»Ich für meine Person unterwerfe mich Ihrem Napoleon nicht. Mögen andere Leute tun, was sie wollen … Wenn Sie das nicht anordnen wollen …«
»Aber ich will es ja tun; ich werde sofort Befehl geben.«
Die Prinzessin war offenbar ärgerlich, daß sie nun niemand hatte, auf den sie zornig sein konnte. Etwas vor sich hinflüsternd, setzte sie sich auf einen Stuhl.
»Aber Sie sind da falsch berichtet«, sagte Pierre. »In der Stadt ist alles ruhig, und es ist keinerlei Gefahr vorhanden. Sehen Sie, hier habe ich es diesen Augenblick gelesen.« Pierre zeigte der Prinzessin die Flugblätter. »Der Graf schreibt, er verbürge sich mit seinem Kopf dafür, daß der Feind nicht nach Moskau hineingelangen werde.«
»Ach, Ihr Graf, dieser Graf!« begann die Prinzessin heftig, »dieser Heuchler, dieser Bösewicht, der selbst das Volk zur Rebellion angestiftet hat! Hat er nicht in diesen dummen Flugblättern geschrieben, man solle jeden Verdächtigen, wer er auch sei, beim Schopf nach der Polizei schleppen? Solche Dummheit! Wer einen solchen festnehme, dem solle Ehre und Ruhm zuteil werden. Soweit treibt er die Liebenswürdigkeit gegen das Volk! Warwara Iwanowna hat mir gesagt, das Volk hätte sie beinahe totgeschlagen, weil sie auf der Straße französisch gesprochen habe …«
»Ja, das ist nun einmal nicht anders … Aber Sie nehmen sich alles zu sehr zu Herzen«, sagte Pierre und begann seine Patience zu legen.
Trotzdem die Patience aufging, begab sich Pierre nicht zur Armee, sondern blieb in dem leer gewordenen Moskau, immer in derselben Unruhe und Unentschlossenheit, und erwartete mit einem aus Furcht und Freude gemischten Gefühl den Eintritt von irgend etwas Schrecklichem.
Am nächsten Tag gegen Abend reiste die Prinzessin ab, und zu Pierre kam sein Oberadministrator mit der Nachricht, das Geld, das Pierre zur Ausrüstung seines Regiments verlangt habe, könne nur dadurch beschafft werden, daß eines der Güter verkauft werde. Überhaupt stellte ihm der Oberadministrator vor, daß dieser ganze Aufwand für das Regiment ihn mit Notwendigkeit ruinieren werde. Pierre verbarg, während er die Darlegung seines Beamten anhörte, nur mit Mühe ein Lächeln.
»Nun, dann muß es eben verkauft werden«, antwortete er. »Was ist zu machen? Zurücktreten kann ich jetzt nicht!«
Je schlechter sich die Lage aller Dinge und speziell seiner eigenen Verhältnisse gestaltete, um so mehr freute sich Pierre; denn um so deutlicher war es, daß die von ihm erwartete Katastrophe herannahte. Es war jetzt fast niemand von Pierres Bekannten mehr in der Stadt. Julja war abgereist, desgleichen Prinzessin Marja. Von seinen näheren Bekannten waren nur Rostows dageblieben; aber diese besuchte Pierre nicht.
An diesem Tag fuhr er, in der Absicht sich zu zerstreuen, nach dem Dorf Woronzowo, um sich einen großen Luftballon anzusehen, welchen der Mechaniker Leppich zur Vernichtung des Feindes baute, sowie einen Probeballon, der am folgenden Tag aufgelassen werden sollte. Der große Ballon war noch nicht fertig; aber er wurde, wie Pierre erfuhr, auf Wunsch des Kaisers gebaut. Der Kaiser hatte über diesen Luftballon an den Grafen Rastoptschin folgendes geschrieben:
»Sobald Leppich fertig sein wird, bilden Sie ihm für seine Gondel eine Bemannung aus zuverlässigen, intelligenten Leuten, und schicken Sie einen Kurier an den General Kutusow, um ihn zu benachrichtigen. Ich habe ihm bereits von der Sache Kenntnis gegeben. Bitte, schärfen Sie Leppich ein, recht achtsam auf den Ort zu sein, wo er sich das erstemal niederläßt, damit er sich nicht irrt und nicht den Feinden in die Hände fällt. Unter allen Umständen muß er bei seinen Bewegungen sich mit dem General en chef im Einverständnis halten.«
Als Pierre auf dem Rückweg von Woronzowo über den Bolotnaja-Platz gefahren war, sah er bei der Richtstätte eine Menge Menschen, hielt an und stieg aus dem Wagen. Es hatte die Auspeitschung eines der Spionage beschuldigten französischen Koches stattgefunden. Die Exekution war soeben beendigt, und der Henker band einen kläglich stöhnenden, dicken Mann mit rötlichem Backenbart, in blauen Strümpfen, von der Bank los; neben dem Gezüchtigten lag dessen grünes Kamisol. Ein anderer Delinquent, ein hagerer, blasser Mensch, stand ebendort. Beide waren, nach ihren Gesichtern zu urteilen, Franzosen. Mit nicht minder angstvollem, schmerzlich verzerrtem Gesicht, wie das des hageren Franzosen war, drängte sich Pierre durch die Menge.
»Was geht hier vor? Wer ist das? Wofür wird er bestraft?« fragte er.
Aber die Aufmerksamkeit der Menge, die aus Beamten, Kleinbürgern, Kaufleuten, Bauern und Frauen in Pelerinen und Pelzen bestand, richtete sich mit solchem Eifer auf das, was auf der Richtstätte vorging, daß ihm niemand Antwort gab. Der dicke Mann erhob sich, zog mit finsterem Gesicht die Schultern zusammen und begann, offenbar bestrebt seine Festigkeit zu zeigen, ohne um sich zu blicken, sein Kamisol anzuziehen; aber plötzlich fingen ihm die Lippen an zu zucken, und er weinte los, indem er sich über seinen eigenen Mangel an Selbstbeherrschung ärgerte, so wie erwachsene, sanguinische Menschen zu weinen pflegen. Die Menge begann laut zu sprechen: wie es Pierre vorkam, um in sich selbst das Gefühl des Mitleids zu übertäuben.
»Es ist der Koch eines Fürsten …«
»Nun, Musje, die russische Sauce schmeckt, wie es scheint, den Franzosen zu sauer … du hast wohl stumpfe Zähne davon bekommen?« fragte ein neben Pierre stehender runzliger Kanzlist, als der Franzose weinte.
Der Kanzlist blickte sich um, offenbar in Erwartung einer beifälligen Aufnahme seines Scherzes. Einige lachten; andere fuhren fort, ängstlich nach dem Henker hinzublicken, der den zweiten entkleidete.
Pierre schnaufte mehrmals durch die Nase, runzelte die Stirn, drehte sich schnell um und ging zu seinem Wagen zurück; während des Gehens und Einsteigens brummte er unaufhörlich etwas vor sich hin. Bei der Weiterfahrt zuckte er mehrmals zusammen und schrie so laut auf, daß der Kutscher ihn fragte:
»Was befehlen Sie?«
»Wohin fährst du denn?« schrie Pierre den Kutscher an, als dieser auf den Lubjanskaja-Platz fuhr.
»Sie haben befohlen zum Oberkommandierenden«, antwortete der Kutscher.
»Dummkopf! Rindvieh!« beschimpfte Pierre seinen Kutscher, was bei ihm nur selten vorkam. »Nach Hause habe ich befohlen; und fahr schneller, du Tölpel!«
»Noch heute muß ich abreisen«, sprach Pierre vor sich hin.
Beim Anblick des gezüchtigten Franzosen und der Menge, die die Richtstätte umdrängte, hatte er sich mit solcher Entschiedenheit gesagt, er könne nicht länger in Moskau bleiben und müsse heute noch zur Armee abgehen, daß es ihm schien, er habe entweder dem Kutscher schon davon gesagt, oder dieser müsse es von selbst wissen.
Als Pierre nach Hause gekommen war, teilte er seinem Oberkutscher Ewstafjewitsch, der alles wußte, alles verstand und in Moskau eine allbekannte Persönlichkeit war, mit, daß er diese Nacht nach Moschaisk zur Armee abreisen werde, und befahl ihm, seine Reitpferde dorthin zu schicken. Indessen konnte alles dies an diesem Tag nicht mehr zur Ausführung gebracht werden, und daher mußte Pierre auf Ewstafjewitschs Vorstellungen hin seine Abreise auf den folgenden Tag verschieben, um den Relaispferden Zeit zu lassen, sich vorher auf den Weg zu machen.
Am 24. August klärte sich das bisher schlechte Wetter auf, und am Nachmittag dieses Tages reiste Pierre aus Moskau ab. Als er in der Nacht in Perchuschkowo die Pferde wechselte, erfuhr er, daß an diesem Abend ein großer Kampf stattgefunden habe. Man erzählte ihm, hier in Perchuschkowo habe die Erde von dem Kanonendonner gezittert. Auf Pierres Frage, wer gesiegt habe, konnte ihm niemand eine Antwort geben. (Es war dies das Treffen vom 24. bei Schewardino.) Bei Tagesanbruch näherte sich Pierre dem Städtchen Moschaisk.
In allen Häusern von Moschaisk waren Truppen einquartiert, und in der Herberge, wo Pierre von seinem Reitknecht und seinem Kutscher empfangen wurde, war in den Zimmern kein Platz; alles war voll von Offizieren.
In Moschaisk und hinter Moschaisk standen und marschierten überall Truppen. Auf allen Seiten erblickte man Infanterie, Kavallerie, namentlich Kosaken, Trainfuhrwerke, Munitionswagen und Kanonen. Pierre beeilte sich, möglichst schnell mit seinem Wagen vorwärtszukommen, und je weiter er sich von Moskau entfernte und je tiefer er in dieses Truppenmeer eindrang, um so mehr bemächtigte sich seiner eine unruhige Erregung und ein neues, ihm noch unbekanntes, freudiges Gefühl. Es war ein Gefühl ähnlich dem, welches er im Slobodski-Palais bei der Ankunft des Kaisers empfunden hatte, ein Gefühl, als müsse er notwendig etwas unternehmen und etwas zum Opfer bringen. Mit einer angenehmen Empfindung wurde er sich bewußt, daß alles, worin die Menschen ihr Glück suchen, Lebensgenüsse, Reichtum, ja das Leben selbst, im Vergleich zu etwas anderem nur wertloser Kehricht sei, den man mit Vergnügen wegwerfen könne. Über dieses andere, Höhere konnte sich Pierre freilich keine Rechenschaft geben, und er versuchte auch gar nicht; darüber ins klare zu kommen, für wen und für was alle erdenklichen Opfer zu bringen ihm so besonders reizvoll erschien. Es beschäftigte seine Gedanken nicht dasjenige, für das er Opfer bringen wollte, sondern es war ihm das Opferbringen selbst ein neues, frohes Gefühl.
XIX
Am 24. hatte der Kampf bei der Schanze von Schewardino stattgefunden; am 25. wurde weder von der einen noch von der andern Seite auch nur ein einziger Schuß abgefeuert; am 26. fand die Schlacht bei Borodino statt.
Welchen Zweck hatte es, daß die Schlachten bei Schewardino und bei Borodino angeboten und angenommen wurden, und wie ging es dabei zu? Zu welchem Zweck wurde die Schlacht bei Borodino geliefert? Weder für die Franzosen noch für die Russen hatte sie den geringsten Sinn. Ihr nächstes Resultat war und mußte sein: für uns Russen, daß wir den Untergang Moskaus beschleunigten (den wir doch über alles in der Welt fürchteten), und für die Franzosen, daß sie den Untergang ihrer Armee beschleunigten (den sie gleichfalls über alles in der Welt fürchteten). Daß dies das Resultat sein mußte, war schon damals vollkommen klar, und dennoch bot Napoleon diese Schlacht an, und Kutusow nahm sie an.
Wenn die Heerführer sich hätten durch Gründe der Vernunft leiten lassen, so hätte, möchte man meinen, es dem Kaiser Napoleon klar sein müssen, daß er nach Zurücklegung von zweitausend Werst durch die Annahme einer Schlacht, bei der er aller Wahrscheinlichkeit nach den vierten Teil seiner Armee verlieren mußte, sich in das sichere Verderben stürzte; und ebenso klar mußte es Kutusow sein, daß, wenn er eine Schlacht annahm und gleichfalls den vierten Teil seiner Armee zu verlieren riskierte, er unfehlbar den Verlust von Moskau herbeiführte. Für Kutusow war dies mathematisch sicher, so wie sicher ist, daß, wenn ich im Damespiel einen Stein weniger habe und nun anfange abzutauschen, ich die Partie verliere; ich darf eben unter solchen Umständen nicht abtauschen.
Wenn mein Gegner sechzehn Steine hat und ich vierzehn, so bin ich nur um ein Achtel schwächer als er; wenn ich dann aber dreizehn Steine abtausche, so ist er dreimal so stark wie ich.
Vor der Schlacht bei Borodino verhielten sich unsere Streitkräfte zu denen der Franzosen annähernd wie fünf zu sechs, nach der Schlacht aber wie eins zu zwei, d.h. vor der Schlacht hatten wir hunderttausend Mann gegen hundertzwanzigtausend, nach der Schlacht dagegen fünfzigtausend gegen hunderttausend. Und trotzdem nahm der kluge, erfahrene Kutusow die Schlacht an. Napoleon aber, der geniale Feldherr, wie man ihn nennt, bot diese Schlacht an, die ihn ein Viertel seiner Armee kostete, und infolge deren seine Operationslinie sich noch weiter ausdehnte. Wenn man behauptet, Napoleon habe gemeint, er werde durch die Besetzung Moskaus, wie seinerzeit durch die Besetzung Wiens, den Feldzug beendigen, so lassen sich gegen diese Ansicht viele Beweise vorbringen. Erzählen doch Napoleons Geschichtsschreiber selbst, er habe schon nach der Einnahme von Smolensk haltmachen wollen, die Gefahren seiner ausgedehnten Stellung erkannt und gewußt, daß die Besetzung Moskaus nicht das Ende des Feldzuges sein werde, da er von Smolensk an gesehen habe, in welchem Zustand man ihm die russischen Städte zurückließ, und er auf die wiederholten Äußerungen seines Wunsches, in Unterhandlungen einzutreten, keine Antwort erhalten habe.
Indem Kutusow und Napoleon die Schlacht bei Borodino anboten und annahmen, handelten sie willenlos und vernunftlos. Aber die Historiker haben diesem Verfahren nachträglich, nachdem die Ereignisse sich vollzogen hatten, schlau ersonnene Gründe untergeschoben, welche als Beweise für die Voraussicht und Genialität der beiden Feldherrn dienen sollten, während diese doch in Wirklichkeit von allen willenlosen Werkzeugen der Weltereignisse die sklavischsten und willenlosesten Faktoren gewesen sind.
Die Alten haben uns meisterhafte Heldengedichte hinterlassen, in denen es die Helden sind, auf die sich das gesamte Interesse konzentriert, und wir können uns immer noch nicht an den Gedanken gewöhnen, daß für unsere Periode der Menschheitsentwicklung eine solche Geschichtsanschauung sinnlos ist.
Als Antwort auf die andere Frage, wie die Schlacht bei Borodino und die ihr vorhergehende bei Schewardino geliefert wurden, existiert gleichfalls eine sehr bestimmte und allgemein bekannte, aber völlig unrichtige Darstellung. Alle Geschichtsschreiber schildern die Sache in folgender Weise.
Die russische Armee habe auf ihrem Rückzug von Smolensk sich die günstigste Position für eine Hauptschlacht gesucht und eine solche Position bei Borodino gefunden.
Die Russen hätten diese Position vor der Schlacht befestigt, links von der Heerstraße, die von Moskau nach Smolensk führt, beinah im rechten Winkel zu ihr, von Borodino bis Utiza, an eben der Stelle, wo nachher die Schlacht stattgefunden habe.
Vor dieser Position sei zur Beobachtung des Feindes auf dem Hügel von Schewardino ein befestigtes Vorwerk angelegt worden. Am 24. habe Napoleon die Befestigung angegriffen und genommen, am 26. aber die ganze russische Armee angegriffen, die in der Position auf dem Feld von Borodino gestanden habe.
So heißt es bei allen Geschichtsschreibern, und diese ganze Darstellung ist völlig unrichtig, wovon sich jeder leicht überzeugen kann, der sich die Mühe gibt, in das Wesen der Sache einzudringen.
Die Russen haben nicht die beste Position gesucht, sondern sind im Gegenteil auf ihrem Rückzug an vielen Positionen vorbeigekommen, welche besser gewesen wären als die von Borodino. Sie haben bei keiner dieser Positionen haltgemacht; sowohl weil Kutusow keine Position einnehmen wollte, die er nicht selbst ausgesucht hatte, als auch weil das Verlangen nach einer Völkerschlacht sich noch nicht mit hinreichender Stärke bekundet hatte, als auch weil Miloradowitsch mit der Landwehr noch nicht herangekommen war, und aus zahllosen anderen Gründen. Tatsache ist, daß die früheren Positionen stärker waren, und daß die Position von Borodino (diejenige, in der die Schlacht wirklich geliefert worden ist) nicht nur nicht stark, sondern überhaupt in keiner Hinsicht in höherem Grade eine Position war, als jeder andere Ort im russischen Reich, in den man aufs Geratewohl eine Stecknadel auf der Landkarte hineinstecken könnte.
Die Russen haben nicht nur die Position auf dem Feld von Borodino, im rechten Winkel links von der Heerstraße (d.h. den Ort, wo die Schlacht stattfand), nicht befestigt, sondern auch vor dem 25. August 1812 nie daran gedacht, daß an diesem Ort eine Schlacht stattfinden könne. Als Beweis dafür dient erstens der Umstand, daß nicht nur am 25. an diesem Ort keine Befestigungen vorhanden waren, sondern sogar die am 25. begonnenen auch am 26. noch nicht beendigt waren. Ein zweiter Beweis ist die Lage der Schanze von Schewardino; die Schanze von Schewardino hat vor der Position, in der die Schlacht angenommen wurde, keinen Sinn. Warum wurde diese Schanze stärker befestigt als alle andern Punkte? Und warum wurden, als man sie am 24. bis in die späte Nacht hinein verteidigte, alle Anstrengungen erschöpft und sechstausend Mann geopfert? Zur Beobachtung des Feindes wäre eine Kosakenpatrouille ausreichend gewesen. Drittens: als Beweis dafür, daß man die Position, in der die Schlacht stattfand, nicht vorher in Aussicht genommen hatte und daß die Schanze von Schewardino nicht ein Vorwerk dieser Position war, dient der Umstand, daß Barclay de Tolly und Bagration bis zum 25. August der Überzeugung waren, die Schanze von Schewardino sei der linke Flügel der Position, und daß Kutusow selbst in seinem unmittelbar nach der Schlacht geschriebenen Bricht die Schanze von Schewardino den linken Flügel der Position nennt. Erst lange nachher, als Berichte über die Schlacht bei Borodino in Muße abgefaßt wurden, ersann man (wahrscheinlich um die Fehler des Oberkommandierenden, der nun einmal tadellos dastehen sollte, zu verdecken) die unrichtige, sonderbare Behauptung, die Schanze von Schewardino habe als Vorwerk gedient (obwohl sie doch in Wirklichkeit nur ein befestigter Punkt des linken Flügels gewesen war) und die Schlacht bei Borodino sei von uns in einer vorher ausgewählten, befestigten Position angenommen worden (während sie doch in Wirklichkeit auf einem ganz unerwarteten und beinahe unbefestigten Terrain stattfand).
Der wirkliche Hergang war offenbar der folgende. Die Russen wählten sich eine Position am Fluß Kolotscha, der die große Heerstraße nicht in einem rechten, sondern in einem spitzen Winkel schneidet, so daß sich der linke Flügel bei Schewardino befand, der rechte in der Nähe des Dorfes Nowoje Selo und das Zentrum bei Borodino, an dem Zusammenfluß der Kolotscha und Woina. Jedem, der das Schlachtfeld von Borodino betrachtet und sich dabei den Gedanken an den wirklichen Hergang der Schlacht fernhält, muß es einleuchten, daß diese durch die Kolotscha gedeckte Position für eine Armee zweckmäßig war, die die Absicht hatte, einen auf der Straße von Smolensk nach Moskau vorrückenden Feind aufzuhalten.
Napoleon, der am 24. nach Walujewo vorgeritten war, sah nicht (wie es in den geschichtlichen Darstellungen heißt) die sich von Utiza nach Borodino erstreckende Position der Russen (er konnte diese Position nicht sehen, weil sie nicht existierte) und sah nicht ein Vorwerk der russischen Armee, sondern er stieß bei der Verfolgung der russischen Nachhut auf den linken Flügel der russischen Position, auf die Schanze von Schewardino, und führte, was die Russen nicht erwartet hatten, seine Truppen über die Kolotscha. Und die Russen, die nicht mehr Zeit fanden, eine Hauptschlacht zu beginnen, gingen mit ihrem linken Flügel aus der Position, die sie einzunehmen beabsichtigt hatten, zurück und nahmen eine neue Position ein, welche vorher nicht in Aussicht genommen und nicht befestigt war. Dadurch, daß Napoleon auf die andere Seite der Kolotscha, links von der Heerstraße, herüberging, verschob er die ganze bevorstehende Schlacht von rechts nach links (von russischer Seite gesehen) und übertrug sie auf das Feld zwischen Utiza, Semjonowskoje und Borodino (auf dieses Feld, welches für unsere Position keine größeren Vorteile bot als jedes andere Feld in Rußland), und auf diesem Feld fand dann die ganze Schlacht am 26. statt. Die nebenstehende Kartenskizze gibt in groben Umrissen den Plan der ursprünglichen und der nachherigen wirklichen Aufstellung.1
Wäre Napoleon nicht am Abend des 24. an die Kolotscha geritten und hätte er nicht Befehl gegeben, noch gleich am Abend die Schanze anzugreifen, sondern hätte er den Angriff erst am andern Morgen begonnen, so würde niemand daran zweifeln, daß die Schanze von Schewardino der linke Flügel unserer Position war, und die Schlacht hätte dann in der Weise stattgefunden, wie die Russen es erwartet hatten. In diesem Fall hätten die Russen die Schanze von Schewardino, ihren linken Flügel, wahrscheinlich noch hartnäckiger verteidigt, hätten Napoleon im Zentrum oder von rechts her angegriffen, und es hätte am 25. die Hauptschlacht in der Position stattgefunden, die im voraus in Aussicht genommen und befestigt war. Da aber der Angriff auf unsern linken Flügel noch am Abend nach de Rückzug unserer Arrieregarde stattfand, d.h. unmittelbar nach dem Kampf bei Gridnewa, und da die russischen Heerführer keine Lust oder keine Zeit mehr hatten, noch damals, am Abend des 24., die Hauptschlacht anzufangen, so war die erste und wichtigste Aktion bei der Schlacht von Borodino schon am 24. verloren, und dies führte augenscheinlich auch zum Verlust der am 26. gelieferten Schlacht.
Nach dem Verlust der Schanze von Schewardino befanden wir uns am Morgen des 25. auf dem linken Flügel ohne Position und sahen uns in die Notwendigkeit versetzt, unseren linken Flügel zurückzubiegen und ihn eilig da zu befestigen, wo er gerade hingekommen war.
Aber nicht genug daran, daß am 26. August die russischen Truppen nur unter dem Schutz schwacher, unvollendeter Befestigungen standen: der Nachteil dieser Stellung wurde noch dadurch vergrößert, daß die russischen Heerführer, die die vollendete Tatsache (den Verlust der Position auf dem linken Flügel und die Verschiebung des ganzen künftigen Schlachtfeldes von rechts nach links) nicht recht eingestehen wollten, in ihrer ausgedehnten Position vom Dorf Nowoje Selo bis Utiza stehenblieben und infolgedessen sich genötigt sahen, ihre Truppen während der Schlacht von rechts nach links zu verschieben. Auf diese Weise hatten die Russen während der ganzen Schlacht der gegen unsern linken Flügel gerichteten französischen Armee gegenüber nur halb so starke Streitkräfte. (Die Unternehmungen Poniatowskis gegen Utiza und Uwarows gegen den linken Flügel der Franzosen bildeten besondere Operationen, die mit dem gesamten Gang der Schlacht nichts zu tun hatten.)
Die Schlacht bei Borodino fand also durchaus nicht in der Weise statt, wie die Geschichtsschreiber sie darstellen, die sich bemühen, die Fehler unserer Heerführer zu verdecken, und dadurch den Ruhm des russischen Heeres und Volkes schmälern. Die Schlacht bei Borodino fand nicht in einer ausgewählten, befestigten Position mit nur etwas geringeren Streitkräften auf seiten der Russen statt; sondern die Schlacht bei Borodino wurde infolge des Verlustes der Schanze von Schewardino von den Russen auf einem offenen, beinahe unbefestigten Terrain angenommen, mit Streitkräften, die nur halb so stark waren wie die der Franzosen, also unter Verhältnissen, unter denen man nicht nur nicht erwarten konnte, daß man sich zehn Stunden lang schlagen und die Schlacht unentschieden gestalten könne, sondern nicht einmal, daß man imstande sein werde, drei Stunden lang die Armee vor völliger Auflösung und Flucht zu bewahren.
Fußnoten
1 Tolstois Skizze ist in manchen Punkten nicht genau. Hervorgehoben sei, daß bei der »wirklichen Stellung der Franzosen« der linke Flügel, d.h. das Korps des Vizekönigs, jenseits der Kolotscha zu beiden Seiten der Heerstraße stand.
B Kartenskizze
Anmerkung des Übersetzers.
XX
Am 25. August morgens fuhr Pierre aus Moschaisk fort. Auf dem Weg, der aus der Stadt einen steilen Berg hinab an einer rechtsstehenden Kirche vorbeiführte, in welcher zum Gottesdienst geläutet und Messe gehalten wurde, stieg Pierre aus dem Wagen und ging zu Fuß. Hinter ihm kam ein Kavallerieregiment, die Sänger voran, den Berg herunter; ihm entgegen zog eine Reihe von Bauernwagen mit Verwundeten von dem gestrigen Kampf bergan. Die bäuerlichen Fuhrleute liefen, die Pferde anschreiend und mit den Peitschen schlagend, von einer Seite nach der andern. Die Wagen, auf deren jedem drei bis vier verwundete Soldaten lagen und saßen, fuhren stuckernd über die Steine, die, auf den steilen Weg hingeworfen, eine Art Pflaster bildeten. Die mit Lappen verbundenen Verwundeten, blasse Gestalten mit zusammengepreßten Lippen und finster zusammengezogenen Augenbrauen, wurden in den Wagen heftig in die Höhe geschleudert und umhergeworfen und suchten sich an den Wagenleitern zu halten. Fast alle betrachteten mit naiver, kindlicher Neugier Pierres weißen Hut und grünen Frack.
Pierres Kutscher schrie ärgerlich die Fuhrleute des Zuges mit den Verwundeten an, sie sollten sich an einer Seite des Weges halten. Das Kavallerieregiment mit den Sängern, das den Berg herunterkam, näherte sich dem Wagen Pierres und verengte den Weg. Pierre blieb stehen und drückte sich ganz an den Rand des Weges, der hier in den Berg hineingegraben war. Die Sonne, die den Abhang des Berges erleuchtete, reichte mit ihren Strahlen nicht in die Tiefe des Hohlweges hinein; hier war es kalt und feucht; aber über Pierres Haupt breitete sich der helle Augustmorgen aus, und heiter erklang das Glockengeläute. Ein Wagen mit Verwundeten machte am Rand des Weges dicht neben Pierre halt. Der Fuhrmann lief in seinen Bastschuhen keuchend von vorn zu seinem Wagen zurück und schob Steine unter die ungeschienten Hinterräder; dann machte er sich daran, das Geschirr seines stillstehenden Pferdchens in Ordnung zu bringen.
