar kein Ende abzusehen war; überall lagen um diejenigen Stadtgegenden herum, die von den Franzosen besetzt waren, noch andere, undurchsuchte, unbesetzte Gegenden, in denen es nach der Meinung der Franzosen noch mehr Reichtümer gab. Und Moskau sog in immer weiterer Ausdehnung die Franzosen in sich hinein. Wie infolge davon, daß man Wasser auf trockene Erde gießt, sowohl das Wasser als auch die trockene Erde verschwindet, so hörten infolge davon, daß das hungrige Heer in die reiche, menschenleere Stadt einrückte, sowohl das Heer als auch die reiche Stadt zu existieren auf, und das Resultat war, wie in jenem Fall Schmutz, so in diesem Feuersbrünste und Marodeurwesen.


Die Franzosen schrieben den Brand Moskaus »dem trotzigen Patriotismus Rastoptschins« zu, die Russen dem Ingrimm der Franzosen. In Wirklichkeit hat es Ursachen für den Brand Moskaus in dem Sinn, daß man für diesen Brand eine oder mehrere Personen verantwortlich machen könnte, nicht gegeben, und es konnte solche auch nicht geben. Moskau brannte ab, weil es in Verhältnisse hineingeraten war, in denen jede hölzerne Stadt abbrennen muß, ganz gleich, ob in ihr hundertdreißig schlechte Feuerspritzen vorhanden sind oder nicht. Moskau mußte abbrennen, weil die Einwohner weggezogen waren, und zwar war dies so unausbleiblich, wie ein Haufe Hobelspäne abbrennen muß, wenn mehrere Tage lang Feuerfunken auf ihn niederregnen. Eine hölzerne Stadt, in welcher trotz der Anwesenheit der Einwohner, denen die Häuser gehören, und trotz der Tätigkeit der Polizei fast täglich Brände vorkommen, muß notwendig abbrennen, wenn in ihr keine Einwohner vorhanden sind, sondern Truppen in ihr wohnen, die ihre Pfeifen rauchen, auf dem Senatsplatz von den Senatsstühlen offene Feuer anzünden und sich zweimal am Tag etwas zu essen kochen. Es brauchen nur in Friedenszeiten Truppen in den Dörfern einer bestimmten Gegend in Quartier zu liegen, so steigt sofort die Zahl der Brände in dieser Gegend. Um wieviel mehr muß die Wahrscheinlichkeit von Bränden in einer von den Einwohnern verlassenen, hölzernen Stadt steigen, in welcher ein fremdes Heer haust? Der trotzige Patriotismus Rastoptschins und der Ingrimm der Franzosen trugen daran keine Schuld. Moskau ist abgebrannt infolge der Tabakspfeifen, infolge der Küchen, infolge der offenen Feuer, infolge der Nachlässigkeit der feindlichen Soldaten, die ja in fremden Häusern sehr erklärlich war. Wenn aber auch wirklich Brandstiftungen vorkamen (was sehr zweifelhaft ist, da niemand einen Anlaß zu Brandstiftung hatte, sondern eine solche Tat ihm jedenfalls Sorge und Gefahr brachte), so kann man doch die Brandstiftungen nicht für die Ursache halten, da auch ohne Brandstiftungen das Resultat das gleiche gewesen wäre.

Wie verführerisch es auch für die Franzosen war, Rastoptschin der Brutalität zu beschuldigen, oder für die Russen, den Bösewicht Bonaparte zu beschuldigen oder, in späterer Zeit, die heroische Fackel ihrem eigenen Volk in die Hand zu legen, so kann man sich doch der Einsicht nicht verschließen, daß eine solche unmittelbare Ursache des Brandes nicht vorhanden sein konnte, weil Moskau eben abbrennen mußte, wie jedes Dorf, jede Fabrik, jedes Haus abbrennen muß, wenn die Eigentümer wegziehen und es geschehen lassen, daß fremde Leute darin allein hausen und sich ihre Grütze kochen. Moskau ist von seinen Einwohnern eingeäschert worden; das ist richtig; aber nicht von denjenigen Einwohnern, die in der Stadt zurückgeblieben, sondern von denen, die fortgezogen waren. Moskau blieb, als es vom Feind besetzt war, nur deswegen nicht unversehrt, wie Berlin, Wien und andere Städte, weil seine Einwohner, statt den Franzosen Brot und Salz darzubringen und die Stadtschlüssel zu überreichen, die Stadt verlassen hatten.

XXVII


Die am 2. September sich nach allen Seiten ausbreitende und sofort versickernde Überflutung Moskaus durch die Franzosen erreichte denjenigen Stadtteil, in welchem Pierre jetzt wohnte, erst gegen Abend.

Pierre befand sich, nachdem er die zwei letzten Tage in der Einsamkeit und in ganz ungewöhnlicher Weise verlebt hatte, in einem Zustand, der dem Wahnsinn nahekam. Ein Gedanke, den er nicht loswerden konnte, beherrschte ihn vollständig. Er wußte selbst nicht, wie und wann es so gekommen war; aber dieser Gedanke beherrschte ihn jetzt dermaßen, daß er sich an nichts aus der Vergangenheit mehr erinnerte und nichts von der Gegenwart begriff; alles, was er sah und hörte, zog an ihm vorbei wie ein Traumgebilde.

Pierre hatte sich aus seinem Haus nur in der Absicht entfernt, sich von dem vielverschlungenen Wirrwarr der Anforderungen des Lebens zu befreien, von jenem Wirrwarr, der ihn erfaßt hatte und in dem er sich bei seinem jetzigen Zustand nicht zurechtzufinden imstande war. Er war in die Wohnung Osip Alexejewitschs gefahren unter dem Vorwand, die Bücher und Papiere des Verstorbenen zu sichten, in Wirklichkeit aber nur, weil er sich aus dem wilden Tumult des Lebens in einen ruhigen Hafen flüchten wollte und mit der Erinnerung an Osip Alexejewitsch sich in seiner Seele die Vorstellung von einer Welt ewiger, ruhiger, erhabener Gedanken verband, in vollstem Gegensatz zu dem unruhigen Wirrwarr, in den er sich hineingezogen fühlte. Er hatte in dem Arbeitszimmer Osip Alexejewitschs einen stillen Zufluchtsort gesucht und wirklich dort einen solchen gefunden. Als er sich in der Totenstille dieses Zimmers an dem bestaubten Schreibtisch des Verstorbenen niedergelassen und den Kopf auf die Arme gestützt hatte, da waren ihm ruhig und ernst, eine nach der andern, die Erinnerungen an die letzten Tage vor die Seele getreten, besonders an die Schlacht bei Borodino und an jenes für ihn unüberwindliche Gefühl der eigenen Nichtigkeit und Falschheit gegenüber der Wahrhaftigkeit, Schlichtheit und Kraft jener Menschenklasse, die sich seiner Seele unter der Bezeichnung »sie« eingeprägt hatte. Als er von Gerasim aus seiner Versunkenheit geweckt worden war, da war ihm der Gedanke gekommen, an der, wie er wußte, beabsichtigten Verteidigung Moskaus durch das Volk teilzunehmen. Und zu diesem Zweck hatte er sogleich Gerasim gebeten, ihm einen Kaftan und eine Pistole zu verschaffen, und ihm mitgeteilt, er habe vor, mit Verheimlichung seines Namens im Haus Osip Alexejewitschs zu bleiben. Dann war ihm im Laufe des ersten, einsam und untätig verbrachten Tages (Pierre hatte wiederholentlich vergebens versucht, seine Aufmerksamkeit auf die freimaurerischen Manuskripte zu konzentrieren) mehrmals in undeutlicher Gestalt ein Gedanke durch den Kopf gegangen, der ihn auch schon früher beschäftigt hatte, der Gedanke an die kabbalistische Bedeutung seines Namens in Verbindung mit dem Namen Bonapartes; aber dieser Gedanke, daß er, l’Russe Besuhof, dazu prädestiniert sei, der Macht »des Tieres« ein Ziel zu setzen, war ihm nur erst wie eine flüchtige Idee gekommen, wie sie einem oft ohne Anlaß und ohne Folge durch den Kopf huschen.

Als Pierre sich den Kaftan gekauft hatte (lediglich in der Absicht, an der Verteidigung Moskaus durch das Volk teilzunehmen) und der Familie Rostow begegnet war und Natascha zu ihm gesagt hatte: »Sie bleiben hier? Ach, wie schön ist das!«, da war in seiner Seele der Gedanke aufgeblitzt, daß es wirklich schön wäre, selbst im Fall der Besetzung Moskaus durch den Feind, wenn er in der Stadt bliebe und das ausführte, wozu er prädestiniert sei.

Am folgenden Tag ging er, ganz erfüllt von dem Gedanken, sich selbst nicht zu schonen und in keinem Stücke »ihnen« nachzustehen, vor das Dreibergen-Tor hinaus. Aber als er sich überzeugt hatte, daß Moskau nicht verteidigt werden würde, und nach Hause zurückgekehrt war, da fühlte er plötzlich, daß das, was ihm vorher nur als Möglichkeit vor Augen gestanden hatte, jetzt eine unvermeidliche Notwendigkeit geworden war. Er mußte unter Verheimlichung seines Namens in Moskau bleiben und in Napoleons Nähe zu kommen und ihn zu töten suchen, um entweder umzukommen oder das Elend von ganz Europa zu beenden, das nach Pierres Ansicht einzig und allein von Napoleon herrührte.

Pierre kannte alle Einzelheiten des Attentats, das ein deutscher Student im Jahre 1809 in Wien auf Bonaparte unternommen hatte, und wußte, daß dieser Student erschossen worden war. Aber die Gefahr, der er bei der Ausführung seiner Absicht sein Leben aussetzte, reizte ihn nur noch mehr.

Zwei gleich starke Gefühle waren es, die in Pierres Seele als Triebfedern zu dieser beabsichtigten Tat wirkten. Das erste war das Gefühl des Bedürfnisses, angesichts des allgemeinen Unglücks Opfer zu bringen und mit zu leiden, jenes Gefühl, unter dessen Einwirkung er am 25. nach Moschaisk gefahren war und sich mitten in den heißesten Kampf hineinbegeben hatte und jetzt aus seinem Haus geflohen war und unter Verzicht auf den gewohnten Luxus und die Bequemlichkeiten des Lebens unausgekleidet auf einem harten Sofa schlief und dieselbe Kost genoß wie Gerasim; das zweite war jenes undefinierbare, spezifisch russische Gefühl der Geringschätzung alles Konventionellen und Erkünstelten, alles mit der niedrigen Seite der menschlichen Natur Zusammenhängenden, alles dessen, was der Mehrzahl der Menschen als das höchste Erdenglück gilt. Zum erstenmal hatte Pierre dieses eigentümliche, bezaubernde Gefühl im Slobodski-Palais kennengelernt, als er auf einmal zu dem Bewußtsein gekommen war, daß Reichtum, Macht, Leben, kurz alles, was die Menschen mit solchem Eifer zu erwerben und zu bewahren suchen, wenn es überhaupt einen Wert hat, nur insofern einen Wert besitzt, als ein Genuß darin liegt, all dies von sich zu werfen.

Es war dies jenes Gefühl, von welchem getrieben der freiwillige Rekrut die letzte Kopeke vertrinkt, der Betrunkene ohne jeden sichtbaren Anlaß Spiegel und Fensterscheiben zerschlägt, obwohl er weiß, daß dies ihn sein letztes Geld kosten wird; jenes Gefühl, von welchem getrieben der Mensch durch die Ausführung von Taten, die im vulgären Sinn unverständig sind, gleichsam seine persönliche Macht und Kraft auf die Probe stellt, indem er dadurch das Vorhandensein eines höheren, außerhalb der menschlichen Lebensverhältnisse stehenden Gerichtes über Leben und Tod offenbar macht.

Schon von dem Tag an, an welchem Pierre zum erstenmal im Slobodski-Palais dieses Gefühl kennengelernt hatte, hatte er sich beständig unter der Einwirkung desselben befunden; aber erst jetzt fand er in ihm seine volle Befriedigung. Außerdem wurde im jetzigen Augenblick Pierre auch durch das, was er bereits nach dieser Richtung hin getan hatte, in seiner Absicht bestärkt und der Möglichkeit eines Zurücktretens beraubt. Seine Flucht aus seinem Haus und sein Kaftan und die Pistole und die den Rostows gegenüber von ihm abgegebene Erklärung, daß er in Moskau bleiben werde, alles dies hätte nicht nur jeden Sinn verloren, sondern wäre auch albern und lächerlich geworden (und in dieser Hinsicht war Pierre sehr empfindlich), wenn er nach alledem, ebenso wie die andern, Moskau verlassen hätte.

Pierres physischer Zustand entsprach, wie das ja immer der Fall zu sein pflegt, seinem seelischen. Die ungewohnte, grobe Nahrung, der Branntwein, den er in diesen Tagen getrunken hatte, das Entbehren des Weines und der Zigarren, die schmutzige, nicht gewechselte Wäsche, die fast schlaflosen beiden Nächte, die er auf dem kurzen Sofa ohne Federbetten verbracht hatte, alles dies erhielt ihn in einem Zustand reizbarer Erregung, der dem Wahnsinn nahekam.


Es war schon zwei Uhr nachmittags. Die Franzosen waren bereits in Moskau eingerückt. Pierre wußte das; aber statt zu handeln, dachte er nur an sein Vorhaben und überlegte alle die kleinen und kleinsten Einzelheiten, die damit verbunden sein würden. Und zwar war das, was er sich in seinen Träumereien lebhaft vergegenwärtigte, nicht eigentlich der Akt der Ermordung selbst oder der Tod Napoleons; wohl aber stellte er sich mit außerordentlicher Klarheit und mit einer Art von traurigem Genuß seinen eigenen Untergang und seine heldenmütige Mannhaftigkeit vor.

»Ja, ich muß mich opfern, einer für alle; ich muß es ausführen oder zugrunde gehen!« dachte er. »Ja, ich will hingehen … und dann auf einmal … Mit der Pistole oder mit dem Dolch?« überlegte er. »Aber darauf kommt es nicht an. ›Nicht ich, sondern die Hand der Vorsehung vollstreckt an dir die Todesstrafe‹, werde ich sagen.« (So legte sich Pierre die Worte zurecht, die er bei der Ermordung Napoleons sprechen wollte.) »Nun wohl, packt mich und richtet mich hin!« sprach Pierre weiter bei sich mit trauriger, aber fest entschlossener Miene und ließ den Kopf sinken.

Während Pierre, mitten im Zimmer stehend, solche Überlegungen anstellte, öffnete sich die Tür des Arbeitszimmers, und auf der Schwelle erschien die völlig verwandelte Gestalt des vorher immer so schüchternen Makar Alexejewitsch.

