Kutusow verbeugte sich, unverändert weiter lächelnd.

»Ich bin aber überzeugt«, sagte er, »und nehme aufgrund des letzten Briefes, mit dem Seine Kaiserliche Hoheit der Erzherzog Ferdinand mich beehrt hat, als sicher an, daß die österreichische Armee unter dem Kommando eines so geschickten Unterfeldherrn, wie General Mack, jetzt bereits einen entschiedenen Sieg errungen hat und unserer Unterstützung nicht mehr bedarf.«

Der österreichische General runzelte die Stirn. Obgleich positive Nachrichten über eine Niederlage der Österreicher noch nicht vorlagen, so waren doch zu viele Umstände vorhanden, durch welche die allgemein verbreiteten schlimmen Gerüchte bestätigt zu werden schienen; und daher klang Kutusows Annahme von einem Sieg der Österreicher sehr nach Spott. Aber Kutusow lächelte ruhig und freundlich, immer mit derselben Miene, die besagte, daß er zu seiner Annahme berechtigt sei. Und in der Tat meldete der letzte Brief, der ihm von Macks Armee zugegangen war, einen Sieg und berichtete von der strategisch überaus vorteilhaften Stellung der Armee.

»Reich mir doch einmal den Brief her«, sagte Kutusow, zu dem Fürsten Andrei gewendet. »Hier, bitte, sehen Sie selbst.«

Und mit einem spöttischen Lächeln in den Mundwinkeln las Kutusow auf deutsch dem österreichischen General folgende Stelle aus dem Brief des Erzherzogs Ferdinand vor:


»Unsere Streitkräfte sind vollständig konzentriert, nahe an siebzigtausend Mann, um den Feind, wenn er den Lech passiert, angreifen und schlagen zu können. Wir können, da wir bereits Herren von Ulm sind, den Vorteil, auch Herren beider Donauufer zu sein, behaupten, können mithin auch jeden Augenblick, wenn der Feind den Lech nicht passiert, über die Donau gehen, uns auf seine Kommunikationslinie werfen, die Donau unterhalb nochmals überschreiten und, wenn der Feind vorhaben sollte, sich mit seiner ganzen Macht gegen unsere treuen Verbündeten zu wenden, diese Absicht alsbald vereiteln. Auf diese Weise werden wir mutig den Zeitpunkt abwarten, wo die Kaiserlich Russische Armee vollständig gerüstet sein wird, und dann gemeinschaftlich leicht die Möglichkeit finden, dem Feind das Schicksal zu bereiten, das er verdient.«


Kutusow stieß einen schweren Seufzer aus, als er diesen unbeholfenen Passus verlesen hatte, und blickte dem Mitglied des Hofkriegsrates aufmerksam und freundlich ins Gesicht.

»Aber Euer Exzellenz kennen die weise Regel, daß man gut tut, immer den schlimmeren Fall anzunehmen«, erwiderte der österreichische General, der augenscheinlich diesen Späßen ein Ende zu machen und zur Sache zu kommen wünschte.

Unwillkürlich sah er sich nach dem Adjutanten um.

»Entschuldigen Sie, General«, unterbrach ihn Kutusow und wandte sich ebenfalls zu dem Fürsten Andrei hin. »Hör mal, mein Lieber, laß dir doch von Koslowski alle Berichte unserer Kundschafter geben. Und hier sind zwei Briefe vom Grafen Nostitz, und da der Brief Seiner Kaiserlichen Hoheit des Erzherzogs Ferdinand; und dann noch dieses hier«, sagte er und reichte ihm eine Anzahl von Papieren. »Und aus dem allem stell doch ein recht sauberes französisches Memorandum zusammen, ein Exposé, das übersichtlich alle die Nachrichten enthält, die uns über die Operationen der österreichischen Armee zugegangen sind. Na ja, mach das so, und dann stelle es Seiner Exzellenz zu.«

Fürst Andrei machte eine Verbeugung mit dem Kopf, zum Zeichen, daß er von den ersten Worten an nicht nur das verstanden habe, was gesagt worden war, sondern auch das, was Kutusow ihm wohl gern gesagt hätte. Er nahm die Papiere zusammen, machte eine allgemeine Verbeugung und ging mit leisen Schritten über den Teppich in das Wartezimmer.

Obwohl noch nicht viel Zeit vergangen war, seit Fürst Andrei Rußland verlassen hatte, war doch schon in seinem Wesen eine große Veränderung vorgegangen. In seinem Gesichtsausdruck, in seinen Bewegungen, in seinem Gang war von der früheren Manieriertheit, Müdigkeit und Schlaffheit so gut wie nichts mehr zu bemerken; er sah aus, als habe er keine Zeit, daran zu denken, was er auf andere für einen Eindruck mache, und sei vollständig mit angenehmen, interessanten Dingen beschäftigt. Man konnte ihm vom Gesicht ablesen, daß er mit sich und seiner Umgebung zufrieden war; sein Lächeln und sein Blick waren heiterer und ansprechender geworden.