Ein alter verwundeter Soldat mit verbundener Hand, der hinter dem Wagen herging, faßte den Wagen mit seiner heilen Hand an und betrachtete Pierre.
»Nun, wie ist’s, Landsmann? Werden wir hier einquartiert werden? Wie? Oder müssen wir noch bis Moskau?« fragte er.
Pierre war so in seine Gedanken versunken, daß er die Frage nicht verstand. Er blickte bald nach dem Kavallerieregiment hin, das jetzt dem Wagenzug der Verwundeten begegnete, bald nach jenem Wagen, neben dem er stand und auf dem zwei Verwundete saßen und ein dritter lag, und es schien ihm, daß hier, bei diesen Leuten, die Lösung der Frage, die ihn beschäftigte, vorliege.
Einer der beiden Soldaten, die auf dem Wagen saßen, war augenscheinlich an der Backe verwundet. Sein ganzer Kopf war mit Lappen umwickelt und die eine Backe zur Größe eines Kinderkopfes angeschwollen. Mund und Nase waren ihm ganz zur Seite geschoben. Dieser Soldat blickte nach der Kirche hin und bekreuzte sich. Der zweite, ein junger Bursche, Rekrut, blondhaarig und so weiß, als ob er überhaupt kein Blut in seinem schmalen Gesicht hätte, blickte Pierre mit einem starren, gutmütigen Lächeln an. Der dritte lag mit dem Rücken nach oben da; sein Gesicht war nicht zu sehen. Die Kavalleriesänger zogen dicht neben dem Wagen vorüber:
»Liebes Mädchen, ach, wie gerne
Küßt’ ich deinen roten Mund;
Doch du weilst in weiter Ferne …«,
sangen sie ein Soldatentanzlied.
Und wie eine Begleitstimme, aber in einer andern Art von Fröhlichkeit, mischte sich in den Gesang der metallische Klang des Geläutes von oben her. Und wieder in einer anderen Art von Fröhlichkeit übergossen die warmen Sonnenstrahlen den oberen Teil des gegenüberliegenden Abhangs. Aber am Fuß der Böschung, bei dem Wagen mit den Verwundeten, neben dem keuchenden Pferdchen, bei welchem Pierre stand, war es feucht, dunkel und traurig.
Der Soldat mit der geschwollenen Backe warf den Kavalleriesängern einen ärgerlichen Blick zu.
»Ach, diese Gecken!« sagte er vorwurfsvoll.
»Heute habe ich nicht nur Soldaten, sondern auch Bauern bei den Truppen gesehen! Auch die Bauern müssen jetzt mit«, sagte der Soldat, der hinter dem Bauernwagen stand, indem er sich mit einem trüben Lächeln an Pierre wandte. »Jetzt wird kein Unterschied gemacht … Mit dem ganzen Volk will man über sie herfallen; mit einem Wort: Moskau. Man will ein Ende machen.«
So unklar dies auch klang, so verstand Pierre doch alles, was der Soldat sagen wollte, und nickte zustimmend mit dem Kopf.
Der Weg war nun wieder frei geworden; Pierre ging weiter bis an den Fuß des Berges, stieg dann wieder auf und setzte seine Fahrt fort.
Während der Fahrt hielt er nach beiden Seiten des Weges Ausschau und suchte nach bekannten Gesichtern, erblickte aber überall nur unbekannte Angehörige verschiedener Waffengattungen, die mit gleichmäßiger Verwunderung seinen weißen Hut und grünen Frack musterten.
Nachdem er ungefähr vier Werst gefahren war, traf er den ersten Bekannten und begrüßte ihn erfreut. Es war dies ein höherer Militärarzt. Er kam in einer Britschke, auf der neben ihm noch ein junger Kollege saß, Pierre entgegengefahren und ließ, sobald er Pierre erkannte, den Kosaken, der als Kutscher auf dem Bock saß, anhalten.
»Graf! Euer Erlaucht! Wie kommen Sie hierher?« fragte der Arzt.
»Nun, ich wollte mir die Sache einmal ansehen …«
»Ja, ja, zu sehen wird es schon etwas geben …«
Pierre stieg aus, trat zu dem gleichfalls ausgestiegenen Arzt und knüpfte ein Gespräch mit ihm an, indem er ihm seine Absicht, an der Schlacht teilzunehmen, auseinandersetzte.
Der Arzt riet ihm, sich direkt an den Durchlauchtigen zu wenden.
»Warum wollen Sie sich während der Schlacht an irgendeiner obskuren Stelle herumdrücken?« sagte er, nachdem er mit seinem jungen Kollegen einen Blick gewechselt hatte. »Der Durchlauchtige kennt Sie ja doch und wird Sie freundlich aufnehmen. Also machen Sie es nur so, bester Freund«, sagte der Arzt.
Der Arzt schien sehr müde zu sein und es sehr eilig zu haben.
»Wenn Sie meinen … Noch eins wollte ich Sie fragen: wo ist denn eigentlich unsere Position?« fragte Pierre.
»Unsere Position?« erwiderte der Arzt. »Das schlägt nicht in mein Fach. Fahren Sie durch Tatarinowa hindurch; da wird an irgend etwas Großem gegraben. Steigen Sie da auf den Hügel: von da werden Sie schon alles sehen.«
»Von da sieht man es? Wenn Sie die Güte hätten …«
Aber der Arzt unterbrach ihn und trat wieder zu seiner Britschke.
»Ich würde Sie gern hinbringen; aber bei Gott, ich stecke so weit in der Arbeit« (er zeigte auf seine Kehle); »ich muß schleunigst zum Korpskommandeur. Es ist bei uns eine tolle Wirtschaft … Sie wissen, Graf, morgen wird eine Schlacht geliefert; auf unsere hunderttausend Mann sind mindestens zwanzigtausend Verwundete zu rechnen. Und unsere Tragbahren, Betten, Heilgehilfen und Ärzte reichen nicht für sechstausend. Bauernwagen haben wir ja zehntausend; aber es ist doch auch sonst manches nötig. Da muß ich mich tüchtig tummeln.«
Pierre fühlte sich von dem seltsamen Gedanken erschüttert, daß von jenen Tausenden lebensfrischer, gesunder, junger und alter Menschen wahrscheinlich zwanzigtausend dazu bestimmt waren, verwundet oder getötet zu werden, vielleicht viele gerade von denen, die er gesehen hatte und die mit heiterer Verwunderung seinen Hut betrachtet hatten.
»Sie werden vielleicht morgen sterben; warum denken sie an etwas anderes als an den Tod?« sagte er zu sich selbst. Und durch irgendwelche geheime Gedankenverknüpfung traten ihm der Abstieg von dem Berg bei Moschaisk und die Bauernwagen mit den Verwundeten und das Glockenläuten und die schrägen Strahlen der Sonne und der Gesang der Kavalleristen lebhaft vor die Seele.
»Die Kavalleristen ziehen in die Schlacht und begegnen einer Menge von Verwundeten und denken auch nicht einen Augenblick an das, was ihrer wartet, sondern reiten vorbei und blinzeln den Verwundeten mit den Augen zu. Zwanzigtausend Mann unserer Truppen sind dazu bestimmt, verwundet oder getötet zu werden; und doch wundern sie sich noch über meinen Hut! Seltsam!« So dachte Pierre, während er nach Tatarinowa weiterfuhr.
Vor dem Gutshaus, links von der Heerstraße, standen Equipagen, Packwagen, Schildwachen und eine Menge Offiziersburschen. Hier war das Quartier des Durchlauchtigen. Aber als Pierre ankam, war der Durchlauchtige nicht anwesend, auch fast niemand von den Stabsoffizieren. Sie waren alle bei einem Bittgottesdienst. Pierre fuhr weiter nach Gorki.
Als er auf die Anhöhe kam, auf der das Dorf lag, und in die kleine Dorfgasse hineinfuhr, erblickte er zum erstenmal bäuerliche Landwehrleute, mit Kreuzen an den Mützen, in weißen Hemden; unter lautem Reden und Lachen verrichteten sie schweißbedeckt, aber mit großer Munterkeit, rechts von der Heerstraße an einem großen, mit Gras bewachsenen Hügel eine Arbeit.
Einige von ihnen stachen mit Spaten Erde von dem Hügel ab; andere fuhren diese Erde in Schubkarren auf Bohlen weg; wieder andere standen dabei, ohne etwas zu tun.
Zwei Offiziere standen auf dem Hügel und gaben ihnen die erforderlichen Anweisungen. Als Pierre diese Bauern erblickte, die offenbar noch an ihrem neuen Soldatenstand ihre Freude hatten, mußte er wieder an die verwundeten Soldaten in Moschaisk denken, und es wurde ihm verständlich, was der Soldat damit gemeint hatte, als er sagte, mit dem ganzen Volk wolle man über sie herfallen. Der Anblick dieser auf dem Schlachtfeld arbeitenden bärtigen Bauern, mit den wunderlich plumpen Stiefeln, den schweißigen Hälsen und den, wenigstens bei manchen, aufgeknöpften schrägen Hemdkragen, aus denen die sonnengebräunte Haut über den Schlüsselbeinen zum Vorschein kam, dieser Anblick wirkte auf Pierre stärker als alles das, was er bisher über den Ernst und die Bedeutsamkeit des gegenwärtigen Augenblicks gesehen und gehört hatte.
XXI
Pierre stieg aus seinem Wagen und ging, an den arbeitenden Landwehrleuten vorüber, auf den Hügel hinauf, von dem aus nach der Angabe des Arztes das Schlachtfeld sichtbar sein sollte.
Es war elf Uhr morgens. Die Sonne stand etwas links hinter Pierre und beleuchtete in der reinen, durchsichtigen Luft hell das gewaltige, einem ansteigenden Amphitheater gleichende Panorama, das vor ihm lag.
In diesem Amphitheater schlängelte sich, es durchschneidend, die große Smolensker Heerstraße nach links hinauf. Sie ging durch ein Dorf mit einer weißen Kirche, das ungefähr fünfhundert Schritt vor dem Hügel und niedriger als dieser lag (dies war Borodino), zog sich unterhalb des Dorfes über eine Brücke und dann bergauf, bergab in Windungen immer höher und höher nach dem Dorf Walujewo, das in einer Entfernung von etwa sechs Werst sichtbar war. Dort hatte Napoleon sein Quartier. Hinter Walujewo verschwand die Straße in dem gelb werdenden Wald am Horizont. In diesem aus Birken und Fichten bestehenden Wald glänzte, rechts von der Richtung der Straße, fern in der Sonne das Kreuz und der Glockenturm des Klosters Kolozkoi. In dieser ganzen bläulichen Ferne, rechts und links vom Wald und von der Straße, waren an verschiedenen Stellen rauchende Wachfeuer und, in unbestimmten Umrissen, Massen unserer und feindlicher Truppen zu sehen. Zur Rechten, am Lauf der Kolotscha und der Moskwa entlang, war das Terrain schluchtenreich und bergig. Zwischen diesen Schluchten wurden in der Ferne das Dorf Bessubowo und näher das Dorf Sacharjino sichtbar. Nach links hin war das Terrain ebener; dort waren Kornfelder, und man sah ein abgebranntes, rauchendes Dorf, Semjonowskoje.
Alles, was Pierre rechts und links sah, hatte so wenig Eigenartiges, daß weder die linke noch die rechte Seite des Terrains völlig der Vorstellung entsprach, die er sich davon gemacht hatte. Überall waren statt des Schlachtfeldes, das er zu sehen erwartet hatte, nur Felder, Wälder, Lichtungen, Truppen, rauchende Wachfeuer, Dörfer, Hügel und Bäche; und soviel er auch suchte und forschte, so vermochte er doch in dieser natürlichen Örtlichkeit keine Position zu finden, ja, er vermochte nicht einmal unsere Truppen von den feindlichen zu unterscheiden.
»Ich muß einen Sachkundigen fragen«, dachte er und wandte sich an einen Offizier, der neugierig seine unmilitärische, große Gestalt betrachtete.
»Gestatten Sie eine Frage«, sagte Pierre zu dem Offizier. »Was ist das hier vorn für ein Dorf?«
»Burdino; oder wie heißt es?« antwortete der Offizier und wandte sich zugleich mit dieser Frage an einen Kameraden.
»Borodino«, erwiderte der andere korrigierend.
Der Offizier, der sich offenbar über die Gelegenheit zu einem Gespräch freute, trat näher an Pierre heran.
»Sind das dort welche von den Unsrigen?« fragte Pierre.
»Ja, und da weiterhin sind auch Franzosen«, antwortete der Offizier. »Da sind sie, da kann man sie sehen.«
»Wo? Wo?« fragte Pierre.
»Man kann sie mit bloßem Auge sehen. Dort!«
Der Offizier wies mit der Hand auf die rauchenden Wachfeuer, die links jenseits des Flusses sichtbar waren, und auf seinem Gesicht zeigte sich jener strenge, ernste Ausdruck, den Pierre auf den Gesichtern vieler gesehen hatte, denen er begegnet war.
»Ah, das sind die Franzosen! Und dort?« Pierre zeigte nach links auf einen Hügel hin, bei dem Truppen sichtbar waren.
»Das sind welche von den Unsrigen.«
»So, so, von den Unsrigen! Und dort?« Pierre wies nach einem andern fernen Hügel mit einem großen Baum hin, neben einem Dorf, das in einer Schlucht sichtbar war. Auch dort rauchten Wachfeuer, und es war etwas Schwarzes zu sehen.
»Das ist wieder er, Bonaparte«, sagte der Offizier. Es war die Schanze von Schewardino. »Gestern war der Hügel noch von uns besetzt, aber jetzt ist er in seinen Händen.«
»Welches ist denn nun eigentlich unsere Position?«
»Unsere Position?« antwortete der Offizier mit einem Lächeln der Befriedigung. »Darüber kann ich Ihnen genaue Auskunft geben, weil ich fast alle unsere Befestigungen angelegt habe. Dort, sehen Sie wohl, ist unser Zentrum bei Borodino, da!« Er zeigte auf das im Vordergrund liegende Dorf mit der weißen Kirche. »Dort ist der Übergang über die Kolotscha. Da, sehen Sie, wo noch in der Niederung die Schwaden von gemähtem Heu liegen, da ist die Brücke. Das ist unser Zentrum. Unsere rechte Flanke ist dort« (er zeigte scharf nach rechts, fern nach einer Schlucht); »dort ist die Moskwa, und da haben wir drei Schanzen gebaut, sehr starke Schanzen. Unsere linke Flanke …«, hier hielt der Offizier inne. »Sehen Sie, es wird schwer sein, Ihnen das klarzumachen … Gestern war unsere linke Flanke dort, in Schewardino; sehen Sie, da, wo die Eiche steht; aber jetzt haben wir unsern linken Flügel zurückgenommen; jetzt ist er dort; sehen Sie dort das Dorf und den Rauch; das ist Semjonowskoje. Und dann hier«, er zeigte auf die Rajewski-Schanze. »Aber die Schlacht wird schwerlich dort stattfinden. Daß er seine Truppen hierher über die Kolotscha geführt hat, ist nur ein Täuschungsversuch; er wird wahrscheinlich rechts von der Moskwa herumgehen. Na, mag die Schlacht nun stattfinden, wo es sei: es werden viele von uns morgen beim Sammeln fehlen!«
Ein alter Unteroffizier war während dieser Auseinandersetzung an den Offizier herangetreten und wartete schweigend, bis sein Vorgesetzter aufhören würde zu reden; aber an dieser Stelle unterbrach er ihn, sichtlich unzufrieden mit der letzten Äußerung des Offiziers.
»Es müssen Schanzkörbe geholt werden«, sagte er in sehr ernstem Ton.
Der Offizier schien verlegen zu werden, wie wenn er sich bewußt würde, daß man zwar daran denken dürfe, wieviele morgen fallen würden, daß es aber unangemessen sei, davon zu reden.
»Nun ja, schicke wieder die dritte Kompanie«, erwiderte er hastig.
»Und Sie, was haben Sie denn für eine Stellung? Sie sind doch nicht Arzt?«
»Nein, ich bin ohne äußeren Anlaß hergekommen«, antwortete Pierre.
Damit ging er wieder bergab, an den Landwehrleuten vorbei.
»Ach, diese verdammten Kerle!« sagte der Offizier, der ihm folgte, vor sich hin, hielt sich die Nase zu und lief an den Arbeitenden vorbei.
»Da sind sie …! Sie bringen sie, sie kommen … Da sind sie … sie werden gleich heran sein!« riefen auf einmal viele Stimmen, und Offiziere, Soldaten und Landwehrleute liefen auf der Heerstraße vorwärts.
Von Borodino her stieg eine kirchliche Prozession den Berg hinan. Allen voran marschierte auf der staubigen Straße in Reih und Glied eine Abteilung Infanterie, mit abgenommenen Tschakos, die Gewehre nach unten gekehrt. Hinter der Infanterie ertönte kirchlicher Gesang.
Soldaten und Landwehrleute liefen, Pierre überholend, ohne Kopfbedeckung den Kommenden entgegen.
»Sie bringen das Mütterchen! Unsere Beschützerin …! Die Iberische Mutter Gottes …!«
»Das Smolensker Mütterchen!« korrigierte ein anderer.
Die Landwehrleute, sowohl diejenigen, die im Dorf gewesen waren, als auch diejenigen, die an der Batterie gearbeitet und nun schleunigst ihre Spaten hingeworfen hatten, liefen der Prozession entgegen.
Hinter dem Bataillon, das auf der staubigen Straße marschierte, gingen Geistliche in Meßgewändern, ein hochbejahrter Priester in Mönchstracht, die niederen Kirchenbeamten und die Sänger. Hinter ihnen trugen Soldaten und Offiziere ein großes, eingerahmtes Muttergottesbild mit schwarzem Antlitz. Dies war das Muttergottesbild, das aus Smolensk mitgenommen war und seitdem bei der Armee mitgeführt wurde. Hinter und vor dem Bild, ringsherum, auf allen Seiten gingen und liefen Scharen von Soldaten mit entblößten Köpfen und verbeugten sich bis zur Erde.
Als die Prozession oben auf dem Berg angelangt war, machte sie mit dem Bild halt; die Leute, die es auf Handtüchern getragen hatten, wurden abgelöst; die Kirchendiener zündeten die Weihrauchfässer von neuem an, und der Gottesdienst begann. Die heißen Strahlen der Sonne fielen senkrecht von oben herab; ein schwacher, frischer Lufthauch spielte mit den Haaren der entblößten Köpfe und mit den Bändern, mit denen das heilige Bild geschmückt war; der Gesang klang nur leise unter freiem Himmel. Eine gewaltige Menge von Offizieren, Soldaten und Landwehrleuten umringte mit entblößten Häuptern das Bild. Hinter dem zelebrierenden Geistlichen und dem Küster standen auf einem gesäuberten Platz die Personen höheren Ranges. Ein kahlköpfiger General mit dem Georgskreuz am Hals stand gerade hinter dem Rücken des Geistlichen und wartete, ohne sich zu bekreuzen (er war offenbar ein Deutscher), geduldig auf die Beendigung des Bittgottesdienstes, welchen mitanzuhören er für notwendig erachtete, wahrscheinlich um den Patriotismus des russischen Volkes zu steigern. Ein anderer General stand in kriegerischer Haltung da, machte mit der Hand vor der Brust eine schüttelnde Bewegung und blickte sich rings um. Unter diesem Häufchen der Vornehmen erkannte Pierre, der in dem Haufen der Bauern stand, mehrere Bekannte; aber er blickte nicht nach ihnen hin; seine ganze Aufmerksamkeit wurde durch den ernsten Ausdruck der Gesichter bei dieser Schar von Soldaten und Landwehrmännern in Anspruch genommen, die einer wie der andere mit heißer Andacht nach dem Muttergottesbild hinblickten. Sowie die bereits recht müde gewordenen Küster (sie sangen schon das zwanzigste Gebet) matt und gewohnheitsmäßig anstimmten: »Errette deine Knechte aus ihrer Not, Mutter Gottes«, und der Geistliche und der Diakonus einfielen: »Denn wir alle nehmen unsere Zuflucht zu dir, unserem festen Schutz und unserer Fürsprecherin«, da leuchtete auf allen Gesichtern wiederum jenes selbe Bewußtsein der Feierlichkeit des herannahenden Augenblicks, das er unterhalb des Moschaisker Berges und oft nachher auf vielen, vielen Gesichtern, die ihm an diesem Vormittag begegnet waren, gesehen hatte; und immer häufiger wurden die Köpfe gesenkt, die Haare zurückgeschüttelt; immer häufiger erschollen Seufzer und beim Bekreuzen Schläge gegen die Brust.
Die Menge, die das heilige Bild umringte, bildete plötzlich eine Gasse und preßte Pierre zusammen. Es ging jemand auf das Bild zu, wahrscheinlich eine sehr hohe Persönlichkeit, nach der Eile zu urteilen, mit der alle vor ihm zur Seite traten.
Es war Kutusow, der die Position abgeritten hatte; nun kam er, auf dem Rückweg nach Tatarinowa begriffen, zu dem Gottesdienst. Pierre erkannte ihn sogleich an seiner eigenartigen, sich von allen andern unterscheidenden Gestalt.
Einen langen Rock an dem enorm dicken Körper, mit gekrümmtem Rücken, den grauhaarigen Kopf entblößt, mit dem ausgelaufenen, weißen Auge in dem aufgedunsenen Gesicht: so trat Kutusow mit seinem gleitenden, schaukelnden Gang in den Kreis hinein und blieb hinter dem Geistlichen stehen. Er bekreuzte sich mit Bewegungen, die ihm augenscheinlich sehr geläufig waren, berührte mit der Hand die Erde und senkte, schwer seufzend, seinen grauen Kopf. Hinter Kutusow standen Bennigsen und die Suite. Trotz der Anwesenheit des Oberkommandierenden, der die Aufmerksamkeit aller vornehmen Persönlichkeiten auf sich lenkte, beteten die Landwehrleute und Soldaten weiter, ohne auf ihn zu achten.
Als der Gottesdienst zu Ende war, trat Kutusow an das Muttergottesbild heran, ließ sich schwerfällig auf die Knie nieder, beugte sich zur Erde und bemühte sich dann bei seiner Korpulenz und Schwäche lange vergebens wieder aufzustehen. Die Muskeln seines grauen Kopfes zuckten vor Anstrengung. Endlich kam er in die Höhe, küßte in kindlich naiver Weise die Lippen vorstreckend das Bild und verbeugte sich wieder, indem er mit der Hand die Erde berührte. Die Generalität folgte seinem Beispiel, darauf traten die Offiziere und nach ihnen, einander drängend, tretend und stoßend, mit erregten Gesichtern und keuchendem Atem die Soldaten und Landwehrleute heran.
XXII
Hin und her schwankend infolge des Gedränges, das ihn erfaßt hatte, sah sich Pierre rings um.
»Graf! Pjotr Kirillowitsch! Wie kommen Sie hierher?« rief eine Stimme.
Pierre blickte nach der Richtung hin. Boris Drubezkoi, sich mit der Hand die Knie reinigend, die er sich, wahrscheinlich gleichfalls beim Küssen des Muttergottesbildes, beschmutzt hatte, kam lächelnd auf Pierre zu. Boris war elegant gekleidet, mit einer Nuance von feldzugsmäßigem Kriegertum; er trug einen langen Rock und über der Schulter eine Peitsche, ganz ebenso wie Kutusow.
Unterdessen war Kutusow zum Dorf hingegangen und hatte sich im Schatten des nächsten Hauses auf eine Bank gesetzt, die ein Kosak schnell herbeigebracht und ein anderer eilig mit einem Teppich bedeckt hatte. Eine große, glänzende Suite umgab den Oberbefehlshaber.
Das heilige Bild bewegte sich, von einer großen Menschenschar begleitet, weiter. Pierre blieb etwa dreißig Schritte von Kutusow entfernt im Gespräch mit Boris stehen. Er machte diesem von seiner Absicht Mitteilung, an der Schlacht teilzunehmen und vorher die Position zu besichtigen.
»Machen Sie das so«, sagte Boris: »Ich werde hier im Lager Ihnen gegenüber den Hausherrn spielen. Die Schlacht werden Sie am besten von da aus sehen, wo sich Graf Bennigsen befinden wird. Ich gehöre zu seiner Suite und werde ihm von Ihrem Wunsch Meldung machen. Wenn Sie aber die Position abreiten wollen, so kommen Sie mit uns mit: wir reiten sogleich nach der linken Flanke. Und wenn wir zurück sind, so möchte ich Sie um die Freundlichkeit bitten, bei mir zu übernachten; wir arrangieren dann eine kleine Kartenpartie. Sie kennen ja doch wohl Dmitri Sergejewitsch? Er liegt dort im Quartier.« Boris zeigte auf das dritte Haus in Gorki.
»Aber ich möchte gern auch die rechte Flanke sehen; ich höre, daß sie sehr stark ist«, erwiderte Pierre. »Ich würde am liebsten von der Moskwa an die ganze Position abreiten.«
»Nun, das können Sie ja später noch; die Hauptsache ist doch die linke Flanke …«
»Also schön. Und wo ist das Regiment des Fürsten Bolkonski? Können Sie mir das nicht zeigen?« fragte Pierre.
»Andrei Nikolajewitschs Regiment? Wir kommen daran vorbei; ich werde Sie zu ihm führen.«
»Was hat es denn mit der linken Flanke für eine Bewandtnis?« fragte Pierre.
»Ihnen die Wahrheit zu sagen, unter uns, unsere linke Flanke befindet sich in einem ganz wunderlichen Zustand«, antwortete Boris, indem er vertraulich die Stimme senkte. »Graf Bennigsen hatte etwas ganz anderes vorgeschlagen. Er hatte jenen Hügel dort in ganz anderer Weise befestigen wollen; aber …« (Boris zuckte mit den Achseln) »dem Durchlauchtigen schien es nicht, oder man hatte ihm etwas eingeredet. Er hat ja …« Boris sprach nicht zu Ende, weil in diesem Augenblick Kaisarow, ein Adjutant Kutusows, auf Pierre zukam. »Ah! Paisi Sergejewitsch«, sagte Boris, sich mit harmlosem Lächeln zu Kaisarow wendend. »Ich versuche eben, dem Grafen unsere Position zu erläutern. Es ist erstaunlich, wie der Durchlauchtige die Pläne der Franzosen mit solcher Sicherheit hat durchschauen können!«
»Sie meinen die linke Flanke?« fragte Kaisarow.
»Gewiß, gerade die. Unsere linke Flanke ist jetzt sehr stark, außerordentlich stark.«
Obgleich Kutusow den Stab von allen überflüssigen Anhängseln gesäubert hatte, hatte Boris es doch verstanden, sich auch nach den Veränderungen, die Kutusow vorgenommen hatte, im Hauptquartier zu behaupten. Er hatte sich an den Grafen Bennigsen angeschlossen. Graf Bennigsen, wie alle Vorgesetzten, bei denen sich Boris bisher befunden hatte, hielt den jungen Fürsten Drubezkoi für einen überaus wertvollen Menschen.