Sein Schlafrock stand offen. Sein Gesicht war gerötet und entstellt. Augenscheinlich war er betrunken.

Als er Pierre erblickte, wurde er im ersten Augenblick verlegen; aber als er dann auch auf Pierres Gesicht eine gewisse Verlegenheit wahrnahm, machte ihn das sofort dreister, und er kam auf seinen dünnen, schwankenden Beinen bis in die Mitte des Zimmers.

»Die andern haben den Mut verloren«, sagte er in vertraulichem Ton mit heiserer Stimme. »Aber ich sage: ich ergebe mich nicht. Ja, so sage ich … ist’s nicht recht so, mein Herr?«

Er überlegte ein Weilchen, und als er dann die Pistole auf dem Tisch erblickte, ergriff er sie auf einmal mit ungeahnter Geschwindigkeit und lief damit auf den Korridor hinaus.

Gerasim und der Hausknecht, die hinter ihm hergegangen waren, hielten ihn auf dem Flur an und versuchten, ihm die Pistole abzunehmen. Pierre, der auf den Korridor hinaustrat, betrachtete voll Mitleid und Ekel diesen halbverrückten Alten.

Vor Anstrengung die Stirn runzelnd, hielt Makar Alexejewitsch die Pistole fest und schrie mit heiserer Stimme; offenbar glaubte er, sich in einer erhabenen Situation zu befinden.

»Zu den Waffen! Zum Entern! Bilde dir nichts ein, du wirst sie mir nicht wegnehmen!« schrie er.

»Lassen Sie es doch gut sein, bitte, lassen Sie es doch gut sein! Haben Sie die Güte; bitte, lassen Sie doch! Nun, bitte, gnädiger Herr …!« sagte Gerasim und suchte behutsam Makar Alexejewitsch an den Ellbogen nach einer Tür hin zu drehen.

»Wer bist du? Bist du Bonaparte?« schrie Makar Alexejewitsch.

»Aber das ist nicht hübsch von Ihnen, gnädiger Herr. Bitte, kommen Sie ins Zimmer; da können Sie sich ausruhen. Bitte, geben Sie das Pistölchen her!«

»Weg, verächtlicher Sklave! Rühre mich nicht an! Siehst du das da?« rief Makar Alexejewitsch und schüttelte die Pistole. »Zum Entern!«

»Faß zu!« flüsterte Gerasim dem Hausknecht zu.

Sie ergriffen Makar Alexejewitsch bei den Armen und schleppten ihn zur Tür hin.

Häßliches Gepolter der Ringenden und das heisere, atemlose Geschrei des Betrunkenen erfüllten den Flur.

Plötzlich erscholl ein neuer durchdringender Schrei einer Frauenstimme von der Haustür her, und die Köchin kam auf den Flur gelaufen.

»Da sind sie! O Gott, o Gott! Wahrhaftig, sie sind da! Vier Mann, zu Pferde!« rief sie.

Gerasim und der Hausknecht ließen Makar Alexejewitsch los, und in dem nun still gewordenen Korridor hörte man deutlich, wie mehrere Hände an die Haustür pochten.

XXVIII


Pierre, der sich die Meinung zurechtgemacht hatte, er dürfe vor Ausführung seiner Absicht weder seinen Stand noch seine Kenntnis des Französischen merken lassen, stand in der halbgeöffneten Korridortür und hatte vor, sofort zu verschwinden, sobald die Franzosen hereinkämen. Aber die Franzosen kamen herein, und Pierre ging trotzdem nicht von der Tür fort: eine unbezwingliche Neugier hielt ihn fest.

Es waren ihrer zwei: der eine ein Offizier, ein schöner Mann von hohem Wuchs und mutigem Aussehen, der andre offenbar ein Gemeiner oder ein Bursche, untersetzt, mager, von der Sonne verbrannt, mit eingefallenen Backen und stumpfem Gesichtsausdruck. Der Offizier, der sich auf einen Stock stützte und ein wenig hinkte, ging voran. Nachdem er einige Schritte getan hatte, schien er mit sich darüber ins reine gekommen zu sein, daß dieses Quartier gut für ihn passe; er blieb stehen, wandte sich zu dem in der Tür stehenden Soldaten zurück und rief ihm mit lauter Kommandostimme zu, sie sollten die Pferde hereinbringen. Nachdem er dies erledigt hatte, strich sich der Offizier mit einer forschen Gebärde, indem er den Ellbogen hoch aufhob, den Schnurrbart zurecht und legte die Hand an die Mütze.

»Guten Tag, allerseits!« sagte er auf französisch und blickte vergnügt lächelnd rings um sich.

Niemand antwortete.

»Sind Sie der Hausherr?« wandte er sich an Gerasim.

Gerasim sah den Offizier erschrocken und fragend an.

»Quartier, Quartier, Logis«, fuhr der Offizier fort und betrachtete den kleinen Menschen von oben bis unten mit einem leutseligen, gutmütigen Lächeln. »Die Franzosen sind gute Kerle. Weiß Gott! Sie sollen sehen, Alterchen: wir werden uns schon vertragen«, fügte er hinzu und klopfte dem erschrockenen, schweigsamen Gerasim auf die Schulter.

»Nun? Sagen Sie mal, spricht denn hier im Haus kein Mensch französisch?« redete er weiter, sah sich rings um, und seine Blicke begegneten den Blicken Pierres. Pierre zog sich von der Tür zurück.

Der Offizier wandte sich wieder an Gerasim. Er verlangte, Gerasim solle ihm die Zimmer im Haus zeigen.

»Der Herr ist nicht da … ich verstehe Sie nicht …«, sagte Gerasim, bemühte sich aber dabei, seine Worte dadurch verständlicher zu machen, daß er sie in verdrehter Weise aussprach.

Der französische Offizier breitete, dicht vor Gerasim hintretend, lächelnd die Arme auseinander und gab dadurch zu verstehen, daß auch er ihn nicht verstände; dann ging er, leicht hinkend, zu der Tür hin, an welcher Pierre stand. Pierre wollte weggehen, um sich vor ihm zu verbergen; aber in diesem Augenblick sah er, wie sich die Küchentür öffnete und Makar Alexejewitsch mit der Pistole in der Hand sich von dort hereinbog. Mit der den Wahnsinnigen eigenen Schlauheit betrachtete Makar Alexejewitsch den Franzosen, hob dann die Pistole in die Höhe und zielte.

»Zum Entern!« schrie der Betrunkene und fingerte an der Pistole herum, um sie abzudrücken. Der französische Offizier wandte sich auf den Schrei um, und in demselben Augenblick stürzte sich Pierre auf den Betrunkenen. In dem Augenblick, als Pierre die Pistole faßte und nach oben drehte, hatte Makar Alexejewitsch endlich mit den Fingern den Abzug gefunden, und es ertönte ein betäubender Schuß, der alle Anwesenden in Pulverdampf hüllte. Der Franzose wurde blaß und stürzte zur Tür zurück.

Pierre vergaß seinen Vorsatz, nicht merken zu lassen, daß er des Französischen mächtig sei, riß dem Betrunkenen die Pistole aus der Hand und warf sie beiseite; dann lief er zu dem Offizier hin und redete ihn auf französisch an.

»Sie sind nicht verwundet?« fragte er.

»Ich glaube nicht«, antwortete der Offizier, indem er an sich herumtastete. »Diesmal bin ich glücklich davongekommen«, fügte er hinzu und deutete auf den abgeschlagenen Kalkbewurf an der Wand. »Was ist das für ein Mensch?« fragte er, Pierre streng ansehend.

»Ich bin wirklich in Verzweiflung über diesen Vorfall«, erwiderte Pierre schnell, ohne an seine Rolle zu denken. »Er ist ein Narr, ein Unglücklicher, der nicht wußte, was er tat.«

Der Offizier trat zu Makar Alexejewitsch hin und packte ihn am Kragen.

Makar Alexejewitsch machte die Lippen auseinander, wie wenn er einschliefe, schwankte hin und her und lehnte sich gegen die Wand.

»Mordbube, das sollst du mir büßen!« sagte der Franzose und zog seine Hand wieder zurück. »Wir sind milde nach dem Sieg; aber Verräter finden bei uns keine Gnade«, fügte er mit finsterem, feierlichem Ernst in der Miene und mit einer hübschen, energischen Handbewegung hinzu.

Pierre fuhr fort, den Offizier auf französisch zu bitten, er möchte doch diesen betrunkenen, geistesschwachen Menschen nicht zur Verantwortung ziehen. Der Franzose hörte ihn schweigend an, ohne seine finstere Miene zu ändern; aber plötzlich wandte er sich lächelnd zu Pierre hin. Er betrachtete ihn einige Sekunden lang schweigend. Sein schönes Gesicht nahm einen theatralischen Ausdruck zärtlicher Rührung an, und er streckte ihm die Hand hin.

»Sie haben mir das Leben gerettet! Sie sind ein Franzose«, sagte er.

Für einen Franzosen war diese Schlußfolgerung zwingend. Eine große, edle Tat vollbringen, das konnte nur ein Franzose, und ihm das Leben zu retten, ihm, Herrn Ramballe, Kapitän im dreizehnten Regiment Chevauleger, das war ohne Zweifel eine sehr große, edle Tat.

Aber mochte diese Schlußfolgerung auch noch so zwingend und die sich darauf gründende Überzeugung des Offiziers noch so fest sein, so hielt es Pierre doch für nötig, seine falsche Vorstellung zu zerstören.

»Ich bin Russe«, sagte er schnell.

»Papperlapapp! Machen Sie mir nichts weis!« erwiderte der Franzose lächelnd und bewegte einen Finger vor seiner Nase hin und her. »Sie werden mir sehr bald erzählen, wie es damit steht. Ich bin entzückt, hier einen Landsmann zu treffen. Nun also, was werden wir mit diesem Menschen anfangen?« fügte er, zu Pierre gewendet, hinzu, den er schon wie einen guten Kameraden behandelte.

Die Miene und der Ton des französischen Offiziers besagten ungefähr: selbst wenn Pierre kein Franzose sein sollte, so könne er doch, nachdem er einmal diese Benennung, die höchste in der ganzen Welt, erhalten habe, sie nicht ablehnen. Auf die letzte Frage antwortend, setzte Pierre noch einmal auseinander, wer Makar Alexejewitsch sei, und erzählte, daß kurz vor ihrer Ankunft dieser betrunkene, geistesschwache Mensch sich unversehens der geladenen Pistole bemächtigt habe, die man ihm so schnell noch nicht habe wieder wegnehmen können, und bat, von einer Strafe für seine Tat abzusehen.

Der Franzose drückte die Brust heraus und machte eine Handbewegung, deren sich kein Kaiser zu schämen gehabt hätte.

»Sie haben mir das Leben gerettet! Sie sind ein Franzose. Sie bitten mich um seine Begnadigung? Ich bewillige sie Ihnen. Man führe diesen Menschen fort!« sagte der französische Offizier schnell und energisch, faßte dann Pierre, den er zum Dank für die Rettung seines Lebens zum Franzosen befördert hatte, unter den Arm und ging mit ihm in die Wohnung.

Die Soldaten, die sich auf dem Hof befunden hatten, waren, als die den Schuß gehört hatten, in den Flur gekommen, um zu fragen, was geschehen sei, und um sich zwecks Bestrafung der Schuldigen zur Verfügung zu stellen; aber der Offizier wies sie in strengem Ton zurück.

»Wenn ich euch brauche, werde ich euch rufen«, sagte er.

Die Soldaten gingen wieder hinaus. Der Bursche, der unterdessen schon Zeit gefunden hatte, in der Küche einen Besuch zu machen, trat an den Offizier heran.

»Kapitän, sie haben hier Suppe und Hammelkeule in der Küche«, sagte er. »Soll ich es Ihnen bringen?«

»Ja, und auch Wein«, erwiderte der Kapitän.

XXIX


Als der französische Offizier und Pierre zusammen in die Wohnung hineingegangen waren, hielt Pierre es für seine Pflicht, dem Kapitän nochmals zu versichern, daß er nicht Franzose sei, und wollte sich dann von ihm entfernen; aber der französische Offizier wollte davon nichts hören. Er war dermaßen höflich, liebenswürdig, gutmütig und seinem Lebensretter dermaßen aufrichtig dankbar, daß Pierre es nicht übers Herz brachte, ihm eine abschlägige Antwort zu erteilen, und sich mit ihm zusammen im Salon, dem ersten Zimmer, in das sie eingetreten waren, niedersetzte. Auf Pierres Versicherung, daß er nicht Franzose sei, zuckte der Kapitän, der offenbar nicht begriff, wie jemand eine so schmeichelhafte Benennung ablehnen könne, nur die Achseln und sagte, wenn Pierre denn durchaus für einen Russen gelten wolle, so habe er weiter nichts dagegen; er bleibe aber trotzdem mit ihm in gleicher Weise lebenslänglich durch das Gefühl der Dankbarkeit für die Lebensrettung verbunden.

Wäre dieser Mensch auch nur im geringsten mit der Fähigkeit begabt gewesen, die Gefühle anderer Leute zu verstehen, und hätte er von Pierres Empfindungen etwas geahnt, so wäre Pierre wahrscheinlich von ihm fortgegangen; aber die muntere Verständnislosigkeit dieses Menschen für alles, was nicht er selbst war, übte auf Pierre einen eigenen Reiz aus.

»Also entweder Franzose oder russischer Fürst inkognito«, sagte der Franzose mit einem Blick auf Pierres feine, wenn auch schmutzige Wäsche und auf den Ring an seinem Finger. »Ich verdanke Ihnen mein Leben und biete Ihnen meine Freundschaft an. Weder eine Beleidigung noch einen ihm geleisteten Dienst vergißt ein Franzose jemals. Ich biete Ihnen meine Freundschaft an. Weiter sage ich nichts.«

In dem Klang der Stimme, in dem Ausdruck des Gesichtes und in den Handbewegungen dieses Offiziers lagen so viel Gutherzigkeit und Edelmut (im französischen Sinne), daß Pierre das Lächeln des Franzosen unwillkürlich mit einem Lächeln erwiderte und die ihm hingestreckte Hand drückte.

»Kapitän Ramballe vom dreizehnten Chevauleger-Regiment, Ritter der Ehrenlegion für die Schlacht am siebenten«, stellte er sich vor und verzog dabei die Lippen unter dem Schnurrbart zu einem selbstzufriedenen Lächeln, das er nicht unterdrücken konnte. »Würden Sie wohl die Güte haben, mir jetzt auch zu sagen, mit wem ich die Ehre habe, mich so angenehm zu unterhalten, statt mit der Kugel dieses Narren im Leib im Lazarett zu liegen?«

Pierre erwiderte, er dürfe seinen Namen nicht nennen, und wollte errötend anfangen von den Gründen zu sprechen, die ihm dies verboten; aber der Franzose unterbrach ihn eilig.