Kutusow, den er noch in Polen eingeholt hatte, hatte ihn sehr freundlich aufgenommen, ihm versprochen, daß er ihn nicht vergessen werde, ihn vor den übrigen Adjutanten ausgezeichnet, mit nach Wien genommen und ihm einige Aufträge von ernsterer Bedeutung erteilt. Aus Wien hatte Kutusow an seinen alten Kameraden, den Vater des Fürsten Andrei, geschrieben:

»Ihr Sohn erweckt die begründete Hoffnung, daß er sich zu einem durch Kenntnisse, Energie und Pünktlichkeit ausgezeichneten Offizier entwickeln wird. Ich schätze mich glücklich, einen solchen Untergebenen um mich zu haben.«


Im Stab Kutusows, bei seinen näheren Kameraden und in der Armee überhaupt fand Fürst Andrei, gerade wie in den Petersburger gesellschaftlichen Kreisen, zwei voneinander stark verschiedene Beurteilungen. Die einen, und dies war die Minderzahl, waren der Ansicht, daß Fürst Andrei vor ihnen und vor allen anderen Menschen gewisse besondere Vorzüge besitze, erwarteten von ihm hervorragende Leistungen, hörten achtsam auf seine Äußerungen, waren von ihm entzückt und eiferten ihm nach; im Verkehr mit diesen benahm sich Fürst Andrei ungekünstelt und liebenswürdig. Die anderen, die Mehrzahl, mochten ihn nicht leiden und hielten ihn für einen hochmütigen, kalten, unangenehmen Menschen; aber auch mit diesen wußte Fürst Andrei sich so zu stellen, daß sie ihn respektierten und sogar fürchteten.

Als Fürst Andrei aus Kutusows Arbeitszimmer in das Wartezimmer trat, ging er mit den Papieren zu seinem Kameraden Koslowski, dem dejourierenden Adjutanten, hin, der mit einem Buch am Fenster saß.

»Nun, Fürst, was gibt es?« fragte Koslowski.

»Ich soll ein Exposé machen, warum wir nicht vorrücken.«

»Wozu?«

Fürst Andrei zuckte mit den Achseln.

»Sind keine Nachrichten von Mack da?« fragte Koslowski.

»Nein.«

»Wenn es wahr wäre, daß er geschlagen ist, so würde doch schon Nachricht hier sein.«

»Wahrscheinlich«, antwortete Fürst Andrei und ging auf die Ausgangstür zu.

Aber in diesem Augenblick kam, ihm entgegen, eilig jemand in das Wartezimmer herein und warf die Tür hinter sich geräuschvoll wieder zu; es war ein offenbar eben erst angelangter österreichischer General von hohem Wuchs, im Überrock, ein schwarzes Tuch als Binde um den Kopf, den Maria-Theresia-Orden am Hals. Fürst Andrei blieb stehen.

»Ist der General en chef Kutusow da?« fragte der Ankömmling hastig auf französisch mit scharfer deutscher Aussprache; er sah sich nach rechts und links um und ging, ohne sich weiter aufzuhalten, auf die Tür des Arbeitszimmers zu.

»Der General en chef ist beschäftigt«, sagte Koslowski, indem er rasch zu dem unbekannten General hintrat und ihm den Weg zur Tür versperrte. »Wen darf ich melden?«

Der unbekannte General sah den kleinen Koslowski geringschätzig von oben bis unten an, als ob er sich darüber wunderte, daß ihn jemand nicht kenne.

»Der General en chef ist beschäftigt«, sagte Koslowski noch einmal in ruhigem Ton. Der General runzelte die Stirn, seine Lippen zuckten und zitterten. Er zog ein Notizbuch hervor, schrieb darin rasch etwas mit Bleistift, riß das Blatt heraus, gab es dem Adjutanten hin, ging mit schnellen Schritten zum Fenster, ließ sich dort auf einen Stuhl niederfallen und blickte die im Zimmer Anwesenden an, wie wenn er fragen wollte: warum seht ihr mich so an? Dann hob der General den Kopf in die Höhe und reckte den Hals, als ob er etwas zu sagen beabsichtigte; aber im nächsten Augenblick brachte er, wie wenn er anfinge, gedankenlos vor sich hin zu singen, ein sonderbares Geräusch hervor, welches sofort wieder abbrach. Die Tür des Arbeitszimmers öffnete sich, und Kutusow erschien auf der Schwelle. Der General mit dem verbundenen Kopf ging zu Kutusow in gebückter Haltung mit so großen, schnellen Schritten seiner hageren Beine hin, als ob er vor einer Gefahr flüchtete.

»Sie sehen den unglücklichen Mack vor sich«, sagte er auf französisch mit fast versagender Stimme.

Das Gesicht Kutusows, der in der Tür des Arbeitszimmers stand, blieb einige Augenblicke lang völlig starr. Dann lief gleichsam eine Art von Welle über sein Gesicht hin, bei der sich seine Stirn runzelte; aber seine Stirn glättete sich sofort wieder; er neigte respektvoll den Kopf, schloß einen Augenblick lang die Augen, ließ schweigend Mack an sich vorbeigehen und machte selbst hinter ihnen beiden die Tür zu.

Das schon vorher verbreitete Gerücht über eine Niederlage der Österreicher und über die Kapitulation ihrer ganzen Armee bei Ulm erwies sich als richtig. Eine halbe Stunde darauf wurden schon nach verschiedenen Richtungen Adjutanten mit Befehlen abgeschickt, aus denen hervorging, daß nun auch die russischen Truppen, die sich bis dahin untätig verhalten hatten, bald mit dem Feind zusammenstoßen sollten.

Fürst Andrei war einer der wenigen Stabsoffiziere, die ihr Hauptinteresse dem Gesamtgang der kriegerischen Operationen widmeten. Nachdem er Mack gesehen und die Einzelheiten seiner Katastrophe erfahren hatte, begriff er, daß der Feldzug schon zur Hälfte verloren war, erkannte die schwierige Lage der russischen Truppen in ihrem ganzen Umfang und stellte sich lebhaft vor, was dem Heer bevorstand und welche Rolle er selbst beim Heer werde zu spielen haben. Unwillkürlich empfand er ein Gefühl freudiger Aufregung bei dem Gedanken an die Beschämung, die dem allzu selbstbewußten Österreich zuteil geworden war, und bei der Aussicht, daß es ihm vielleicht in einer Woche beschieden sein werde, einen Zusammenstoß zwischen Russen und Franzosen, den ersten seit Suworow, mit anzusehen und selbst daran teilzunehmen. Aber er fürchtete das Genie Bonapartes, das sich vielleicht als stärker erweisen würde als alle Tapferkeit der russischen Truppen, und doch brachte er es auch wieder nicht übers Herz, seinem Helden eine schmähliche Niederlage zu wünschen.