In der Oberleitung der Armee bestanden zwei scharf geschiedene Parteien: die Partei Kutusows und die des Generalstabschefs Bennigsen. Boris gehörte zu dieser letzteren Partei, und niemand verstand es so gut wie er, während er äußerlich Kutusow eine devote Verehrung zollte, dabei doch zu verstehen zu geben, daß der Alte nichts mehr leiste und alles von Bennigsen geleitet werde. Jetzt war nun der entscheidende Augenblick gekommen, wo die Schlacht geliefert werden sollte, und Boris spekulierte so: entweder werde dieser Tag Kutusow vernichten und die Macht in Bennigsens Hände übergehen lassen, oder wenn Kutusow wirklich die Schlacht gewinnen sollte, so müsse man zu verstehen geben, daß es eigentlich Bennigsen sei, der alles gemacht habe. In jedem Fall werde am morgigen Tag eine Menge von Auszeichnungen erfolgen, und neue Persönlichkeiten würden in den Vordergrund treten. Infolgedessen befand sich Boris an diesem ganzen Tag in lebhafter Erregung.
Nach Kaisarow traten noch mehrere andere Bekannte an Pierre heran, und er hatte genug zu tun, auf die Fragen nach Moskau zu antworten, mit denen sie ihn überschütteten, und anzuhören, was sie ihm erzählten. Auf allen Gesichtern prägte sich eine unruhige Spannung aus. Aber Pierre hatte den Eindruck, daß der Grund der Erregung, die viele dieser Gesichter zeigten, mehr in Fragen des persönlichen Erfolges lag, und es wollte ihm jener andere Ausdruck von Erregung nicht aus dem Gedächtnis kommen, der ihm auf anderen Gesichtern entgegengetreten war und der nicht von Fragen persönlichen Charakters, sondern von den allgemeinen Fragen des Lebens und des Todes geredet hatte. Kutusow bemerkte die Gestalt Pierres und die Gruppe, die sich um ihn gesammelt hatte.
»Rufen Sie ihn zu mir«, sagte Kutusow.
Ein Adjutant überbrachte den Wunsch des Durchlauchtigen, und Pierre ging auf die Bank zu. Aber noch vor ihm trat an Kutusow ein Gemeiner von der Landwehr heran. Es war Dolochow.
»Wie kommt denn der hierher?« fragte Pierre.
»Das ist so ein Racker, der schlängelt sich überall durch!« wurde ihm geantwortet. »Er ist degradiert worden und möchte sich jetzt wieder hinaufarbeiten. Er hat irgendwelche Projekte eingereicht und sich auch nachts in die feindliche Vorpostenlinie geschlichen … Ein forscher Kerl ist er jedenfalls …!«
Pierre nahm den Hut ab und verbeugte sich respektvoll vor Kutusow.
»Ich habe mir gesagt: wenn ich mit einer Meldung zu Euer Durchlaucht komme, so werden Sie mich vielleicht fortweisen oder auch sagen, daß Ihnen das, was ich melde, bereits bekannt sei; aber auch dann würde ich mich nicht gekränkt fühlen …«, sagte Dolochow.
»So, so.«
»Aber wenn ich recht habe, so werde ich dem Vaterland, für das ich mein Leben hinzugeben bereit bin, Nutzen bringen.«
»So … so …«
»Und wenn Euer Durchlaucht einen Menschen nötig haben, dem sein Fell nicht leid tun würde, so bitte ich Sie, sich meiner zu erinnern … Vielleicht, daß ich Euer Durchlaucht einmal einen Dienst erweisen kann.«
»So … so …«, wiederholte Kutusow und blickte mit dem zusammengekniffenen Auge lächelnd nach Pierre hin.
In diesem Augenblick trat Boris mit der ihm eigenen höfischen Gewandtheit neben Pierre in die Nähe des Oberkommandierenden und sagte zu Pierre mit der ungezwungensten Miene und wie in Fortsetzung eines begonnenen Gespräches:
»Die Landwehrleute haben extra zu morgen reine, weiße Hemden angezogen, um sich auf den Tod vorzubereiten. Welch ein Heroismus, Graf!«
Zweifellos beabsichtigte Boris, indem er das zu Pierre sagte, von dem Durchlauchtigen gehört zu werden. Er wußte, daß Kutusow diese Worte beachten werde, und wirklich wandte sich der Durchlauchtige zu ihm mit der Frage:
»Was sagst du da von der Landwehr?«
»Sie haben sich auf den morgigen Tag, auf den Tod, dadurch vorbereitet, daß sie weiße Hemden angezogen haben.«
»Ah …! Ein wunderbares, unvergleichliches Volk!« sagte Kutusow und wiegte, die Augen zudrückend, den Kopf hin und her. »Ein unvergleichliches Volk!« wiederholte er mit einem Seufzer.
»Wollen Sie Pulver riechen?« sagte er zu Pierre. »Ja, es ist ein angenehmer Geruch. Ich habe die Ehre, ein Anbeter Ihrer Gemahlin zu sein; befindet sie sich wohl? Mein Quartier steht zu Ihren Diensten.«
Und wie das häufig bei alten Leuten der Fall ist, begann Kutusow sich zerstreut umzusehen, als ob er alles vergessen hätte, was er hatte sagen und tun wollen.
Nachdem ihm offenbar das eingefallen war, wonach er gesucht hatte, winkte er Andrei Sergejewitsch Kaisarow, den Bruder seines Adjutanten, zu sich heran.
»Wie … wie lauteten doch die Verse von Marin?« sagte er zu ihm. »Ja, wie lauteten sie doch? Er hatte ein Gedicht auf Gerakow verfaßt:
›Lehrer im Kadettenkorps
Wirst du werden, eitler Tor …‹
Sage doch, sage doch!« Er war offenbar bereit, loszulachen.
Kaisarow sagte das Gedicht her; Kutusow lächelte und nickte im Takt der Verse mit dem Kopf.
Als Pierre von Kutusow zurückgetreten war, näherte sich ihm Dolochow und ergriff seine Hand.
»Ich freue mich sehr, Ihnen hier zu begegnen, Graf«, sagte er laut und in besonders energischem, feierlichem Ton, ohne sich wegen der Gegenwart Fremder zu genieren: »Niemand weiß, wem unter uns beschieden ist, den morgigen Tag zu überleben; da freue ich mich heute über die Gelegenheit, Ihnen zu sagen, daß ich die zwischen uns entstandenen Mißverständnisse bedaure und wünschen möchte, daß Sie keine feindliche Gesinnung mehr gegen mich hegten. Ich bitte Sie, mir zu verzeihen.«
Pierre blickte ihn lächelnd an, ohne recht zu wissen, was er ihm antworten sollte. Dolochow, dem die Tränen in die Augen getreten waren, umarmte Pierre und küßte ihn.
Boris sagte etwas zu seinem General, und Graf Bennigsen wandte sich an Pierre und stellte ihm anheim, ob er mit ihm die Linie entlangreiten wolle.
»Es wird Sie interessieren«, sagte er.
»O gewiß, außerordentlich«, antwortete Pierre.
Eine halbe Stunde darauf ritt Kutusow nach Tatarinowa weiter, und Bennigsen mit seiner Suite, unter der sich nun auch Pierre befand, ritt die Positionslinie ab.
XXIII
Bennigsen ritt von Gorki auf der großen Heerstraße nach der Brücke hinunter, die der Offizier von dem Hügel aus Pierre als das Zentrum der Position gezeigt hatte und bei der am Ufer Schwaden frischgemähten, duftenden Heus lagen. Dann ritten sie über die Brücke nach dem Dorf Borodino; von dort wendeten sie sich links und ritten an einer gewaltigen Menge von Truppen und Kanonen vorbei zu einem hohen Hügel hin, auf welchem Landwehrleute schanzten. Es war dies die damals noch namenlose Schanze, die später die Benennung Rajewski-Schanze oder Hügelbatterie erhielt.
Pierre wandte dieser Schanze keine besondere Aufmerksamkeit zu. Er ahnte nicht, daß diese Stelle für ihn die denkwürdigste des ganzen Schlachtfeldes von Borodino werden sollte. Dann ritten sie durch eine Schlucht nach Semjonowskoje, wo die Soldaten die letzten Balken der Häuser und Scheunen wegschleppten. Hierauf ging es weiter bergab und bergauf und durch ein zertretenes, wie vom Hagel niedergeschlagenes Roggenfeld auf einem Weg, den die Artillerie neu über den Acker gebahnt hatte, nach den Pfeilschanzen, an denen damals ebenfalls noch gearbeitet wurde.
Auf den Pfeilschanzen hielt Bennigsen an und blickte nach vorn nach der (gestern noch uns gehörigen) Schanze von Schewardino, auf der einige Reiter sichtbar waren. Die Offiziere sprachen die Vermutung aus, daß dort Napoleon oder Murat sei. Alle blickten gespannt nach diesem Reitertrupp hinüber. Pierre blickte ebenfalls hin und suchte zu erraten, wer von diesen kaum sichtbaren Menschen wohl Napoleon sein möchte. Endlich ritt der Trupp von dem Hügel herab und verschwand.
Bennigsen wandte sich an einen General, der sich ihm näherte, und begann ihm die ganze Stellung unserer Truppen zu erklären. Pierre hörte Bennigsens Worte und strengte alle seine Geisteskräfte an, um die eigentliche Idee der bevorstehenden Schlacht zu begreifen, merkte jedoch zu seinem Leidwesen, daß seine geistigen Fähigkeiten dazu nicht ausreichten. Er verstand nichts. Bennigsen beendete seine Auseinandersetzung, und als er bemerkte, daß Pierre zuhörte, wendete er sich an ihn mit der Frage: »Das interessiert Sie wohl nicht sonderlich?«
»O doch, im Gegenteil, es ist mir höchst interessant!« erwiderte Pierre nicht ganz wahrheitsgemäß.
Von den Pfeilschanzen ritten sie noch weiter nach links auf einem Weg, der sich durch dichten, niedrigen Birkenwald schlängelte. Mitten in diesem Wald sprang vor ihnen ein brauner Hase mit weißen Läufen auf den Weg und geriet, erschrocken über das Getrappel so vieler Pferde, dermaßen in Verwirrung, daß er lange auf dem Weg vor ihnen herlief, wodurch er allgemeine Aufmerksamkeit und großes Gelächter erregte; erst als einige der Reiter ihn heftig anschrien, warf er sich zur Seite und verschwand im Dickicht. Nachdem sie im Wald etwa zwei Werst zurückgelegt hatten, kamen sie auf eine Lichtung hinaus, auf der die Truppen des Tutschkowschen Korps standen, das die linke Flanke decken sollte.
Hier am äußersten linken Flügel sprach Bennigsen lange und in erregtem Ton und traf eine, wie es Pierre schien, in taktischer Hinsicht wichtige Anordnung. Vor dem Standort der Truppen Tutschkows befand sich eine Anhöhe. Diese Anhöhe war nicht von Truppen besetzt. Bennigsen tadelte laut diesen Fehler und sagte, es sei sinnlos, eine Höhe, die die ganze Umgegend beherrsche, unbesetzt zu lassen und die Truppen dahinter an ihrem Fuß aufzustellen. Mehrere Generale äußerten sich in demselben Sinn; namentlich einer redete mit soldatischer Heftigkeit davon, die Truppen hätten dort ihren Platz geradezu auf einer Schlachtbank erhalten. Bennigsen befahl, auf seine Verantwortung, die Truppen auf die Höhe vorzuschieben.
Diese Anordnung auf der linken Flanke ließ Pierre noch mehr an seiner Befähigung zweifeln, militärische Dinge zu verstehen. Als er mit angehört hatte, was Bennigsen und die Generale sagten, die die Aufstellung der Truppen am Fuß der Anhöhe tadelten, hatte er sie vollständig verstanden und sich ihrer Meinung angeschlossen; aber eben deshalb konnte er nicht begreifen, wie derjenige, der sie dort am Fuß der Anhöhe aufgestellt hatte, einen so augenfälligen, groben Fehler habe begehen können.
Pierre wußte nicht, daß diese Truppen dort nicht aufgestellt waren, um die Position zu verteidigen, wie Bennigsen meinte, sondern um an dieser versteckten Stelle im Hinterhalt zu stehen, d.h. um unbemerkt zu bleiben und plötzlich auf den heranrückenden Feind loszustürzen. Bennigsen wußte das nicht und schob die Truppen, seinen besonderen Ideen entsprechend, vor, ohne dem Oberkommandierenden etwas davon zu sagen.
XXIV
Der Abend dieses Tages, des 25. August, war hell und klar. Fürst Andrei lag, auf den Arm gestützt, in einem halbzerstörten Schuppen des Dorfes Knjaskowo, am äußersten Rand dieses Dorfes, in welchem sein Regiment lagerte. Durch ein Loch der arg beschädigten Wand blickte er nach einer am Zaun entlangstehenden Reihe dreißigjähriger Birken, deren untere Äste abgehauen waren, nach einem Ackerfeld mit auseinandergerissenen Hafermandeln und nach einem Gebüsch, wo die Feuer rauchten, an denen die Soldaten kochten.
Obwohl Fürst Andrei jetzt die Empfindung hatte, sein Leben beenge und drücke ihn und sei für niemand von Wert, so war er dennoch, gerade wie sieben Jahre vorher bei Austerlitz, am Vorabend der Schlacht unruhig und aufgeregt.
Die Befehle für die morgige Schlacht hatte er erhalten und die seinigen erteilt. Zu tun hatte er nichts mehr. Aber seine Gedanken, ganz einfache, klare und daher besonders schreckliche Gedanken, ließen ihm keine Ruhe. Er wußte, daß die morgige Schlacht furchtbarer werden mußte als alle, an denen er bisher teilgenommen hatte, und zum erstenmal in seinem Leben trat ihm die Möglichkeit seines Todes, ohne jede Beziehung auf irdische Dinge, ohne einen Gedanken daran, wie sein Tod auf andere Menschen wirken werde, sondern lediglich in Beziehung auf ihn selbst, auf seine Seele, mit Lebhaftigkeit, fast mit Gewißheit, einfach und furchtbar vor Augen. Und von der Höhe dieser Vorstellung herab sah er plötzlich alles, was ihn früher gequält und beschäftigt hatte, wie von einem kalten, weißen Licht beleuchtet, ohne Schatten, ohne Perspektive, ohne scharfe Umrisse. Sein ganzes Leben erschien ihm wie ein Guckkasten, in den er lange durch ein Glas und bei künstlicher Beleuchtung hineingeblickt hatte. Jetzt sah er diese schlecht hingemalten Bilder auf einmal ohne Glas, bei hellem Tageslicht. »Ja, ja, da sind sie, die Truggestalten, die mich aufgeregt und entzückt und gequält haben«, sagte er zu sich selbst, während er in seiner Erinnerung die Hauptbilder seines Lebens-Guckkastens musterte und sie jetzt bei diesem kalten, weißen Licht betrachtete, das der Gedanke an den Tod über alles breitete. »Da sind sie, diese grob hingestrichenen Figuren, die sich als etwas Schönes, Geheimnisvolles darstellten. Ruhm, Gemeinwohl, Liebe zum Weib, Vaterland, wie groß und erhaben erschienen mir diese Bilder und von wie tiefem Sinn erfüllt! Und das alles steht nun so nüchtern, blaß und grob vor mir, bei dem kalten, weißen Licht jenes Morgens, der nun, das fühle ich, für mich heraufsteigt.« Die drei schmerzlichsten Ereignisse seines Lebens beschäftigten ihn ganz besonders: seine Liebe zu jenem Mädchen, der Tod seines Vaters und die französische Invasion, welche halb Rußland überflutete. »Die Liebe …! dieses Mädchen, in dem ich so viele geheimnisvolle Kräfte zu erkennen glaubte! Jawohl; ich habe dieses Mädchen geliebt, habe romantische Pläne geschmiedet über ein Leben voll Liebe und Glück an ihrer Seite! O ich artiger Knabe!« sagte er ingrimmig laut vor sich hin. »Jawohl, ich habe an eine ideale Liebe geglaubt, kraft deren sie mir während des ganzen Jahres meiner Abwesenheit die Treue bewahren werde. Ich meinte, sie werde, nach Art des zärtlichen Täubchens in der Fabel, von mir getrennt sich vor Sehnsucht verzehren. Aber es stellte sich heraus, daß das alles weit nüchterner war … Furchtbar nüchtern war das alles und ekelhaft!
So hat auch mein Vater in Lysyje-Gory alles gebaut und eingerichtet und gemeint, das sei sein Stück Land, seine Erde, seine Luft, seine Bauern; und da kam nun dieser Napoleon, und ohne von meines Vaters Existenz zu wissen, stieß er ihn wie ein Holzklötzchen aus dem Weg und richtete ihm sein Lysyje-Gory und sein ganzes Leben zugrunde. Prinzessin Marja sagt freilich, das sei eine von oben gesandte Prüfung. Aber welchen Zweck soll eine Prüfung haben, wenn der zu Prüfende, mein Vater, nicht mehr existiert und nie mehr existieren wird? Niemals mehr wird er existieren! Er existiert nicht mehr. Also wen betrifft da diese Prüfung? – Das Vaterland, der Untergang Moskaus! Und mich wird morgen ein Franzose töten, oder vielleicht nicht einmal ein Franzose, sondern einer von unseren eigenen Leuten, wie ja auch gestern ein Soldat sein Gewehr dicht bei meinem Ohr abschoß; und die Franzosen werden kommen und mich bei den Beinen und beim Kopf nehmen und in eine Grube werfen, damit mein Leichnam ihnen nicht die Luft verdirbt; und es werden sich neue Lebensverhältnisse herausbilden, die anderen Leuten ebenso gewöhnlich vorkommen werden wie mir die meinigen, und ich werde nichts von ihnen wissen und werde nicht mehr existieren.«
Er blickte nach der Reihe von Birken hin, deren regungslos hängendes, gelblichgrünes Laub und weiße Rinde in der Sonne glänzten. »Sterben …! Nun gut, mag ich morgen fallen … Mag ich aufhören zu existieren … Mag alles dies weiterbestehen, ich aber nicht mehr sein!« Er stellte sich sein Fehlen inmitten dieses Lebens mit voller Deutlichkeit vor. Und diese Birken mit ihrem Licht und Schatten, und diese krausen Wolken, und dieser Rauch der Lagerfeuer, alles dies rings um ihn her nahm in seinen Augen eine andere Gestalt an und erschien ihm als etwas Furchtbares, Drohendes. Ein kalter Schauder lief ihm den Rücken entlang.
Vor dem Schuppen wurden Stimmen vernehmbar.
»Wer ist da?« rief Fürst Andrei.
Der rotnasige Hauptmann Timochin, der ehemals Dolochows Kompaniechef gewesen, jetzt aber bei dem Mangel an Offizieren Bataillonskommandeur geworden war, trat schüchtern in den Schuppen. Hinter ihm kamen der Regimentsadjutant und der Zahlmeister herein.
Fürst Andrei stand schnell auf, hörte an, was diese drei ihm Dienstliches zu berichten hatten, erteilte ihnen noch einige Weisungen und war gerade dabei, sie zu entlassen, als sich vor dem Schuppen eine ihm bekannte lispelnde Stimme hören ließ.
»Hol’s der Teufel!« sagte dort jemand, der sich offenbar an etwas gestoßen hatte.
Fürst Andrei sah aus dem Schuppen hinaus und erblickte Pierre, der zu ihm kam und über eine auf der Erde liegende Stange so gestolpert war, daß er beinahe hingefallen wäre. Fürst Andrei hatte überhaupt wenig Freude darüber, wenn er mit Angehörigen seines Gesellschaftskreises zusammentraf, und besonders unangenehm war es ihm jetzt, Pierre wiederzusehen, dessen Anblick ihm alle die schweren Augenblicke ins Gedächtnis zurückrief, die er während seines letzten Aufenthaltes in Moskau durchlebt hatte.
»Ah, sieh da!« sagte er. »Wie kommst du hierher? Dich hätte ich hier nicht zu sehen erwartet.«
Während er dies sagte, lag in seinen Augen und in seinem gesamten Gesichtsausdruck mehr als bloße Gleichgültigkeit: es spiegelte sich darin eine Art von Feindseligkeit wider, die Pierre sofort bemerkte. Dieser war in sehr angeregter Gemütsstimmung zu dem Schuppen gekommen; aber als er den Gesichtsausdruck des Fürsten Andrei wahrnahm, fühlte er sich verlegen und unbehaglich.
»Wissen Sie … ich bin ohne besonderen Grund hergekommen … weil es mir interessant ist«, sagte Pierre, der dieses Wort »interessant« an diesem Tag schon recht oft gebraucht hatte. »Ich wollte die Schlacht mit ansehen.«
»Ja, ja; aber was sagen denn die Brüder Freimaurer über den Krieg? Wie soll er verhütet werden?« fragte Fürst Andrei spöttisch. Und dann fuhr er in ernstem Ton fort: »Nun, wie steht es in Moskau? Was machen die meinigen? Sind sie endlich in Moskau angekommen?«
»Ja, sie sind angekommen. Julja Drubezkaja sagte es mir. Ich wollte sie besuchen, fand sie aber nicht mehr in ihrem Haus. Sie waren nach dem Landhaus hinausgezogen.«
XXV
Die Offiziere wollten sich empfehlen; aber Fürst Andrei, der anscheinend mit seinem Freund nicht gern unter vier Augen zusammensein mochte, lud sie ein, noch ein Weilchen dazubleiben und mit ihm Tee zu trinken. Nicht ohne Verwunderung betrachteten die Offiziere Pierres kolossale, dicke Gestalt und hörten seine Erzählungen über Moskau und über die Aufstellung unseres Heeres, die er hatte abreiten dürfen. Fürst Andrei schwieg, und sein Gesicht war so unfreundlich, daß Pierre sich mehr an den gutmütigen Bataillonskommandeur Timochin als an Bolkonski wendete.
»Du hast also die Aufstellung unserer Truppen verstanden?« unterbrach ihn Fürst Andrei.
»Ja, aber doch nur bis zu einem gewissen Grade«, erwiderte Pierre. »Als Nichtmilitär kann ich nicht sagen, daß ich sie vollständig verstanden hätte; aber ich meine doch, so im großen und ganzen.«
»Nun, dann bist du klüger als sonst jemand«, sagte Fürst Andrei.
»Oh, oh!« rief Pierre erstaunt und blickte den Fürsten Andrei durch seine Brille an. »Nun, und was sagen Sie zu der Ernennung Kutusows?« fragte er.
»Ich habe mich über diese Ernennung sehr gefreut. Weiter wüßte ich darüber nichts zu sagen«, antwortete Fürst Andrei.
»Und dann sagen Sie doch: welche Meinung haben Sie über Barclay de Tolly? In Moskau wurde alles mögliche über ihn geredet. Wie urteilen Sie über ihn?«
»Frage nur diese Herren hier«, erwiderte Fürst Andrei und wies auf die Offiziere.
Pierre blickte Timochin fragend mit jenem herablassenden Lächeln an, das einem jeden im Verkehr mit diesem unwillkürlich auf die Lippen trat.
»Wir haben aufgeatmet, Euer Erlaucht, als der Durchlauchtige das Kommando übernahm«, sagte Timochin schüchtern, indem er dabei fortwährend nach seinem Regimentskommandeur hinblickte.
»Wieso denn?« fragte Pierre.
»Ja, zu Beispiel nur in bezug auf Holz und Futter möchte ich mir zu bemerken erlauben. Als wir uns von Swenziany zurückzogen, da kam der Befehl: ›Daß ihr euch nicht untersteht, ein Stück Holz oder ein Bündel Heu oder sonst was dort anzurühren!‹ Aber da wir zurückgingen, fiel es doch bloß dem Feind in die Hände, nicht wahr, Euer Durchlaucht?« wandte er sich an seinen Chef, den Fürsten Andrei. »Aber trotzdem: ›Daß ihr euch nicht untersteht!‹ In unserem Regiment wurden zwei Offiziere wegen derartiger Dinge vor das Kriegsgericht gestellt. Na, aber als der Durchlauchtige das Kommando übernahm, da wurde die Sache gleich ganz anders. Wir atmeten auf …«
»Warum hatte Barclay de Tolly es denn verboten?«
Timochin blickte verlegen um sich, da er nicht wußte, wie und was er auf eine solche Frage antworten sollte. Pierre wandte sich mit derselben Frage an den Fürsten Andrei.
»Nun, um den Landstrich, den wir dem Feind preisgaben, nicht zu verwüsten«, antwortete Fürst Andrei mit bitterem Spott. »Das ist ja logisch sehr schön begründet: man darf den Truppen nicht erlauben, im Land zu plündern und sich an das Marodieren zu gewöhnen. Ja, und in Smolensk hat er durchaus korrekt erwogen, daß die Franzosen uns umgehen könnten und größere Streitkräfte besäßen. Aber das konnte er nicht begreifen«, rief Fürst Andrei in plötzlich hervorbrechendem Ingrimm mit hoher Stimme, »das konnte er nicht begreifen, daß wir dort zum erstenmal für die russische Erde kämpften, daß in den Truppen ein solcher Geist steckte, wie ich ihn noch nie kennengelernt hatte, daß wir zwei Tage hintereinander die Franzosen zurückgeschlagen hatten, und daß dieser Erfolg unsere Kräfte verzehnfachte. Er befahl den Rückzug, und alle Anstrengungen und Verluste waren vergeblich gewesen. Verrat lag ihm ganz fern. Er bemühte sich, alles so gut wie nur irgend möglich zu machen; er überdachte alles: aber eben deshalb taugt er nichts. Gerade deshalb taugt er in diesem Zeitpunkt nichts, weil er alles so gründlich und genau überlegt, wie es eben in der Natur eines jeden Deutschen liegt. Wie kann ich es dir nur deutlich machen, was ich meine … Nun, denke dir, dein Vater hat einen deutschen Diener, und das ist ein vortrefflicher Diener, der alles, was dein Vater braucht, ihm besser leistet, als du es könntest, und den du beruhigt seinen Dienst verrichten läßt; aber wenn dein Vater todkrank ist, dann schickst du trotzdem den Diener weg und wirst mit deinen ungeübten, ungeschickten Händen deinen Vater besser pflegen und sein Wohlbefinden besser befördern als der geschickte Diener, der ihm ein Fremder ist. So stand es auch mit Barclay. Solange Rußland heil und gesund war, konnte ihm der Fremde dienen und war ein vortrefflicher Minister; aber jetzt, wo es in Gefahr ist, bedarf es der Dienste eines Angehörigen, eines Blutsverwandten. In eurem Klub ist man auf den Gedanken gekommen, Barclay wäre ein Verräter! Dadurch, daß man ihn jetzt ungerechterweise als einen Verräter bezeichnet, bewirkt man nur, daß er später, wenn man sich dieses unzutreffenden Vorwurfes schämen wird, aus einem Verräter plötzlich zu einem Helden oder zu einem Genie werden wird; und dies wird noch weniger gerecht sein. Er ist ein ehrlicher Deutscher von peinlicher Genauigkeit.«
»Man sagt aber doch, er sei ein geschickter Feldherr«, wandte Pierre ein.
»Ich verstehe nicht, was das heißt: ein geschickter Feldherr«, antwortete Fürst Andrei spöttisch.
»Ein geschickter Feldherr«, sagte Pierre, »nun, das ist ein solcher, der alle Möglichkeiten vorhersieht … einer, der die Pläne des Gegners errät.«
»Das ist unmöglich«, erwiderte Fürst Andrei, wie wenn dies eine längst entschiedene Sache wäre.
Pierre sah ihn erstaunt an.