»Lassen Sie gut sein!« sagte er. »Ich verstehe Ihre Gründe; Sie sind Offizier, vielleicht ein höherer Offizier. Sie haben gegen uns die Waffen getragen. Aber das geht mich jetzt nichts an. Ich verdanke Ihnen mein Leben. Das genügt mir. Ich bin ganz der Ihrige. Sie sind Edelmann?« fügte er mit einem leisen Beiklang von fragendem Ton hinzu. Pierre neigte den Kopf. »Wollen Sie mir gefälligst Ihren Taufnamen nennen? Ich werde keine weiteren Fragen stellen. Monsieur Pierre, sagen Sie. Vortrefflich; das ist alles, was ich zu wissen wünsche.«

Als das Hammelfleisch, Rührei, ein Samowar, Branntwein und Wein gebracht waren (letzteren hatten die Franzosen selbst mitgebracht; er stammte aus einem russischen Keller), da forderte Ramballe Pierre auf, an diesem Mittagessen teilzunehmen, und begann unverzüglich selbst mit dem Appetit und der Geschwindigkeit eines gesunden, hungrigen Menschen zu essen, indem er eilig mit seinen kräftigen Zähnen kaute, fortwährend vor Vergnügen schmatzte und dabei bemerkte: »Ausgezeichnet, ganz vorzüglich!« Sein Gesicht rötete sich und überzog sich mit Schweißtröpfchen. Pierre war hungrig und beteiligte sich sehr gern an der Mahlzeit. Morel, der Bursche, brachte eine Kasserolle mit warmem Wasser und stellte die Rotweinflasche hinein. Außerdem brachte er eine Flasche mit Kwaß, die er zur Probe aus der Küche mitgenommen hatte. Dieses Getränk war den Franzosen schon bekannt, und sie hatten ihm einen besonderen Namen gegeben. Sie nannten es Schweine-Limonade, und Morel rühmte diese Schweine-Limonade, die er in der Küche gefunden hatte. Aber da der Kapitän den Wein zur Verfügung hatte, der bei einer Wanderung durch Moskau seine Beute geworden war, so überließ er den Kwaß dem Burschen Morel und hielt sich seinerseits an den Bordeaux. Er wickelte die Flasche bis an den Hals in eine Serviette und goß sich und Pierre Wein ein. Der gestillte Hunger und der genossene Wein machten den Kapitän noch lebhafter, und so redete er denn während des Mittagessens ununterbrochen.

»Ja, mein lieber Monsieur Pierre, ich fühle mich verpflichtet, eine stattliche Kerze dafür in eine Kirche zu stiften, daß Sie mich vor diesem Rasenden gerettet haben. Wissen Sie, ich habe schon genug von diesen Dingern, den Kugeln, im Leib. Da ist eine«, (er zeigte auf seine Seite), »die habe ich bei Wagram bekommen. Und eine zweite bekam ich bei Smolensk.« (Er wies auf eine Narbe, die er an der Wange hatte.) »Und dann dieses Bein, das nicht ordentlich gehen will, wie Sie sehen. Das habe ich bei der großen Schlacht vom siebenten an der Moskwa abbekommen. Donnerwetter, war das schön! Das war sehenswert; es war ein richtiges Feuermeer. Sie haben es uns sauer gemacht; Sie können sich dessen rühmen, alle Wetter! Aber, mein Ehrenwort, trotz des Hustens, den ich mir dabei geholt habe, wäre ich auf der Stelle bereit, die Geschichte noch einmal von vorn durchzumachen. Ich bedaure jeden, der das nicht gesehen hat.«

»Ich bin dabeigewesen«, sagte Pierre.

»Ah, wirklich? Nun, um so besser«, redete der Franzose weiter. »Sie sind tüchtige Feinde; das muß man Ihnen lassen. Die große Schanze hat sich gut gehalten, Himmelsapperment! Für die haben Sie uns einen gehörigen Preis bezahlen lassen. Drei Attacken auf diese Schanze habe ich mitgemacht, so wahr ich hier sitze. Dreimal waren wir schon bei den Kanonen, und dreimal wurden wir niedergeworfen wie Pappsoldaten. Oh, das war mal schön, Monsieur Pierre! Ihre Grenadiere waren großartig, Schwerenot noch mal! Ich habe gesehen, wie sie sechsmal hintereinander ihre Reihen wieder schlossen und marschierten, als ob sie auf der Parade wären. Die schönen Menschen! Unser König von Neapel (und der ist ein Kenner auf diesem Gebiet) rief: ›Bravo!‹ … Ja, ja, ihr seid ebensolche Soldaten wie wir«, fügte er nach kurzem Stillschweigen lächelnd hinzu. »Um so besser, um so besser, Monsieur Pierre. Furchtbar in der Schlacht, galant« (hier zwinkerte er ihm lächelnd zu) »gegen schöne Damen; so sind die Franzosen, Monsieur Pierre; nicht wahr?«

Der Kapitän war von einer so naiven, gutmütigen Heiterkeit und einer so ungetrübten Selbstzufriedenheit, daß Pierre, der ihn heiter ansah, beinahe selbst mit den Augen zu zwinkern anfing. Wahrscheinlich brachte das Wort »galant« den Kapitän auf den Gedanken an die Situation in Moskau.

»Apropos, sagen Sie doch, ist es wahr, daß alle Frauen Moskau verlassen haben? Eine wunderliche Idee! Was hatten sie denn zu fürchten?«

»Würden die französischen Damen nicht auch Paris verlassen, wenn die Russen dort einzögen?« fragte Pierre.

»Ha, ha, ha!« lachte der Franzose lustig, wie ein echter Sanguiniker, und klopfte Pierre auf die Schulter. »Da haben Sie einen guten Witz gemacht. Paris? Ja, Paris, Paris …«

»Paris ist die Hauptstadt der Welt«, sagte Pierre, den angefangenen Satz des andern ergänzend.

Der Kapitän blickte Pierre an. Er hatte die Gewohnheit an sich, mitten im Gespräch innezuhalten und mit lachenden, freundlichen Augen vor sich hin zu sehen.

»Nun, wenn Sie mir nicht gesagt hätten, daß Sie Russe sind, hätte ich gewettet, daß Sie ein Pariser wären. Sie haben so etwas Undefinierbares, dieses …« Und nachdem er dieses Kompliment gesagt hatte, blickte er schweigend vor sich hin.

»Ich bin in Paris gewesen; ich habe dort mehrere Jahre gelebt«, sagte Pierre.

»Oh, das merkt man Ihnen leicht an. Paris …! Wer Paris nicht kennt, der ist ein Wilder. Einen Pariser erkennt man auf zwei Meilen. Paris, das ist Talma, die Duchesnois, Potier, die Sorbonne, die Boulevards«, und da er bemerkte, daß der Schluß gegen das Vorhergehende etwas abfiel, fügte er rasch hinzu: »Es gibt nur ein Paris in der Welt. Sie sind in Paris gewesen und sind Russe geblieben. Nun, das tut meiner Hochachtung für Sie keinen Eintrag.«

Infolge des genossenen Weines und infolge davon, daß er mehrere Tage in der Einsamkeit und in trüben Gedanken verlebt hatte, empfand Pierre unwillkürlich ein gewisses Vergnügen an der Unterhaltung mit diesem heitern, gutherzigen Menschen.

»Um wieder auf Ihre Damen zurückzukommen«, sagte der Franzose, »es heißt ja, sie seien sehr schön. Welche verdrehte Idee, davonzugehen und sich in den Steppen zu vergraben, während die französische Armee in Moskau ist! Welch eine schöne Gelegenheit haben sie verpaßt, Ihre Damen. Ihre Bauern, ja, das ist etwas anderes; aber Sie, die Gebildeten, Sie sollten uns doch besser kennen. Wir haben Wien, Berlin, Madrid, Neapel, Rom, Warschau, alle Hauptstädte der Welt eingenommen. Wir werden gefürchtet, aber geliebt. Es macht einem jeden Freude, uns näher kennenzulernen. Und dann der Kaiser …«, begann er; aber Pierre unterbrach ihn.

»Der Kaiser …«, wiederholte Pierre, und sein Gesicht nahm plötzlich einen trüben, verlegenen Ausdruck an. »Ist denn der Kaiser wirklich …«

»Der Kaiser? Der Kaiser ist die Großmut, die Gnade, die Gerechtigkeit, die Ordnung, das Genie in eigener Person; das ist der Kaiser. Das sage ich Ihnen, ich, Kapitän Ramballe. Ich versichere Ihnen, ich war sein Feind, noch vor acht Jahren war ich sein Feind. Mein Vater, ein Graf, war Emigrant. Aber er hat mich besiegt, dieser Mann. Er hat mich gepackt. Ich habe nicht widerstehen können, als ich sah, wie er Frankreich groß machte und mit Ruhm schmückte. Als ich begriff, was er wollte, als ich sah, daß er uns auf Lorbeeren bettete, sehen Sie, da habe ich mir gesagt: ›Das ist ein Souverän!‹ und habe mich ihm zu eigen gegeben. So ist das! Ja, mein Lieber, er ist der größte Mann aller vergangenen und kommenden Jahrhunderte.«

»Ist er in Moskau?« fragte Pierre stotternd und machte dabei ein Gesicht wie ein Verbrecher.

Der Franzose sah Pierres Verbrechergesicht an und lächelte.

»Nein, noch nicht; er wird erst morgen seinen Einzug halten«, sagte er und fuhr dann in seiner Erzählung fort.

Ihr Gespräch wurde durch ein Geschrei mehrerer Stimmen am Tor und durch den Eintritt Morels unterbrochen, der dem Kapitän zu melden kam, Württemberger Husaren seien gekommen und wollten ihre Pferde auf demselben Hof unterbringen, auf dem schon die Pferde des Kapitäns ständen; besondere Schwierigkeit entstände dadurch, daß die Husaren nicht verständen, was ihnen gesagt würde.

Der Kapitän ließ sich den ältesten Unteroffizier hereinrufen und fragte ihn in strengem Ton, zu welchem Regiment er gehöre, wer ihr Kommandeur sei, und mit welchem Recht er sich erlaube, ein Quartier in Anspruch zu nehmen, das bereits belegt sei. Auf die ersten beiden Fragen nannte der Deutsche, der nur schlecht Französisch verstand, sein Regiment und seinen Kommandeur; aber die letzte Frage verstand er nicht und antwortete, indem er in sein Deutsch verunstaltete französische Worte hineinmengte, er sei der Quartiermacher des Regiments, und es sei ihm vom Kommandeur befohlen, in dieser Straße alle Häuser der Reihe nach mit Beschlag zu belegen. Pierre, der Deutsch konnte, übersetzte dem Kapitän das, was der Deutsche sagte, und übermittelte die Antwort des Kapitäns auf deutsch dem Württemberger Husaren. Nachdem der Deutsche verstanden hatte, was zu ihm gesagt wurde, gab er nach und führte seine Leute fort. Der Kapitän trat auf die Freitreppe hinaus und erteilte mit lauter Stimme Befehle.

Als er wieder in das Zimmer zurückkehrte, saß Pierre immer noch auf demselben Platz, auf dem er vorher gesessen hatte, den Kopf auf die Arme gestützt. Sein Gesicht drückte einen tiefen Schmerz aus. Er litt wirklich in diesem Augenblick schwer. Als der Kapitän hinausgegangen und Pierre allein geblieben war, hatte er auf einmal wieder seine Gedanken gesammelt und war sich der Lage, in der er sich befand, bewußt geworden. Nicht daß Moskau von den Feinden besetzt war, auch nicht, daß diese glücklichen Sieger in der Stadt die Herren spielten und ihn gönnerhaft behandelten, nicht das war es, was ihn in diesem Augenblick quälte, so schwer er es auch empfand. Was ihn quälte, war das Bewußtsein seiner eigenen Schwäche. Die paar Gläser Wein, die er getrunken hatte, und das Gespräch mit diesem gutherzigen Menschen hatten die düster grübelnde Stimmung zerstört, in der Pierre die letzten Tage verbracht hatte und die zur Ausführung seiner Absicht unumgänglich notwendig war. Die Pistole und der Dolch und der Kaftan waren bereit, und Napoleon hielt morgen seinen Einzug. Pierre hielt die Ermordung des Bösewichtes noch für ebenso nützlich und verdienstvoll wie vorher; aber er fühlte, daß er diese Tat jetzt nicht zur Ausführung bringen werde. Warum, das wußte er nicht; aber er hatte gewissermaßen eine Ahnung, daß er seine Absicht nicht verwirklichen werde. Er kämpfte gegen das Bewußtsein seine Schwäche an, fühlte aber unklar, daß er sie nicht überwinden könne und daß das frühere düstere Gebäude von Gedanken an Rache, Mord und Selbstaufopferung bei der ersten Berührung durch einen beliebigen Menschen wie ein Kartenhaus zusammenfiel.

Der Kapitän trat, leicht hinkend und etwas vor sich hin pfeifend, ins Zimmer.

Das Geplar des Franzosen, das vorher für Pierre amüsant gewesen war, erschien ihm jetzt widerwärtig. Auch das Liedchen, das dieser pfiff, und sein Gang und die Gebärde, mit der er sich den Schnurrbart drehte, alles wirkte jetzt auf Pierre wie eine Beleidigung. »Ich will sofort weggehen und kein Wort mehr mit ihm reden«, dachte Pierre. Er dachte das und blieb trotzdem auf demselben Fleck sitzen. Ein seltsames Gefühl der Schwäche hielt ihn an seinem Platz wie angeschmiedet fest; er wollte aufstehen und fortgehen, konnte es aber nicht.

Der Kapitän dagegen schien sehr vergnügt zu sein. Er ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. Seine Augen glänzten, und sein Schnurrbart zuckte leise, als ob er still für sich über einen amüsanten Gedanken lächelte.

»Ein prächtiger Mensch, der Oberst, dieser Württemberger«, sagte er auf einmal. »Er ist ja ein Deutscher, aber ein braver Kerl trotz alledem. Aber freilich ein Deutscher.« (Er setzte sich Pierre gegenüber.) »Apropos, Sie können also Deutsch?«

Pierre sah ihn schweigend an.

»Wie sagt man für asile auf deutsch?«

»Asile?« wiederholte Pierre. »Asile heißt auf deutsch ›Unterkunft‹.«

»Wie sagen Sie?« fragte der Kapitän rasch und mißtrauisch.

»›Unterkunft‹«, sagte Pierre noch einmal.