Durch diese Gedanken in aufgeregte und gereizte Stimmung versetzt, wollte Fürst Andrei nach seinem Zimmer gehen, um an seinen Vater zu schreiben, dem er täglich einen Brief sandte. Auf dem Korridor traf er mit seinem Stubenkameraden Neswizki und dem Possenreißer Scherkow zusammen; wie immer, lachten die beiden über irgend etwas.

»Warum bist du denn so verdrießlich?« fragte Neswizki, als er bemerkte, wie blaß das Gesicht des Fürsten Andrei war und wie seine Augen funkelten.

»Zum Vergnügtsein haben wir keinen Anlaß«, erwiderte Bolkonski.

In demselben Augenblick, wo Fürst Andrei mit Neswizki und Scherkow zusammengetroffen war, kamen ihnen vom andern Ende des Korridors her zwei österreichische Generale entgegen: der General Strauch, der in Kutusows Hauptquartier stationiert war, um die Verpflegung der russischen Armee zu überwachen, und das am vorhergehenden Abend angekommene Mitglied des Hofkriegsrates. Auf dem breiten Korridor war Raum genug, daß die Generale bequem an den drei Offizieren vorbeikommen konnten; aber Scherkow stieß mit der Hand Neswizki zurück und rief wie atemlos:

»Sie kommen …! Sie kommen …! Treten Sie an die Seite, Platz! Bitte, Platz!«

Es war den Generalen anzusehen, daß sie auf die lästigen Ehrenbezeigungen gern verzichtet hätten; aber der Spaßmacher Scherkow verzog plötzlich sein Gesicht zu einem einfältigen Lächeln, als ob er sich vor Freude gar nicht halten könne.

»Euer Exzellenz«, sagte er auf deutsch, indem er vortrat und sich an denjenigen General wandte, der ihm der nächste war, »ich habe die Ehre zu gratulieren.«

Er machte eine Verbeugung mit dem Kopf und begann ungeschickt, wie Kinder, die tanzen lernen, abwechselnd mit dem einen und mit dem andern Bein Kratzfüße zu machen.

Der General (es war der Herr vom Hofkriegsrat) sah ihn mit einem strengen Blick an; aber da ihm das einfältige Lächeln echt zu sein schien, glaubte er, dem Redenden Gehör für einen Augenblick nicht verweigern zu sollen. Er kniff die Augen ein wenig zusammen, als sei er bereit zuzuhören.

»Ich habe die Ehre zu gratulieren; General Mack ist eingetroffen, ganz gesund; nur hier hat er ein bißchen was abbekommen«, fügte er mit strahlendem Lächeln hinzu und zeigte dabei auf seinen Kopf.

Der General machte ein finsteres Gesicht, wandte sich ab und ging weiter.

»Gott, wie naiv!« sagte er ärgerlich, als er einige Schritte entfernt war.

Neswizki umarmte laut lachend den Fürsten Andrei; aber dieser, der noch blasser geworden war als vorher, stieß ihn mit zorniger Miene zurück und wandte sich an Scherkow. Die nervöse Gereiztheit, in die er durch den Anblick Macks, durch die Nachricht von dessen Niederlage und durch die Gedanken an das, was der russischen Armee bevorstand, versetzt worden war, suchte einen Ausgang und fand ihn in der Entrüstung über Scherkows unpassenden Scherz.

»Mein Herr«, begann er mit scharfer Stimme, wobei ihm der Unterkiefer leise zitterte, »wenn Sie ein Hanswurst sein wollen, so kann ich Ihnen das nicht verwehren; aber ich sage Ihnen, wenn Sie sich noch einmal unterstehen sollten, in meiner Gegenwart solche albernen Possen zu treiben, so werde ich Sie lehren, wie Sie sich zu benehmen haben.«

Neswizki und Scherkow waren über diese Schroffheit so erstaunt, daß sie Bolkonski schweigend mit weitaufgerissenen Augen ansahen.

»Na aber, ich habe ihnen ja nur gratuliert«, brachte Scherkow heraus.

»Ich scherze nicht mit Ihnen; schweigen Sie!« rief Bolkonski, faßte Neswizki bei der Hand und ging mit ihm von Scherkow weg, der vergebens nach einer Antwort suchte.

»Na, was hast du denn aber eigentlich, Bruder?« sagte Neswizki begütigend.

»Welche Frage!« erwiderte Fürst Andrei und blieb vor Aufregung stehen. »Mach dir das doch nur klar: entweder sind wir Offiziere, die ihrem Kaiser und dem Vaterland dienen und sich über einen Erfolg der gemeinsamen Sache aller freuen, über einen Mißerfolg trauern, oder wir sind weiter nichts als Bediente, die sich um das Wohl und Wehe der Herrschaft nicht kümmern.« Hier ging er zum Französischen über, als ob er dadurch seine Meinung noch besser bekräftigen könne: »Vierzigtausend Mann sind niedergemacht, und die Armee unserer Verbündeten ist vernichtet, und da bringt ihr es fertig zu lachen! Das mag für einen unbedeutenden Burschen passen, wie dieses Subjekt, das du deiner Freundschaft würdigst, aber nicht für dich, nicht für dich.« Er sprach wieder russisch weiter: »Nur freche Buben« (diesen beleidigenden Ausdruck sprach Fürst Andrei mit französischer Klangfärbung, und zwar sehr deutlich, da er bemerkt hatte, daß Scherkow seine Worte noch hören konnte) »können sich in dieser Weise amüsieren.«

Er wartete einen Augenblick, ob der Kornett etwas darauf antworten werde. Aber dieser wendete sich weg und verließ den Korridor.