»Aber«, wandte er ein, »man sagt doch, der Krieg habe Ähnlichkeit mit dem Schachspiel.«
»Ja«, sagte Fürst Andrei, »nur mit dem kleinen Unterschied, daß man beim Schachspiel über jeden Zug so lange nachdenken kann, als es einem beliebt, daß man dort zeitlich nicht beschränkt ist, und dann noch mit dem Unterschied, daß der Springer immer stärker ist als der Bauer und zwei Bauern immer stärker als einer, im Krieg aber ein Bataillon manchmal stärker ist als eine Division und manchmal schwächer als eine Kompanie. Das Stärkeverhältnis von Truppenkörpern kann niemand vorher beurteilen. Glaube mir«, sagte er, »wenn etwas von den Anordnungen des Generalstabes abhinge, dann würde ich dort sein und Anordnungen treffen; aber statt dessen habe ich die Ehre, hier zu dienen, bei der Truppe, hier mit diesen Herren zusammen, und ich bin der Ansicht, daß der Ausgang des morgigen Tages tatsächlich von uns abhängen wird und nicht von den Generalstäblern … Von der Position und von der Bewaffnung hat der Erfolg niemals abgehangen und wird er niemals abhängen, nicht einmal von der Zahl, am allerwenigsten aber von der Position.«
»Aber wovon denn?«
»Von dem Gefühl, das in mir, in ihm« (er zeigte auf Timochin), »in jedem Soldaten steckt.«
Fürst Andrei sah Timochin an, der einen erschrockenen, verständnislosen Blick nach seinem Kommandeur hinwarf. Im Gegensatz zu seiner bisherigen zurückhaltenden Schweigsamkeit schien Fürst Andrei jetzt sich in starker Erregung zu befinden. Er vermochte sich offenbar nicht so weit zu beherrschen, daß er die Gedanken hätte unausgesprochen lassen können, die ihm unwillkürlich zuströmten.
»Eine Schlacht gewinnt derjenige, der fest entschlossen ist, sie zu gewinnen. Warum haben wir die Schlacht bei Austerlitz verloren? Unsere Verluste und die der Franzosen waren einander fast gleich; aber wir sagten uns sehr früh, daß wir die Schlacht verloren hätten, und verloren sie nun wirklich. Wir sagten uns dies aber deshalb, weil es für uns keinen rechten Zweck hatte, dort zu kämpfen; wir wollten weiter nichts als möglichst schnell vom Schlachtfeld wegkommen. ›Wir haben verloren‹, sagten wir uns; ›nun, dann wollen wir davonlaufen!‹ und wir liefen davon. Hätten wir uns das bis zum Abend nicht gesagt, so wäre die Sache vielleicht ganz anders gekommen. Aber morgen werden wir uns das nicht sagen. Du sprichst von unserer Position, meinst, der linke Flügel sei schwach, der rechte zu weit ausgedehnt«, fuhr er fort; »das alles ist Unsinn und hat keinen Wert. Sondern was steht uns morgen bevor? Hundert Millionen der verschiedenartigsten Zufälligkeiten, deren augenblickliches Resultat sein wird, daß von den Feinden oder den Unsrigen welche davonlaufen und daß dieser oder jener getötet wird; aber was jetzt getan wird, das ist alles nur Spielerei. Die Sache ist die, daß die Herren, mit denen du die Position abgeritten hast, den gesamten Gang der Dinge nicht nur nicht fördern, sondern sogar hemmen. Sie sind nur mit ihren eigenen, kleinen, persönlichen Interessen beschäftigt.«
»In einem solchen Augenblick?« sagte Pierre vorwurfsvoll.
»In einem solchen Augenblick«, wiederholte Fürst Andrei Pierres Worte mit starker Betonung. »Für sie ist das nur ein Augenblick, in dem man seinem Rivalen eine Grube graben und noch ein neues Kreuzchen oder Bändchen erhalten kann. Meine Ansicht über den morgigen Tag ist diese: hunderttausend Russen und hunderttausend Franzosen sind zusammengekommen, um miteinander zu kämpfen; und dieser Kampf wird mit Sicherheit stattfinden, und wer am grimmigsten kämpfen und sich am wenigsten schonen wird, der wird siegen. Und wenn du es hören willst, so will ich dir sagen: mag geschehen, was da will, und mögen die Herren da oben noch so viel Verwirrung anrichten, wir werden morgen die Schlacht gewinnen. Morgen, mag geschehen, was da will, werden wir die Schlacht gewinnen!«
»Das ist die Wahrheit, Euer Durchlaucht; das ist zuverlässig die Wahrheit!« sagte Timochin. »Wer wird sich jetzt schonen? Die Soldaten in meinem Bataillon (können Sie das glauben?) haben heute keinen Branntwein getrunken. ›Das paßt für einen solchen Tag nicht‹, sagen sie.«
Alle schwiegen. Die Offiziere standen auf. Fürst Andrei ging mit ihnen vor den Schuppen hinaus und gab dem Adjutanten die letzten Befehle. Als die Offiziere sich entfernt hatten, trat Pierre wieder zum Fürsten Andrei hin und wollte eben ein Gespräch beginnen, als in geringer Entfernung von dem Schuppen auf dem Weg der Hufschlag von drei Pferden erscholl. Fürst Andrei blickte nach der Richtung hin und erkannte Wolzogen und Clausewitz, von einem Kosaken begleitet. Da sie ziemlich nahe vorbeiritten und ihr Gespräch fortsetzten, so hörten Pierre und Fürst Andrei unwillkürlich folgende Sätze:
»Man muß dem Krieg eine weitere räumliche Ausdehnung geben. Diese Ansicht kann ich nicht genug betonen«, sagte der eine.
»Gewiß«, antwortete eine andere Stimme. »Da der Zweck nur der ist, den Feind zu schwächen, so kann auf die Verluste, welche Privatpersonen dabei erleiden, keine Rücksicht genommen werden.«
»Ganz richtig«, erwiderte die erste Stimme.
»Jawohl, dem Krieg eine weitere räumliche Ausdehnung geben!« sprach Fürst Andrei, zornig durch die Nase schnaubend, jene Worte nach, als sie vorübergeritten waren. »Mein Vater und mein Sohn und meine Schwester haben in Lysyje-Gory den Schaden davon gehabt. Aber das ist ihm völlig gleichgültig. Siehst du, das ist das, was ich dir sagte: diese deutschen Herren werden morgen die Schlacht nicht gewinnen, sondern nur nach Kräften Schaden anrichten, weil ihr Kopf nur mit Erwägungen angefüllt ist, die keine leere Eierschale wert sind, in ihrem Herzen aber das fehlt, was einzig und allein für morgen notwendig ist: das Gefühl, das in Timochin lebt. Ganz Europa haben sie diesem Napoleon überlassen, und dann sind sie hergekommen, um uns zu unterweisen … prächtige Lehrmeister!« Seine Stimme hatte wieder einen kreischenden Ton angenommen.
»Sie glauben also, daß wir die morgige Schlacht gewinnen werden?« fragte Pierre.
»Ja, ja«, antwortete Fürst Andrei zerstreut. »Aber eins würde ich anordnen«, begann er wieder, »wenn ich die Macht dazu hätte: keine Gefangenen zu machen. Was hat es denn für einen Sinn, Gefangene zu machen? Das ist eine Handlung der Ritterlichkeit. Die Franzosen haben mein Haus zerstört und wollen nach Moskau marschieren, um diese Stadt zu zerstören. Sie haben mir schweres Leid zugefügt und tun es noch jeden Augenblick. Sie sind meine Feinde; sie sind allesamt nach meiner Auffassung Verbrecher. Und ebenso denkt Timochin und die ganze Armee. Sie müssen bestraft werden. Wenn sie meine Feinde sind, so können sie nicht meine Freunde sein, trotz allem, was sie da in Tilsit gesagt haben.«
»Ja, ja«, erwiderte Pierre und blickte den Fürsten Andrei mit glänzenden Augen an, »ich bin vollständig Ihrer Ansicht.«
Jene Frage, die ihn seit dem Berg von Moschaisk im Laufe dieses ganzen Tages beunruhigt hatte, schien ihm jetzt ihre völlig klare Beantwortung gefunden zu haben. Er verstand jetzt den ganzen Sinn und die ganze Bedeutung dieses Krieges und der bevorstehenden Schlacht. Alles, was er an diesem Tag gesehen hatte, alle die ernsten, finsteren Mienen, die an seinem Auge vorbeigezogen waren, erhielten für ihn jetzt eine neue Beleuchtung. Er verstand jene (wie man sich in der Physik ausdrückt) latente Wärme des patriotischen Empfindens, welche in allen diesen Menschen steckte, die er gesehen hatte, und durch welche es ihm klar wurde, warum alle diese Menschen ruhig und gewissermaßen leichtsinnig sich auf den Tod vorbereiteten.
»Keine Gefangenen machen«, fuhr Fürst Andrei fort. »Das ist das einzige Mittel, um den ganzen Krieg umzugestalten und ihm einen minder grausamen Charakter zu geben. So aber haben wir immer den Krieg wie ein Spiel behandelt, und das ist falsch und töricht; wir spielen die Edelmütigen usw. Dieser Edelmut und diese Empfindsamkeit erinnern an eine Dame, der übel wird, wenn sie ein Kalb schlachten sieht: sie hat ein so gutes Herz, daß sie kein Blut sehen kann; aber sie ißt dieses selbe Kalb mit Appetit, wenn es mit Sauce zugerichtet ist. Man schwatzt uns soviel vor von dem Recht, das im Krieg gelte, von Ritterlichkeit, vom Verhandeln durch Parlamentäre, von Schonung der Unglücklichen usw. Alles Unsinn! Ich habe im Jahre 1805 diese Ritterlichkeit und dieses Parlamentärwesen mit angesehen: man hat uns hinters Licht geführt, und wir haben den Gegnern das gleiche getan. Man plündert fremde Häuser, setzt falsches Papiergeld in Umlauf und, was das Schlimmste ist, tötet meine Kinder und meinen Vater, und dabei redet man noch von dem im Krieg gültigen Recht und von Edelmut gegen die Feinde. Das Richtige ist: keine Gefangenen machen, sondern die Feinde töten und selbst in den Tod gehen! Wer durch so viele Leiden, wie ich, auf diesen Standpunkt gelangt ist …«
Obgleich Fürst Andrei von sich selbst glaubte, daß es ihm ganz gleich sei, ob die Feinde nun auch noch Moskau nähmen wie vorher Smolensk, mußte er doch auf einmal infolge eines plötzlichen Krampfes, der seine Kehle befiel, in seiner Rede innehalten. Er ging ein paarmal schweigend auf und ab; aber seine Augen glänzten fieberhaft und seine Lippen zitterten, als er wieder weitersprach:
»Wenn diese Sucht, im Krieg den Edelmütigen zu spielen, in Verruf käme, so würden wir nur in solchen Fällen in den Krieg ziehen, wo sein Zweck es wert ist, daß man um seinetwillen in den sicheren Tod geht. Dann würde kein Krieg deswegen geführt werden, weil Pawel Iwanowitsch den Michail Iwanowitsch beleidigt hat. Sondern wenn Krieg geführt würde, wie jetzt, so würde es ein wirklicher Krieg sein. Auch die seelische Beteiligung der Truppen würde dann eine andere sein als jetzt. Dann wären alle diese Westfalen und Hessen, die Napoleon mit sich führt, ihm nicht nach Rußland gefolgt, und wir wären nicht nach Österreich und Preußen gezogen, um dort zu kämpfen, ohne selbst zu wissen warum. Der Krieg ist keine Liebenswürdigkeit, sondern die garstigste Handlung im menschlichen Leben; das muß man sich klarmachen und ihn nicht als Spiel betreiben. Ernsten, strengen Sinnes muß man diese furchtbare Notwendigkeit hinnehmen. Alles kommt darauf an, die Unwahrhaftigkeit fernzuhalten und den Krieg als Krieg zu behandeln und nicht als Spielerei. Jetzt aber ist der Krieg das Lieblingsamüsement müßiger, leichtsinniger Menschen. Der Militärstand ist der geachtetste.
Und was ist das Wesen des Krieges? Was ist beim Kriegshandwerk zum Erfolg nötig? Wie beschaffen sind die Sitten des Militärs? Der Zweck des Krieges ist der Mord; die Mittel des Krieges sind Spionage, Verrat, Anstiftung zum Verrat, der Ruin der Einwohner, die ausgeplündert oder bestohlen werden, um die Armee zu versorgen, Betrug und Lüge, die als Kriegslist bezeichnet werden; die Sitten des Militärstandes sind: jener Mangel an persönlicher Freiheit, welcher Disziplin heißt, Müßiggang, Roheit, Grausamkeit, Unzucht, Trunksucht. Und trotzdem ist dies der höchste, allgemein geachtete Stand. Alle Herrscher, mit Ausnahme des Kaisers von China, tragen militärische Uniform, und demjenigen Soldaten, der die meisten Menschen getötet hat, werden die größten Belohnungen erteilt.
Da kommen sie nun zusammen, wie wir es morgen tun werden, um sich gegenseitig zu morden, und töten viele tausend Menschen oder machen sie zu Krüppeln, und dann halten sie Dankgottesdienste dafür ab, daß sie so viele Menschen gemordet haben (sie pflegen die Zahl sogar noch zu übertreiben), und verkünden ihren Sieg, in der Überzeugung, daß ihr Verdienst um so größer sei, je mehr Menschen sie gemordet haben. Wie kann nur Gott vom Himmel her das mit ansehen und mit anhören?« rief Fürst Andrei mit hoher, kreischender Stimme. »Ach, liebster Freund, in der letzten Zeit ist mir das Leben recht schwer geworden. Ich merke, daß ich zu weit in der Erkenntnis vorgedrungen bin. Aber es ist dem Menschen nicht zuträglich, von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen … Nun, es wird ja nicht mehr lange dauern!« fügte er hinzu.
»Aber du wirst müde sein, und auch für mich ist es Zeit, daß ich mich hinlege. Reite nach Gorki«, sagte Fürst Andrei plötzlich.
»O nein, nicht doch!« antwortete Pierre und blickte ihn mit erschrockenen, mitleidigen Augen an.
»Reite nur, reite!« wiederholte Fürst Andrei. »Vor einer Schlacht muß man ausschlafen.«
Er trat schnell an Pierre heran und umarmte und küßte ihn.
»Lebe wohl, geh!« rief er. »Ob wir uns wiedersehen werden? Wohl kaum.« Er wandte sich hastig um und ging in den Schuppen hinein.
Es war schon dunkel, und Pierre vermochte nicht zu unterscheiden, ob der Gesichtsausdruck des Fürsten Andrei grimmig oder zärtlich war.
Er stand noch ein Weilchen schweigend da und überlegte, ob er ihm nachgehen oder nach Hause reiten sollte. »Nein, er bedarf meiner nicht!« sagte er sich schließlich. »Aber ich weiß, daß dies unser letztes Zusammensein war.« Er seufzte schwer und ritt nach Gorki zurück.
Als Fürst Andrei in den Schuppen zurückgekehrt war, legte er sich auf seine Decke; aber er konnte nicht einschlafen.
Er schloß die Augen. Mancherlei Bilder, die einander ablösten, traten ihm vor die Seele. Bei einem von ihnen verweilte er lange und gern. Er erinnerte sich mit großer Deutlichkeit an einen Abend in Petersburg. Natascha erzählte ihm mit lebhaft erregtem Gesicht, wie sie sich im vorhergehenden Sommer beim Pilzesuchen in einem großen Wald verirrt hatte. Sie schilderte ihm bunt durcheinander die Einsamkeit des Waldes und ihre Empfindungen und ihr Gespräch mit dem Bienenvater, den sie getroffen hatte; dabei unterbrach sie sich alle Augenblicke in ihrer Erzählung, indem sie sagte: »Nein, ich kann nicht erzählen; ich erzähle gar zu ungeschickt; nein, Sie verstehen mich nicht«, obwohl Fürst Andrei sie wiederholt durch die Versicherung, daß er sie verstehe, zu beruhigen suchte und auch wirklich alles verstand, was sie sagen wollte. Natascha war unzufrieden mit ihrer eigenen Darstellung: sie meinte, daß jenes leidenschaftliche, romantische Gefühl, das an jenem Tag ihr Herz erfüllt hatte und das sie jetzt zu schildern versuchte, nicht klar zum Ausdruck käme. »Dieser alte Mann war so allerliebst, und es war so dunkel im Wald … und er hatte so gute Augen … Nein, ich verstehe nicht zu erzählen!« sagte sie errötend und erregt. Auf des Fürsten Andrei Lippen trat jetzt jenes selbe fröhliche Lächeln wie damals, als er ihr in die Augen blickte. »Ich verstand sie«, dachte er. »Und ich verstand sie nicht nur, sondern ich liebte auch die Kraft, die Lauterkeit, die Offenheit ihrer Seele, liebte diese Seele, die gleichsam von dem Körper zusammengehalten wurde, liebte sie so stark, so glückselig.« Und plötzlich erinnerte er sich daran, wie seine Liebe ein Ende genommen hatte. »Diesem Menschen lag an alledem nichts. Er sah und verstand nichts davon. Er sah in ihr nur ein hübsches, frisches Mädchen, das aber doch nicht wert sei, daß er sein Schicksal mit dem ihrigen verbinde. Und ich …? Und er ist immer noch am Leben und vergnügt.«
Fürst Andrei sprang auf, wie wenn ihn jemand mit einem glühenden Eisen angerührt hätte, und begann wieder vor dem Schuppen auf und ab zu gehen.
XXVI
Am 25. August, dem Tag vor der Schlacht bei Borodino, trafen der Palastpräfekt des Kaisers der Franzosen, Herr de Bausset, und der Oberst Fabvier, der erstere aus Paris, der zweite aus Madrid, bei dem Kaiser Napoleon in seinem Quartier in der Nähe von Walujewo ein.
Nachdem Herr de Bausset sich in die Hofuniform umgekleidet hatte, befahl er, die Kiste, die er für den Kaiser mitgebracht hatte, vor ihm herzutragen, und betrat die vordere Abteilung von Napoleons Zelt, wo er sich mit dem Öffnen und Auspacken der Kiste beschäftigte und sich dabei mit den ihn umringenden Adjutanten Napoleons unterhielt.
Fabvier war nicht in das Zelt hineingegangen, sondern im Gespräch mit einigen ihm bekannten Generalen am Eingang stehengeblieben.
Der Kaiser Napoleon war noch nicht aus seinem Schlafzimmer zum Vorschein gekommen und noch nicht mit seiner Toilette fertig. Schnaubend und stöhnend drehte er sich bald mit dem dicken Rücken, bald mit der haarigen, fetten Brust unter der Bürste hin und her, mit welcher ein Kammerdiener ihm den Leib frottierte. Ein anderer Kammerdiener, der ein Fläschchen mit dem Finger beinahe zuhielt, besprengte den wohlgepflegten Körper des Kaisers mit Eau de Cologne und machte dabei ein Gesicht, das zu besagen schien, er sei der einzige Mensch, welcher wisse, wieviel Eau de Cologne gespritzt werden müsse und wohin. Napoleons kurzes Haar war feucht und lag ungeordnet auf der Stirn. Aber sein Gesicht drückte, trotz seiner Gedunsenheit und gelblichen Farbe, physisches Wohlbehagen aus: »Immer weiter, immer kräftig!« sagte er wiederholt, indem er sich zusammenbog und stöhnte, zu dem Kammerdiener, der ihn frottierte. Ein Adjutant trat in das Schlafzimmer, um dem Kaiser zu melden, wieviel Gefangene bei dem gestrigen Kampf gemacht worden seien, blieb, nachdem er seinen Bericht erstattet hatte, an der Tür stehen und wartete auf die Erlaubnis, sich entfernen zu dürfen. Napoleon hatte die Augenbrauen zusammengezogen und blickte den Adjutanten von unten her an.
»Keine Gefangenen!« wiederholte er die Worte des Adjutanten. »Sie lassen sich niedermachen. Um so schlimmer für die russische Armee«, sagte er. »Immer weiter, immer kräftig!« befahl er wieder dem Kammerdiener, indem er seine fetten Schultern krümmte und hinhielt.
»Gut, gut! Lassen Sie Herrn de Bausset und Fabvier eintreten«, sagte er mit einem Kopfnicken zu dem Adjutanten.
»Zu Befehl, Sire!« antwortete der Adjutant und verschwand durch die Tür des Schlafzimmers.
Die beiden Kammerdiener kleideten Seine Majestät hurtig an, und in der blauen Gardeuniform betrat er mit festen, schnellen Schritten den vorderen Raum.
Bausset war in diesem Augenblick eilig damit beschäftigt, das Geschenk der Kaiserin, das er mitgebracht hatte, noch gerade vor dem Eintritt des Kaisers auf zwei Stühlen aufzustellen. Aber der Kaiser war so unerwartet schnell mit seinem Anzug fertig geworden und aus seinem Schlafzimmer herausgekommen, daß der Palastpräfekt nicht Zeit genug gehabt hatte, um die geplante Überraschung vollständig zu inszenieren.
Napoleon bemerkte sofort, was Bausset tat, und erriet, daß dieser noch nicht fertig war. Er wollte ihn nicht des Vergnügens berauben, ihm die Überraschung zu bereiten; daher tat er, als sähe er ihn gar nicht und rief Fabvier zu sich heran. Napoleon hörte, streng die Stirn runzelnd, an, was Fabvier über die Tapferkeit und Ergebenheit der französischen Truppen berichtete, die am andern Ende Europas bei Salamanca gekämpft hatten; sie hätten nur einen Gedanken gehabt, sich ihres Kaisers würdig zu zeigen, und nur eine Furcht: ihn nicht zu befriedigen. Das Resultat der Schlacht war traurig gewesen. Napoleon machte, während Fabvier sprach, ironische Bemerkungen, als habe er auch gar nicht erwartet, daß die Sache in seiner Abwesenheit hätte anders gehen können.
»Ich muß das in Moskau wiedergutmachen«, sagte Napoleon. »Auf Wiedersehen!« fügte er hinzu und rief Herrn de Bausset heran, der unterdessen bereits mit dem Arrangement der Überraschung fertig geworden war, indem er einen Gegenstand auf die Stühle gestellt und mit einer Decke verhüllt hatte.
Er verbeugte sich tief, mit jener höfischen französischen Körperbewegung, wie sie nur die alten Diener der Bourbonen auszuführen verstanden, trat heran und überreichte dem Kaiser einen Brief.
Napoleon wandte sich heiter zu ihm und zupfte ihn am Ohr.
»Sie haben sich beeilt; das freut mich sehr. Nun, was sagt Paris?« fragte er; seine vorher strenge Miene hatte plötzlich einer sehr vergnügten Platz gemacht.
»Sire, ganz Paris bedauert Ihre Abwesenheit«, antwortete Bausset pflichtgemäß.
Obgleich Napoleon wußte, daß Bausset dies oder etwas Ähnliches sagen mußte, und obgleich er in Augenblicken ruhiger Überlegung sich sagte, daß dies eine Unwahrheit sei, so machte ihm diese Antwort doch Vergnügen. Er würdigte ihn nochmals eines Zupfens am Ohr.
»Ich bedaure sehr, es herbeigeführt zu haben, daß Ihre Reise eine so weite geworden ist«, sagte er.
»Sire, ich habe auch nichts Geringeres erwartet, als Sie an den Toren Moskaus zu finden«, erwiderte Bausset.
Napoleon lächelte und blickte, zerstreut den Kopf hebend, nach rechts hin. Der Adjutant trat schleifenden Schrittes mit der goldenen Tabaksdose heran und präsentierte sie dem Kaiser. Napoleon nahm sie hin.
»Ja, das hat sich gut für Sie getroffen«, bemerkte er, indem er die geöffnete Dose an die Nase hielt. »Sie reisen ja gern; nun, in drei Tagen werden Sie Moskau zu sehen bekommen. Sie haben wohl nicht erwartet, daß Sie nach dieser asiatischen Residenz kommen würden. Sie machen eine vergnügliche Reise.«
Bausset verneigte sich zum Dank dafür, daß der Kaiser diese seine (ihm selbst bisher unbekannte) Neigung zum Reisen zu beachten geruhte.
»Nun, was ist das da?« fragte Napoleon, da er bemerkte, daß alle seine Hofleute nach dem mit der Decke verhüllten Gegenstand hinblickten.
Bausset machte mit höfischer Gewandtheit, ohne den Rücken zu zeigen, mit einer halben Wendung zwei Schritte zurück, zog gleichzeitig die Decke fort und sagte:
»Ein Geschenk der Kaiserin für Euer Majestät.«
Es war ein von Gérard in hellen Farben gemaltes Porträt eines Knaben, des Sohnes, der dem Kaiser Napoleon von der österreichischen Kaisertochter geboren war und der aus einem nicht recht verständlichen Grund allgemein der König von Rom genannt wurde.
Ein sehr hübscher, lockiger Knabe, mit einem Blick, der mit dem des Jesuskindes auf dem Bild der Sixtinischen Madonna Ähnlichkeit hatte, war abgebildet, wie er Bilboquet spielte. Die Kugel in seiner einen Hand wurde durch den Erdball dargestellt, das Fangstäbchen in der andern durch ein Zepter.
Es war nicht ganz verständlich, was der Maler eigentlich damit hatte ausdrücken wollen, daß er den sogenannten König von Rom darstellte, wie er den Erdball mit einem Stäbchen durchbohrte; aber diese Allegorie schien, wie allen, die das Bild in Paris gesehen hatten, so auch dem Kaiser Napoleon offenbar vollkommen klar, und sie gefiel ihm außerordentlich.
»Der König von Rom!« sagte er, indem er mit einer anmutigen Handbewegung auf das Bild wies. »Ein wundervolles Bild!«
Mit der den Italienern eigenen Fähigkeit, den Gesichtsausdruck willkürlich zu ändern, nahm er, während er an das Porträt herantrat, die Miene nachdenklicher Zärtlichkeit an. Er war sich bewußt, daß das, was er jetzt sagte und tat, ein Stück Weltgeschichte war. Und für das Beste, was er jetzt tun könne, erachtete er es, trotz seiner erhabenen Größe, infolge deren sein Sohn mit der Erdkugel Fangball spielte, und in bewußtem Gegensatz zu dieser Größe die schlichteste väterliche Zärtlichkeit zu zeigen. Seine Augen umzogen sich wie mit einem Schleier; er trat näher heran, sah sich nach einem Stuhl um (dienstfertige Hände brachten den Stuhl eiligst herbei und stellten ihn zweckmäßig hin) und setzte sich dem Porträt gegenüber. Eine Handbewegung von seiner Seite, und alle gingen auf den Zehen hinaus und überließen den großen Mann sich selbst und seinen Empfindungen.
Nachdem er ein Weilchen dagesessen und, ohne selbst recht zu wissen warum, die rauhe Oberfläche der Lichtstellen des Porträts betastet hatte, stand er auf und rief wieder Bausset und den diensttuenden Adjutanten zu sich. Er gab Befehl, das Porträt vor das Zelt zu bringen, damit die alte Garde, welche um sein Zelt herum lagerte, nicht des Glückes beraubt werde, den König von Rom, den Sohn und Erben ihres vergötterten Kaisers, zu sehen.
Wie er es erwartet hatte, stießen, während er mit dem dieser Ehre gewürdigten Herrn de Bausset frühstückte, vor dem Zelt die Offiziere und Soldaten der alten Garde, die sich um das Porträt sammelten, laute Rufe der Begeisterung aus.
»Es lebe der Kaiser! Es lebe der König von Rom! Es lebe der Kaiser!« riefen sie enthusiastisch.
Nach dem Frühstück diktierte Napoleon in Baussets Gegenwart seinen Armeebefehl.