»›Onterkoff‹«, sprach der Kapitän nach und blickte Pierre einige Sekunden lang mit lachenden Augen an. »Die Deutschen sind armselige Tröpfe! Nicht wahr, Monsieur Pierre?« fragte er.

»Nun, wie ist’s? Noch eine Flasche von diesem Moskauer Bordeaux, nicht wahr? Morel wärmt uns noch ein Fläschchen. Morel!« rief der Kapitän vergnügt.

Morel brachte Kerzen und noch eine Flasche Wein. Der Kapitän betrachtete Pierre jetzt im Hellen und war augenscheinlich betroffen über das verstörte Gesicht desselben. Mit dem Ausdruck aufrichtiger Betrübnis und Teilnahme im Gesicht trat er an Pierre heran und beugte sich über ihn.

»Aber wir sind traurig?« sagte er und berührte Pierres Arm. »Sollte ich Sie irgendwie gekränkt haben? Nein, sagen Sie aufrichtig: haben Sie etwas gegen mich? Oder vielleicht grämen Sie sich über die Lage?«

Pierre gab ihm keine Antwort, sah ihm aber freundlich in die Augen. Dieser Ausdruck von Teilnahme berührte ihn angenehm.

»Mein Ehrenwort! Ganz abgesehen davon, daß ich Ihnen Dank schulde, hege ich eine wahre Freundschaft für Sie. Kann ich etwas für Sie tun? Verfügen Sie ganz über mich. Auf Leben und Tod. Das sage ich Ihnen, Hand aufs Herz«, sagte er und schlug sich auf die Brust.

»Ich danke Ihnen«, erwiderte Pierre.

Der Kapitän sah Pierre prüfend an, ebenso wie er ihn angesehen hatte, als er sich hatte sagen lassen, wie asile auf deutsch hieße, und plötzlich leuchtete sein Gesicht auf.

»Ah, dann trinke ich also auf unsere Freundschaft!« rief er fröhlich und goß zwei Gläser voll Wein.

Pierre nahm das vollgeschenkte Glas und trank es aus. Auch Ramballe leerte das seinige, drückte Pierre noch einmal die Hand und stützte sich in nachdenklicher, melancholischer Haltung mit dem Ellbogen auf den Tisch.

»Ja, mein teurer Freund, das sind die Launen des Schicksals«, begann er. »Wer hätte mir das vorhergesagt, daß ich Soldat und Dragonerkapitän im Dienst Bonapartes sein würde, wie wir ihn ehemals nannten. Und nun bin ich doch mit ihm hier in Moskau. Ich muß Ihnen sagen, lieber Freund«, fuhr er in dem trübseligen, gemessenen Ton jemandes fort, der sich anschickt, eine lange Geschichte zu erzählen, »daß unsere Familie eine der ältesten Frankreichs ist.«

Und mit der leichten, harmlosen Offenherzigkeit des Franzosen erzählte der Kapitän Pierre die Geschichte seiner Vorfahren und vieles aus seiner Kindheit, seiner Jugend und seinem Mannesalter und unterrichtete ihn über seine sämtlichen Verwandtschafts-, Vermögens- und Familienverhältnisse. Selbstverständlich spielte »meine arme Mutter« in dieser Erzählung eine große Rolle.

»Aber alles das ist nur die äußere Szenerie des Lebens; der eigentliche Kern des Lebens ist doch die Liebe! Die Liebe! Nicht wahr, Herr Pierre?« sagte er, lebhaft werdend. »Noch ein Glas!«

Pierre trank wieder aus und goß sich ein drittes Glas ein.

»Oh«, rief der Kapitän, »die Weiber, die Weiber!« Und Pierre mit feuchtschimmernden Augen anblickend, begann er von der Liebe und seinen Liebesabenteuern zu reden.

Diese Abenteuer waren, seiner Darstellung nach, sehr zahlreich gewesen, und das konnte man im Hinblick auf das selbstgefällige, hübsche Gesicht des Offiziers und die schwärmerische Begeisterung, mit der er von den Frauen sprach, auch gern glauben. Zwar trugen alle Liebesgeschichten Ramballes jenen charakteristischen Zug von Unsauberkeit an sich, in welchem die Franzosen den ausschließlichen Reiz und die Poesie der Liebe sehen; aber der Kapitän erzählte seine Geschichten mit einer solchen aufrichtigen Überzeugung davon, daß er allein alle Reize der Liebe erfahren und kennengelernt habe, und schilderte die Frauen in so verlockenden Farben, daß Pierre ihm mit Interesse zuhörte.

Es war offenbar, daß die Liebe, die für den Franzosen eine solche Wichtigkeit besaß, weder jene Liebe einfachster, niedriger Art war, wie sie Pierre einst für seine Frau empfunden hatte, noch auch jene von ihm selbst unterdrückte romantische Liebe, die er für Natascha empfand (diese beiden Arten von Liebe schätzte Ramballe in gleicher Weise gering: die erstere war ihm die Liebe der Fuhrleute, die andere die Liebe der Einfaltspinsel); die Liebe, die der Franzose so hoch schätzte, bestand vornehmlich in einer Verkünstelung der Beziehungen zum Weib und in einer Häufung von Ungeheuerlichkeiten, die nach seiner Ansicht dem Gefühl erst den rechten Reiz gaben.

So erzählte der Kapitän eine rührende Geschichte von seiner Liebe zu einer bezaubernden fünfunddreißigjährigen Marquise und zugleich zu einem entzückenden, unschuldigen siebzehnjährigen jungen Mädchen, der Tochter der bezaubernden Marquise. Der Kampf der Großmut zwischen Mutter und Tochter, der damit geendet hatte, daß die Mutter, sich selbst zum Opfer bringend, ihrem Liebhaber ihre Tochter zur Frau angeboten hatte, versetzte selbst jetzt noch, wo dies eine weit zurückliegende Erinnerung war, den Kapitän in starke Aufregung. Dann erzählte er eine Geschichte, bei der der Gatte die Rolle des Liebhabers und er, der Liebhaber, die Rolle des Gatten gespielt hatte, und einige komische Begebnisse aus seinen souvenirs d’Allemagne, wo die Leute für asile »Unterkunft« sagen und die Ehemänner Sauerkraut essen und die jungen Mädchen gar zu blond sind.

Das letzte Erlebnis in Polen endlich, das dem Kapitän noch frisch im Gedächtnis haftete und das er mit lebhaften Gestikulationen und heißem Gesicht erzählte, bestand darin, daß er einem Polen das Leben gerettet hatte (überhaupt waren in den Erzählungen des Kapitäns Lebensrettungen ein immer wiederkehrendes Moment) und dieser Pole ihm seine bezaubernde Gattin, eine Pariserin ihrem ganzen geistigen Wesen nach, anvertraut hatte, während er selbst in französische Dienste getreten war. Der Kapitän war glücklich gewesen; die bezaubernde Polin hatte mit ihm entfliehen wollen; aber von Edelsinn geleitet, hatte der Kapitän dem Gatten die Frau zurückgegeben und dabei zu ihm gesagt: »Ich habe Ihnen das Leben gerettet und rette jetzt Ihre Ehre!« Als der Kapitän diese Worte anführte, wischte er sich die Augen und schüttelte sich, als wollte er sich einer Schwäche erwehren, die ihn bei dieser rührenden Erinnerung überkam.

Während Pierre die Erzählungen des Kapitäns anhörte, ging es ihm, wie das in später Abendzeit und nach Weingenuß nichts Seltenes ist: er folgte allem, was der Kapitän sagte, und verstand alles, verfolgte aber gleichzeitig eine Reihe persönlicher Erinnerungen, die auf einmal aus nicht recht verständlichem Grund vor sein geistiges Auge traten. Und während er die Liebesgeschichten des Franzosen anhörte, mußte er auf einmal, für ihn selbst überraschend, an seine eigene Liebe zu Natascha denken, und indem er im Geist die einzelnen Bilder dieser Liebe sich wieder vergegenwärtigte, verglich er sie im stillen mit Ramballes Erzählungen. Er folgte der Erzählung von dem Kampf des Pflichtgefühls mit der Liebe und glaubte gleichzeitig alle, selbst die kleinsten Einzelheiten seiner letzten Begegnung mit dem Gegenstand seiner Liebe beim Sucharew-Turm vor sich zu sehen. Damals hatte diese Begegnung ihm keinen besonderen Eindruck gemacht; er hatte sogar seitdem nicht ein einziges Mal wieder daran gedacht; aber jetzt schien es ihm, daß diese Begegnung etwas sehr Bedeutsames und Poetisches gehabt habe.

Er glaubte jetzt die Worte zu hören, die sie damals gesprochen hatte: »Pjotr Kirillowitsch, kommen Sie doch her; ich habe Sie erkannt!« Er glaubte ihre Augen vor sich zu sehen und ihr Lächeln und ihr Reisehäubchen und eine Haarsträhne, die sich daraus hervorgestohlen hatte. Und in alledem fand er etwas Zartes, Rührendes.

Als der Kapitän seine Erzählung von der bezaubernden Polin beendet hatte, wandte er sich an Pierre mit der Frage, ob er selbst schon einmal ein ähnliches Gefühl der Selbstaufopferung und des Neides gegen den legitimen Gatten kennengelernt habe.

Durch diese Frage herausgefordert, hob Pierre den Kopf in die Höhe und fühlte das unabweisbare Bedürfnis, die Gedanken, die ihn beschäftigten, auszusprechen; er begann dem Franzosen auseinanderzusetzen, wie er die Liebe zum Weib etwas anders auffasse. Er sagte, daß er sein ganzes Leben lang nur ein einziges weibliches Wesen geliebt habe und noch liebe, und daß dieses Wesen ihm nie angehören könne.

»Ei der Tausend!« sagte der Kapitän.

Dann legte ihm Pierre dar, daß er dieses Mädchen seit dessen frühster Jugend geliebt habe; aber er habe nicht an sie zu denken gewagt, weil sie zu jung gewesen sei und er selbst ein illegitimer Sohn ohne Namen. Später aber, als ihm ein Name und Reichtum zugefallen sei, habe er deswegen nicht gewagt an sie zu denken, weil er sie zu sehr geliebt und zu hoch über alles in der Welt und erst recht über sich selbst gestellt habe.

Als Pierre bis zu diesem Punkt seiner Erzählung gelangt war, richtete er an den Kapitän die Frage, ob er ihn auch wohl verstehe.

Der Kapitän machte eine Gebärde, die besagte: selbst wenn er ihn nicht verstehen sollte, bitte er ihn doch fortzufahren.

»Platonische Liebe, Nebeldunst …«, murmelte er vor sich hin.

War es nun der genossene Wein oder das Bedürfnis, sich offen auszusprechen, oder der Gedanke, daß dieser Mensch keine der handelnden Personen seiner Geschichte kenne oder jemals kennenlernen werde: genug, eines hiervon oder alles zusammen löste Pierre die Zunge. Und mit lispelnder Sprache, die feuchtglänzenden Augen irgendwohin in die Ferne gerichtet, erzählte er seine ganze Geschichte: von seiner Heirat, und von Nataschas Liebe zu seinem besten Freund, und von ihrem Treubruch und von all seinen harmlosen Beziehungen zu ihr. Durch Ramballes Fragen veranlaßt, erzählte er auch, was er anfangs verheimlicht hatte: von seiner Stellung in der Gesellschaft; ja, er nannte dem Kapitän sogar seinen Namen.

Was dem Kapitän in Pierres Erzählung am allermeisten imponierte, das war, daß dieser reich war, zwei Paläste in Moskau besaß, dies alles aber im Stich gelassen hatte und, statt aus Moskau wegzugehen, unter Verheimlichung seines Namens und Standes in der Stadt geblieben war.

Es war schon späte Nacht, als sie beide zusammen auf die Straße hinaustraten. Die Nacht war warm und hell. Links vom Haus leuchtete der Feuerschein des ersten in Moskau ausgebrochenen Brandes, an der Petrowka-Straße. Rechts stand hoch am Himmel die junge Mondsichel, und auf der dem Mond entgegengesetzten Seite hing jener helle Komet, den Pierre in seiner Seele mit seiner Liebe in eine geheimnisvolle Beziehung brachte. Am Tor standen Gerasim, die Köchin und zwei Franzosen. Man hörte ihr Lachen und das Gespräch, das sie miteinander führten, obwohl sie ihre Sprache wechselseitig nicht verstanden. Sie schauten nach dem Feuerschein hin, der über der Stadt sichtbar war.

Der kleine, ferne Brand in der gewaltigen Stadt hatte weiter nichts Besorgniserregendes.

Der Anblick des hohen Sternenhimmels, des Mondes, des Kometen und des Feuerscheins erfüllte Pierres Seele mit freudiger Rührung. »Ah, wie schön das ist! Was will ich noch weiter?« dachte er. Da fiel ihm auf einmal sein Vorhaben ein, und der Kopf wurde ihm schwindlig, eine Schwäche kam über ihn, so daß er sich an den Zaun lehnen mußte, um nicht zu fallen.

Ohne von seinem neuen Freund Abschied zu nehmen, ging Pierre mit unsicheren Schritten vom Tor weg, legte sich, als er in sein Zimmer gekommen war, auf das Sofa und schlief sofort ein.

XXX


Nach dem Feuerschein des ersten, am 2. September ausgebrochenen Brandes blickten die zu Fuß und zu Wagen flüchtenden Einwohner und die sich zurückziehenden Truppen von verschiedenen Wegen aus und mit verschiedenen Empfindungen hin.

Die Rostowsche Wagenkolonne stand in dieser Nacht in Mytischtschi, zwanzig Werst von Moskau entfernt. Sie waren am 1. September erst so spät von Moskau abgefahren und hatten den Weg von Fuhrwerken und Truppen dermaßen versperrt gefunden, und es waren so viele Sachen vergessen worden, nach denen erst noch Leute hatten zurückgeschickt werden müssen, daß die Familie sich dafür entschieden hatte, in dieser Nacht nur fünf Werst von Moskau entfernt zu übernachten. Am andern Morgen waren sie erst spät aufgewacht, und es hatte wieder so viel Aufenthalt gegeben, daß sie nur bis Groß-Mytischtschi kamen. Gegen zehn Uhr quartierten sich die Familie Rostow und die mit ihr zusammen fahrenden Verwundeten sämtlich in den Höfen und Bauernhäusern dieses großen Dorfes ein. Die Dienstboten und Kutscher der Familie Rostow und die Burschen der Verwundeten sorgten zunächst für ihre Herrschaften, aßen dann selbst Abendbrot, fütterten die Pferde und gingen darauf hinaus auf die Freitreppe.