IV


Das Pawlograder Husarenregiment lag zwei Meilen von Braunau im Quartier; die Eskadron, in welcher Nikolai Rostow als Junker stand, war in dem deutschen Dorf Salzeneck untergebracht. Dem Eskadronchef, Rittmeister Denisow, welcher in der ganzen Kavalleriedivision unter dem Namen Waska1 Denisow bekannt war, war das beste Quartier im Dorf zugeteilt; der Junker Rostow wohnte die ganze Zeit her, seit er das Regiment in Polen eingeholt hatte, mit dem Eskadronchef zusammen.

Am 11. Oktober, an eben dem Tag, an welchem im Hauptquartier alles durch die Nachricht von Macks Niederlage in unruhige Bewegung versetzt worden war, ging im Quartier jener Eskadron das Lagerleben noch in der alten Weise weiter. Denisow, der die ganze Nacht Karten gespielt hatte, war noch nicht nach Hause gekommen, als Rostow am frühen Morgen zu Pferde vom Furagieren zurückkehrte. Rostow ritt an die Stufen vor der Haustür heran, schwang, seinem Pferd einen Stoß versetzend, mit einer jugendlich geschmeidigen Bewegung das Bein herüber, blieb noch einen Augenblick im Steigbügel stehen, als ob er sich noch gar nicht von seinem Pferd trennen möchte, sprang endlich herunter und rief seinen Burschen.

»He, Bondarenko, lieber Freund!« rief er, und der Husar kam nun Hals über Kopf zu dem Pferd gelaufen. »Führ ihn umher, mein Lieber«, sagte er mit jener brüderlichen, heiteren Freundlichkeit, mit welcher gutherzige junge Leute, wenn sie sich glücklich fühlen, sich gegen alle Menschen benehmen.

»Zu Befehl, Euer Erlaucht«, antwortete der Kleinrusse mit vergnügtem Kopfnicken.

»Gib gut acht und führe ihn recht ordentlich herum.«

Ein anderer Husar kam ebenfalls auf das Pferd zugestürzt; aber Bondarenko hatte dem Tier schon den Zügel über den Kopf geworfen. Es war leicht zu sehen, daß der Junker gute Trinkgelder zu geben pflegte, und daß es vorteilhaft war, ihm Dienste zu leisten. Rostow streichelte dem Pferd den Hals, dann die Kruppe und blieb auf den Stufen stehen.

»Famos! Das wird ein prächtiges Pferd werden!« sagte er lächelnd zu sich selbst und lief, den Säbel festhaltend, sporenklirrend die Stufen weiter hinan. Der deutsche Besitzer des Hauses, in wollener Jacke und Zipfelmütze, die Mistgabel in der Hand, mit der er den Mist ausgeräumt hatte, sah aus dem Kuhstall heraus. Das Gesicht des Deutschen wurde auf einmal freundlich sowie er den jungen Rostow erblickte. Er lächelte vergnügt und rief, mit den Augen blinzelnd: »Schönen guten Morgen! Schönen guten Morgen!« Es machte ihm offenbar Vergnügen, den jungen Mann zu begrüßen.

»Schon so fleißig?« rief Rostow auf deutsch mit demselben harmlosen, frohen Lächeln, das auf seinem munteren Gesicht heimisch war. »Hoch die Österreicher! Hoch die Russen! Kaiser Alexander hoch!« rief er dem Deutschen zu; er wiederholte damit Worte, die der deutsche Hauswirt oft gesprochen hatte.

Der Deutsche fing an zu lachen, trat ganz aus der Tür des Kuhstalles heraus, riß sich die Mütze ab, schwenkte sie über seinem Kopf und schrie:

»Und die ganze Welt hoch!«

Ebenso wie der Deutsche seine Zipfelmütze, schwenkte auch Rostow seine Dienstmütze über dem Kopf und schrie lachend: »Vivat die ganze Welt!« Zwar hatten weder der Deutsche, der seinen Kuhstall ausgemistet, noch Rostow, der mit einem Beritt Husaren Heu geholt hatte, irgendeinen Grund zu besonderer Freude; aber doch blickten diese beiden Menschen einander ganz glückselig, ordentlich mit einer Art von Bruderliebe an, nickten sich zum Zeichen ihrer wechselseitigen Zuneigung zu und gingen dann lächelnd auseinander, der Deutsche in seinen Kuhstall und Rostow in die Stube, die er mit Denisow zusammen bewohnte.

»Was macht dein Herr?« fragte er Lawrenti, den im ganzen Regiment als durchtriebener Patron bekannten Burschen Denisows.

»Er ist seit gestern abend noch nicht wieder hier gewesen. Jedenfalls hat er verloren«, antwortete Lawrenti. »Ich kenne das schon: wenn er gewinnt, kommt er zeitig wieder nach Hause, um damit zu prahlen; aber wenn er bis zum Morgen nicht da ist, dann haben sie ihn gehörig ausgebeutelt, und wenn er dann kommt, ist er fuchswild. Befehlen Sie Kaffee?«

»Jawohl, bringe nur her!«

Nach zehn Minuten brachte Lawrenti den Kaffee. »Der Herr kommt!« sagte er. »Nun wird es schlimm.« Rostow sah durchs Fenster und erblickte den nach Hause zurückkehrenden Denisow. Denisow war von kleiner Statur und hatte ein rotes Gesicht, funkelnde, schwarze Augen, einen borstigen Schnurrbart und struppiges Kopfhaar. Er trug einen aufgeknöpften Dolman und weite, faltig herunterhängende Hosen; eine ganz verdrückte Husarenmütze saß ihm im Nacken. Mit finsterem Gesicht und gesenktem Kopf kam er zur Haustür.