»Kurz und energisch!« sagte Napoleon und las die ohne Unterbrechung und ohne Korrekturen diktierte Proklamation selbst laut durch. Der Befehl lautete:
»Soldaten! Da habt ihr die Schlacht, nach der ihr so lange verlangt habt. Der Sieg wird von euch abhängen. Er ist uns notwendig; er wird uns alles verschaffen, was wir brauchen: bequeme Winterquartiere und eine baldige Rückkehr in das Vaterland. Haltet euch so, wie ihr euch bei Austerlitz, bei Friedland, bei Witebsk und bei Smolensk gehalten habt. Möge die späteste Nachwelt der an diesem Tag von euch verrichteten Heldentaten mit Stolz gedenken. Und möge man von einem jeden von euch rühmen: er hat in der großen Schlacht unter den Mauern von Moskau mitgekämpft!«
»Unter den Mauern von Moskau!« wiederholte Napoleon. Dann forderte er den reiselustigen Herrn de Bausset auf, ihn auf seinem Spazierritt zu begleiten, und trat aus dem Zelt, vor dem die Pferde gesattelt standen.
»Euer Majestät sind zu gütig«, erwiderte Bausset auf die Einladung des Kaisers, mitzureiten; er hätte am liebsten geschlafen, konnte auch nicht ordentlich reiten und fürchtete sich davor.
Aber Napoleon nickte dem eifrigen Reisenden mit dem Kopf zu, und Bausset mußte mitreiten. Als Napoleon aus dem Zelt trat, wurde das Geschrei der Gardisten vor dem Bild seines Sohnes noch lauter. Napoleon zog die Augenbrauen zusammen.
»Nehmt ihn fort«, sagte er, indem er mit einer ebenso anmutigen wie majestätischen Handbewegung auf das Bild wies. »Es ist noch zu früh für ihn, ein Schlachtfeld zu sehen.«
Bausset schloß die Augen, senkte den Kopf und seufzte tief, indem er auf diese Weise andeutete, daß er die Worte des Kaisers verstanden habe und zu würdigen wisse.
XXVII
Diesen ganzen Tag, den 25. August, brachte Napoleon, wie seine Geschichtsschreiber berichten, zu Pferde zu, indem er das Terrain besichtigte, die ihm von seinen Marschällen unterbreiteten Pläne kritisierte und seinen Generalen persönlich Befehle erteilte.
Die ursprüngliche Aufstellungslinie der russischen Truppen an der Kolotscha entlang war zerstört, und ein Teil dieser Linie, namentlich die linke Flanke der Russen, war infolge der am 24. erfolgten Wegnahme der Schanze von Schewardino zurückgezogen worden. Dieser Teil der Linie war unbefestigt und nicht mehr durch den Fluß geschützt; auch war es der einzige Teil der russischen Linie, vor dem sich ein einigermaßen offenes, ebenes Terrain ausbreitete. Für jeden Militär und Nichtmilitär war es klar, daß die Franzosen diesen Teil der Linie angreifen mußten. Anscheinend bedurfte es dazu nicht erst umständlicher Überlegungen, nicht einer solchen sorglichen, geschäftigen Tätigkeit von seiten des Kaisers und seiner Marschälle und ganz und gar nicht jener besonderen höheren Eigenschaft, der sogenannten Genialität, die man dem Kaiser Napoleon so gern zuschreibt; aber die Geschichtsschreiber, die dieses Ereignis später geschildert haben, und die Männer, die damals die Umgebung Napoleons bildeten, und er selbst dachten darüber anders.
Napoleon ritt über das Feld hin, betrachtete tiefsinnig die Örtlichkeit und nickte für sich selbst bald befriedigt mit dem Kopf, bald wiegte er ihn zweifelnd hin und her. Den ihn umgebenden Generalen teilte er den tiefsinnigen Gedankengang, der ihn zu seinen Entschlüssen führte, nicht mit; diese bekamen nur die schließlichen Resultate in Form von Befehlen zu hören. Nachdem Napoleon den Vorschlag Davouts, des sogenannten Herzogs von Eggmühl, angehört hatte, die linke russische Flanke zu umgehen, erwiderte er, daß sei nicht erforderlich, ohne seine Gründe für diese Ablehnung anzugeben. Zu dem Vorschlag des Generals Compans dagegen (der die Pfeilschanzen angreifen sollte), seine Division durch den Wald zu führen, erklärte Napoleon seine Zustimmung, obgleich der sogenannte Herzog von Elchingen, d.h. Ney, sich die Bemerkung erlaubte, der Marsch durch den Wald sei gefährlich und könne die Division in Unordnung bringen.
Nachdem Napoleon die Örtlichkeit gegenüber der Schanze von Schewardino gemustert hatte, dachte er eine Zeitlang schweigend nach und bezeichnete dann die Punkte, an denen bis zum folgenden Tag zwei Batterien zur Beschießung der russischen Befestigungen angelegt werden sollten, und die Stellen, wo neben ihnen die Feldartillerie aufgestellt werden sollte.
Nachdem er diese und andere Befehle erteilt hatte, kehrte er in sein Quartier zurück, und unter seinem Diktat wurde die Disposition der Schlacht niedergeschrieben.
Diese Disposition, von der die französischen Geschichtsschreiber mit enthusiastischer Bewunderung und die andern mit großem Respekt reden, lautete folgendermaßen:
»Bei Tagesanbruch eröffnen die beiden neuen Batterien, die während der Nacht in der von dem Herzog von Eggmühl besetzten Ebene angelegt werden, das Feuer auf die beiden gegenüberliegenden feindlichen Batterien.
Gleichzeitig rückt der Chef der Artillerie des ersten Korps, General Pernetti, mit den dreißig Geschützen der Division Compans und allen Haubitzen der Divisionen Dessaix und Friant vor, eröffnet das Feuer und überschüttet die feindliche Batterie mit Granaten. Gegen diese Batterie werden somit operieren:
24 Geschütze der Gardeartillerie,
30 Geschütze der Division Compans,
8 Geschütze der Divisionen Friant und Dessaix.
In Summa 62 Geschütze.
Der Chef der Artillerie des dritten Korps, General Foucher, stellt alle Haubitzen des dritten und achten Korps, zusammen 16, auf den Flanken der Batterie auf, welche Auftrag hat, die links gelegene Befestigung zu beschießen, was gegen diese im ganzen 40 Geschütze ergibt.
General Sorbier hat sich bereitzuhalten, um auf den ersten Befehl mit allen Haubitzen der Gardeartillerie gegen die eine oder die andere Befestigung vorzurücken.
Während der Kanonade schlägt Fürst Poniatowski die Richtung nach dem Dorf Utiza, durch den Wald, ein und umgeht die feindliche Position.
General Compans marschiert durch den Wald, um sich der ersten Befestigung zu bemächtigen.
Nachdem die Schlacht in dieser Weise eingeleitet ist, werden weitere Befehle dem Verhalten des Feindes entsprechend gegeben werden.
Die Kanonade auf dem linken Flügel beginnt, sobald die Kanonade des rechten Flügels gehört wird. Die Schützen der Division Morand und der Divisionen des Vizekönigs eröffnen ein starkes Feuer, sobald sie wahrnehmen, daß der Angriff des rechten Flügels begonnen hat.
Der Vizekönig bemächtigt sich des Dorfes Borodino und geht auf den dortigen drei Brücken hinüber, indem er in gleicher Höhe mit den Divisionen Morand und Gérard marschiert, die unter seinem Oberbefehl die Richtung auf die Redoute nehmen und in die Linie der übrigen Truppen einrücken.
Alles dies muß in guter Ordnung ausgeführt werden (le tout se fera avec ordre et méthode), wobei die in Reserve stehenden Truppen nach Möglichkeit zu schonen sind.
Im kaiserlichen Lager bei Moschaisk, den 6. September 1812.«
Diese recht unklar und verworren abgefaßte Disposition (wenn man es sich erlauben darf, ohne die übliche heilige Scheu vor Napoleons Genialität seinen Anordnungen gegenüberzutreten) enthielt vier Punkte, vier Anordnungen. Keine dieser Anordnungen konnte ausgeführt werden, keine ist ausgeführt worden.
In der Disposition war erstens gesagt, die Batterien, die an der von Napoleon ausgewählten Stelle errichtet werden würden, nebst Pernettis und Fouchers Geschützen, die sich mit ihnen in eine Linie zu stellen hätten, im ganzen 102 Geschütze, sollten das Feuer eröffnen und die russischen Pfeilschanzen und die Redoute mit Geschossen überschütten. Dies konnte nicht ausgeführt werden, da von den Punkten aus, die Napoleon bezeichnet hatte, die Geschosse nicht bis zu den russischen Schanzen hinreichten und diese 102 Geschütze so lange vergeblich feuerten, bis der zunächst befindliche Kommandeur sie gegen Napoleons Befehl vorrücken ließ.
Die zweite Anordnung bestand darin, Poniatowski solle die Richtung nach dem Dorf durch den Wald einschlagen und die linke Flanke der Russen umgehen. Der Grund, weshalb dies nicht ausgeführt werden konnte und nicht ausgeführt wurde, war, daß Poniatowski, als er die Richtung nach dem Dorf durch den Wald einschlug, dort auf Tutschkow stieß, der ihm den Weg versperrte, so daß er die russische Position nicht umgehen konnte und nicht umging.
Die dritte Anordnung war: General Compans marschiert in den Wald, um sich der ersten Befestigung zu bemächtigen. Die Division Compans bemächtigte sich der ersten Befestigung nicht, sondern wurde zurückgeschlagen, weil sie beim Austritt aus dem Wald sich erst unter dem Kartätschenfeuer ordnen mußte, was Napoleon nicht bedacht hatte.
Die vierte Anordnung lautete: Der Vizekönig bemächtigt sich des Dorfes (Borodino) und geht auf den dortigen drei Brücken hinüber, indem er in gleicher Höhe mit den Divisionen Morand und Gérard marschiert (von denen nicht gesagt war, wohin und wann sie sich in Bewegung setzen sollten), die unter seinem Oberbefehl die Richtung auf die Redoute nehmen und in die Linie der übrigen Truppen einrücken. Soviel sich, wenn nicht aus diesem sinnlosen Satz selbst, so doch aus den Versuchen entnehmen läßt, die der Vizekönig unternahm, um die ihm erteilten Weisungen auszuführen, sollte er durch Borodino von links her gegen die Redoute vorrücken und die Divisionen Morand und Gérard gleichzeitig von der Front her. Alles dies kam ebensowenig zur Ausführung wie die übrigen Punkte der Disposition, und konnte auch nicht zur Ausführung kommen. Als der Vizekönig durch Borodino hindurchmarschiert war, wurde er an der Kolotscha zurückgeschlagen und konnte nicht weiter vordringen; und auch die Divisionen Morand und Gérard nahmen die Redoute nicht, sondern wurden zurückgeschlagen, und die Redoute wurde erst gegen Ende der Schlacht von der Kavallerie genommen (ein unerhörtes Ereignis, das Napoleon wohl nicht vorhergesehen hatte).
Somit wurde von den Anordnungen der Disposition keine einzige ausgeführt, und es konnte auch keine ausgeführt werden. In der Disposition war aber noch gesagt, nachdem die Schlacht in dieser Weise eingeleitet sein werde, würden weitere Befehle dem Verhalten des Feindes entsprechend gegeben werden, und daher könnte man glauben, es seien während der Schlacht alle erforderlichen Anordnungen von Napoleon getroffen worden; dies geschah jedoch nicht und konnte nicht geschehen, weil sich Napoleon während der ganzen Dauer der Schlacht so weit von ihr entfernt befand, daß (wie es sich herausstellte) er über den Gang des Kampfes nicht orientiert sein und keine während des Kampfes von ihm getroffene Anordnung ausgeführt werden konnte.
XXVIII
Viele Geschichtsschreiber sagen, die Franzosen hätten die Schlacht bei Borodino deshalb nicht gewonnen, weil Napoleon den Schnupfen gehabt habe; hätte er keinen Schnupfen gehabt, so wären seine Anordnungen während der Schlacht noch genialer gewesen, und Rußland wäre zugrunde gegangen, und die Welt hätte ein ganz anderes Gesicht bekommen. Für Geschichtsschreiber, welche behaupten, der Wille eines einzelnen Menschen, Peters des Großen, habe bewirkt, daß sich das russische Reich bildete, und der Wille eines einzelnen Menschen, Napoleons, sei die Ursache davon gewesen, daß Frankreich sich aus einer Republik in ein Kaiserreich verwandelte und die französischen Truppen in Rußland eindrangen, für solche Geschichtsschreiber ist der Schluß von zwingender Beweiskraft, daß Rußland deswegen ein mächtiger Staat geblieben sei, weil Napoleon am 26. August am Schnupfen gelitten habe.
Wenn es von Napoleons Willen abhing, die Schlacht bei Borodino zu liefern oder nicht zu liefern, und wenn es von seinem Willen abhing, die und die oder eine andere Anordnung zu treffen, so ist klar, daß ein Schnupfen, der auf die Äußerung seines Willens von Einfluß war, die Ursache der Rettung Rußlands werden konnte und daß daher jener Kammerdiener, der am 24. vergessen hatte, dem Kaiser die wasserdichten Stiefel zu reichen, der Retter Rußlands war. Bei einer solchen Art zu denken, ist dieser Schluß zweifellos richtig; ebenso richtig wie jener Schluß Voltaires, der scherzend (wiewohl er selbst nicht recht wußte, worüber er sich dabei eigentlich lustig machte) behauptete, die Bartholomäusnacht habe sich infolge einer Magenverstimmung Karls IX. ereignet. Denjenigen Leuten jedoch, die nicht zugeben, daß die Bildung des russischen Reiches auf den Willen eines einzelnen Menschen, Peters des Großen, und die Entstehung des französischen Kaiserreichs und der Beginn des Krieges mit Rußland auf den Willen eines einzelnen Menschen, Napoleons, zurückzuführen sei, solchen Leuten erscheint jener Schluß nicht nur als ein unrichtiger und unverständiger, sondern auch als ein dem ganzen Wesen der Menschheit zuwiderlaufender. Auf die Frage, welches die Ursache der geschichtlichen Ereignisse sei, bietet sich eine andere Antwort dar, nämlich folgende: der Gang der Weltereignisse ist von oben vorherbestimmt und hängt von dem Zusammentreffen aller Willensäußerungen der an diesen Ereignissen beteiligten Menschen ab, und der Einfluß von Männern wie Napoleon auf den Gang dieser Ereignisse ist nur ein äußerlicher und eingebildeter.
Wie seltsam auch auf den ersten Blick die Annahme erscheinen mag, daß die Bartholomäusnacht, zu der Karl IX. den Befehl gab, nicht das Resultat seines Willens gewesen sei, sondern es ihm nur so geschienen habe, als habe er ihre Veranstaltung befohlen, und daß die Niedermetzelung von achtzigtausend Menschen bei Borodino nicht das Resultat des Willens Napoleons gewesen sei, obwohl er doch die Befehle über den Beginn und weiteren Gang des Kampfes erteilte, sondern es ihm nur so vorgekommen sei, als befehle er dies – wie seltsam auch diese Annahme erscheinen mag, so befiehlt uns doch die menschliche Würde, die uns sagt, daß jeder von uns, wenn nicht in höherem, so doch jedenfalls in nicht geringerem Grade ein Mensch ist als jeder Napoleon, diese Lösung der Frage als die richtige anzuerkennen, und die geschichtlichen Forschungen bringen für diese Annahme die reichste Bestätigung.
In der Schlacht bei Borodino hat Napoleon auf niemand geschossen und niemand getötet. Alles dies haben die Soldaten getan. Folglich ist nicht er es gewesen, der die vielen Menschen getötet hat.
Die Soldaten der französischen Armee gingen bei Borodino in diesen mörderischen Kampf nicht infolge des Befehles Napoleons, sondern von ihrem eigenen Verlangen getrieben. Die ganze Armee, Franzosen, Italiener, Deutsche, Polen, hungrig, abgerissen und durch die langen Märsche erschöpft, sagte sich angesichts eines Heeres, das ihnen den Weg nach Moskau versperrte, der Wein sei nun einmal abgezogen und müsse getrunken werden. Hätte Napoleon ihnen jetzt verboten, sich mit den Russen zu schlagen, so würden sie ihn getötet haben und darauf in den Kampf mit den Russen gegangen sein, weil das eben für sie ein Ding der Notwendigkeit war.
Als sie Napoleons Armeebefehl anhörten, der ihnen als Trost für Verstümmelung und Tod in Aussicht stellte, die Nachwelt werde davon reden, daß auch sie bei der Schlacht unter den Mauern von Moskau dabeigewesen seien, da riefen sie:
»Es lebe der Kaiser!«, geradeso wie sie beim Anblick des Porträts des Knaben, der den Erdball mit einem Bilboquetstäbchen durchbohrte, »Es lebe der Kaiser!« gerufen hatten, und geradeso wie sie es bei jedem Unsinn getan haben würden, den er zu ihnen gesagt hätte. Es blieb ihnen nichts weiter übrig als »Es lebe der Kaiser!« zu rufen und in den Kampf zu gehen, um als Sieger in Moskau Nahrung und Erholung zu finden. Somit haben sie nicht infolge von Napoleons Befehl ihresgleichen getötet.
Auch leitete Napoleon in Wirklichkeit nicht den Gang der Schlacht, da ja von seiner Disposition nichts zur Ausführung kam und er während der Schlacht nicht wußte, was weiter vorn vorging. Also war auch die Art und Weise, wie die Menschen einander töteten, nicht ein Resultat von Napoleons Willen, sondern gestaltete sich, unabhängig von ihm, nach dem Willen der Hunderttausende von Menschen, die an dem allgemeinen Kampf teilnahmen. Napoleon glaubte nur, es vollziehe sich alles nach seinem Willen. Und darum hat die Frage, ob Napoleon den Schnupfen gehabt habe oder nicht, für die Geschichte kein größeres Interesse als die Frage nach dem Schnupfen des letzten Trainsoldaten.
Napoleons Schnupfen am 26. August hatte um so geringere Bedeutung, da die Behauptung mancher Geschichtsschreiber, Napoleons Schnupfen habe es verschuldet, daß seine Disposition und seine Anordnungen während der Schlacht nicht so gut ausgefallen seien wie seine früheren Dispositionen und Anordnungen, vollständig unzutreffend ist.
Die hier oben angeführte Disposition war in keiner Weise schlechter, sondern sogar besser als alle früheren Dispositionen, nach denen er Schlachten gewonnen hatte; und die vermeintlichen Anordnungen während der Schlacht waren gleichfalls nicht schlechter als die früheren, sondern genau von derselben Art wie immer. Diese Disposition und diese Anordnungen scheinen nur deswegen schlechter als die früheren zu sein, weil die Schlacht bei Borodino die erste war, die Napoleon nicht gewann. Die schönsten, tiefsinnigsten Dispositionen und Anordnungen scheinen alle recht schlecht, und jeder Taktiker kritisiert sie mit bedeutsamer Miene, wenn die Schlacht dabei nicht gewonnen ist; und die schlechtesten Dispositionen und Anordnungen scheinen sehr gut, und ernste Männer beweisen in ganzen Bänden die Vortrefflichkeit dieser schlechten Dispositionen und Anordnungen, wenn dabei die Schlacht gewonnen ist.
Die Disposition, die Weyrother vor der Schlacht bei Austerlitz aufgestellt hatte, war ein Muster von Vollkommenheit in derartigen Entwürfen; aber dennoch ist sie getadelt worden, getadelt eben wegen ihrer Vollkommenheit, wegen des allzu tiefen Eingehens auf Einzelheiten.
Napoleon erfüllte in der Schlacht bei Borodino seine Aufgabe als Repräsentant der höchsten Gewalt ebensogut und noch besser als in den andern Schlachten. Er tat nichts, was für den Gang der Schlacht nachteilig gewesen wäre; er stimmte unter den ihm vorgetragenen Meinungen den verständigeren zu; er richtete keine Verwirrung an, geriet nicht in Widerspruch mit sich selbst, erschrak nicht und lief nicht vom Schlachtfeld davon, sondern führte mit dem ihm eigenen hervorragenden Taktgefühl und mit seiner großen Kriegserfahrung ruhig und würdig seine Rolle als scheinbarer Oberleiter durch.
XXIX
Als Napoleon die Linie zum zweitenmal abgeritten und sorgsam revidiert hatte und zu seinem Zelt zurückgekehrt war, sagte er:
»Die Schachfiguren sind aufgestellt; morgen beginnt das Spiel.«
Er ließ sich Punsch bringen und Bausset herbeirufen und begann mit ihm ein Gespräch über Paris, über einige Veränderungen, die er in dem Hofstaat der Kaiserin vorzunehmen beabsichtigte, und setzte den Palastpräfekten durch sein gutes Gedächtnis für alle möglichen kleinen Einzelheiten der Hofverhältnisse in Erstaunen.
Er interessierte sich für allerlei Kleinigkeiten, scherzte über Baussets Reiselust und plauderte in lässigem Ton, so wie es wohl ein berühmter, mit seinem Metier vertrauter, von Selbstbewußtsein erfüllter Operateur tut, während er sich die Ärmel aufstreift und die Schürze vorbindet und den Kranken auf dem Lager festbinden läßt. »Alles, was getan werden muß«, denkt er, »habe ich klar und bestimmt im Kopf und in den Händen. Sobald es nötig sein wird, ans Werk zu gehen, werde ich es so gut machen, wie es kein anderer kann; aber jetzt kann ich scherzen, und je mehr ich scherze und je ruhiger ich bin, um so vertrauensvoller und ruhiger mögt ihr sein, und um so mehr mögt ihr mein Genie bewundern.«
Nachdem Napoleon sein zweites Glas Punsch getrunken hatte, ging er in seinen Schlafraum, um sich vor der ernsten Arbeit, die ihm, wie er meinte, für den nächsten Tag bevorstand, auszuruhen.
Aber seine Gedanken waren dermaßen mit dieser ihm bevorstehenden Arbeit beschäftigt, daß er nicht schlafen konnte, und trotzdem der Schnupfen infolge der feuchten Abendluft schlimmer geworden war, kam er um drei Uhr nachts, sich laut schneuzend, wieder in die größere Abteilung des Zeltes. Er erkundigte sich, ob die Russen abgezogen seien. Es wurde ihm geantwortet, die feindlichen Wachfeuer befänden sich immer noch an denselben Stellen. Er nickte befriedigt mit dem Kopf.
Der diensttuende Adjutant trat in das Zelt.
»Nun, Rapp, glauben Sie, daß wir heute gute Geschäfte machen werden?« fragte ihn der Kaiser.
»Ohne allen Zweifel, Sire«, erwiderte Rapp.
Napoleon blickte ihn prüfend an.
»Erinnern Sie sich, Sire«, fuhr Rapp fort, »was Sie bei Smolensk zu mir zu sagen geruhten: ›Der Wein ist abgezogen; nun muß man ihn trinken‹.«
Napoleon zog die Augenbrauen zusammen und saß lange schweigend da, den Kopf in die Hände gestützt.
»Mein armes Heer!« sagte er plötzlich. »Es ist seit Smolensk sehr zusammengeschmolzen. Das Glück ist eine richtige Dirne, Rapp; das habe ich immer gesagt, und nun fange ich an, es zu erfahren. Aber die Garde, Rapp, die Garde ist doch unversehrt geblieben?« sagte er in fragendem Ton.
»Ja, Sire«, antwortete Rapp.
Napoleon nahm eine Pastille, steckte sie in den Mund und sah nach der Uhr. Schläfrig fühlte er sich nicht; bis zum Morgen war es noch lange hin; wie sollte er die Zeit verbringen? Noch weitere Anordnungen zu treffen war nicht möglich, da bereits alles angeordnet und jetzt in der Ausführung begriffen war.
»Ist an die Garderegimenter Zwieback und Reis ausgeteilt worden?« fragte er in strengem Ton.
»Ja, Sire.«
»Auch Reis?«
Rapp antwortete, er habe den Befehl des Kaisers, den Reis betreffend, weitergegeben; aber Napoleon schüttelte unzufrieden den Kopf, wie wenn er nicht glaubte, daß sein Befehl ausgeführt sei. Ein Diener trat ein mit Punsch. Napoleon ließ für Rapp ein zweites Glas bringen und trank schweigend einzelne Schlucke aus dem seinigen.
»Ich habe weder Geschmack noch Geruch«, sagte er, indem er an dem Glas roch. »Dieser Schnupfen ennuyiert mich recht. Da reden die Leute nun von der medizinischen Wissenschaft. Eine nette Wissenschaft, die nicht einmal einen Schnupfen heilen kann! Corvisart hat mir diese Pastillen gegeben; aber sie helfen gar nichts. Was können die Ärzte denn kurieren? Kurieren läßt sich überhaupt keine Krankheit. Unser Körper ist eine Maschine zum Leben. Für diesen Zweck ist er eingerichtet; das ist seine Natur. Man lasse im Körper das Leben einfach in Ruhe, damit es sich darin selbst schützt; dann wird es mehr ausrichten, als wenn man es durch Überfüllung mit Medikamenten lähmt. Unser Körper ist gleichsam eine vorzügliche Uhr, die eine bestimmte Zeitlang gehen kann; aber der Uhrmacher besitzt nicht die Fähigkeit, sie zu öffnen; er kann sie nur tastend und mit verbundenen Augen behandeln … Unser Körper ist eine Maschine zum Leben. Das ist die Sache!«
Und da er nun anscheinend in das Definieren, eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, hineingeraten war, stellte er auf einmal unerwarteterweise noch eine andere Definition auf.
»Wissen Sie, Rapp«, fragte er, »was die Kriegskunst ist? Die Kunst, in einem bestimmten Augenblick stärker zu sein als der Feind, weiter nichts.«
Rapp gab keine Antwort.
»Morgen werden wir mit Kutusow zu tun haben«, sagte Napoleon. »Nun, wir wollen sehen. Erinnern Sie sich noch: er kommandierte in Braunau eine Armee, setzte sich aber in drei Wochen nicht ein einziges Mal aufs Pferd, um die Befestigungen zu besichtigen. Nun, wir wollen sehen!«
Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war erst vier. Schlafen mochte er nicht; der Punsch war ausgetrunken, und zu tun war nichts mehr. Er stand auf, ging auf und ab, zog einen warmen Oberrock an, setzte den Hut auf und trat aus dem Zelt hinaus. Die Nacht war dunkel und feucht; eine kaum spürbare Feuchtigkeit senkte sich von oben herab. Wachfeuer brannten trübe in der Nähe, bei der französischen Garde, und schimmerten in der Ferne durch den Rauch bei der russischen Linie. Durch die überall herrschende Stille hörte man deutlich das dumpfe Geräusch und Getrappel der französischen Truppen, die sich bereits in Bewegung setzten, um ihre Position einzunehmen.
Napoleon ging vor dem Zelt hin und her, betrachtete die Feuer, horchte auf das Getrappel, und als er bei einem großen Gardisten mit zottiger Mütze vorbeikam, der bei dem kaiserlichen Zelt Posten stand und beim Erscheinen des Kaisers wie ein schwarzer Pfahl sich geradereckte, blieb Napoleon vor ihm stehen.
»Seit welchem Jahr bist du im Dienst?« fragte er in jenem derb-freundlichen Soldatenton, in dem er immer mit den Soldaten verkehrte und den er daher gut zu treffen wußte.
Der Soldat antwortete ihm.
»Ah, einer von den alten! Habt ihr in eurem Regiment Reis bekommen?«
»Jawohl, Euer Majestät.«
Napoleon nickte mit dem Kopf und entfernte sich von ihm.
Um halb sechs Uhr ritt Napoleon nach dem Dorf Schewardino. Es fing an hell zu werden; der Himmel hatte sich aufgeklärt; nur im Osten lagerte eine einzelne dunkle Wolke. Die verlassenen Wachfeuer glimmten im schwachen Morgenlicht.