In dem Nachbarhaus lag ein verwundeter Adjutant Rajewskis, dem eine Hand zerschmettert war, und der furchtbare Schmerz, den er auszustehen hatte, zwang ihn, unaufhörlich kläglich zu stöhnen, und dieses Stöhnen klang in der dunklen Herbstnacht geradezu entsetzlich. Die erste Nacht hatte dieser Adjutant in demselben Gutshof zugebracht, wo auch die Familie Rostow übernachtet hatte. Aber die Gräfin hatte gesagt, sie habe wegen dieses Stöhnens kein Auge zutun können, und war in Mytischtschi lieber in das schlechteste Bauernhaus gezogen, um nur etwas weiter von diesem Verwundeten entfernt zu sein.

Einer der Offiziersburschen bemerkte im Dunkel der Nacht einen zweiten, kleinen Feuerschein, der ihnen bisher durch einen an der Einfahrt stehenden hohen Kutschwagen verdeckt gewesen war. Einen zweiten: denn ein anderer war schon lange sichtbar gewesen, und alle wußten, daß da Klein-Mytischtschi brannte, das von den Mamonowschen Kosaken angezündet war.

»Seht mal, Leute, da ist noch ein Brand«, sagte der Bursche.

Alle wandten ihre Aufmerksamkeit diesem Feuerschein zu.

»Es hieß ja, die Mamonowschen Kosaken hätten Klein-Mytischtschi in Brand gesteckt.«

»Das soll Klein-Mytischtschi sein? Nein, das ist nicht Klein-Mytischtschi; das ist weiter.«

»Seht nur, gerade als ob es in Moskau wäre.«

Zwei von den Leuten stiegen die Freitreppe herab, gingen um die Kutsche herum und setzten sich da auf den Wagentritt.

»Das ist weiter links, gewiß. Mytischtschi liegt ja dort, und dies ist nach einer ganz andern Seite zu.«

Es gesellten sich noch einige Dienstboten zu den ersten hinzu.

»Sieh mal, wie es aufflammt!« sagte einer. »Das Feuer ist in Moskau, Leute; entweder in der Suschtschewskaja- oder in der Rogoschskaja-Stadt.«

Niemand antwortete auf diese Bemerkung. Eine lange Zeit blickten alle diese Leute schweigend nach der um sich greifenden Flamme des neuen, fernen Brandes hin.

Der alte gräfliche Kammerdiener (so wurde er genannt), Daniil Terentjitsch, trat zu der Menschengruppe hin und rief einen jungen Diener an.

»Was hast du hier zu suchen, Schlingel! Der Graf ruft, und kein Mensch ist da; mach, daß du hinkommst, leg die Kleider zusammen.«

»Ich bin ja nur gelaufen, Wasser holen«, antwortete dieser.

»Was meinen Sie denn, Daniil Terentjitsch? Ob das Feuer wohl in Moskau ist?« fragte einer der Lakaien.

Daniil Terentjitsch antwortete nicht, und lange Zeit herrschte wieder allgemeines Schweigen. Hin und her wogend breitete sich der Feuerschein immer weiter und weiter aus.

»O Gott, erbarme dich …! Der Wind und die Trockenheit …«, sagte wieder jemand.

»Seht nur, wie es wächst! O Gott! Da sieht man ja die Dohlen! Gott sei uns Sündern gnädig!«

»Sie werden es ja wohl löschen.«

»Wer wird es löschen?« sagte auf einmal Daniil Terentjitsch, der bis dahin geschwiegen hatte; er sprach ruhig und langsam. »Es ist Moskau, liebe Brüder, unser liebes Mütterchen.« Die Stimme versagte ihm, und er brach plötzlich in ein greisenhaftes Schluchzen aus.

Und als ob alle nur hierauf gewartet hätten, um zu begreifen, welche Bedeutung dieser Feuerschein für sie hatte, wurden nun auf einmal ringsum Seufzer und betende Ausrufe laut; und dazwischen hörte man den alten gräflichen Kammerdiener schluchzen.

XXXI


Der Kammerdiener ging wieder zurück und berichtete dem Grafen, daß Moskau brenne. Der Graf zog seinen Schlafrock an und ging hinaus, um danach zu sehen. Mit ihm zugleich gingen Sonja und Madame Schoß hinaus, die sich noch nicht ausgezogen hatten. Nur Natascha und die Gräfin blieben im Zimmer. (Petja war nicht mehr bei der Familie; er war bei seinem Regiment, das nach Troiza marschierte.)

Die Gräfin brach in Tränen aus, als sie die Nachricht von dem Brand Moskaus hörte. Natascha, die blaß, mit starren Augen auf der Bank unter den Heiligenbildern saß (auf demselben Fleck, wohin sie sich bei der Ankunft gesetzt hatte), beachtete die Worte des Vaters gar nicht. Sie horchte auf das nie verstummende Stöhnen des Adjutanten, das drei Häuser weit zu hören war.

»Ach, wie furchtbar!« sagte Sonja, die durchfroren und erschrocken vom Hof zurückkam. »Ich glaube, ganz Moskau brennt; es ist ein entsetzlicher Feuerschein! Natascha, sieh nur, jetzt kann man es schon von hier, vom Fenster aus, sehen«, sagte sie zu ihrer Kusine, offenbar in dem Wunsch, sie irgendwie zu zerstreuen.

Aber Natascha blickte sie an, als verstände sie gar nicht, wozu sie aufgefordert worden war, und richtete wieder ihre Augen starr nach der Ofenecke. Sie befand sich in diesem Zustand der Betäubung seit dem Morgen dieses Tages, seit dem Augenblick, wo Sonja, zum Erstaunen und Verdruß der Gräfin, unbegreiflicherweise für nötig gehalten hatte, Natascha davon Mitteilung zu machen, daß Fürst Andrei verwundet sei und sich in dieser ihrer Wagenkolonne befinde. Die Gräfin war auf Sonja so zornig geworden, wie das nur selten bei ihr vorkam. Sonja hatte geweint und um Verzeihung gebeten; jetzt suchte sie gewissermaßen ihre Schuld wiedergutzumachen, indem sie beständig ihrer Kusine Freundliches zu erweisen suchte.

»Sieh nur, Natascha, wie furchtbar es brennt«, sagte Sonja.

»Was brennt?« fragte Natascha. »Ach ja, Moskau.«

Und anscheinend in der Absicht, Sonja nicht durch eine Weigerung zu kränken und möglichst schnell von ihr loszukommen, bog sie ihren Kopf zum Fenster hin und schaute in der Weise irgendwohin, daß sie vom Feuer offenbar nichts sehen konnte; dann setzte sie sich wieder in ihrer früheren Stellung hin.

»Aber du hast es ja nicht gesehen?«

»Doch, wirklich, ich habe es gesehen«, antwortete sie in einem Ton, als bäte sie flehentlich, sie doch in Ruhe zu lassen.

Die Gräfin und Sonja sahen beide klar, daß Natascha gegen Moskau und gegen den Brand von Moskau und gegen alles, was sich begeben mochte, jetzt völlig gleichgültig war.

Der Graf ging wieder hinter die Halbwand und legte sich schlafen. Die Gräfin trat zu Natascha heran, berührte mit dem Handrücken den Kopf derselben, wie sie das zu tun pflegte, wenn ihre Tochter krank war; dann berührte sie ihre Stirn mit den Lippen, als wollte sie feststellen, ob sie Fieber habe, und küßte sie.

»Du bist ja ganz kalt geworden? Du zitterst ja am ganzen Körper? Du solltest dich hinlegen«, sagte sie.

»Hinlegen? Schön, ich werde mich hinlegen. Ich will mich gleich hinlegen«, antwortete Natascha.

Seit Natascha am Morgen dieses Tages erfahren hatte, daß Fürst Andrei schwerverwundet sei und mit ihnen mitfahre, hatte sie nur im ersten Augenblick viele Fragen gestellt: wohin er fahre, wie er verwundet sei, ob gefährlich, und ob sie ihn sehen dürfe. Es war ihr geantwortet worden, sie dürfe ihn nicht sehen, er sei schwer, aber nicht lebensgefährlich verwundet. Sie hatte das, was man ihr sagte, offenbar nicht geglaubt; aber da sie überzeugt war, sie werde, wenn sie auch noch so viel frage, doch immer dieselben Antworten erhalten, hatte sie zu fragen und zu reden aufgehört. Während der ganzen Fahrt hatte Natascha mit großen Augen, deren Ausdruck die Gräfin so gut kannte und so sehr fürchtete, ohne sich zu rühren in der Wagenecke dagesessen, und ebenso saß sie nun jetzt auf der Bank, auf die sie sich bei der Ankunft gesetzt hatte. Die Gräfin wußte, daß Natascha jetzt etwas überlegte, im stillen einen Entschluß faßte oder schon gefaßt hatte; aber was es für ein Entschluß war, das wußte sie nicht, und das ängstigte und quälte sie.

»Natascha, zieh dich aus, mein Kind; leg dich auf mein Bett.« Nur für die Gräfin war ein Bett in einer Bettstelle zurechtgemacht worden; Madame Schoß und die beiden jungen Mädchen mußten auf dem Fußboden auf Heu schlafen.

»Nein, Mama, ich will mich hier auf den Fußboden legen«, erwiderte Natascha ärgerlich, ging zum Fenster und öffnete es.

Das Stöhnen des Adjutanten war bei geöffnetem Fenster noch deutlicher zu hören. Sie steckte den Kopf in die feuchte Nachtluft hinaus, und die Gräfin sah, wie ihr dünner Hals vor Schluchzen zuckte und gegen den Fensterrahmen schlug. Natascha wußte, daß derjenige, der da so stöhnte, nicht Fürst Andrei war. Sie wußte, daß Fürst Andrei unter demselben Dach lag, unter dem sie sich alle befanden, in einer andern Stube auf der andern Seite des Flures; aber doch konnte sie sich bei diesem furchtbaren, unaufhörlichen Stöhnen des Schluchzens nicht erwehren. Die Gräfin wechselte mit Sonja einen Blick.

»Leg dich hin, mein Täubchen; leg dich hin, liebes Kind!« sagte die Gräfin und berührte leise mit der Hand Nataschas Schulter. »Leg dich doch hin.«

»Ach ja … Ich will mich gleich hinlegen, jetzt gleich«, erwiderte Natascha und entkleidete sich so hastig, daß sie dabei die Bänder der Unterröcke zerriß.

Nachdem sie die Kleider abgeworfen und die Nachtjacke angezogen hatte, setzte sie sich mit untergeschlagenen Beinen auf das Lager, das auf dem Fußboden zurechtgemacht war, warf ihren kurzen, dünnen Zopf über die Schulter nach vorn und begann ihn umzuflechten. Ihre dünnen, langen, geübten Finger lösten behende den Zopf, flochten ihn dann wieder und steckten ihn auf. Nataschas Kopf drehte sich mit den gewohnten Bewegungen bald nach der einen, bald nach der andern Seite; aber ihre wie im Fieber weitgeöffneten Augen blickten unbeweglich geradeaus. Als sie mit ihrer Nachttoilette fertig war, ließ sie sich sachte auf das Laken nieder, das über das Heu gebreitet war, und zwar am Rand, nahe bei der Tür.

»Leg dich doch in die Mitte, Natascha«, sagte Sonja.

»Ich liege schon hier«, erwiderte Natascha. »Legt ihr euch doch da hin«, fügte sie ärgerlich hinzu und vergrub ihr Gesicht in das Kissen.

Die Gräfin, Madame Schoß und Sonja zogen sich schnell aus und legten sich hin. Nur das Lämpchen vor den Heiligenbildern brannte im Zimmer; aber draußen verbreitete der Brand von Klein-Mytischtschi aus einer Entfernung von zwei Werst her eine ziemliche Helligkeit. Aus der Schenke, die an derselben Straße schräg gegenüberlag und von den Mamonowschen Kosaken übel zugerichtet war, erscholl das wüste nächtliche Geschrei des gemeinen Volkes; dazu hörte man unaufhörlich das Stöhnen des Adjutanten.

Lange horchte Natascha auf die Geräusche, die aus dem Innern des Zimmers und von draußen an ihr Ohr drangen, und rührte sich nicht. Zuerst hörte sie, wie ihre Mutter betete und seufzte, und wie die Bettstelle unter ihr knarrte, ferner das wohlbekannte pfeifende Schnarchen der Madame Schoß und Sonjas leises Atmen. Dann rief die Gräfin Natascha an. Natascha antwortete ihr nicht.

»Sie schläft wohl schon, Mama«, sagte Sonja leise.

Die Gräfin schwieg ein Weilchen und rief dann noch einmal; aber nun antwortete ihr niemand mehr.

Bald darauf hörte Natascha das gleichmäßige Atmen der Mutter. Natascha rührte sich nicht, obgleich ihr kleiner, nackter Fuß, der aus der Bettdecke herausgekommen war, auf dem bloßen Fußboden fror.

Wie wenn es ein Triumphlied über alle anstimmte, begann in einer Ritze ein Heimchen zu zirpen. In der Ferne krähte ein Hahn; in der Nähe antwortete ihm ein anderer. Das Geschrei in der Schenke war verstummt; nur das Stöhnen des Adjutanten war noch ebenso zu hören. Natascha richtete sich halb auf.

»Sonja, schläfst du? Mama!« flüsterte sie.

Niemand antwortete. Natascha stand langsam und vorsichtig auf, bekreuzte sich und schritt behutsam mit ihren schmalen, biegsamen, nackten Sohlen über den schmutzigen, kalten Fußboden. Die Dielen knarrten. Schnell trippelnd lief sie wie ein Kätzchen einige Schritte und ergriff die kalte Türklinke.

Es kam ihr vor, als klopfe etwas Schweres in gleichmäßigen Schlägen gegen alle Wände des Hauses: dies war ihr eigenes Herz, das vor Furcht halbtot war und vor Angst und Liebe zu zerspringen drohte.

Sie öffnete die Tür, schritt über die Schwelle und trat auf den feuchten, kalten Lehmboden des Flures. Die Kälte, die sie umfing, erfrischte sie. Weitertastend berührte sie mit dem nackten Fuß einen schlafenden Menschen, trat über ihn hinweg und öffnete die Tür zu der Stube, in welcher Fürst Andrei lag. In dieser Stube war es dunkel. In der hinteren Ecke, bei einem Bett, in dem etwas lag, stand auf einer Bank ein mit großer Schnuppe brennendes Talglicht.

Schon vom Morgen an, wo sie von der Verwundung des Fürsten Andrei und von seiner Anwesenheit gehört hatte, hatte sie sich gesagt, sie müsse ihn sehen. Sie machte sich nicht klar, zu welchem Zweck dies notwendig sei; aber da sie wußte, daß dieses Wiedersehen schmerzlich sein werde, war sie um so mehr von der Notwendigkeit desselben überzeugt.