»Lawrenti!« schrie er laut und zornig, mit der ihm eigenen undeutlichen Aussprache des r. »So komm doch und nimm mir die Sachen ab, du Tölpel!«

»Das tue ich ja schon ganz von selbst!« hörte Rostow den Burschen antworten.

»Ah, du bist schon aufgestanden!« sagte Denisow, ins Zimmer tretend.

»Schon lange«, erwiderte Rostow. »Ich habe schon Heu geholt und Fräulein Mathilde gesehen.«

»Na so was! Und mich haben sie gestern ausgeplündert, Bruder – wie ein Schindluder haben sie mich behandelt!« schrie Denisow. »So ein Pech! So ein vermaledeites Pech! Sowie du weg warst, da ging die Geschichte los … Heda! Tee!«

Denisow verzog stirnrunzelnd sein Gesicht zu einer wunderlichen Art von Lächeln, bei dem seine kurzen, kräftigen Zähne sichtbar wurden, und wühlte mit den kurzen Fingern beider Hände in dem schwarzen, wirren Dickicht seines Haares.

»Mußte mich auch der Teufel plagen, zu dieser Ratte« (dies war der Spitzname eines Offiziers) »hinzugehen«, redete er weiter und rieb sich mit beiden Händen Stirn und Gesicht. »Kannst du dir das vorstellen: auch nicht eine Karte, keine einzige Karte hat er mich gewinnen lassen.«

Denisow nahm die ihm gereichte, angerauchte Pfeife, preßte die Faust fest herum, stieß mit der Pfeife auf den Fußboden, so daß das Feuer verschüttet wurde, und fuhr fort zu schreien:

»Simple gewinne ich, Paroli schlägt er; Simple gewinne ich, Paroli schlägt er!«

Er sah, daß das Feuer verschüttet war, zerbrach die Pfeife und warf sie weg. Ein Weilchen schwieg Denisow; dann sah er auf einmal mit seinen funkelnden, schwarzen Augen Rostow lustig an: »Wenn es hier wenigstens noch Weiber gäbe! Aber so kann man hier nichts weiter tun als trinken. Käme es nur bald zum Losschlagen …! Na, wer ist denn da?« fragte er, sich zur Tür hinwendend, da er hörte, wie die Schritte schwerer Stiefel mit klirrenden Sporen vor der Tür haltmachten und jemand sich respektvoll räusperte.

»Der Wachtmeister«, antwortete Lawrenti.

Denisows Gesicht wurde wieder ganz finster.

»Verfluchte Geschichte!« murmelte er vor sich hin und warf eine Börse, in der sich einige Goldstücke befanden, auf den Tisch. »Lieber Rostow, zähle doch mal nach, wieviel noch drin ist, und stecke die Börse unter mein Kopfkissen.« Damit ging er hinaus zu dem Wachtmeister.

Rostow nahm das Geld, schichtete mechanisch alte und neue Goldstücke in kleine Häufchen auf, die er in gerader Front ordnete, und zählte sie durch.

»Ah, Teljanin! Guten Morgen! Gestern haben sie mich gut ausgebeutelt«, hörte man Denisows Stimme von draußen.

»Bei wem denn? Bei Bykow, der Ratte …? Das dachte ich mir gleich«, sagte eine andere, hohe Stimme, und gleich darauf trat der Leutnant Teljanin ins Zimmer; er gehörte zu derselben Eskadron und war von kleiner Gestalt.

Rostow schob die Börse unter das Kopfkissen und drückte die ihm entgegengestreckte kleine, feuchte Hand. Teljanin war vor dem Feldzug zur Strafe für irgend etwas, was er begangen hatte, von der Garde zu diesem Regiment versetzt worden. Er hielt sich hier durchaus tadellos; aber er war nicht beliebt, und namentlich Rostow konnte seinen eines greifbaren Grundes ermangelnden Widerwillen gegen diesen Offizier weder bezwingen noch verbergen.

»Nun, junger Kavallerist, wie macht sich bei Ihnen mein ›Rabe‹?« fragte Teljanin. »Rabe« war der Name des Extrapferdes, welches Teljanin an Rostow verkauft hatte.

Der Leutnant blickte demjenigen, mit dem er sprach, nie in die Augen; seine Augen liefen beständig von einem Gegenstand zum andern umher.

»Ich sah Sie, wie Sie heute vorbeiritten«, fügte er noch hinzu.

»Nun, es ist nichts dagegen zu sagen; es ist ein gutes Pferd«, antwortete Rostow, trotzdem das Pferd, für welches er siebenhundert Rubel gegeben hatte, nicht die Hälfte dieses Preises wert war. »Es hat auf dem linken Vorderfuß etwas zu lahmen angefangen«, fuhr er fort.

»Der Huf hat einen Riß bekommen! Das hat nichts zu bedeuten. Ich werde Ihnen zeigen, wie man da ein Niet macht.«

»Ja, bitte, zeigen Sie mir das«, erwiderte Rostow.

»Gewiß, das will ich tun; ein Geheimnis ist es nicht. Und für das Pferd werden Sie mir noch dankbar sein.«

»Dann werde ich also das Pferd vorführen lassen«, sagte Rostow, der gern von Teljanins Gesellschaft loskommen wollte, und ging hinaus, um anzuordnen, daß das Pferd gebracht werden sollte.