Von rechts her ertönte ein einzelner dumpfer Kanonenschuß; der Schall verbreitete sich und erstarb dann in der allgemeinen Stille. Es vergingen einige Minuten. Dann ertönte ein zweiter, ein dritter Schuß; die Luft geriet in eine schwankende Bewegung; ein vierter und ein fünfter erschollen mit einem gewissermaßen feierlichen Klang irgendwo in der Nähe rechts.
Noch waren die ersten Schüsse nicht verhallt, als noch andere und immer wieder andere ertönten, deren Klänge zusammenflossen und einander unterbrachen.
Napoleon ritt mit seiner Suite nach der Schanze von Schewardino und stieg vom Pferd. Das Spiel begann.
XXX
Nachdem Pierre vom Fürsten Andrei nach Gorki zurückgekehrt war, befahl er dem Reitknecht, die Pferde bereitzuhalten und ihn am andern Morgen früh zu wecken, und schlief dann hinter der Halbwand in dem Winkelchen, das ihm Boris überlassen hatte, sofort ein.
Als er am andern Morgen erwachte, war niemand mehr in dem Häuschen anwesend. Die Scheiben in den kleinen Fenstern zitterten. Der Reitknecht stand vor ihm und rüttelte ihn.
»Euer Erlaucht, Euer Erlaucht, Euer Erlaucht …«, rief der Reitknecht, indem er ihn beharrlich an der Schulter schüttelte; er sah ihn dabei gar nicht an und hatte offenbar schon die Hoffnung verloren, ihn noch wach zu bekommen.
»Was ist? Hat es angefangen? Ist es Zeit?« fragte Pierre, als er zu sich gekommen war.
»Hören Sie nur das Schießen«, sagte der Reitknecht, ein ehemaliger Soldat. »Die Herren sind schon alle weg; der Durchlauchtige selbst ist schon längst vorbeigeritten.«
Pierre kleidete sich schnell an und lief vor die Haustür. Draußen war es hell, frisch, tauig und vergnüglich. Die Sonne, die soeben hinter einer Wolke hervorbrach, von der sie bis dahin verdeckt gewesen war, ergoß ihre zur Hälfte noch von der Wolke gebrochenen Strahlen über die Dächer der gegenüberliegenden Straßenseite hin auf den betauten Staub des Weges, auf die Wände und Fenster der Häuser, auf die Zäune und auf Pierres Pferde, die bei dem Haus standen. Der Kanonendonner war hier draußen deutlicher zu hören. Auf der Straße trabte ein Adjutant mit einem Kosaken vorüber.
»Es ist Zeit, Graf, es ist Zeit!« rief der Adjutant.
Pierre befahl dem Reitknecht, ihm die Pferde nachzubringen, und ging zu Fuß auf der Straße nach dem Hügel, von dem er tags zuvor das Schlachtfeld betrachtet hatte. Auf diesem Hügel befand sich eine Anzahl von Militärs; man konnte das französische Gespräch der Stabsoffiziere hören und sah Kutusows grauen Kopf mit der weißen, rotbesetzten Mütze und dem in den Schultern versinkenden Nacken. Kutusow schaute durch ein Fernrohr nach vorn, die große Landstraße entlang.
Als Pierre die Stufen hinangestiegen war, die zu dem Hügel hinaufführten, blickte er gleichfalls nach vorn und stand starr vor Entzücken über die Schönheit dieses Schauspiels. Es war dasselbe Panorama, das er am vorhergehenden Tag von diesem Hügel aus mit lebhaftem Interesse betrachtet hatte; aber jetzt war dieses ganze Terrain von Truppen und den Rauchwolken der Schüsse bedeckt, und die schrägen Strahlen der hellen Sonne, die links hinter Pierre emporstieg, breiteten in der reinen Morgenluft ein scharfes Licht mit einem goldig-rötlichen Schimmer darüber aus und ließen lange, dunkle Schatten entstehen. Die fernen Wälder, die das Panorama abschlossen, sahen aus, als wären sie aus einem kostbaren gelblichgrünen Stein geschnitten, und zeichneten sich mit der geschweiften Umrißlinie ihrer Wipfel am Horizont ab; und zwischen ihnen zog sich hinter Walujewo die große Smolensker Landstraße dahin, die ganz mit Truppen bedeckt war. Mehr in der Nähe lagen goldig schimmernde Felder und kleine grüne Gehölze. Überall, geradeaus und rechts und links, waren Truppen zu sehen. Alles war voller Leben, großartig, überraschend; aber was den allergrößten Eindruck auf Pierre machte, das war der Anblick des Schlachtfeldes selbst, des Dorfes Borodino und des schluchtenreichen Terrains zu beiden Seiten der Kolotscha.
Über der Kolotscha, über Borodino und zu beiden Seiten dieses Dorfes, besonders links, da wo zwischen sumpfigen Ufern die Woina sich in die Kolotscha ergießt, lag jener Nebel, der beim Hervortreten der hellen Sonne zergeht, auseinanderfließt, das Licht hindurchläßt und allem, was durch ihn hindurch sichtbar wird, zauberhafte Farben und Umrisse verleiht. Zu diesem Nebel gesellte sich der Rauch der Schüsse, und in diesem Nebel und Rauch blitzten überall die Reflexe des Morgenlichtes: hier auf dem Wasser, da im Tau, dort an den Bajonetten der Truppen, die sich an den Ufern und in Borodino drängten. Durch diesen Nebel hindurch wurde die weiße Kirche von Borodino sichtbar, stellenweise auch Hausdächer, dichte Massen von Soldaten, grüne Munitionskasten, Geschütze. Und alles dies bewegte sich oder schien sich zu bewegen, weil Nebel und Rauch über diesen ganzen Raum sachte hinzogen. Wie in diesen von Nebel bedeckten Niederungen bei Borodino, so entstanden auch außerhalb dieses Terrains, höher hinauf und namentlich nach links hin, auf der ganzen Linie, bei den Wäldern und auf den Feldern, in den Niederungen und auf den Anhöhen, fortwährend, gleichsam von selbst aus dem Nichts, bald einzeln bald gruppenweise, bald selten bald häufig, Rauchballen von Kanonenschüssen; anschwellend, sich ausdehnend, aufwirbelnd, zusammenfließend erfüllten sie den ganzen weiten Raum.
Diese Rauchwolken von den Schüssen und, so sonderbar es klingen mag, der Schall der Schüsse bildeten den Hauptreiz dieses Schauspiels.
Puff! Plötzlich erschien eine rundliche, dichte, aus den Farben Lila, Grau und Milchweiß bestehende Rauchwolke, und bum! ertönte einen Augenblick darauf der zu dieser Rauchwolke gehörige Schall.
Puff, puff! Es erhoben sich zwei Rauchwolken, stießen zusammen und flossen ineinander; und bum, bum! bestätigte der Schall das, was das Auge gesehen hatte.
Pierre sah sich wieder nach der ersten Rauchwolke um, die, als er die Augen von ihr abgewandt hatte, ein rundliches, dichtes Bällchen gewesen war; aber jetzt befanden sich an ihrer Stelle bereits mehrere Klumpen von seitwärts ziehendem Rauch; und puff … (mit einer Pause), puff, puff! erschienen noch drei, noch vier andere Rauchwolken, und auf jede von ihnen antworteten in denselben Abständen bum … bum, bum! schöne, volle, kräftige Töne. Bald schien es, als ob diese Rauchwolken davonzögen, bald, als ob sie stillständen und die Wälder, Felder und glänzenden Bajonette an ihnen vorbeiliefen. Zur Linken auf den Feldern und in den Gebüschen bildeten sich unaufhörlich diese großen Rauchwolken mit ihrem feierlichen Hall, und in größerer Nähe in den Niederungen und bei den Wäldern stiegen von Flintenschüssen kleine Rauchwölkchen empor, die nicht dazu gelangten, eine Kugelgestalt anzunehmen, jedoch gleichfalls von einem wenn auch nur mäßigen Schall gefolgt waren. Trach-ta-ta-tach, knatterte das Flintenfeuer, zwar häufig, aber unregelmäßig und ärmlich im Vergleich zu den Kanonenschüssen.
Pierre wäre gern dort gewesen, wo diese Rauchwolken, diese blitzenden Bajonette, diese Bewegung und diese Töne waren. Er sah sich nach Kutusow und seinem Gefolge um, um seine eigene Empfindung mit der der andern zu vergleichen. Alle blickten sie ganz so wie er und, wie es ihm schien, mit demselben Gefühl vorwärts nach dem Schlachtfeld hin. Auf allen Gesichtern leuchtete jetzt jene »latente Wärme« der Empfindung, die Pierre gestern bemerkt hatte und über die er nach seinem Gespräch mit dem Fürsten Andrei vollständig ins klare gekommen war.
»Reite hin, mein Lieber, reite hin; Christus sei mit dir!« sagte Kutusow, ohne die Augen von dem Schlachtfeld wegzuwenden, zu einem neben ihm stehenden General.
Nachdem er den Befehl gehört hatte, ging dieser General an Pierre vorbei nach der Stelle hin, wo sich der Abstieg von dem Hügel befand.
»Zur Übergangsstelle!« antwortete der General kühl und ernst auf die Frage eines Stabsoffiziers, wohin er sich begebe.
»Da will ich auch hin, da will ich auch hin!« dachte Pierre und ging hinter dem General her.
Der General bestieg das Pferd, das ihm ein Kosak vorführte. Pierre begab sich zu seinem Reitknecht, der seine Pferde hielt. Er befragte diesen, welches das frommste sei, stieg hinauf, hielt sich an der Mähne, drückte die Hacken der auswärts gedrehten Füße gegen den Leib des Pferdes und sprengte so, obgleich er fühlte, daß ihm die Brille herunterrutschte und daß er nicht imstande war, die Hände von der Mähne und den Zügeln wegzunehmen, hinter dem General her, wodurch er bei den Stabsoffizieren, die ihm von dem Hügel aus nachsahen, ein Lächeln hervorrief.
XXXI
Der General, hinter welchem Pierre herjagte, wandte sich, sobald er an den Fuß des Berges gelangt war, scharf nach links, und Pierre, der ihn aus den Augen verloren hatte, sprengte in die Reihen einer vor ihm her marschierenden Infanteriekolonne hinein. Er versuchte, bald nach vorn, bald nach rechts, bald nach links sich wieder hinauszuarbeiten; aber überall waren Soldaten mit gleichmäßig ernsten Gesichtern, denen man es ansah, daß die Gedanken dieser Menschen mit einer nicht unmittelbarm sichtbaren, aber wichtigen Sache beschäftigt waren. Alle blickten sie mit dem gleichen unwillig fragenden Ausdruck nach diesem dicken Menschen mit dem weißen Hut hin, der sie ohne vernünftigen Grund in Gefahr brachte, von seinem Pferd getreten zu werden.
»Warum reiten Sie denn da mitten im Bataillon?« schrie ihn einer an. Ein anderer stieß Pierres Pferd mit dem Kolben, und Pierre, der sich an den Sattelbogen drückte und nur mit Mühe sein scheuendes Pferd zu halten vermochte, jagte nach vorn aus der Truppe hinaus, wo freier Raum war.
Vor ihm war eine Brücke, und an der Brücke standen andere Soldaten und schossen. Pierre ritt zu ihnen heran. So gelangte er, ohne sich selbst darüber klarzuwerden, zu der Kolotscha-Brücke, die zwischen Gorki und Borodino lag und die die Franzosen jetzt in dem ersten Teil der Schlacht (nach der Besetzung von Borodino) angriffen. Pierre sah, daß vor ihm eine Brücke war und daß auf beiden Seiten der Brücke und auf der Wiese, wo das Heu in Schwaden lag, Soldaten irgend etwas taten; aber trotz des keinen Augenblick verstummenden Schießens, das an dieser Stelle stattfand, glaubte er keineswegs, daß dies hier wirklich das Schlachtfeld sei. Er hörte nicht die Töne der auf allen Seiten vorüberpfeifenden Flintenkugeln und der über ihn wegfliegenden Kanonenkugeln; er sah nicht den jenseits des Flusses stehenden Feind und bemerkte lange Zeit die Getöteten und Verwundeten nicht, obgleich viele nicht weit von ihm entfernt fielen. Mit einem Lächeln, das nicht von seinem Gesicht wich, blickte er umher.
»Was hat denn der da vor der Linie umherzureiten?« schrie ihn wieder einer an.
»Nach links reiten! Nach rechts reiten!« wurde ihm zugerufen.
Pierre ritt nach rechts und stieß unvermutet mit einem ihm bekannten Adjutanten des Generals Rajewski zusammen. Dieser Adjutant warf Pierre einen zornigen Blick zu und schickte sich offenbar an, ihn gleichfalls anzuschreien; aber nachdem er ihn erkannt hatte, nickte er ihm freundlich zu.
»Wie kommen Sie denn hierher?« sagte er und ritt weiter.
Pierre, der das Gefühl hatte, daß er hier nicht hingehöre und hier nichts anfangen könne, und wieder jemandem hinderlich zu sein fürchtete, ritt dem Adjutanten nach.
»Was geht denn hier vor? Kann ich mit Ihnen mitreiten?« fragte er.
»Sofort, sofort!« antwortete der Adjutant, sprengte zu einem dicken Obersten hin, der auf der Wiese stand, überbrachte ihm einen Auftrag und wandte sich dann erst zu Pierre.
»Warum sind Sie denn hierhergekommen, Graf?« fragte er ihn lächelnd. »Aus lauter Wißbegierde?«
»Jawohl«, antwortete Pierre.
Aber der Adjutant wendete sein Pferd und ritt weiter.
»Hier steht es ja, Gott sei Dank, gut«, sagte er. »Aber auf dem linken Flügel bei Bagration ist ein schrecklicher Kampf im Gange.«
»Wirklich?« fragte Pierre. »Wo ist denn das?«
»Reiten Sie mit mir dort auf den Hügel. Von uns aus können Sie es sehen. Bei uns in der Batterie ist es noch erträglich«, sagte der Adjutant. »Wie ist’s? Kommen Sie mit?«
»Ja, ich komme mit Ihnen«, antwortete Pierre und sah sich suchend nach seinem Reitknecht um.
Erst jetzt erblickte Pierre zum erstenmal Verwundete, die sich teils zu Fuß fortschleppten, teils auf Bahren getragen wurden. Auf jener selben kleinen Wiese mit den duftenden Heuschwaden, über die er tags zuvor geritten war, lag quer über den Schwaden unbeweglich ein Soldat; der Kopf, von dem der Tschako herabgefallen war, hing in unnatürlicher Haltung herunter.
»Warum ist denn der Mann nicht aufgehoben?« wollte Pierre fragen; aber als er das finstere Gesicht des Adjutanten sah, der nach derselben Seite hinblickte, hielt er inne.
Pierre hatte seinen Reitknecht nicht gefunden und ritt mit dem Adjutanten durch die Niederung in einem Hohlweg nach dem Rajewski-Hügel. Sein Pferd blieb hinter dem des Adjutanten zurück und versetzte ihm in gleichmäßigem Tempo schüttelnde Stöße.
»Sie sind das Reiten wohl nicht gewöhnt, Graf?« fragte der Adjutant.
»Nein, ich bin kein besonderer Reiter; aber das Pferd springt auch so eigentümlich«, antwortete Pierre verwundert.
»Ah, ah! Es ist ja verwundet«, sagte der Adjutant. »Das rechte Vorderbein, über dem Knie. Gewiß von einer Kugel. Ich gratuliere Ihnen, Graf, zur Feuertaufe.«
Nachdem sie in dichtem Pulverrauch durch das sechste Korps geritten waren, hinter der Artillerie, die, nach vorn gezogen, aus ihren Geschützen ein betäubendes Feuer unterhielt, gelangten sie zu einem kleinen Wald. In dem Wald war es kühl und still, und es roch herbstlich. Pierre und der Adjutant stiegen von den Pferden und gingen zu Fuß bergauf.
»Ist der General hier?« fragte der Adjutant, als sie an die oberste Kuppe gelangt waren.
»Eben war er noch hier; er ist dorthin geritten«, antworteten ihm die Soldaten und wiesen dabei nach rechts.
Der Adjutant sah sich nach Pierre um, als wüßte er nicht, was er nun mit ihm anfangen sollte.
»Lassen Sie sich durch mich von nichts abhalten«, sagte Pierre. »Ich werde auf die Kuppe hinaufsteigen; darf ich?«
»Ja, steigen Sie nur hinauf; von da ist alles zu sehen, und es ist nicht besonders gefährlich. Ich hole Sie nachher wieder ab.«
Pierre ging zu der Batterie hinauf, und der Adjutant ritt weiter. Sie sahen einander nicht mehr wieder, und erst lange nachher erfuhr Pierre, daß dem Adjutanten an diesem Tag ein Arm weggerissen worden war.
Die Kuppe, auf die Pierre hinaufstieg, war jene berühmte Schanze, die nachher bei den Russen unter dem Namen »Hügelbatterie« oder »Rajewski-Batterie« und bei den Franzosen unter dem Namen »die große Redoute«, »die verhängnisvolle Redoute«, »die Redoute des Zentrums« bekannt wurde, jener Ort, um den herum sehr bedeutende Truppenmassen aufgestellt waren und den die Franzosen für den wichtigsten Punkt der Position hielten.
Diese Redoute bestand aus einer Kuppe, bei der auf drei Seiten Gräben gezogen waren. Auf dem von den Gräben eingeschlossenen Platz standen zehn feuernde Kanonen, die in die Öffnungen der Wälle vorgezogen waren.
In einer Linie mit der Kuppe standen auf beiden Seiten noch andere Kanonen, die ebenfalls unaufhörlich schossen. Ein wenig hinter den Kanonen war Infanterie aufgestellt. Als Pierre diese Kuppe betrat, glaubte er in keiner Weise, daß dieser mit kleinen Gräben umschlossene Raum, auf dem ein paar Kanonen standen und schossen, der wichtigste Punkt des Schlachtfeldes sei.
Im Gegenteil schien es ihm, daß dieser Platz (gerade deshalb, weil er selbst sich dort befand) einer der bedeutungslosesten des Schlachtfeldes sei.
Nachdem Pierre auf die Kuppe gekommen war, setzte er sich am Ende des Grabens nieder, der die Batterie umschloß, und betrachtete mit einem unwillkürlichen frohen Lächeln das, was um ihn herum vorging. Ab und zu stand er, immer mit demselben Lächeln, auf und ging in der Batterie umher, wobei er sich bemühte, den Soldaten nicht hinderlich zu sein, die die Geschütze luden und zurechtschoben und fortwährend mit Kartuschbeuteln und Geschossen an ihm vorbeiliefen. Die Kanonen dieser Batterie schossen unaufhörlich eine nach der andern mit betäubendem Krachen und hüllten alles ringsumher in Pulverdampf.
Im Gegensatz zu der Beklommenheit, die sich bei den Infanteristen der Bedeckung fühlbar machte, herrschte hier auf der Batterie, wo eine kleine Anzahl von Menschen von den andern durch einen Graben abgegrenzt und getrennt und ganz von ihrer Tätigkeit in Anspruch genommen war, eine gleichmäßige, allgemeine Lebhaftigkeit und ein Gefühl, als ob sie alle eine Familie bildeten.
Das Erscheinen der unmilitärischen Gestalt Pierres mit seinem weißen Hut hatte diese Leute anfangs überrascht und ihr Mißfallen erregt. Die Soldaten, die an ihm vorbeikamen, schielten erstaunt und sogar scheu nach seiner Figur hin. Der Artillerieoberst, ein älterer, großer, langbeiniger, pockennarbiger Mann, kam, wie wenn er die Wirkung des am Ende der Reihe stehenden Geschützes beobachten wollte, in Pierres Nähe und musterte ihn neugierig.
Ein blutjunger Offizier mit rundem Gesicht, noch völlig Kind und offenbar eben erst aus dem Kadettenkorps entlassen, der mit großem Eifer bei den beiden ihm überwiesenen Kanonen Anordnungen erteilte, wandte sich mit strenger Miene zu Pierre.
»Mein Herr, gestatten Sie, daß ich Sie ersuche, aus dem Weg zu gehen«, sagte er. »Hier dürfen Sie nicht stehen.«
Auch die Soldaten sahen Pierre mißbilligend an und schüttelten die Köpfe.
Aber als alle sich allmählich überzeugt hatten, daß dieser Mensch mit dem weißen Hut nichts Übles tat, sondern entweder friedlich auf der Böschung des Walles saß oder schüchtern lächelnd und vor den Soldaten höflich zur Seite tretend in der Batterie unter den Schüssen so ruhig umherwanderte wie auf einem Boulevard, da ging nach und nach das Gefühl mißgünstiger Verwunderung über ihn in ein freundliches, scherzhaftes Interesse über, ähnlich dem, das die Soldaten für ihre Tiere hegen: für die Hunde, Hähne, Ziegen und sonstigen Tiere, die bei den Truppen gehalten werden. Diese Soldaten nahmen nun Pierre unverzüglich in ihre Familie auf, betrachteten ihn als den Ihrigen und gaben ihm einen Spitznamen. »Unser gnädiger Herr« nannten sie ihn und lachten vergnügt über ihn untereinander.
Eine Kanonenkugel wühlte zwei Schritte von Pierre entfernt die Erde auf. Er klopfte sich von den Kleidern die Erde ab, die ihm die Kugel daraufgespritzt hatte, und blickte lächelnd um sich.
»Fürchten Sie sich denn gar nicht, gnädiger Herr? Wahrhaftig wunderbar!« wandte sich ein stämmiger Soldat mit rotem Gesicht an Pierre und zeigte, vergnügt grinsend, seine kräftigen, weißen Zähne.
»Nun, fürchtest du dich denn etwa?« fragte Pierre.
»Aber gewiß!« antwortete der Soldat. »So eine Kugel hat kein Mitleid. Wenn die auf einen niederquatscht, drückt sie einem die Därme heraus. Da muß man sich schon fürchten«, sagte er lachend.
Einige Soldaten blieben mit vergnügten, freundlichen Gesichtern bei Pierre stehen. Sie schienen von vornherein erwartet zu haben, daß er anders reden werde wie alle anderen Leute, und die Entdeckung, daß dem wirklich so war, freute sie.
»Wir sind nun einmal Soldaten. Aber so ein vornehmer Herr, das ist erstaunlich! So einen vornehmen Herrn findet man selten!«
»An die Plätze!« rief der junge Offizier den Soldaten zu, die sich um Pierre angesammelt hatten.
Dieser junge Offizier verrichtete seinen Dienst offenbar erst zum ersten- oder zweitenmal und benahm sich deshalb den Soldaten und den Vorgesetzten gegenüber mit besonderer Akkuratesse und Förmlichkeit.
Das stetig rollende Donnern der Kanonenschüsse und das Knattern des Gewehrfeuers verstärkte sich über das ganze Feld hin, und namentlich zur Linken, da, wo sich die Pfeilschanzen Bagrations befanden; aber wegen des Rauches der Schüsse war von Pierres Standplatz aus fast nichts zu sehen. Außerdem nahm die Beobachtung dieses sozusagen Familienkreises, den die von allen andern abgetrennten Leute in der Batterie bildeten, Pierres ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Die erste unwillkürlich freudige Erregung, die der Anblick und die Töne des Schlachtfeldes bei ihm hervorgerufen hatten, war jetzt, namentlich nach dem Anblick des allein auf der Wiese liegenden Soldaten, von einem anderen Gefühl abgelöst worden. Während er jetzt auf der Böschung des Grabens saß, beobachtete er die ihn umgebenden Personen.
Um zehn Uhr waren bereits gegen zwanzig Mann aus der Batterie weggetragen; zwei Geschütze waren zerschossen, und immer häufiger fielen in der Batterie Kanonenkugeln nieder und kamen summend und pfeifend von fernher Flintenkugeln hereingeflogen. Aber die Leute in der Batterie schienen das gar nicht zu bemerken; auf allen Seiten waren heitere Gespräche und Scherze zu hören.
»Eine gefüllte!« schrie ein Soldat mit Bezug auf eine Granate, die pfeifend herbeigeflogen kam.
»Sie kommt nicht hierher! Zur Infanterie!« fügte lachend ein anderer hinzu, als er bemerkte, daß die Granate vorüberflog und in die Reihen der Bedeckungsmannschaft einschlug.
»Das ist wohl eine gute Bekannte von dir, daß du dich so verbeugst?« sagte ein anderer Soldat lachend zu einem Bauern, der sich beim Vorbeifliegen einer Kanonenkugel duckte.
Einige Soldaten sammelten sich am Wall und betrachteten, was da vorn, beim Feind, geschah.
»Auch die Vorpostenkette haben sie zurückgenommen, siehst du wohl; sie sind zurückgegangen«, sagten sie, über den Wall hinüberweisend.
»Kümmert euch um das, was ihr zu tun habt!« schrie sie ein alter Unteroffizier an. »Wenn sie zurückgegangen sind, dann müssen wir ihnen von hinten nachhelfen.«
Der Unteroffizier faßte einen der Soldaten von hinten an den Schultern und stieß ihn mit dem Knie. Die Umstehenden lachten.
»An das fünfte Geschütz! Rückt es vor!« wurde von der einen Seite gerufen.
»Zugleich, alle mit einemmal, wie die Schiffsknechte!« schrien die Soldaten fröhlich, während sie die Kanone vorschoben.
»Ei, sieh mal, die hätte unserm gnädigen Herrn beinah den Hut vom Kopf geschlagen«, rief der Spaßmacher mit dem roten Gesicht, sich über Pierre lustig machend, und zeigte lachend seine Zähne. »Ach, du ungeschicktes Ding!« fügte er vorwurfsvoll für die Kugel hinzu, die auf ein Rad und auf das Bein eines Menschen gefallen war.
»Nun, ihr Füchse? Kommt ihr geschlichen?« redete ein anderer lachend die Landwehrleute an, die in gebückter Haltung in die Batterie kamen, um den Verwundeten zu holen.
»Was macht ihr denn für Gesichter? Euch schmeckt wohl die Grütze nicht? Ach, ihr Maulaffen, ihr steht ja wie die Holzklötze da!« riefen die Soldaten den Landwehrleuten zu, die vor dem Soldaten mit dem abgeschossenen Bein unschlüssig stehenblieben.
»Ja, ja, Kinderchen!« neckte man die Bauern. »Das will euch nicht gefallen!«
Pierre bemerkte, daß nach jeder einschlagenden Kanonenkugel, nach jedem Verlust die allgemeine Lebhaftigkeit und Fröhlichkeit immer mehr aufflammte.
Wie aus einer heranziehenden Gewitterwolke, so zuckten auf den Gesichtern aller dieser Menschen (gleichsam dem, was sich da vollzog, zum Trotz) immer häufiger und immer heller die Blitze eines verborgen brennenden Feuers auf.
Pierre blickte nicht mehr nach vorn auf das Schlachtfeld und hatte kein Interesse mehr daran, zu erfahren, was dort geschah; er war ganz in die Beobachtung dieses immer mehr und mehr auflodernden Feuers vertieft, das, wie er fühlte, ganz ebenso auch in seiner eigenen Seele brannte.
Um zehn Uhr zog sich die feindliche Infanterie, die der Batterie gegenüber in den Büschen und an dem Flüßchen Kamenka gestanden hatte, zurück. Man konnte von der Batterie aus sehen, wie sie an ihm entlang zurückliefen und dabei ihre Verwundeten auf den Flinten trugen. Ein General mit seiner Suite kam auf die Kuppe, redete ein paar Worte mit dem Obersten, warf Pierre einen ärgerlichen Blick zu und stieg dann wieder hinunter, nachdem er noch der Infanterie, die als Bedeckung hinter der Batterie stand, befohlen hatte, sich hinzulegen, um den Kugeln weniger ausgesetzt zu sein. Bald darauf hörte man bei der Infanterie rechts von der Batterie Trommeln und Kommandorufe und konnte von der Batterie aus sehen, wie die Reihen der Infanterie sich vorwärts in Marsch setzten.