Den ganzen Tag über hatte sie nur von der Hoffnung gelebt, daß sie ihn in der Nacht sehen werde. Aber jetzt, da dieser Augenblick herangekommen war, überkam sie eine Angst vor dem, was sie sehen werde. Wie mochte er entstellt sein? Was mochte von ihm übriggeblieben sein? War er so beschaffen, wie man sich den Adjutanten nach seinem nie verstummenden Stöhnen vorstellen mußte? Ja, ganz so, meinte sie, mußte er beschaffen sein. Er war in ihrer Einbildung eine Verkörperung dieses furchtbaren Stöhnens. Als sie in der Ecke eine undeutliche Masse erblickte und seine unter der Bettdecke hochgestellten Knie für seine Schultern nahm, stellte sie sich einen furchtbaren Körper vor und blieb erschrocken stehen. Aber von einer unwiderstehlichen Kraft fühlte sie sich weitergetrieben. Vorsichtig tat sie einen Schritt und noch einen und befand sich nun in der Mitte der kleinen, von Menschen und Sachen ganz angefüllten Stube. Auf der Bank unter den Heiligenbildern lag noch ein anderer Mensch (es war Timochin), und auf dem Fußboden noch zwei andere (dies waren der Arzt und der Kammerdiener).

Der Kammerdiener richtete sich halb auf und flüsterte etwas. Timochin, den sein verwundetes Bein heftig schmerzte, schlief nicht und blickte mit großen Augen auf die seltsame Erscheinung des Mädchens in dem weißen Hemd, der Nachtjacke und der Nachtmütze. Durch die schlaftrunkene, erschrockene Frage des Kammerdieners: »Was wünschen Sie? Warum kommen Sie hierher?« fühlte sich Natascha nur veranlaßt, schneller zu dem hinzugehen, was da in der Ecke lag. Wie entsetzlich entstellt, wie menschenunähnlich dieser Körper auch sein mochte, sie mußte ihn sehen. Sie ging an dem Kammerdiener vorbei; die verbrannte Schnuppe des Talglichtes fiel herab, und sie erblickte deutlich den Fürsten Andrei, der, die Arme auf der Bettdecke ausgestreckt, dalag und ebenso aussah, wie sie ihn immer gesehen hatte.

Er sah ebenso aus wie immer; aber das glühende Gesicht, die glänzenden Augen, die voll Entzücken auf sie gerichtet waren, und besonders der kinderhaft zarte Hals, der aus dem zurückgeschlagenen Hemdkragen herauskam, verliehen ihm ein besonders unschuldiges, kindliches Aussehen, das sie in dieser Weise noch nie an ihm gesehen hatte. Sie trat zu ihm und ließ sich mit einer jugendlich raschen, geschmeidigen Bewegung auf die Knie nieder.

Er lächelte und streckte ihr die Hand entgegen.

XXXII


Sieben Tage waren vergangen, seit Fürst Andrei auf dem Verbandsplatz des Schlachtfeldes von Borodino wieder zu sich gekommen war. Diese ganze Zeit über hatte er sich fast beständig im Zustand der Bewußtlosigkeit befunden. Das starke Fieber und eine Entzündung der verletzten Därme mußten nach Ansicht des Arztes, der mit dem Verwundeten mitfuhr, dessen Tod herbeiführen. Aber am siebenten Tag nahm Fürst Andrei mit Genuß ein Stückchen Brot mit Tee zu sich, und der Arzt konstatierte, daß das Fieber nachgelassen hatte.

Am Morgen war Fürst Andrei zum Bewußtsein gekommen. In der ersten Nacht nach der Abfahrt aus Moskau war es ziemlich warm gewesen, und man hatte den Fürsten Andrei die Nacht über im Wagen belassen; in Mytischtschi aber verlangte der Verwundete selbst, man möchte ihn aus dem Wagen herausnehmen und ihm Tee geben. Der Schmerz, den ihm der Transport in das Bauernhaus verursachte, erpreßte ihm ein lautes Stöhnen und ließ ihn wieder das Bewußtsein verlieren. Als er auf das Feldbett gelegt worden war, lag er lange mit geschlossenen Augen da, ohne sich zu rühren. Dann öffnete er sie und flüsterte leise: »Wie ist es mit dem Tee?« Es überraschte den Arzt, daß der Kranke an solche kleinen Bedürfnisse des Lebens dachte. Er fühlte ihm den Puls und bemerkte zu seinem Erstaunen und Mißvergnügen, daß der Puls besser war. Ein Mißvergnügen empfand er darüber insofern, weil er aufgrund seiner Erfahrung fest überzeugt war, daß Fürst Andrei unter keinen Umständen am Leben bleiben könne und, wenn er jetzt nicht sterbe, nach einiger Zeit nur unter um so größeren Schmerzen sterben werde. Zusammen mit dem Fürsten Andrei wurde auch ein Major seines Regiments transportiert, der sich ihm in Moskau angeschlossen hatte, eben jener Timochin mit der roten Nase; er war in derselben Schlacht bei Borodino am Bein verwundet worden. Mit beiden fuhren der Arzt, der Kammerdiener des Fürsten, sein Kutscher und zwei Burschen. Dem Fürsten Andrei wurde der Tee gebracht. Er trank begierig; mit den fieberhaft glänzenden Augen blickte er vor sich hin nach der Tür, als ob er etwas zu verstehen oder sich an etwas zu erinnern suchte.

»Ich mag nicht mehr. Ist Timochin da?« fragte er.

Timochin kroch auf der Bank näher zu ihm heran.

»Hier bin ich, Euer Durchlaucht.«

»Wie steht es mit der Wunde?«

»Mit meiner? Leidlich. Aber Sie?«

Fürst Andrei überließ sich wieder seinen Gedanken, als ob er sich auf etwas besinnen wollte.

»Kann ich nicht ein Buch bekommen?« fragte er.

»Was für ein Buch?«

»Das Evangelium. Ich habe keins.«

Der Arzt versprach, ihm eines zu beschaffen, und befragte den Fürsten eingehend über sein Befinden. Fürst Andrei antwortete mit Widerstreben, aber vernünftig auf alle Fragen des Arztes und sagte dann, sie sollten ihm eine Polsterrolle unterlegen; so sei es ihm unbequem und mache ihm großen Schmerz. Der Arzt und der Kammerdiener hoben den Mantel in die Höhe, mit dem er zugedeckt war; die Stirn runzelnd infolge des starken Geruches des faulenden Fleisches, den die Wunde verbreitete, besahen sie diese furchtbare Stelle des Körpers. Der Arzt war mit irgend etwas sehr unzufrieden, änderte etwas ab und drehte den Verwundeten herum, wobei dieser wieder aufstöhnte, vor Schmerz das Bewußtsein verlor und zu phantasieren begann. Er redete immer davon, man solle ihm recht schnell jenes Buch beschaffen und dort unterlegen.

»Das macht euch doch keine Mühe!« sagte er. »Ich habe keins; bitte, besorgt es mir doch; legt es mir einen Augenblick unter«, bat er in kläglichem Ton.

Der Arzt ging auf den Flur hinaus, um sich die Hände zu waschen.

»Ach, was seid ihr für gewissenlose Menschen, weiß Gott!« sagte der Arzt zu dem Kammerdiener, der ihm Wasser über die Hände goß. »Da habe ich bloß mal einen Augenblick nicht hingesehen, und gleich … Er muß ja solche Schmerzen haben, daß ich mich wundere, wie er sie überhaupt aushält.«

»Aber wir haben ihm doch etwas untergelegt, mein Gott, mein Gott!« erwiderte der Kammerdiener.

Als Fürst Andrei an diesem Tag zum erstenmal das Bewußtsein erlangt hatte, war er darüber ins klare gekommen, wo er sich befand und was mit ihm vorging, und hatte sich erinnert, daß er verwundet war, und hatte, als der Wagen in Mytischtschi hielt, den Wunsch ausgesprochen, in das Haus gebracht zu werden. Dann hatte er infolge des Schmerzes beim Hereintragen wieder die Besinnung verloren, war zum zweitenmal in der Stube zu sich gekommen, hatte Tee getrunken, sich abermals in Gedanken alles, was mit ihm vorgegangen war, wiederholt und sich mit besonderer Lebhaftigkeit jenen Augenblick auf dem Verbandsplatz vergegenwärtigt, als ihm beim Anblick der Leiden eines von ihm nicht geliebten Mannes jene neuen, glückverheißenden Gedanken gekommen waren. Und diese Gedanken, obgleich in undeutlicher, unbestimmter Form von neuem auftauchend, hatten nun wieder von seiner Seele Besitz ergriffen. Er hatte sich erinnert, daß er jetzt ein neues Glück besaß und daß dieses Glück manches mit dem Evangelium gemein hatte. Deshalb hatte er um das Evangelium gebeten. Aber die üble Lage, die man seiner Wunde gegeben hatte, und das neue Herumdrehen hatten seine Gedanken wieder in Verwirrung gebracht; und als er zum drittenmal wieder zu sich kam, war es schon tiefe Nacht. Alle um ihn herum schliefen. Auf der andern Seite des Flures zirpte ein Heimchen; auf der Straße schrie und sang jemand; die Schaben liefen raschelnd auf dem Tisch, an den Heiligenbildern und an den Wänden hin; eine dicke Fliege stieß mitunter im Flug an sein Kopfkissen und kreiste um das Talglicht, das neben ihm stand und mit einer großen Schnuppe brannte.

Sein Geist befand sich nicht in normalem Zustand. Der gesunde Mensch umfaßt gewöhnlich mit seiner Denkkraft, mit seinem Empfinden, mit seinem Gedächtnis gleichzeitig eine zahllose Menge von Gegenständen; aber er besitzt die Macht und Fähigkeit, eine einzelne bestimmte Reihe von Gedanken oder Erscheinungen auszuwählen und auf diese Reihe seine ganze Aufmerksamkeit zu konzentrieren. Der gesunde Mensch reißt sich im Augenblick des tiefsten Nachdenkens davon los, um einem Eintretenden ein höfliches Wort zu sagen, und kehrt dann wieder zu seinen Gedanken zurück. Aber der Geist des Fürsten Andrei befand sich in dieser Hinsicht nicht in normalem Zustand. Alle seine geistigen Kräfte waren tätiger und klarer als je; aber sie wirkten unabhängig von seinem Willen. Die verschiedenartigsten Gedanken und Vorstellungen erfüllten ihn gleichzeitig. Manchmal begann sein Denken plötzlich zu arbeiten, und zwar mit einer Energie, Klarheit und Tiefe, mit der es in gesunden Tagen nie zu arbeiten imstande gewesen war; aber auf einmal brach es mitten in seiner Arbeit ab, indem irgendeine unerwartete Vorstellung an seine Stelle trat, und Fürst Andrei besaß dann nicht die Kraft, zu dem ersten Gedanken zurückzukehren.

»Ja, es hat sich mir ein neues Glück erschlossen, das dem Menschen nicht entrissen werden kann«, dachte er, während er in der halbdunklen, stillen Stube lag und mit fieberhaft weitgeöffneten, starren Augen vor sich hin blickte. »Ein Glück, das außerhalb der materiellen Kräfte liegt, außerhalb der materiellen, äußeren Einwirkungen auf den Menschen, ein Glück der Seele allein, das Glück der Liebe! Begreifen kann dieses Glück jeder Mensch; aber es erschaffen und vorschreiben, das konnte nur Gott allein. Aber wie hat Gott dieses Gesetz vorgeschrieben? Und warum gerade der Sohn …?«

Plötzlich aber riß dieser Gedankengang ab, und Fürst Andrei hörte (ohne daß er gewußt hätte, ob er es nur in seinen Fieberphantasien oder in Wirklichkeit hörte) eine Art von leiser, flüsternder Stimme, die unablässig im Takt wiederholte: »Pitti-pitti-pitti«, und dann: »i ti-ti«, und wieder »i pitti-pitti-pitti«, und wieder: »i ti-ti.« Und damit gleichzeitig fühlte Fürst Andrei wie bei den Tönen dieser flüsternden Musik über seinem Gesicht, gerade über der Mitte, sich ein seltsames, lustiges Gebäude aus dünnen Nadeln oder Spänchen erhob. Er fühlte, daß er, obgleich es ihm schwer wurde, sorgsam das Gleichgewicht bewahren müsse, damit das Bauwerk, das da emporwuchs, nicht zusammenstürze; aber es stürzte trotzdem zusammen und erhob sich dann langsam wieder bei den Klängen der gleichmäßig flüsternden Musik. »Es dehnt sich! Es dehnt sich! Es dehnt sich aus und wächst immer mehr«, sagte Fürst Andrei zu sich selbst. Und gleichzeitig damit, daß er dieses Flüstern hörte und fühlte, wie das Gebäude aus Nadeln immer breiter und höher wurde, sah Fürst Andrei in einzelnen Augenblicken auch die von einem roten Hof umgebene Flamme des Talglichts und hörte das Rascheln der Schaben und das Summen der Fliege, die gegen das Kopfkissen und gegen sein Gesicht prallte. Und jedesmal, wenn die Fliege sein Gesicht berührte, rief sie dort ein Gefühl des Brennens hervor; gleichzeitig aber wunderte er sich darüber, daß die Fliege mitten in den Bereich des Gebäudes hineinstürmte, das sich auf seinem Gesicht erhob, dieses jedoch dabei nicht in Trümmer fiel. Außerdem aber war da noch etwas Wichtiges. Dies war etwas Weißes an der Tür, die Statue einer liegenden Sphinx, die ihn gleichfalls quälte.

»Aber vielleicht ist das mein Hemd auf dem Tisch«, dachte Fürst Andrei, »und dies hier sind meine Beine, und das da die Tür; aber warum dehn: sich alles und wächst in die Höhe, i pitti-pitti-pitti i ti-ti … i pitti-pitti-pitti … Genug, hör auf, bitte, laß doch!« bat Fürst Andrei jemanden ängstlich. Und auf einmal tauchten jener Gedanke und jenes Gefühl wieder mit außerordentlicher Klarheit und Stärke auf.

»Ja, die Liebe«, dachte er wieder mit völliger Klarheit, »aber nicht jene Liebe, die um irgendeines Lohnes willen, zu irgendeinem Zweck, oder aus irgendeinem Grund liebt, sondern jene Liebe, die ich zum erstenmal damals empfunden habe, als ich, dem Tod nahe, meinen Feind erblickte und doch auf einmal Liebe zu ihm fühlte. Ich habe jene Liebe in mir gefühlt, die das wahre Wesen der Seele bildet und die keines besonderen Gegenstandes bedarf. Auch jetzt empfinde ich dieses beglückende Gefühl … Den Nächsten lieben, die Feinde lieben. Alles lieben, Gott lieben in allen Erscheinungen. Einen Menschen, der einem teuer ist, lieben, das kann man mit menschlicher Liebe; einen Feind aber kann man nur mit göttlicher Liebe lieben. Und deshalb habe ich auch eine solche Freude empfunden, als ich fühlte, daß ich jenen Menschen liebte. Was mag aus ihm geworden sein? Ob er wohl noch lebt …?