Im Hausflur saß Denisow, mit einer andern Pfeife, zusammengekrümmt auf der Schwelle; vor ihm stand der Wachtmeister und rapportierte etwas. Als Denisow den Junker erblickte, runzelte er die Stirn, zeigte mit dem Daumen über die Schulter nach dem Zimmer, in welchem Teljanin saß, und schüttelte sich voll Widerwillen.

»Ich kann diesen Burschen nicht leiden«, sagte er, ohne sich wegen der Gegenwart des Wachtmeisters Zwang aufzuerlegen.

Rostow zuckte die Achseln, wie wenn er sagen wollte: »Es geht mir ebenso; aber was ist zu tun?« und kehrte, nachdem er die erforderliche Anweisung gegeben hatte, zu Teljanin zurück.

Teljanin saß in derselben lässigen Haltung da, in der ihn Rostow verlassen hatte, und rieb sich die kleinen, weißen Hände.

»Was es doch für widerwärtige Physiognomien gibt«, dachte Rostow, als er in das Zimmer trat.

»Nun, haben Sie das Pferd bringen lassen?« fragte Teljanin, indem er aufstand und mit gleichgültiger Miene um sich blickte.

»Ich habe es angeordnet.«

»Ach, wir wollen lieber gleich selbst hingehen. Ich bin eigentlich nur mit herangekommen, um Denisow nach der gestrigen Order zu fragen. Haben Sie sie bekommen, Denisow?«

»Nein, noch nicht. Wohin gehen Sie denn jetzt?«

»Ich will dem jungen Mann zeigen, wie der Huf seines Pferdes behandelt werden muß«, sagte Teljanin.

Sie traten vor die Haustür und gingen in den Pferdestall. Der Leutnant zeigte, wie das Niet angebracht werden müsse, und ging weg nach Hause.

Als Rostow wieder ins Zimmer zurückkehrte, stand eine Flasche Branntwein auf dem Tisch, und eine Wurst lag dabei. Denisow saß am Tisch und schrieb kritzelnd mit einer Feder auf einem Blatt Papier. Er blickte dem jungen Rostow mit düsterer Miene ins Gesicht.

»Ich schreibe ihr«, sagte er.

Er stützte sich, die Feder in der Hand haltend, mit dem Ellbogen auf den Tisch, und offenbar froh über die Möglichkeit, das, was er schreiben wollte, schneller mündlich zu sagen, teilte er seinem Junker den beabsichtigten Inhalt seines Briefes mit.

»Siehst du wohl, mein Freund«, sagte er, »solange wir nicht lieben, schlafen wir, sozusagen. Wir sind Kinder des Staubes; aber wenn man sich verliebt, wird man ein Gott; man wird rein, wie am ersten Tag nach der Geburt … Wer ist denn da schon wieder? Jag ihn zum Teufel! Ich habe keine Zeit!« schrie er seinem Burschen Lawrenti zu, der ohne eine Spur von Schüchternheit zu ihm trat.

»Nun, wer wird es denn sein? Sie haben es ja selbst befohlen. Der Wachtmeister ist gekommen, um das Geld zu holen.«

Denisow runzelte die Stirn, wollte eine Erwiderung herausschreien, schwieg aber doch still.

»Verdammte Geschichte!« murmelte er dann vor sich hin. »Wieviel Geld war denn noch in der Börse drin?« fragte er Rostow.

»Sieben neue und drei alte.«

»Ach herrje, verdammte Geschichte! Na, was stehst du da wie ein Ölgötze? Ruf den Wachtmeister herein!« schrie Denisow seinen Burschen an.

»Bitte, Denisow, nimm von mir Geld, wenn du welches brauchst; ich habe ja«, sagte Rostow errötend.

»Ich mag nicht von meinen Freunden borgen; ich mag das nicht«, brummte Denisow.

»Du kränkst mich, wenn du nicht von mir Geld annimmst, wie das unter Kameraden Sitte ist. Ich habe wirklich hinreichend Geld.«

»Nein, nein!«

Denisow trat an das Bett, um die Börse unter dem Kopfkissen hervorzuziehen.

»Wo hast du sie hingelegt, Rostow?«

»Unter das untere Kissen.«

»Da ist sie nicht.«

Denisow warf beide Kissen auf den Fußboden. Die Börse war nicht da.

»Na, das ist doch aber seltsam!«

»Warte mal, hast du sie auch nicht mit den Kissen heruntergeworfen?« sagte Rostow, hob die Kissen einzeln auf und schüttelte sie.

Er nahm auch das Deckbett ab und schüttelte es. Die Börse war nicht da.

»Habe ich auch nicht etwa vergessen, wo ich sie hingelegt habe?« sagte Rostow. »Aber nein, ich dachte noch, daß du die Börse wie einen Schatz unter dem Kopf liegen haben wolltest. Hier habe ich die Börse hingelegt. Wo ist sie nun?« wandte er sich an Lawrenti.

»Ich bin nicht ins Zimmer gekommen. Wo Sie sie hingelegt haben, da muß sie auch noch sein.«

»Aber sie ist nicht da!«

»Ja, so sind die Herren immer; sie werfen ihre Sachen irgendwohin und vergessen es dann. Sehen Sie doch einmal in Ihren Taschen nach!«

»Nein, wenn ich nicht an den Schatz gedacht hätte«, erwiderte Rostow; »aber so besinne ich mich ganz bestimmt, daß ich sie hierher gelegt habe.«

Lawrenti durchwühlte das ganze Bett, er sah auch unter die Bettstelle und unter den Tisch, er durchsuchte das ganze Zimmer und blieb schließlich mitten im Zimmer stehen. Denisow hatte schweigend alle Bewegungen Lawrentis mit den Augen verfolgt, und als nun Lawrenti in ratlosem Staunen die Arme auseinanderbreitete und erklärte, die Börse sei nirgends zu finden, da richtete er seinen Blick auf Rostow.