Pierre blickte über den Wall. Ein einzelnes Gesicht fiel ihm besonders in die Augen. Es war dies ein Offizier, der mit seinem blassen, jugendlichen Gesicht, den Degen gesenkt haltend, vor seinen Leuten rückwärts ging und sich dabei unruhig umblickte.
Die Reihen der Infanteristen verschwanden im Pulverdampf; man hörte ihr langgezogenes Geschrei und häufiges Gewehrfeuer. Einige Minuten darauf kam eine Menge von Verwundeten, zu Fuß oder auf Tragbahren, von dort zurück. In die Batterie schlugen die Kanonenkugeln noch häufiger ein. Einige Soldaten, die getroffen waren, lagen da, ohne weggeschafft zu werden. Die Mannschaft bewegte sich in noch lebhafterer Geschäftigkeit um die Kanonen. Niemand kümmerte sich mehr um Pierre. Ein paarmal wurde er zornig angeschrien, weil er im Weg wäre. Der Oberst, der ein sehr finsteres Gesicht machte, ging mit großen, schnellen Schritten von einem Geschütz zum andern. Der junge Offizier, dessen Gesicht sich noch mehr gerötet hatte, erteilte den Soldaten seine Befehle mit noch größerem Eifer. Die Soldaten tummelten sich hurtig, reichten die Geschosse hin, luden und erfüllten ihre Aufgabe mit stolzem Selbstbewußtsein. Sie gingen so elastisch wie auf Sprungfedern.
Die Gewitterwolke war herangerückt, und hell brannte auf allen Gesichtern jenes Feuer, dessen Aufflammen Pierre verfolgt hatte. Er stand neben dem Obersten. Der junge Offizier kam zu dem Obersten herangelaufen, die Hand am Tschako.
»Ich habe die Ehre zu melden, Herr Oberst, daß nur noch acht Ladungen vorhanden sind. Befehlen Sie, das Feuer fortzusetzen?«
»Kartätschen!« schrie der Oberst nach einem Blick über den Wall, ohne auf die Frage zu antworten.
Plötzlich begab sich etwas: der junge Offizier stöhnte auf, krümmte sich zusammen und setzte sich auf die Erde wie ein im Flug geschossener Vogel. Pierre hatte die Empfindung, daß sich vor seinen Augen alles in seltsamer Weise verwandle, undeutlich und trübe werde.
In rascher Folge kamen Kanonenkugeln pfeifend geflogen und schlugen in die Brustwehr, in die Mannschaft und in die Geschütze ein. Pierre, der früher nicht auf diese Töne hingehört hatte, hörte jetzt weiter nichts als sie. Seitwärts von der Batterie, zur Rechten, liefen Soldaten mit Hurrageschrei nicht vorwärts, sondern zurück, wie es Pierre vorkam.
Eine Kanonenkugel schlug gerade in den Rand des Walles, bei dem Pierre stand, schüttete eine Menge Erde herunter, huschte vor seinen Augen wie ein schwarzer Ball vorbei und klatschte in demselben Augenblick in etwas hinein. Die Landwehrleute, die gerade in die Batterie hereinkommen wollten, liefen wieder zurück.
»Alle mit Kartätschen!« schrie der Oberst.
Ein Unteroffizier kam zu ihm gelaufen und flüsterte ihm ängstlich zu (in der Art, wie bei einem Diner der Haushofmeister dem Hausherrn meldet, daß von der gewünschten Sorte Wein nichts mehr da ist), es sei keine Munition mehr vorhanden.
»Die Halunken, was machen sie mir für Geschichten!« schrie der Oberst, sich zu Pierre umwendend.
Das Gesicht des Obersten war rot und von Schweiß bedeckt; seine finster blickenden Augen blitzten.
»Lauf zur Reserve und hole die Munitionskasten!« schrie er, indem er zornig mit seinem Blick Pierre vermied und sich an seinen Untergebenen wandte.
»Ich werde hingehen«, sagte Pierre.
Ohne ihm zu antworten, ging der Oberst mit großen Schritten nach der andern Seite.
»Nicht schießen! Warten!« rief er.
Der Unteroffizier, dem befohlen war Munition zu holen, stieß mit Pierre zusammen.
»Ach, gnädiger Herr, das ist für dich hier nicht der richtige Platz«, sagte er und lief bergab.
Pierre lief ihm nach, indem er im Bogen die Stelle umging, wo der junge Offizier saß.
Eine Kugel, eine zweite, eine dritte flogen über ihn hin und schlugen vor ihm, neben ihm, hinter ihm ein. Pierre lief hinunter. »Wohin laufe ich eigentlich?« fragte er sich auf einmal, als er schon zu den grünen Munitionskasten gekommen war. Er blieb stehen, unschlüssig, ob er zurück- oder vorwärtsgehen solle. Plötzlich warf ihn ein furchtbarer Stoß rückwärts auf die Erde. In demselben Augenblick beleuchtete ihn der Glanz eines großen Feuers, und gleichzeitig erscholl ein betäubendes, in den Ohren dröhnendes Donnern, Krachen und Pfeifen.
Als Pierre wieder zu sich kam, saß er auf der Erde, auf die er sich mit den Händen stützte; der Munitionskasten, neben dem er gestanden hatte, war nicht mehr da; nur angekohlte grüne Bretter und Lappen lagen auf dem versengten Gras umher, und das eine Pferd jagte, mit den Trümmern der Gabeldeichsel um sich schlagend, von ihm weg, das andere lag, ebenso wie Pierre selbst, auf der Erde und stieß ein durchdringendes, langgezogenes Kreischen aus.
XXXII
Pierre, der vor Angst nicht wußte, was er tat, sprang auf und lief auf die Batterie zurück, als nach dem einzigen Zufluchtsort vor all den Schrecken, die ihn umgaben.
In dem Augenblick, als Pierre in die Verschanzung hineintrat, bemerkte er, daß in der Batterie kein Schießen mehr zu hören war, daß aber irgendwelche Leute da irgend etwas taten. Pierre begriff nicht sogleich, was das für Leute waren. Er erblickte den alten Obersten, der, ihm die Rückseite zuwendend, auf dem Wall lag, als ob er da unten etwas betrachtete, und sah, wie ein Soldat, dessen er sich von vorhin erinnerte, sich von Leuten, die ihn am Arm hielten, loszureißen suchte und dabei schrie: »Brüder …!« Und so sah er noch manches Seltsame.
Aber er hatte es sich in seinen Gedanken noch nicht zurechtgelegt, daß der Oberst tot war und daß der Soldat, der da »Brüder!« rief, gefangengenommen wurde, und daß vor seinen Augen ein anderer Soldat mit dem Bajonett von hinten erstochen wurde, als, unmittelbar nachdem er in die Verschanzung hereingelaufen war, ein hagerer, gelblicher Mann mit schweißbedecktem Gesicht, in blauer Uniform, mit dem Degen in der Hand, auf ihn zugelaufen kam und ihm etwas zuschrie. Pierre, der sich instinktiv gegen den Stoß wehrte, da sie unversehens gegeneinanderrannten, streckte die Hände vor und packte diesen Menschen (es war ein französischer Offizier) mit der einen Hand an der Schulter, mit der andern an der Kehle. Der Offizier ließ seinen Degen fallen und ergriff Pierre am Kragen.
Ein paar Sekunden lang starrten sie beide mit erschrockenen Augen ein jeder das ihm fremde Gesicht des andern an, und beide waren in Zweifel darüber, was sie taten und was sie nun tun sollten. »Hat er mich gefangengenommen oder ich ihn?« dachte jeder von ihnen. Aber offenbar neigte der französische Offizier mehr zu der Auffassung, daß er gefangengenommen sei, da Pierres starke Hand unter der Einwirkung der unwillkürlichen Furcht ihm immer fester und fester die Kehle zusammendrückte. Der Franzose wollte etwas sagen, als plötzlich ganz niedrig, unmittelbar über ihren Köpfen, mit furchtbarem Pfeifen eine Kanonenkugel hinflog; es schien Pierre, als sei dem französischen Offizier der Kopf abgerissen: so schnell hatte dieser den Kopf niedergebeugt.
Pierre hatte ebenfalls den Kopf geduckt und die Arme sinken lassen. Ohne weiter daran zu denken, wer den andern gefangengenommen habe, liefen sie beide weg, der Franzose in die Batterie zurück, Pierre bergab. Er stolperte dabei über Tote und Verwundete, die ihm, wie es ihm vorkam, nach den Beinen griffen. Aber er war noch nicht an den Fuß der Anhöhe gelangt, als ihm dichte Scharen russischer Soldaten im Laufschritt entgegenkamen, die stolpernd, fallend und schreiend, fröhlich und stürmisch zur Batterie hinaufliefen. (Es war dies jener Angriff, den sich Jermolow zum Ruhm anrechnete, indem er behauptete, nur seiner Tapferkeit und seinem Glück sei es möglich gewesen, diese Großtat auszuführen, jener Angriff, bei dem er, wie es heißt, die Georgskreuze, die er in der Tasche hatte, auf die Hügelkuppe warf.)
Die Franzosen, welche die Batterie eingenommen hatten, flüchteten. Unsere Truppen jagten mit Hurrageschrei den Feind so weit von der Batterie weg, daß es schwer wurde, sie von der Verfolgung wieder abzubringen.
Von der Batterie wurden die Gefangenen weggeführt, darunter ein verwundeter französischer General, den viele russische Offiziere umringten. Scharen von Verwundeten, die Pierre teils kannte, teils nicht kannte, Russen und Franzosen, mit schmerzverzerrten Gesichtern, gingen und krochen von der Batterie weg oder wurden auf Bahren fortgetragen. Pierre betrat wieder die Verschanzung auf der Kuppe, wo er länger als eine Stunde geweilt hatte; aber aus jenem Familienkreis, in den er Aufnahme gefunden hatte, fand er niemand mehr vor. Es lagen dort viele Tote, die er nicht kannte. Aber einige erkannte er. Der junge Offizier saß, immer noch in gleicher Weise zusammengekrümmt, am Rand des Walles in einer Blutlache da. Der Soldat mit dem roten Gesicht zuckte noch; aber niemand schaffte ihn fort.
Pierre lief hinunter.
»Nein, jetzt werden sie damit aufhören; jetzt werden sie erschrecken über das, was sie getan haben!« dachte er, während er ziellos hinter den vielen Tragbahren herging, die vom Schlachtfeld fortgetragen wurden.
Aber die vom Rauch verhüllte Sonne stand noch hoch, und vorn und namentlich auf dem linken Flügel, bei Semjonowskoje, wütete im Pulverrauch noch immer der Kampf, und das Getöse der Kanonenschüsse und des Kleingewehrfeuers wurde nicht nur nicht schwächer, sondern verstärkte sich immer mehr, wie wenn ein Mensch in vollster Verzweiflung mit Aufbietung seiner letzten Kraft schreit.
XXXIII
Der Hauptkampf in der Schlacht bei Borodino spielte sich auf einem Raum von dreitausend Schritten zwischen dem Dorf Borodino und den Pfeilschanzen Bagrations ab. (Außerhalb dieses Raumes wurde auf der einen Seite um Mittag von Uwarows Kavallerie eine Demonstration unternommen, und auf der andern Seite, hinter dem Dorf Utiza, fand ein Zusammenstoß Poniatowskis mit Tutschkow statt; aber dies waren abgesonderte und unbedeutende Aktionen im Vergleich mit dem, was in der Mitte des Schlachtfeldes vorging.) Auf dem Feld zwischen Borodino und den Pfeilschanzen, bei dem Wald, auf einem offenen und von beiden Seiten sichtbaren Terrain, wurde der Hauptkampf in der einfachsten Weise ohne alle List geliefert.
Die Schlacht begann von beiden Seiten mit einer Kanonade aus mehreren hundert Geschützen.
Dann, als der Pulverrauch das ganze Feld bedeckte, setzten sich in diesem Rauch von rechts her (vom französischen Standpunkt aus) die beiden Divisionen Dessaix und Compans gegen die Pfeilschanzen und von links her die Regimenter des Vizekönigs gegen Borodino in Bewegung.
Von der Schanze bei Schewardino, auf der Napoleon stand, waren die Pfeilschanzen in gerader Linie eine Werst, Borodino mehr als zwei Werst entfernt; daher konnte Napoleon nicht sehen, was dort vorging, um so weniger, da der Rauch, der zu dem Nebel hinzugekommen war, die ganze Örtlichkeit verhüllte. Die Soldaten der Division Dessaix, die die Richtung nach den Pfeilschanzen einschlugen, waren nur so lange sichtbar, bis sie in die Schlucht hinabstiegen, die sie von den Pfeilschanzen trennte. Sobald sie in die Schlucht hinabgestiegen waren, wurde der Pulverrauch von den Kanonen- und Flintenschüssen auf den Pfeilschanzen so dicht, daß er den ganzen Aufstieg auf der andern Seite der Schlucht bedeckte. Durch den Rauch hindurch bemerkte man dort zwar flüchtig etwas Schwarzes, wahrscheinlich Menschen, und mitunter das Blitzen von Bajonetten. Aber ob sie sich bewegten oder stillstanden, ob es Franzosen oder Russen waren, das ließ sich von der Schanze von Schewardino aus nicht erkennen.
Die Sonne ging hell und klar auf und schien mit ihren schrägen Strahlen dem Kaiser Napoleon, der unter der vorgehaltenen Hand hervor nach den Pfeilschanzen blickte, gerade ins Gesicht. Der Rauch hatte sich vor den Schanzen ausgebreitet, und bald schien es, daß der Rauch, bald daß die Truppen sich bewegten. Mitunter wurde zwischen den Schüssen das Geschrei von Menschen vernehmbar; aber was sie dort taten, konnte man nicht wissen.
Auf dem Hügel stehend blickte Napoleon durch das Fernrohr und sah in dem kleinen Kreis, den ihm das Fernrohr zeigte, Rauch und Menschen, manchmal seine eigenen Leute, manchmal Russen; aber sobald er wieder mit bloßem Auge hinschaute, wußte er nicht, wo sich das, was er gesehen hatte, befand.
Er stieg von dem Hügel hinunter und begann vor ihm auf und ab zu gehen.
Mitunter blieb er stehen, horchte nach dem Schießen hin und betrachtete das Schlachtfeld.
Weder von der Stelle unten, wo er stand, noch auch von dem Hügel, wo jetzt mehrere seiner Generale Stellung genommen hatten, ja nicht einmal von den Pfeilschanzen selbst, auf denen sich jetzt zugleich oder abwechselnd bald Russen, bald Franzosen befanden, Tote, Verwundete und Lebende, erschrockene oder rasende Soldaten: von keiner dieser Stellen aus war es möglich, das, was an diesem Platz geschah, zu verstehen. Im Laufe mehrerer Stunden erschienen an dieser Stelle unter nie verstummendem Kanonen- und Gewehrfeuer bald Russen, bald Franzosen, bald Infanterie, bald Kavallerie; sie erschienen, fielen, schossen, stießen aufeinander, ohne zu wissen, was sie miteinander anfangen sollten, schrien und liefen wieder zurück.
Vom Schlachtfeld kamen unaufhörlich zu Napoleon Adjutanten und Ordonnanzen, die von seinen Marschällen abgeschickt waren, mit Meldungen über den Gang des Kampfes herangesprengt; aber alle diese Meldungen waren falsch: erstens weil es in der Hitze des Gefechts unmöglich ist, zu sagen, was in einem bestimmten Augenblick vorgeht; zweitens weil viele Adjutanten gar nicht bis zu dem wirklichen Kampfplatz hingeritten waren, sondern nur berichteten, was sie von andern gehört hatten; drittens weil, während der Adjutant die zwei, drei Werst zurücklegte, die ihn von Napoleon trennten, sich oft die Umstände geändert hatten und die Nachricht, die er überbrachte, bereits falsch geworden war. So z.B. kam von dem Vizekönig ein Adjutant mit der Nachricht herbeigesprengt, Borodino sei genommen, und die Brücke über die Kolotscha befinde sich in den Händen der Franzosen. Der Adjutant fragte den Kaiser, ob er befehle, daß die Truppen hinübergingen. Napoleon befahl, sie sollten sich auf dem jenseitigen Ufer ordnen und dann warten. Aber nicht nur in dem Augenblick, als Napoleon diesen Befehl gab, sondern bereits, nachdem der Adjutant eben erst von Borodino weggeritten war, hatten die Russen die Brücke schon in eben jenem Zusammenstoß wiedergenommen und verbrannt, bei welchem Pierre gleich zu Anfang der Schlacht gegenwärtig gewesen war.
Ein Adjutant, der von den Pfeilschanzen mit blassem, erschrockenem Gesicht herbeigaloppierte, meldete dem Kaiser, der Angriff sei zurückgeschlagen, Compans verwundet, Davout gefallen; aber dabei waren die Pfeilschanzen von einem andern Truppenteil in dem Augenblick genommen worden, wo dem Adjutanten gesagt worden war, die Franzosen seien zurückgeschlagen, und Davout war am Leben und hatte nur eine leichte Quetschung. Aufgrund solcher notwendigerweise falschen Meldungen traf nun Napoleon seine Anordnungen, die entweder bereits ausgeführt waren, ehe er sie erteilt hatte, oder nicht ausgeführt werden konnten und somit auch nicht ausgeführt wurden.
Die Marschälle und Generale, die sich in geringerer Entfernung vom Schlachtfeld befanden, aber ebenso wie Napoleon nicht am Kampf teilnahmen und nur ab und zu an die Feuerzone heranritten, trafen, ohne Napoleon zu fragen, ihre Anordnungen und erteilten ihre Befehle darüber, wohin und von wo aus geschossen werden und wohin die Kavallerie reiten und die Infanterie marschieren solle. Aber auch ihre Anordnungen wurden, ebenso wie die Napoleons, nur in sehr geringem Maße und nur selten zur Ausführung gebracht. Größtenteils geschah das Gegenteil von dem, was sie befohlen hatten. Soldaten, denen befohlen war vorzurücken, liefen, wenn sie in Kartätschenfeuer gerieten, zurück; Soldaten, denen befohlen war, an ihrem Platz stehenzubleiben, liefen, wenn sie gegenüber unerwartet Russen erscheinen sahen, manchmal zurück, manchmal aber stürzten sie auch vorwärts auf sie los, und die Kavallerie sprengte ohne Befehl den fliehenden Russen nach. So jagten zwei Kavallerieregimenter durch die Schlucht bei Semjonowskoje; kaum aber waren sie auf die Höhe gelangt, als sie umkehrten und in voller Karriere zurücksprengten. Ebenso war es mit den Bewegungen der Infanterie, die manchmal ganz und gar nicht dahin marschierte, wohin ihr zu marschieren befohlen war. Alle Anordnungen darüber, wohin und wann die Kanonen vorgerückt werden, wann die Soldaten zum Schießen vorgeschickt werden sollten, wann die Kavallerie das russische Fußvolk niederreiten solle, alle diese Anordnungen trafen die nächstbeteiligten Abteilungskommandeure, die sich bei den Truppen befanden, ohne Ney, Davout und Murat, geschweige denn Napoleon, zu befragen. Sie fürchteten nicht, für die Nichtbefolgung eines Befehls oder für eine eigenmächtige Anordnung zur Verantwortung gezogen zu werden, da es sich in der Schlacht um das handelt, was dem Menschen das Teuerste ist, das eigene Leben. Und da die Rettung manchmal im Zurückweichen, manchmal im Vorwärtslaufen zu liegen scheint, so handelten diese Menschen, die sich mitten in der Hitze des Kampfes befanden, eben nach der Eingebung des Augenblicks. In Wirklichkeit aber hatten alle diese Vor- und Rückwärtsbewegungen keine Erleichterung und Änderung in der Lage der Truppen zur Folge. Alle ihre gegenseitigen Angriffe zu Fuß und zu Pferd taten ihnen fast gar keinen Schaden; Schaden, d.h. Tod und Verstümmelung, brachten ihnen die Kanonen- und Flintenkugeln, die überall in diesem Raum umherflogen, auf dem sich diese Menschen hin und her bewegten. Sobald diese Menschen aus dem Raum zurückwichen, in dem die Kanonen- und Flintenkugeln umherflogen, ordneten die Kommandeure, die hinten stehengeblieben waren, sie sofort von neuem, stellten die Disziplin wieder her und führten sie vermöge dieser Disziplin wieder in den Bereich des Feuers zurück, in welchem sie unter der Einwirkung der Todesfurcht die Disziplin wieder verloren und sich nach ihren zufälligen Eingebungen umherbewegten.
XXXIV
Napoleons Generale, Davout, Ney und Murat, die sich in der Nähe dieser Feuerzone befanden und sogar manchmal in sie hineinritten, führten mehrmals gewaltige, wohlgeordnete Truppenmassen in diese Feuerzone hinein. Aber im Gegensatz zu dem, was in allen früheren Schlachten unweigerlich geschehen war, kehrten statt der erwarteten Nachricht über die Flucht des Feindes die wohlgeordneten Truppenmassen von dort als aufgelöste, von Schrecken erfüllte Scharen zurück. Die Generale ordneten sie von neuem; aber der Menschen wurden immer weniger. Gegen Mittag schickte Murat zu Napoleon seinen Adjutanten mit der Bitte um Verstärkung.
Napoleon saß am Fuß des Hügels und trank Punsch, als Murats Adjutant zu ihm heransprengte und versicherte, die Russen würden geschlagen werden, wenn Seine Majestät noch eine Division geben wolle.
»Verstärkung?« fragte Napoleon in strengem Ton und mit erstaunter Miene, als hätte er nicht recht verstanden, was der Adjutant gesagt hatte, und blickte den Adjutanten scharf an, einen schönen jungen Mann mit langem, lockigem, schwarzem Haar, ebenso wie Murat das Haar trug.
»Verstärkung!« dachte Napoleon. »Wie kann er denn Verstärkung verlangen, obwohl er doch die Hälfte der Armee unter seinem Kommando und nur einen schwachen, unbefestigten Flügel der Russen sich gegenüber hat!«
»Sagen Sie dem König von Neapel«, fuhr Napoleon in strengem Ton fort, »daß es noch nicht Mittag ist und ich mein Schachbrett noch nicht klar überblicke. Gehen Sie!«
Der schöne junge Adjutant mit dem langen Haar, der die Hand nicht vom Hut genommen hatte, jagte mit einem schweren Seufzer wieder dahin, wo die Menschen gemordet wurden.
Napoleon stand auf, rief Caulaincourt und Berthier zu sich und begann mit ihnen über Dinge zu sprechen, die mit der Schlacht nichts zu tun hatten.
Mitten in dem Gespräch, das den Kaiser zu interessieren anfing, fiel Berthiers Blick auf einen General mit Gefolge, der auf einem schweißbedeckten Pferd zu dem Hügel herangesprengt kam. Es war Belliard. Er sprang vom Pferd, ging mit schnellen Schritten auf den Kaiser zu und begann keck mit lauter Stimme die Notwendigkeit der Entsendung von Verstärkungen zu beweisen. Er schwur bei seiner Ehre, daß die Russen verloren seien, wenn der Kaiser noch eine Division gäbe.
Napoleon zuckte die Achseln und setzte, ohne zu antworten, seinen Spaziergang fort. Belliard fing an, zu den Generalen der kaiserlichen Suite, die ihn umringten, laut und lebhaft zu reden.
»Sie sind sehr erregt, Belliard«, sagte Napoleon, als er sich dem General wieder näherte. »In der Hitze des Kampfes kann man sich leicht irren. Reiten Sie zurück, sehen Sie sich den Stand der Sache nochmals an, und kommen Sie dann wieder zu mir.«
Belliard war noch nicht aus dem Gesichtskreis verschwunden, als von einer andern Seite ein neuer Abgesandter vom Schlachtfeld herangaloppiert kam.
»Nun, was gibt es?« fragte Napoleon; seinem Ton war anzuhören, daß die unaufhörlichen Belästigungen ihn reizten.
»Sire, der Prinz …«, begann der Adjutant.
»Bittet um Verstärkung?« unterbrach ihn Napoleon mit zorniger Miene.
Der Adjutant neigte bejahend den Kopf und begann seinen Bericht; aber der Kaiser wandte sich von ihm weg, machte zwei Schritte, blieb stehen, drehte sich um und rief Berthier zu sich.
»Ich muß die Reserven hergeben«, sagte er, indem er die Arme ein wenig auseinanderbreitete. »Wen soll ich hinschicken? Wie denken Sie darüber?« wandte er sich an Berthier, an diesen »Gänserich, den ich zum Adler gemacht habe«, wie er später von ihm gesagt hat.
»Schicken Euer Majestät doch die Division Claparède«, sagte Berthier, der alle Divisionen, Regimenter und Bataillone im Kopf hatte.
Napoleon nickte zustimmend mit dem Kopf.
Der Adjutant sprengte zu der Division Claparède hin, und nach einigen Minuten brach die junge Garde, die hinter dem Hügel postiert war, von ihrem Standplatz auf. Napoleon blickte schweigend nach dieser Richtung hin.
»Nein«, wandte er sich wieder an Berthier, »ich kann Claparède nicht schicken. Schicken Sie die Division Friant.«
Es war zwar keinerlei Vorteil damit verbunden, wenn statt Claparède die Division Friant geschickt wurde, ja, es wurde sogar eine augenscheinliche Hemmung und Verzögerung dadurch herbeigeführt, daß jetzt Claparède erst wieder zurückgehalten und statt seiner Friant geschickt werden mußte; aber der Befehl wurde ausgeführt. Napoleon wurde sich dessen nicht bewußt, daß er seinen Truppen gegenüber jetzt selbst jene Rolle des Arztes spielte, der durch seine Medikamente stört, eine Rolle, die er so richtig erkannt und verurteilt hatte.
Die Division Friant verschwand, ebenso wie die andern, im Rauch des Schlachtfeldes. Von verschiedenen Seiten kamen immer noch Adjutanten herbeigesprengt, und alle sagten wie auf Verabredung ein und dasselbe. Alle baten um Verstärkungen; alle sagten, die Russen behaupteten sich in ihren Stellungen und unterhielten ein Höllenfeuer (un feu d’enfer), durch das die französische Armee zusammenschmelze.
Napoleon saß, in tiefes Nachdenken versunken, auf einem Feldstuhl.
Herr de Bausset, dem das Reisen soviel Vergnügen machte und der seit dem Morgen nichts gegessen hatte und hungrig geworden war, trat an den Kaiser heran und erkühnte sich, Seine Majestät ehrerbietigst zum Frühstücken aufzufordern.
»Ich hoffe, daß ich Euer Majestät jetzt schon zum Sieg gratulieren kann«, fügte er hinzu.
Napoleon schüttelte schweigend den Kopf. In der Voraussetzung, daß sich diese Verneinung auf den Sieg und nicht auf das Frühstück beziehe, erlaubte sich Herr de Bausset respektvoll scherzend zu bemerken, daß es keine Gründe in der Welt gebe, durch die sich jemand am Frühstücken hindern zu lassen brauche, wenn die Möglichkeit dazu vorhanden sei.
»Machen Sie, daß Sie wegkommen«, sagte Napoleon auf einmal finster und wandte sich von ihm ab.
Ein seliges Lächeln, in welchem sich Bedauern, Reue und Enthusiasmus vereinigten, erstrahlte auf dem Gesicht des Herrn de Bausset, und mit schleifendem Gang begab er sich zu den Generalen.