Wenn man mit menschlicher Liebe liebt, so kann man von der Liebe zum Haß übergehen; aber die göttliche Liebe kann sich nicht verändern. Nichts, auch der Tod nicht, nichts kann sie zerstören. Sie ist das wahre Wesen der Seele. Aber wie viele Menschen habe ich in meinem Leben gehaßt! Und von allen Menschen habe ich niemand mehr geliebt und niemand mehr gehaßt als sie.« Und er vergegenwärtigte sich auf das lebhafteste Natascha, nicht in der Art, wie er sie sich früher vergegenwärtigt hatte, nur mit ihrem Reiz, der ihn entzückt hatte; sondern jetzt zum erstenmal schaute er mit seinem geistigen Blick ihre Seele. Und er verstand nun ihr Gefühl und ihre Leiden und ihre Scham und ihre Reue. Jetzt zum erstenmal verstand er die ganze Grausamkeit seines Bruches mit ihr. »Könnte ich sie nur noch ein einziges Mal sehen. Ein einziges Mal in diese Augen sehen und ihr sagen …«

»I pitti-pitti-pitti i ti-ti i pitti-pitti … Bum!« prallte die Fliege an. Und seine Aufmerksamkeit übertrug sich plötzlich auf eine andere, aus Wirklichkeit und Wahn gemischte Welt, in der etwas Besonderes vorging. In dieser Welt wuchs immer noch dasselbe Gebäude in die Höhe, ohne einzustürzen; immer noch in gleicher Weise dehnte sich etwas aus; in gleicher Weise brannte das Licht mit einem roten Hof; dieselbe Sphinx (oder war es sein Hemd?) lag bei der Tür; aber außer alledem knarrte etwas, es roch nach frischer Luft, und eine neue weiße Sphinx, eine stehende Sphinx erschien in der Tür. Und der Kopf dieser Sphinx zeigte das blasse Gesicht und die glänzenden Augen eben jener Natascha, an die er soeben gedacht hatte.

»Oh, wie beängstigend sind diese unaufhörlichen Fieberphantasien!« dachte Fürst Andrei und versuchte, dieses Gesicht aus seiner Einbildung zu verscheuchen. Aber dieses Gesicht stand mit der Kraft der Wirklichkeit vor ihm, und dieses Gesicht näherte sich ihm. Fürst Andrei wollte in die frühere Welt des reinen Denkens zurückkehren; aber er vermochte es nicht, und der Fieberwahn zog ihn in seinen Bann. Die leise, flüsternde Stimme setzte ihr gleichmäßiges Zischeln fort; es würgte ihn etwas, es dehnte sich etwas aus, und das seltsame Gesicht stand vor ihm. Fürst Andrei nahm all seine Kraft zusammen, um zur Besinnung zu kommen; er bewegte sich ein wenig, und plötzlich sauste es ihm in den Ohren, vor den Augen wurde es ihm dunkel, und wie ein Mensch, der im Wasser versinkt, verlor er das Bewußtsein.

Als er wieder zu sich kam, lag Natascha, jene lebendige Natascha, die er sich gedrängt fühlte am meisten von allen Menschen auf der Welt mit jener neuen, reinen, göttlichen Liebe zu lieben, die sich ihm jetzt erschlossen hatte, diese Natascha lag vor ihm auf den Knien. Er begriff, daß dies die lebendige, wirkliche Natascha war, und er war darüber nicht erstaunt, sondern freute sich nur im stillen. Natascha, die wie angeschmiedet auf den Knien lag (sie konnte kein Glied rühren), blickte ihn angstvoll an und hielt das Schluchzen zurück. Ihr Gesicht war blaß und regungslos. Nur im unteren Teil desselben war ein Zittern bemerkbar.

Fürst Andrei stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, lächelte und streckte ihr die Hand hin.

»Sie hier?« sagte er. »Wie glücklich mich das macht!«

Natascha rückte mit einer schnellen, aber behutsamen Bewegung auf den Knien näher zu ihm heran, ergriff vorsichtig seine Hand, beugte sich mit dem Gesicht über sie und küßte sie mehrmals, aber so, daß sie sie kaum mit den Lippen berührte.

»Verzeihen Sie mir!« sagte sie flüsternd, hob den Kopf in die Höhe und blickte ihn an. »Verzeihen Sie mir!«

»Ich liebe Sie«, erwiderte Fürst Andrei.

»Verzeihen Sie mir …!«

»Was hätte ich Ihnen zu verzeihen?« fragte Fürst Andrei.

»Verzeihen Sie mir, was ich … was ich getan habe«, flüsterte Natascha kaum hörbar mit stockender Stimme und bedeckte seine Hand, sie kaum mit den Lippen berührend, mit noch zahlreicheren Küssen.

»Ich liebe dich mehr und mit einer besseren Liebe als ehemals«, sagte Fürst Andrei und hob mit der Hand ihr Gesicht so in die Höhe, daß er ihr in die Augen sehen konnte.

Diese Augen, die voll glückseliger Tränen standen, blickten ihn schüchtern und mitleidig, freudig und liebevoll an. Nataschas mageres, blasses Gesicht mit den geschwollenen Lippen war mehr als unschön, es sah geradezu entstellt aus. Aber Fürst Andrei sah dieses Gesicht nicht; er sah nur die leuchtenden Augen, die wirklich schön, sehr schön waren. Da hörten sie, daß hinter ihnen gesprochen wurde.

Der Kammerdiener Pjotr, der jetzt seine Schlaftrunkenheit ganz überwunden hatte, hatte den Arzt geweckt. Timochin, der die ganze Zeit über vor Schmerz in seinem Bein nicht hatte schlafen können, hatte schon lange alles, was da vorging, mitangesehen, seine unbekleideten Körperteile sorgsam in das Laken gehüllt und sich auf seiner Bank zusammengekrümmt.

»Was ist denn das?« sagte der Arzt, indem er sich von seinem Lager halb aufrichtete. »Bitte, gehen Sie weg, Fräulein!«

Gleichzeitig klopfte ein Dienstmädchen an die Tür, das von der Gräfin geschickt war, die ihre Tochter vermißt hatte.

Wie eine Nachtwandlerin, die man mitten in ihrem Schlaf aufgeweckt hat, so ging Natascha aus dem Zimmer, und als sie in ihre Stube zurückgekehrt war, sank sie schluchzend auf ihr Lager.


Seit diesem Tag wich Natascha während der ganzen weiteren Reise der Familie Rostow an allen Rastorten und in allen Nachtquartieren nicht von der Seite des verwundeten Bolkonski, und der Arzt mußte zugeben, daß er von einem Mädchen weder eine solche Energie noch eine solche Geschicklichkeit in der Pflege eines Verwundeten erwartet hätte.

So furchtbar auch der Gräfin der Gedanke erschien, Fürst Andrei könne (was nach, dem Urteil des Arztes sehr wahrscheinlich war) während der Reise in den Armen ihrer Tochter sterben, so konnte sie dieser doch nicht entgegen sein. Obgleich bei dem jetzigen nahen Verhältnis zwischen dem verwundeten Fürsten Andrei und Natascha der Gedanke nicht fern lag, es werde im Fall der Genesung das frühere Verlöbnis vielleicht wiederhergestellt werden, sprach doch niemand hierüber, am allerwenigsten Natascha und Fürst Andrei: die Frage, ob Leben oder Tod, die, noch unentschieden, nicht nur über Bolkonski, sondern auch über Rußland schwebte, drängte alle anderen Pläne beiseite.

XXXIII


Pierre wachte am 3. September erst sehr spät auf. Der Kopf tat ihm weh; die Kleider, in denen er, ohne sich auszuziehen, geschlafen hatte, waren ihm am Leib lästig; und in der Seele hatte er das undeutliche Gefühl, am vorhergehenden Tag etwas getan zu haben, dessen er sich schämen müsse. Diese Handlung war das gestrige Gespräch mit Kapitän Ramballe.

Die Uhr zeigte elf; aber draußen schien es noch merkwürdig düster zu sein. Pierre stand auf, rieb sich die Augen, und als er die Pistole mit dem geschnitzten Schaft erblickte, die Gerasim wieder auf den Schreibtisch gelegt hatte, besann er sich, wo er sich befand und was er gerade an diesem Tag vor sich hatte.

»Habe ich etwa schon die Zeit verpaßt?« dachte Pierre. »Nein, er wird seinen Einzug in Moskau doch wohl nicht vor zwölf Uhr halten.«

Pierre vermied es absichtlich, über das, was ihm bevorstand, nachzudenken, sondern beeilte sich, so schnell wie möglich zu handeln.

Nachdem er seinen Anzug in Ordnung gebracht hatte, nahm er die Pistole in die Hand und schickte sich an fortzugehen. Aber da kam ihm zum erstenmal der Gedanke, auf welche Weise er die Waffe auf der Straße tragen solle; in der Hand war es jedenfalls nicht möglich. Sogar unter dem weiten Kaftan ließ sich die große Pistole schwer verbergen. Weder im Gürtel noch unter dem Arm konnte er sie so unterbringen, daß sie nicht zu bemerken gewesen wäre. Außerdem war die Pistole abgeschossen, und Pierre war noch nicht dazu gekommen, sie wieder zu laden. »Nun, ganz gleich, dann mit dem Dolch«, dachte Pierre bei sich, obwohl er bei früheren wiederholten Überlegungen, wie seine Absicht auszuführen sei, sich gesagt hatte, der Hauptfehler des Studenten habe im Jahre 1809 darin bestanden, daß er Napoleon mit einem Dolch habe töten wollen. Aber wie wenn Pierres Hauptabsicht nicht darin bestanden hätte, die beabsichtigte Tat auszuführen, sondern darin, sich selbst den Beweis zu liefern, daß er von seinem Unternehmen nicht zurücktrete und alles zur Ausführung desselben Erforderliche tue, nahm Pierre eilig den stumpfen, schartigen Dolch in grüner Scheide, den er zugleich mit der Pistole beim Sucharew-Turm gekauft hatte, und verbarg ihn unter seiner Weste.

Nachdem er einen Gurt um seinen Kaftan gebunden und die Mütze aufgesetzt hatte, ging er, darauf bedacht, kein Geräusch zu machen und dem Kapitän nicht zu begegnen, durch den Korridor und trat auf die Straße hinaus.

Die Feuersbrunst, nach der er am Abend des vorhergehenden Tages mit so geringem Interesse hingesehen hatte, war über Nacht erheblich gewachsen. Moskau brannte schon auf verschiedenen Seiten. Es brannten gleichzeitig die Wagenmagazine, der Stadtteil Samoskworetschje, der Basar, die Powarskaja-Straße, die Barken auf der Moskwa und der Holzmarkt bei der Dorogomilowski-Brücke.

Pierres Weg ging durch allerlei Seitengassen nach der Powarskaja-Straße und von dort nach dem Arbatskaja-Platz zu der Nikola-Jawlenny-Kirche, bei der er sich in Gedanken schon längst eine Stelle ausersehen hatte, wo er die Tat vollbringen wollte. Bei den meisten Häusern waren die Tore und Fensterläden geschlossen. Die Straßen und Gassen waren fast menschenleer. In der Luft roch es nach Brand und Rauch. Mitunter traf Pierre auf Russen mit unruhig-scheuen Gesichtern und auf Franzosen, die mitten auf dem Straßendamm gingen und in ihrem Äußern den Eindruck machten, als ob sie nicht in städtischen Quartieren, sondern in einem Lager lägen. Die einen wie die andern blickten Pierre erstaunt an. Abgesehen von seinem großen Wuchs und seiner Korpulenz und abgesehen von dem düster verschlossenen, leidenden Ausdruck seines Gesichtes und seiner gesamten Erscheinung betrachteten die Russen ihn deswegen, weil sie nicht begriffen, welchem Stand dieser Mensch angehören könne; die Franzosen aber folgten ihm mit erstaunten Blicken namentlich deswegen, weil Pierre, im Gegensatz zu allen andern Russen, die ängstlich und neugierig nach den Franzosen hinsahen, ihnen keinerlei Beachtung schenkte. Am Tor eines Hauses hielten drei Franzosen, die dort mit Russen sprachen, ohne von diesen verstanden zu werden, Pierre mit der Frage an, ob er Französisch könne.

Pierre schüttelte verneinend den Kopf und ging weiter. In einer andern Seitengasse schrie ihn ein Posten an, der bei einem Munitionswagen stand, und erst bei drohend wiederholtem Anruf und bei dem Geräusch des Gewehrs, das der Posten schußfertig in die Hand nahm, verstand Pierre, daß er im Bogen nach der andern Seite der Straße herumgehen solle. Er hörte und sah nichts, was um ihn vorging. Wie einen furchtbaren, ihm fremden Gegenstand, so trug er seine Absicht eilig und ängstlich in sich und fürchtete, durch die Erfahrung der vorhergehenden Nacht belehrt, fortwährend, er könnte sie irgendwie verlieren. Aber es war ihm nicht beschieden, seine Stimmung heil und unversehrt bis zu dem Ort zu bringen, wohin er strebte. Indes, auch wenn ihn nichts unterwegs aufgehalten hätte, so wäre eine Ausführung seiner Absicht doch schon deshalb unmöglich gewesen, weil Napoleon schon mehr als vier Stunden vorher von der Dorogomilowskaja-Vorstadt über den Arbatskaja-Platz nach dem Kreml geritten war und jetzt in der düstersten Gemütsverfassung im Arbeitszimmer des Zaren im Kremlpalast saß und ausführliche, ins einzelne gehende Befehle erließ in betreff der Maßnahmen, die unverzüglich zur Löschung des Brandes, zur Verhinderung des Plünderns und zur Beruhigung der Einwohner ergriffen werden sollten. Aber Pierre wußte das nicht; ausschließlich mit dem beschäftigt, was ihm bevorstand, quälte er sich hiermit, so wie sich eben Menschen quälen, die sich hartnäckig eine unmögliche Tat vorgenommen haben, unmöglich nicht wegen irgendwelcher ihr innewohnenden Schwierigkeiten, sondern weil sie der gesamten Natur der betreffenden Menschen widerstreitet; er quälte sich mit der Besorgnis, er werde im entscheidenden Augenblick schwach werden und infolgedessen die Achtung vor sich selbst verlieren.