»Rostow, mach keine törichten Späße!«

Rostow fühlte Denisows Blick auf sich gerichtet, blickte auf und schlug in demselben Augenblick die Augen wieder nieder. Alles Blut, das irgendwo unterhalb der Kehle eingeschlossen gewesen war, drang ihm plötzlich ins Gesicht und in die Augen.

Er war nicht imstande Atem zu holen.

»Und im Zimmer ist ja doch niemand gewesen als der Leutnant und Sie selbst. Sie muß doch also hier irgendwo sein«, sagte Lawrenti.

»Nun, du verfluchter Kerl, dann rühr dich und such!« schrie Denisow plötzlich und stürzte mit drohender Gebärde auf den Burschen los. »Die Börse muß gefunden werden, oder ich lasse dich totpeitschen. Alle lasse ich totpeitschen!«

Rostow vermied es, Denisow anzusehen, knöpfte sich die Jacke zu, schnallte den Säbel um und setzte die Mütze auf.

»Ich sage dir, die Börse muß gefunden werden!« schrie Denisow, indem er den Burschen an den Schultern schüttelte und ihn gegen die Wand stieß.

»Laß ihn, Denisow; ich weiß, wer sie genommen hat«, sagte Rostow und ging, ohne aufzublicken, nach der Tür hin.

Denisow stand einen Moment regungslos und dachte nach; dann, nachdem er offenbar verstanden hatte, worauf Rostow hindeutete, ergriff er ihn bei der Hand.

»Unsinn!« schrie er so heftig, daß ihm die Adern an Hals und Stirn anschwollen. »Ich sage dir, du bist verrückt geworden. Ich dulde das nicht. Die Börse ist hier. Ich werde diesem Schurken das Fell abziehen, dann wird sie schon zum Vorschein kommen.«

»Ich weiß, wer sie genommen hat«, sagte Rostow noch einmal mit bebender Stimme und ging zur Tür.

»Und ich sage dir: untersteh dich nicht, das zu tun!« schrie Denisow und stürzte auf den Junker los, um ihn zurückzuhalten.

Aber Rostow riß seinen Arm los und blickte ihm mit solchem Ingrimm gerade und fest ins Gesicht, als ob Denisow sein Todfeind wäre.

»Verstehst du auch, was du sagst?« sprach er mit zitternder Stimme. »Außer mir war niemand im Zimmer als er. Also, wenn er es nicht gewesen ist, so …«

Er war nicht imstande, den Satz zu Ende zu sprechen, und lief aus dem Zimmer.

»Ach, hol dich der Teufel! Euch alle soll der Teufel holen!« Das waren die letzten Worte, die Rostow hörte.

Rostow kam zu Teljanins Quartier.

»Der Herr ist nicht zu Hause; er ist nach dem Quartier des Regimentsstabes geritten«, sagte Teljanins Bursche zu ihm. »Ist etwas passiert?« fragte der Bursche, verwundert über das verstörte Gesicht des Junkers.

»Nein, gar nichts.«

»Wenn Sie ein klein wenig früher gekommen wären, hätten Sie ihn noch getroffen«, sagte der Bursche.

Das Quartier des Regimentsstabes befand sich drei Werst von Salzeneck. Ohne erst noch einmal nach seiner Wohnung zurückzukehren, nahm sich Rostow ein Pferd und ritt dorthin. In dem Dorf, in dem der Stab lag, war ein Wirtshaus, in dem die Offiziere verkehrten. Als Rostow bei dem Wirtshaus anlangte, erblickte er vor der Tür das Pferd Teljanins.

Im zweiten Zimmer des Wirtshauses saß der Leutnant bei einem Teller mit Bratwürstchen und einer Flasche Wein.

»Ah, Sie sind auch hergekommen, junger Mann!« sagte er lächelnd und zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Ja«, antwortete Rostow, als ob es ihn eine große Anstrengung kostete, dieses Wort herauszubringen, und setzte sich an den benachbarten Tisch.

Beide schwiegen; im Zimmer saßen außer ihnen noch zwei Deutsche und ein russischer Offizier. Aber auch diese redeten nicht, und es war weiter nichts zu hören als das Klappern des Messers und der Gabel auf dem Teller des Leutnants und das Geräusch seines Kauens. Als Teljanin mit seinem Frühstück fertig war, zog er eine Doppelbörse aus der Tasche, schob mit seinen nach oben gekrümmten, kleinen, weißen Fingern die Ringe zurück, zog ein Goldstück heraus und gab es, die Augenbrauen hochziehend, dem Kellner.

»Bitte, möglichst schnell«, sagte er.

Das Goldstück war ein neues. Rostow stand auf und trat zu Teljanin hin.

»Erlauben Sie mir, die Börse anzusehen«, sagte er so leise, daß es kaum zu hören war.

Teljanin, dessen Augen im Zimmer umherhuschten, während seine Brauen in die Höhe gezogen blieben, reichte die Börse hin.

»Ja, es ist eine hübsche Börse … Ja … ja«, sagte er und wurde auf einmal blaß. »Besehen Sie sie sich, junger Mann«, fügte er hinzu.

Rostow nahm die Börse in die Hand und besah sowohl die Börse als auch das darin befindliche Geld und richtete dann seinen Blick auf Teljanin. Der Leutnant ließ nach seiner Gewohnheit seine Augen wieder nach allen Seiten umherschweifen und schien plötzlich sehr heiter zu werden.

»Wenn wir erst in Wien sind, werde ich mein Geld bis auf den letzten Groschen verjubeln; aber jetzt in diesen elenden Nestern hier weiß man gar nicht, wie man es ausgeben soll«, sagte er. »Nun, dann geben Sie wieder her, junger Mann; ich möchte gehen.«

Rostow schwieg.