Napoleon empfand ein Gefühl peinlicher Beängstigung, wie ein Spieler, der immer Glück gehabt hat, der, wenn er sein Geld sinnlos wagte, immer gewonnen hat und der nun plötzlich, gerade wo er seiner Meinung nach alle Chancen des Spieles vorausberechnet hatte, merkt, daß, je mehr er sein Verfahren überdacht hat, er um so sicherer verlieren wird.
Die Truppen waren dieselben, die Generale dieselben; es waren dieselben Vorbereitungen, dieselbe Disposition, derselbe kurze und energische Armeebefehl; er selbst war derselbe, das wußte er; er wußte, daß er jetzt sogar weit erfahrener und geschickter war als früher; selbst der Feind war derselbe wie bei Austerlitz und Friedland – aber der zu furchtbarem Schlag ausholende Arm sank, wie durch einen Zauber, kraftlos nieder.
Alle jene früheren Hilfsmittel, die sonst unausbleiblich von Erfolg gekrönt gewesen waren: die Konzentrierung der Batterien auf einen Punkt und der Angriff der Reserven zur Durchbrechung der feindlichen Linie und die Attacke der Kavallerie von Eisenmännern, hommes de fer, alle diese Hilfsmittel waren heute bereits zur Anwendung gebracht, und doch war nicht nur kein Sieg errungen, sondern es kamen sogar von allen Seiten immer dieselben Nachrichten von getöteten und verwundeten Generalen, von der Notwendigkeit der Entsendung von Verstärkungen, von der Unmöglichkeit, die Russen zu schlagen, und von der Auflösung der Truppen.
Früher hatte er immer nur zwei, drei Anordnungen zu treffen, zwei, drei Sätze zu sprechen gebraucht, und dann waren die Marschälle und Adjutanten mit Glückwünschen und heiteren Gesichtern herangesprengt und hatten von den Siegestrophäen Meldung gemacht: daß ganze Truppenmassen gefangen, Haufen von feindlichen Fahnen und Feldzeichen und eine Menge von Kanonen erbeutet seien; und dann hatte Murat nur um die Erlaubnis gebeten, seine Kavallerie ausschicken zu dürfen, um die Bagage des Feindes wegzunehmen. So war das bei Lodi, Marengo, Arcole, Jena, Austerlitz, Wagram usw. usw. gewesen. Jetzt aber ging mit seinen Truppen etwas Seltsames vor.
Trotz der Nachricht von der Einnahme der Pfeilschanzen sah Napoleon, daß es ein anderes, ganz anderes Ding war als in all seinen früheren Schlachten. Er sah, daß die Empfindung, die ihn erfüllte, auch bei allen Männern seiner Umgebung vorhanden war, und das waren doch Leute, die aus vielen Schlachten Erfahrung hatten. Alle Gesichter waren trübe; jeder vermied es, dem andern ins Gesicht zu blicken. Nur Bausset brachte es fertig, die Bedeutung dessen, was da vorging, nicht zu verstehen. Napoleon aber wußte bei seiner langen Kriegserfahrung sehr wohl, was das zu bedeuten hatte, daß nach achtstündigem Kampf trotz aller Anstrengungen die Schlacht von dem Angreifer nicht gewonnen war. Er wußte, daß damit die Schlacht beinahe verloren war und daß die geringste Zufälligkeit jetzt, wo der Ausgang der Schlacht auf des Messers Schneide stand, ihn und sein Heer vernichten konnte.
Als er nun diesen ganzen seltsamen russischen Feldzug vor seinem geistigen Auge vorüberziehen ließ, in welchem keine Schlacht gewonnen und zwei Monate lang keine Fahne, keine Kanone erbeutet, keine Truppenabteilung gefangengenommen war, als er die Gesichter seiner Umgebung betrachtete, die ihre Niedergeschlagenheit zu verbergen suchten, und die Meldungen darüber hörte, daß die Russen immer noch standhielten: da ergriff ihn ein schreckliches Gefühl, wie es einen manchmal im Traum überfällt, und es kamen ihm allerlei unglückliche Möglichkeiten in den Sinn, die sein Verderben herbeiführen konnten. Die Russen konnten über seinen linken Flügel herfallen; sie konnten sein Zentrum durchbrechen; eine tollgewordene Kanonenkugel konnte ihn selbst töten. All dergleichen war möglich. In seinen früheren Schlachten hatte er nur die Möglichkeiten überdacht, die zum Erfolg führen konnten; aber jetzt trat ihm eine zahllose Menge unglücklicher Möglichkeiten vor die Seele, und er glaubte eine jede von ihnen erwarten zu müssen. Ja, es war wie im Traum, wo jemand glaubt, es komme ein Mörder auf ihn los; und nun holt er im Traum mit aller Kraft zu einem furchtbaren Schlag aus, der nach seiner Überzeugung den Feind vernichten muß; auf einmal aber fühlt er, daß sein Arm kraftlos und schwach wie ein Lappen niedersinkt, und wird in seiner Hilflosigkeit von jäher Angst vor dem unentrinnbaren Verderben gepackt.
Es war die Nachricht von dem Angriff der Russen auf den linken Flügel des französischen Heeres, die dieses beängstigende Gefühl bei Napoleon hervorrief. Schweigend saß er am Fuß des Hügels auf seinem Feldstuhl, den Kopf niedergebeugt, die Ellbogen auf die Knie gelegt. Berthier trat zu ihm und fragte, ob er nicht die Linie abreiten wolle, um sich von dem Stand der Dinge zu überzeugen.
»Was? Was sagen Sie?« erwiderte Napoleon. »Ja, lassen Sie mir ein Pferd bringen.«
Er setzte sich auf und ritt nach Semjonowskoje.
In dem nur langsam sich auseinanderziehenden Pulverdampf sah Napoleon auf der ganzen Strecke, die er durchritt, Pferde und Menschen in Blutlachen liegen, bald einzeln, bald haufenweise. Einen solchen Greuel, eine solche Unmenge von Getöteten auf einem so kleinen Raum hatte weder Napoleon noch einer seiner Generale je gesehen. Der Donner der Geschütze, der nun schon zehn Stunden lang ununterbrochen angedauert hatte und das Ohr peinigte, erhöhte noch den Eindruck dieses Anblicks, ähnlich wie die Musik bei lebenden Bildern. Napoleon ritt auf die Höhe von Semjonowskoje hinauf und erblickte durch den Pulverdampf Reihen von Soldaten in Uniformen, deren Farbe seinem Auge fremd erschien. Es waren Russen.
Die Russen standen in dichten Reihen hinter Semjonowskoje und dem Hügel, und ihre Geschütze donnerten und rauchten unaufhörlich in ihrer Linie. Eine Schlacht war das nicht mehr; es war ein fortdauerndes Morden, das weder den Russen noch den Franzosen zu einem Vorteil verhelfen konnte. Napoleon hielt sein Pferd an und versank wieder in dieselben trüben Gedanken, aus denen ihn vorher Berthier aufgeweckt hatte; er konnte das Werk nicht hemmen, das da vor seinen Augen und um ihn herum vollbracht wurde, und von dem man meinte, es werde von ihm geleitet und hänge von ihm ab, und dieses Werk erschien ihm zum erstenmal infolge des Mißerfolges als etwas Unnötiges und Furchtbares.
Einer der Generale, die zu Napoleon herangeritten waren, erlaubte sich, ihn zu bitten, ob er nicht die alte Garde ins Gefecht schicken wolle. Ney und Berthier, die neben Napoleon hielten, wechselten einen Blick miteinander und lächelten geringschätzig über den absurden Vorschlag dieses Generals.
Napoleon senkte den Kopf und schwieg lange.
»Achthundert Lieues von Frankreich entfernt werde ich meine Garde nicht dem Verderben preisgeben«, sagte er, wendete sein Pferd und ritt nach Schewardino zurück.
XXXV
Kutusow saß an derselben Stelle, an der ihn Pierre am Morgen gesehen hatte, auf der mit einem Teppich bedeckten Bank; den grauen Kopf hielt er tief hinabgebeugt; sein schwerer Körper war in sich zusammengesunken. Er traf keine eigenen Anordnungen, sondern gab nur zu dem, was ihm vorgeschlagen wurde, seine Zustimmung oder lehnte es ab.
»Ja, ja, tut das nur«, antwortete er auf mancherlei Vorschläge. »Ja, ja, reite einmal hin, mein Lieber, und sieh dir die Sache an«, sagte er bald zu dem, bald zu jenem aus seiner Umgebung. Oder er sagte: »Nein, das ist nicht nötig; wir wollen lieber noch warten.« Er hörte die ihm erstatteten Meldungen an und gab Befehle, wenn es seine Untergebenen verlangten; aber während er die Berichte anhörte, schien er sich nicht für den Inhalt dessen, was ihm gesagt wurde, zu interessieren, sondern für etwas anderes: für den Gesichtsausdruck und Ton der Meldenden. Aus einer langjährigen Kriegserfahrung wußte er und war darüber mit seinem alten Kopf ins klare gekommen, daß es für einen einzelnen Menschen unmöglich ist, Hunderttausende, die auf Leben und Tod kämpfen, zu leiten, und daß der Ausgang der Schlachten nicht durch die Anordnungen des Oberkommandierenden, nicht durch das Terrain, auf dem die Truppen stehen, nicht durch die Zahl der Kanonen und der getöteten Menschen entschieden wird, sondern durch jene eigenartige Kraft, die man den Geist des Heeres nennt; und diese Kraft beobachtete er und leitete sie, soweit das in seiner Macht lag.
Der allgemeine, dauernde Ausdruck in Kutusows Gesicht war der einer ruhigen, gesammelten Aufmerksamkeit und Spannung, die aber nur mit Mühe über die Müdigkeit des alten, schwachen Körpers den Sieg davontrug.
Um elf Uhr vormittags wurde ihm gemeldet, daß die von den Franzosen eroberten Pfeilschanzen wieder zurückgewonnen seien, daß aber Fürst Bagration verwundet wäre. Kutusow stöhnte auf und wiegte bedauernd den Kopf hin und her.
»Reite zu dem Fürsten Pjotr Iwanowitsch hin und erkundige dich genau, was und wie …«, befahl er einem Adjutanten und wandte sich dann sofort an den hinter ihm stehenden Prinzen von Württemberg: »Belieben Euer Hoheit das Kommando der zweiten Armee zu übernehmen.«
Bald nachdem der Prinz weggeritten war, und zwar so bald nachher, daß er noch nicht nach Semjonowskoje gelangt sein konnte, kehrte der Adjutant des Prinzen von ihm zurück und meldete dem Durchlauchtigen, der Prinz bitte um Truppen.
Kutusow runzelte die Stirn und schickte an Dochturow den Befehl, das Kommando der zweiten Armee zu übernehmen; den Prinzen aber ließ er bitten, zu ihm zurückzukehren, da er ihn, wie er sagte, in diesen kritischen Augenblicken doch nicht entbehren könne.
Als die Nachricht gebracht wurde, Murat sei gefangengenommen, und die Stabsoffiziere Kutusow beglückwünschten, lächelte er.
»Warten Sie, meine Herren«, sagte er. »Die Schlacht ist gewonnen, und die Gefangennahme Murats ist dabei weiter nichts Besonderes. Aber wir wollen lieber mit der Freude noch warten.«
Indessen schickte er doch einen Adjutanten aus, der mit dieser Nachricht bei den Truppen umherreiten sollte.
Als vom linken Flügel Schtscherbinin herangesprengt kam, um zu melden, daß die Franzosen die Pfeilschanzen und das Dorf Semjonowskoje eingenommen hätten, stand Kutusow, der aus den vom Schlachtfeld herüberschallenden Tönen und aus Schtscherbinins Miene erriet, daß dieser keine gute Nachricht bringe, auf, wie wenn er sich die Füße vertreten wollte, faßte Schtscherbinin unter den Arm und führte ihn beiseite.
»Reite hin, mein Lieber«, sagte er zu Jermolow, »und sieh einmal zu, ob sich da nichts tun läßt.«
Kutusow befand sich in Gorki, im Zentrum der russischen Position. Der Angriff, den Napoleon auf unseren linken Flügel gerichtet hatte, war mehrere Male zurückgeschlagen worden. Im Zentrum waren die Franzosen nicht über Borodino hinaus vorgerückt. Auf unserer rechten Flanke hatte Uwarows Kavallerie die Franzosen in die Flucht getrieben.
Zwischen zwei und drei Uhr hörten die Angriffe der Franzosen auf. Auf den Gesichtern aller, die vom Schlachtfeld kamen, und derjenigen, die um ihn herumstanden, las Kutusow den Ausdruck einer auf den höchsten Grad gelangten Spannung. Kutusow war mit dem seine Erwartungen übersteigenden Erfolg des Tages zufrieden. Aber die physischen Kräfte ließen den alten Mann im Stich; mehrmals sank sein Kopf, wie wenn er plötzlich hinunterfiele, tief herab, und er schlummerte ein. Man brachte ihm sein Mittagessen.
Der Flügeladjutant Wolzogen, eben der, welcher, als er bei dem Fürsten Andrei vorbeiritt, gesagt hatte, man müsse dem Krieg eine weitere räumliche Ausdehnung geben, und welchen Fürst Bagration so grimmig haßte, dieser traf, während Kutusow seine Mahlzeit einnahm, bei ihm ein. Wolzogen kam von Barclay mit der Meldung über den Gang der Dinge auf dem linken Flügel. Nachdem Barclay de Tolly die Scharen der zurückfliehenden Verwundeten und den aufgelösten Zustand der Truppen hinter der Front gesehen und alle Umstände der Lage erwogen hatte, hatte er sich als verständiger Mann gesagt, die Schlacht sei verloren, und seinen Liebling Wolzogen mit dieser Nachricht zum Oberkommandierenden geschickt.
Kutusow kaute mit Mühe an einem gebratenen Huhn und sah Wolzogen mit zusammengekniffenen, vergnügten Augen an.
Lässig die Beine nach dem Reiten wieder geradestreckend, ein etwas geringschätziges Lächeln auf den Lippen, so näherte sich Wolzogen dem Oberkommandierenden und berührte leichthin mit der Hand den Mützenschirm.
Er zeigte im Verkehr mit dem Durchlauchtigen eine gewisse affektierte Nachlässigkeit, welche besagen sollte, daß er als hochgebildeter Militär es den Russen überlassen müsse, aus diesem alten, unbrauchbaren Mann einen Götzen zu machen, selbst aber recht wohl wisse, mit wem er zu tun habe. »Der alte Herr« (wie die Deutschen in ihrem Kreis Kutusow nannten) »macht es sich recht bequem«, dachte Wolzogen, und mit einem strengen Blick auf die vor Kutusow stehenden Teller begann er dem alten Herrn die Lage der Dinge auf dem linken Flügel so auseinanderzusetzen, wie es ihm Barclay befohlen und wie er selbst sie gesehen und aufgefaßt hatte.
»Alle Punkte unserer Position sind in den Händen des Feindes, und sie wiederzugewinnen ist ausgeschlossen, da wir keine Truppen haben; sie fliehen, und es ist keine Möglichkeit, sie zum Stehen zu bringen«, meldete er.
Kutusow hörte auf zu kauen und starrte Wolzogen erstaunt an, als ob er gar nicht verstände, was dieser zu ihm gesagt hatte. Als Wolzogen die Erregung des alten Herrn bemerkte, fügte er lächelnd hinzu:
»Ich hielt mich nicht für berechtigt, Euer Durchlaucht das, was ich gesehen habe, vorzuenthalten. Die Truppen befinden sich in voller Auflösung …«
»Das haben Sie gesehen? Das haben Sie gesehen?« schrie Kutusow mit finster zusammengezogenen Augenbrauen. Er stand schnell auf und trat auf Wolzogen zu. »Wie können Sie … wie können Sie es wagen …« Er machte drohende Bewegungen mit den zitternden Händen; die Stimme versagte ihm vor Erregung. »Wie können Sie es wagen, mein Herr, so etwas mir, mir zu sagen! Sie wissen gar nichts. Bestellen sie dem General Barclay von mir, daß seine Nachrichten falsch sind und daß der wahre Gang der Schlacht mir, dem Oberkommandierenden, besser bekannt ist als ihm.«
Wolzogen wollte etwas erwidern, aber Kutusow unterbrach ihn.
»Der Feind ist auf dem linken Flügel zurückgeschlagen und auf dem rechten Flügel besiegt. Wenn Sie schlecht gesehen haben, mein Herr, so dürfen Sie sich nicht erlauben, zu reden, was Sie nicht wissen. Reiten Sie zum General Barclay hin, und bestellen Sie ihm, ich hätte die feste Absicht, morgen den Feind anzugreifen«, sagte Kutusow in strengem Ton.
Alle schwiegen; man hörte nur das schwere Keuchen des alten Oberkommandierenden, der ganz außer Atem gekommen war.
»Überall zurückgeschlagen, wofür ich Gott und unserem tapferen Heer danke. Der Feind ist besiegt, und morgen werden wir ihn von der heiligen russischen Erde vertreiben«, sagte Kutusow, indem er sich bekreuzte. Plötzlich aber schluchzte er auf, da ihm die Tränen kamen.
Wolzogen zuckte die Achseln, zog die Lippen schief und trat schweigend zur Seite, höchst erstaunt über diese dünkelhafte Verblendung des alten Herrn.
»Ah, da ist er ja, mein Held!« sagte Kutusow zu einem wohlgenährten, hübschen, schwarzhaarigen General, der in diesem Augenblick oben auf dem Hügel erschien. Es war Rajewski, der den ganzen Tag an dem wichtigsten Punkt des Schlachtfeldes von Borodino zugebracht hatte.
Rajewski meldete, daß die Truppen standhaft ihre Stellungen behaupteten und die Franzosen nicht mehr anzugreifen wagten.
Als Kutusow ihn angehört hatte, sagte er auf französisch:
»Sie glauben also nicht wie die andern, daß wir genötigt wären uns zurückzuziehen?«
»Im Gegenteil, Euer Durchlaucht; bei unentschiedenen Schlachten bleibt immer der Hartnäckigste Sieger«, erwiderte Rajewski, »und meine Ansicht …«
»Kaisarow!« rief Kutusow seinen Adjutanten herbei. »Setz dich hin und schreib den Befehl für morgen. Und du«, wandte er sich an einen andern, »reite die Linie entlang und mache bekannt, daß morgen wir es sein werden, die angreifen.«
Während Kutusow noch das Gespräch mit Rajewski weiterführte und den Armeebefehl diktierte, kehrte Wolzogen von Barclay zurück und meldete, der General Barclay de Tolly lasse um eine schriftliche Bestätigung des Befehles bitten, den der Feldmarschall erteilt habe.
Ohne Wolzogen anzusehen, ordnete Kutusow die schriftliche Ausfertigung des Befehles an, die der frühere Oberkommandierende mit gutem Grund zu haben wünschte, um aller persönlichen Verantwortung enthoben zu sein.
Und vermöge jener unbestimmbaren, geheimen Verbindungskanäle, die bewirken, daß im ganzen Heer ein und dieselbe Stimmung besteht, der sogenannte Geist des Heeres, der das wichtigste Moment im Krieg bildet, vermöge jener Kanäle wurden Kutusows Worte und sein Befehl zur Schlacht für den morgigen Tag gleichzeitig an allen Enden des Heeres bekannt.
Was an den letzten Enden dieser Kanäle bekannt wurde, das waren keineswegs die Worte oder der Befehl selbst. Die Reden, die an den verschiedenen Enden des Heeres von Mund zu Mund weitergegeben wurden, hatten sogar nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem, was Kutusow wirklich gesagt hatte; wohl aber verbreitete sich der Sinn seiner Worte überallhin, weil das, was Kutusow gesagt hatte, nicht aus verschmitzten Überlegungen hervorgegangen war, sondern aus dem Gefühl, das in der Seele des Oberkommandierenden ebenso lebendig war wie in der Seele eines jeden Russen.
Und sobald sie erfahren hatten, daß wir morgen angreifen würden, und von den höchsten Stellen der Armee eine Bestätigung dessen gehört hatten, was sie so gern glaubten, da fühlten sich diese erschöpften, wankenden Leute getröstet und ermutigt.
XXXVI
Das Regiment des Fürsten Andrei gehörte zu den Reservetruppen, die bis ein Uhr hinter Semjonowskoje untätig in starkem Artilleriefeuer standen. Nach ein Uhr wurde das Regiment, das schon mehr als zweihundert Mann verloren hatte, nach einem zertretenen Haferfeld vorgezogen, in den Zwischenraum zwischen Semjonowskoje und der Hügelbatterie, auf welchem an diesem Tag Tausende von Menschen getötet wurden und auf den nach ein Uhr das verstärkte, konzentrierte Feuer mehrerer hundert feindlicher Geschütze gerichtet wurde.
Ohne sich von seinem Platz zu rühren und ohne einen einzigen Schuß zu tun, verlor das Regiment hier noch ein Drittel seiner Leute. Von vorn und namentlich von rechts her donnerten in dem Rauch, der sich gar nicht mehr zerteilte, die Kanonen, und aus diesem geheimnisvollen Rauchmeer, von dem das ganze Terrain nach dem Feind zu bedeckt war, flogen unaufhörlich mit schnellem Zischen Kanonenkugeln sowie mit langsamerem Pfeifen Granaten herüber. Manchmal, wie wenn den Truppen eine Erholung gegönnt werden sollte, verging eine Viertelstunde, innerhalb deren alle Kanonenkugeln und Granaten über sie hinwegflogen; aber manchmal wurden in einer einzigen Minute eine Menge Leute aus dem Regiment getroffen und ohne Unterbrechung Tote weggeschleppt und Verwundete wegtransportiert.
Mit jeder neuen Kugel, welche traf, wurde für diejenigen, die noch nicht getötet waren, die Wahrscheinlichkeit, daß sie am Leben bleiben würden, immer geringer. Das Regiment stand in Bataillonskolonnen mit Abständen von dreihundert Schritten; aber trotz dieser Abstände befanden sich alle Soldaten dauernd unter der Einwirkung einer und derselben Stimmung. Alle Leute des Regiments waren gleichmäßig schweigsam und finster. Nur selten war in den Reihen ein Gespräch zu hören, und ein solches Gespräch verstummte jedesmal, wenn das Getöse einer einschlagenden Kanonenkugel und der Ruf: »Tragbahren!« erschollen. Die meiste Zeit über saßen die Soldaten des Regiments nach dem Befehl der Offiziere auf der Erde. Der eine hatte seinen Tschako abgenommen, nahm sorgsam das gefaltete Futter auseinander und legte es ebenso sorgsam wieder zusammen; ein anderer zerrieb trockenen Lehm in den Händen zu Pulver und putzte damit sein Bajonett; ein anderer machte sein Lederzeug geschmeidig und zog die Schnalle des Bandeliers fester; ein anderer brachte seine Fußlappen sorgfältig in Ordnung, indem er sie neu umwickelte, und zog sich die Stiefel wieder an. Manche bauten Häuschen aus den Erdschollen des Ackers oder machten kleine Geflechte aus Strohhalmen. Alle schienen in diese Beschäftigungen ganz vertieft zu sein. Wenn Kameraden verwundet oder getötet wurden, wenn eine Reihe von Tragbahren vorbeikam, wenn die Unsrigen von einem Vorstoß zurückkehrten, wenn durch den Rauch hindurch große Massen von Feinden sichtbar wurden, dann schenkte niemand diesen Vorgängen irgendwelche Beachtung. Wenn dagegen unsere Artillerie oder Kavallerie vorging oder ein Vorrücken unserer Infanterie zu bemerken war, dann hörte man von allen Seiten beifällige Bemerkungen. Die größte Aufmerksamkeit erregten aber ganz nebensächliche Ereignisse, die auf die Schlacht gar keinen Bezug hatten. Es war, als ob der Geist dieser seelisch gemarterten Menschen in der Aufmerksamkeit auf diese gewöhnlichen alltäglichen Ereignisse eine gewisse Erholung fände. Eine Batterie fuhr vor der Front des Regiments vorbei, und vor einem Munitionswagen trat das Seitenpferd über den Strang. »He! He! Das Seitenpferd …! Bringt es doch in Ordnung! Es fällt sonst noch … Ach, sie sehen es nicht …!« riefen im ganzen Regiment die Soldaten zugleich aus den Reihen. Ein andermal zog ein kleines braunes Hündchen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, das Gott weiß woher gekommen sein mochte und nun mit steif erhobenem Schwanz vor der Front umhertrabte, plötzlich aber, als eine Kanonenkugel in der Nähe einschlug, aufwinselte, den Schwanz einkniff und nach der Seite fortstürzte. Lautes Lachen und vergnügtes Kreischen erscholl durch das ganze Regiment. Indessen dauerten derartige Zerstreuungen immer nur einen Augenblick; die Leute aber warteten nun schon mehr als acht Stunden ohne Nahrung und ohne Beschäftigung, unaufhörlich vom Tod bedroht, und die blassen, finsteren Gesichter wurden immer blasser und finsterer.
Fürst Andrei, der ebenso finster und blaß aussah wie alle Soldaten seines Regiments, ging, die Hände auf den Rücken gelegt, mit gesenktem Kopf auf einer Wiese neben dem Haferfeld von einem Rain zum andern auf und ab. Zu tun und zu befehlen hatte er nichts. Alles machte sich von selbst. Die Getöteten wurden hinter die Front geschleppt, die Verwundeten fortgetragen, die Reihen schlossen sich wieder zusammen. Wenn Soldaten austraten, so kamen sie sogleich eilig wieder zurück. Anfangs war Fürst Andrei, da er es für seine Pflicht hielt, den Mut der Mannschaft zu beleben und ihnen ein gutes Beispiel zu geben, in den Reihen hin und her gegangen; aber er hatte sich bald überzeugt, daß die Soldaten keiner Belehrung und Mahnung von seiner Seite bedurften. Alle Kräfte seiner Seele waren, wie bei jedem Soldaten, unbewußt darauf gerichtet, die Gedankentätigkeit von der schrecklichen Lage, in der sie sich befanden, abzulenken. Bald schleppte er beim Hin- und Herwandern auf der Wiese mit den Füßen, machte das Gras strubblig und betrachtete den Staub, der seine Stiefel bedeckte; bald ging er mit großen Schritten und versuchte in die Fußtapfen zu treten, die die Mäher auf der Wiese hinterlassen hatten; bald zählte er seine Schritte und stellte Berechnungen darüber an, wie oft er von einem Rain bis zum andern gehen müsse, um eine Werst zurückzulegen; bald streifte er von den am Rain wachsenden Wermutstauden die Blüten ab, zerrieb sie in den Händen und sog ihren kräftigen, aromatisch bitteren Duft mit der Nase ein. Von der ganzen gestrigen Gedankenarbeit war nichts zurückgeblieben. Er dachte an nichts. Mit müdem Ohr horchte er immer auf dieselben beiden verschiedenen Töne, das Pfeifen der fliegenden Geschosse und das Donnern der Schüsse, betrachtete die ihm schon langweilig gewordenen Gesichter der Mannschaft des ersten Bataillons und wartete. »Da ist eine … die kommt wieder zu uns!« dachte er, während er auf das sich nähernde Pfeifen eines Dinges horchte, das aus der undurchdringlichen Rauchregion herüberkam. »Eine, eine zweite! Noch eine! Hat sie getroffen …?« Er blieb stehen und blickte über die Reihen hin. »Nein, sie ist darüberhin geflogen. Aber diese hier hat getroffen.« Er nahm seine Wanderung wieder auf und bemühte sich, große Schritte zu machen, um mit sechzehn Schritten bis zu dem Rain zu gelangen.