Obgleich er nichts um sich herum sah und hörte, fand er doch instinktiv seinen Weg und irrte sich nicht in den Seitengassen, die ihn nach der Powarskaja-Straße führten.

Je mehr sich Pierre der Powarskaja-Straße näherte, um so stärker wurde der Rauch; es wurde sogar warm von der Glut der Feuersbrunst. Ab und zu sah man über die Hausdächer weg, wie die feurigen Flammenzungen sich in die Höhe schlängelten. Hier waren mehr Leute auf den Straßen, und diese Leute befanden sich in größerer Unruhe. Aber obgleich Pierre merkte, daß etwas Außerordentliches um ihn herum vorging, gab er sich doch keine Rechenschaft darüber, daß er zum Brand hinging. Während er einen Fußsteig verfolgte, der über einen großen, unbebauten Platz führte, welcher auf der einen Seite an die Powarskaja-Straße und auf der andern an die Gärten des Fürsten von Grusien stieß, hörte Pierre plötzlich neben sich das verzweifelte Schluchzen eines Weibes. Wie aus dem Schlaf erwachend, blieb er stehen und hob den Kopf in die Höhe.

Neben dem Fußsteig lagen auf dem trockenen, staubigen Gras Haufen von Hausrat: Federbetten, ein Samowar, Heiligenbilder und Kästen. Bei den Kästen saß auf der Erde eine ältere, hagere Frau, mit langen, vorstehenden Oberzähnen, in einer schwarzen Pelerine, mit einer Haube auf dem Kopf. Diese Frau weinte herzzerbrechend, wobei sie fortwährend mit dem Kopf schüttelte und vor sich hin sprach. Zwei Mädchen, im Alter von zehn bis zwölf Jahren, mit schmutzigen, kurzen Kleidchen und Pelerinen, blickten mit dem Ausdruck verständnislosen Staunens auf den blassen, erschrockenen Gesichtern ihre Mutter an. Ein kleinerer Knabe von etwa sieben Jahren, in einem langen Kittel und mit einer Mütze, die ihm nicht gehörte und viel zu groß war, weinte in den Armen einer alten Kinderfrau. Ein barfüßiges, schmutziges Dienstmädchen saß auf einem Kasten; sie hatte ihren hellblonden Zopf aufgelöst, rupfte die angebrannten Haare und roch daran. Der Gatte, ein untersetzter, etwas buckliger Mann in Beamtenuniform, mit radförmig geschnittenem Backenbart und glattgekämmtem Schläfenhaar, das unter der sehr gerade aufgesetzten Mütze zum Vorschein kam, rückte mit starrer Miene die Kästen, die einer auf dem andern standen, auseinander und zog unter ihnen einige Kleidungsstücke hervor.

Als die Frau Pierre erblickte, warf sie sich ihm beinahe zu Füßen.

»Ach, liebe Menschen, rechtgläubige Christen, rettet, helft! Helfen Sie mir doch, bester Mann …! Wenn mir doch jemand helfen wollte!« rief sie schluchzend. »Mein kleines Mädchen …! Mein Töchterchen …! Mein jüngstes Töchterchen haben sie dagelassen! … Sie ist verbrannt! Oooh! Habe ich sie dazu gehegt und … Oooh!«

»So hör doch auf, Marja Nikolajewna«, sagte der Ehemann leise zu seiner Frau, offenbar nur, um sich vor dem fremden Mann zu rechtfertigen. »Gewiß hat deine Schwester sie mitgenommen; wo sollte sie denn auch sonst sein!« fügte er hinzu.

»Du Holzklotz! Du Bösewicht!« schrie die Frau grimmig, und ihr Schluchzen brach plötzlich ab. »Du hast kein Herz; mit deinem eigenen Kindchen hast du kein Mitleid. Ein anderer hätte sie aus dem Feuer geholt. Aber du bist ein Holzklotz, kein Mensch und kein Vater. Sie sind ein edler Mensch«, wandte sich die Frau, hastig redend und dabei schluchzend, an Pierre. »Es brannte nebenan, und das Feuer sprang zu uns über. Das Dienstmädchen schrie: ›Es brennt!‹ Eilig rafften wir etwas von unseren Sachen zusammen. So wie wir waren, stürzten wir aus dem Haus. Da liegt das, was wir noch fassen konnten: die Bilder der Heiligen und mein Aussteuerbett; alles andere ist verloren! Ich griff nach den Kindern, da war meine kleine Katja nicht da! Oooh! O Gott …!« Sie schluchzte wieder los. »Mein liebes Kindchen! Sie ist verbrannt, ist verbrannt!«

»Wo ist sie denn zurückgeblieben? Wo?« fragte Pierre.

An dem Ausdruck seines lebhafter werdenden Gesichtes merkte die Frau, daß sie von diesem Mann Hilfe erhoffen konnte.

»Väterchen, bester Herr!« rief sie und faßte ihn an die Beine. »Sie mein Wohltäter, verschaffen Sie wenigstens meinem Herzen Ruhe … Aniska, du garstiges Geschöpf, geh und zeig den Weg!« rief sie dem Dienstmädchen zu; in ihrer zornigen Erregung öffnete sie den Mund sehr weit und ließ durch diese Bewegung ihre langen Zähne noch weiter sichtbar werden.

»Zeig mir den Weg, zeig mir den Weg; ich … ich will tun, was ich kann«, sagte Pierre hastig und mit stockendem Atem.

Das schmutzige Dienstmädchen kam von ihrem Kasten herbei, steckte ihren Zopf auf und ging seufzend mit ihren plumpen, nackten Füßen auf dem Fußsteig voran. Pierre war auf einmal gleichsam aus einer schweren Betäubung wieder zum Leben erwacht. Er reckte den Kopf höher; seine Augen leuchteten mit einem frischen Glanz auf, und mit schnellen Schritten ging er hinter dem Dienstmädchen her, holte sie ein und betrat die Powarskaja-Straße. Über der ganzen Straße lagerte eine schwarze Rauchwolke. Stellenweise schlugen züngelnde Flammen aus dieser Wolke hervor. Ein dichter Haufe Volks drängte sich vor der Brandstätte. Mitten auf der Straße stand ein französischer General und sagte etwas zu denen, die ihn umgaben. Von dem Mädchen geleitet, gelangte Pierre nahe an die Stelle heran, wo der General stand; aber französische Soldaten hielten ihn zurück.

»Hier geht’s nicht durch!« schrie einer von ihnen ihm zu.

»Kommen Sie hier, Onkelchen«, rief das Mädchen; »wir wollen durch die Seitengasse bei Nikolins durchgehen.«

Pierre kehrte um und folgte ihr, mitunter in Sprüngen, um ihr nachzukommen. Das Mädchen rannte die Straße entlang, wendete sich nach links in eine Seitengasse, lief an drei Häusern vorbei und wendete sich dann nach rechts in einen Torweg.

»Jetzt sind wir gleich da«, sagte sie.

Sie lief über den Hof, öffnete ein Pförtchen in einem Bretterzaun und wies, stehenbleibend, ihrem Begleiter ein kleines hölzernes Nebengebäude, das in vollen Flammen stand. Die eine Seite desselben war eingestürzt, die andere brannte, und das Feuer schlug hell aus den Fensteröffnungen und aus dem Dach hervor.

Als Pierre durch das Pförtchen getreten war, schlug ihm eine solche Gluthitze entgegen, daß er unwillkürlich stehenblieb.

»Welches … welches ist euer Haus?« fragte er.

»O-o-ch!« heulte das Mädchen und wies auf das Nebengebäude. »Das da, das da war unsere Wohnung. Du bist verbrannt, unser Schätzchen! Katja, mein liebes Goldkind, o-och!« heulte Aniska beim Anblick des Brandes los, da sie es für notwendig hielt, auch ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen.

Pierre näherte sich dem Nebengebäude; aber die Hitze war so stark, daß er unwillkürlich einen Bogen um dasselbe beschrieb und sich nun neben einem großen Haus befand, das erst an einer Seite, am Dach, brannte und um welches herum es von Franzosen wimmelte. Pierre begriff zunächst nicht, was diese Franzosen machten, die etwas schleppten; aber als er einen Franzosen vor sich sah, der einen Russen niederen Standes mit der flachen Klinge des Seitengewehrs schlug und ihm einen Fuchspelz wegnahm, da ging ihm eine Ahnung auf, daß hier geraubt und geplündert wurde; aber er hatte keine Zeit, bei diesem Gedanken länger zu verweilen.

Das Krachen und Poltern der einstürzenden Wände und Decken, das Knistern und Zischen der Flammen, das erregte Geschrei der Volksmenge, der Anblick der in steter Bewegung begriffenen, teils schwarzen, sich dicht zusammenballenden, teils hellen aufflatternden Rauchwolken, der leuchtenden Feuerfunken und der hier roten, kompakten, garbenförmigen, dort goldenen Schuppen gleichenden, an den Wänden umherspielenden Flammen, die Empfindung der Hitze und des Rauchs und der Schnelligkeit der Vorgänge: dies alles versetzte Pierre in jene Erregung, die eine Feuersbrunst gewöhnlich hervorruft. Diese Wirkung war bei Pierre deswegen besonders stark, weil er sich jetzt auf einmal beim Anblick dieses Brandes von den Gedanken befreit fühlte, die ihn noch soeben schwer bedrückt hatten. Er fühlte sich jung, heiter, beweglich und energisch. Er war um das Nebengebäude herum nach der Seite gelaufen, die nach dem Haus zu gelegen war, und wollte schon in denjenigen Teil desselben eindringen, der noch stand, als gerade über seinem Kopf mehrere Personen etwas schrien und unmittelbar darauf das krachende Aufschlagen eines schweren Gegenstandes ertönte, der neben ihm niederfiel.

Pierre blickte um sich und sah in den Fenstern des Hauses Franzosen, die einen Kommodenkasten hinausgeworfen hatten, der mit Metallgegenständen angefüllt war. Andere französische Soldaten, die unten standen, traten zu dem Kasten hin.

»Na, was will denn der hier noch?« schrie einer der Franzosen Pierre an.

»Es ist ein Kind in diesem Haus. Habt ihr hier kein Kind gesehen?« sagte Pierre französisch.

»Was redet der denn noch lange? Scher dich fort!« riefen andere, und einer der Soldaten, der offenbar fürchtete, Pierre könnte sich einfallen lassen, ihnen die Silber- und Bronzesachen, die in dem Kasten waren, wegzunehmen, trat in drohender Haltung auf ihn zu.

»Ein Kind?« schrie der Franzose von oben. »Ich habe im Garten etwas plärren gehört. Vielleicht ist es dem sein Bengel gewesen. Man muß sich doch auch menschlich zeigen. Wir sind ja alle Menschen …«

»Wo ist das Kind? Wo ist es?« fragte Pierre.

»Da! Da!« schrie ihm der Franzose aus dem Fenster zu und zeigte nach dem Garten, der hinter dem Haus lag. »Warten Sie, ich werde herunterkommen.«

Und wirklich sprang eine Minute darauf der Franzose, ein schwarzäugiger junger Kerl mit einem eigenartigen Fleck auf der Wange, nur in Hemd und Hose aus einem Fenster des Erdgeschosses heraus, klopfte Pierre auf die Schulter und lief mit ihm nach dem Garten.

»Sputet euch, ihr da!« rief er seinen Kameraden zu. »Es fängt an heiß zu werden.«

Nachdem der Franzose mit Pierre hinter das Haus gelaufen war, wo sie auf einen mit Sand bestreuten Weg kamen, zupfte er seinen Begleiter am Arm und zeigte nach einem Rondell. Unter einer Bank lag ein dreijähriges Mädchen in einem rosa Kleid.

»Da ist Ihr Bengel. Ah, es ist ein kleines Mädchen; na, auch gut«, sagte der Franzose. »Auf Wiedersehen, Dicker. Man muß doch auch menschenfreundlich sein. Wir sind alle sterblich, nicht wahr?« Und der Franzose mit dem Fleck auf der Wange lief zu seinen Kameraden zurück.

Fast atemlos vor Freude eilte Pierre zu der Kleinen hin und wollte sie auf den Arm nehmen. Aber als das skrofulöse, der Mutter ähnliche, unangenehm aussehende Kind den fremden Mann erblickte, schrie es auf und versuchte wegzulaufen. Pierre jedoch ergriff es und hob es auf den Arm; die Kleine kreischte wütend und verzweifelt auf und suchte mit ihren kleinen Händchen Pierres Arme von ihrem Körper loszureißen und mit ihrem rotzigen Mund hineinzubeißen. Pierre wurde von einem Gefühl des Schreckens und des Ekels ergriffen, ähnlich dem Gefühl, das er bei der Berührung mancher kleinen Tiere zu empfinden pflegte. Aber er überwand sich, um das Kind nicht niederzusetzen und dazulassen, und lief mit ihm zu dem großen Haus zurück. Aber auf demselben Weg konnte er nicht mehr zurückkehren: das Dienstmädchen Aniska war nicht mehr da. Mit einem aus Mitleid und Ekel gemischten Gefühl das Kind, das jämmerlich schluchzte und sich naß gemacht hatte, möglichst zart an sich drückend, lief er durch den Garten, um einen andern Ausgang zu suchen.

XXXIV


Als Pierre über Höfe und durch Gassen gelaufen und mit seiner Last zu dem Garten des Fürsten von Grusien an der Ecke der Powarskaja-Straße zurückgelangt war, erkannte er im ersten Augenblick den Ort gar nicht wieder, von dem er ausgegangen war, um das Kind zu holen; so dichtgedrängt voll war er von allerlei Menschen und von Hausgerät, das aus den Häusern herausgeschleppt war. Außer den russischen Familien, die sich mit ihrer Habe vor dem Feuer hierher gerettet hatten, waren auch einige französische Soldaten in verschiedenartiger Bekleidung da. Pierre achtete nicht auf sie. Er suchte möglichst schnell die Beamtenfamilie wiederzufinden, in der Absicht, der Mutter das Kind zu übergeben und dann wieder wegzugehen, um noch andere zu retten. Es war ihm zumute, als müsse er noch recht viel tun und so schnell wie möglich. Von der Hitze und dem Laufen warm geworden, empfand er in diesem Augenblick noch stärker jenes Gefühl der Jugendlichkeit, Frische und Energie, das ihn vorhin ergriffen hatte, als er sich aufmachte, um das Kind zu retten. Das kleine Mädchen war jetzt still geworden; mit den Händchen sich an Pierres Kaftan festhaltend, saß sie auf seinem Arm und blickte wie ein scheues Tierchen um sich. Pierre sah sie von Zeit zu Zeit an und lächelte ihr zu. Er glaubte einen Zug rührender Unschuld auf diesem ängstlichen, kränklichen Gesichtchen zu sehen.

Загрузка...