»Und was wollen Sie anfangen? Wollen Sie auch frühstücken? Man bekommt hier ganz gut zu essen«, fuhr Teljanin fort. »Geben Sie her.«

Er streckte die Hand aus und faßte die Börse an; Rostow ließ sie los. Teljanin nahm die Börse und schob sie in die Tasche seiner Reithose; seine Brauen zogen sich lässig in die Höhe, und sein Mund öffnete sich ein wenig, wie wenn er sagen wollte: »Ja, ja, ich stecke meine Börse in die Tasche; das ist eine ganz natürliche, einfache Sache und geht niemand etwas an.«

»Nun, junger Mann?« sagte er tief atmend und blickte unter den hinaufgezogenen Brauen hervor dem jungen Rostow in die Augen.

Eine Art von Lichtschein lief mit der Geschwindigkeit eines elektrischen Funkens aus Teljanins Augen in die Augen Rostows hinüber und wieder zurück, und nochmals hin und zurück, alles in einem Moment.

»Kommen Sie hierher«, sagte Rostow leise, ergriff Teljanin bei der Hand und führte oder zog ihn vielmehr an ein Fenster. »Dieses Geld gehört Denisow; Sie haben es genommen«, flüsterte er dicht an dessen Ohr.

»Was …? Was …? Wie können Sie es wagen? Was?« erwiderte Teljanin undeutlich.

Aber diese Worte klangen wie ein kläglicher, verzweifelnder Aufschrei und wie ein Flehen um Verzeihung. Sowie Rostow diese Stimme hörte, schwand ihm jeder Zweifel, und es fiel ihm ein schwerer Stein vom Herzen. Er empfand Freude; aber zu gleicher Zeit ergriff ihn ein tiefes Mitleid mit dem unglücklichen Menschen, der da vor ihm stand. Jedoch mußte er zu Ende führen, was er begonnen hatte.

»Die Leute hier können sich ja Gott weiß was für Gedanken machen«, murmelte Teljanin, griff nach seiner Mütze und ging voran in ein kleines, leeres Zimmer. »Wir müssen uns miteinander aussprechen …«

»Ich weiß es, und ich werde es beweisen«, sagte Rostow.

»Ich …«

In Teljanins blassem, erschrockenem Gesicht begannen alle Muskeln zu zucken; die Augen liefen noch ebenso unstet umher wie vorher, aber jetzt am Boden, und er schlug sie nicht zu Rostows Gesicht auf. Ein schluchzender Ton wurde vernehmbar.

»Graf …! Stürzen Sie einen jungen Menschen nicht ins Verderben … Da ist das unselige Geld; nehmen Sie es hin …« Er warf die Börse auf den Tisch. »Ich habe einen alten Vater, eine Mutter …!«

Rostow nahm das Geld, wobei er Teljanins Blick vermied, und ging, ohne ein Wort zu sagen, zur Tür. Aber an der Tür blieb er stehen und wandte sich wieder um. »Mein Gott«, sagte er mit Tränen in den Augen, »wie konnten Sie das nur tun?«

»Graf …«, begann Teljanin und näherte sich dem Junker.

»Rühren Sie mich nicht an!« sagte Rostow und wich ihm seitwärts aus. »Wenn Sie in Not sind, so nehmen Sie dieses Geld hier.« Er warf ihm seine eigene Börse hin und verließ eilig das Wirtshaus.

Fußnoten


1 Koseform für Wasili.

Anmerkung des Übersetzers.


V

Am Abend desselben Tages führten in Denisows Quartier die zu seiner Eskadron gehörenden Offiziere untereinander ein sehr lebhaftes Gespräch.

»Und ich sage Ihnen, Rostow, daß Sie den Regimentskommandeur um Entschuldigung bitten müssen«, sagte ein hochgewachsener Vizerittmeister mit schon ergrauendem Haar, gewaltigem Schnurrbart und grobgeschnittenem, runzligem Gesicht zu dem jungen Rostow, der einen dunkelroten Kopf hatte und sich in höchster Aufregung befand.

Dieser Vizerittmeister Kirsten war zweimal wegen seiner Ehrenhändel zum Gemeinen degradiert worden und hatte sich zweimal wieder heraufgearbeitet.

»Ich lasse mir von niemand sagen, daß ich löge!« rief Rostow. »Er hat zu mir gesagt, ich löge, und ich habe zu ihm gesagt, daß er lügt. Und dabei bleibt es. Meinetwegen kann er mir alle Tage Strafdienst aufpacken und mich in Arrest setzen; aber um Entschuldigung zu bitten, dazu kann mich niemand zwingen; denn wenn er als Regimentskommandeur es seiner für unwürdig hält, mir Satisfaktion zu geben, so …«

»Nun warten Sie mal, lieber Freund, und hören Sie mich an«, unterbrach ihn der Vizerittmeister mit seiner tiefen Baßstimme und strich sich ruhig seinen langen Schnurrbart glatt. »Sie haben in Gegenwart anderer Offiziere zu dem Regimentskommandeur gesagt, ein Offizier hätte gestohlen …«

»Ich kann nichts dafür, daß das Gespräch in Gegenwart anderer Offiziere diese Wendung nahm. Es mag sein, daß ich in ihrer Gegenwart nicht hätte davon sprechen sollen; aber ich bin eben kein Diplomat. Gerade darum bin ich Husar geworden, weil ich dachte, daß man in dieser Stellung keine subtilen Rücksichten zu nehmen braucht. Aber er hat zu mir gesagt, ich löge … und da verlange ich Satisfaktion …«

»Alles sehr schön; niemand glaubt, daß Sie feige wären; aber darum handelt es sich gar nicht. Fragen Sie einmal Denisow, ob das jemals dagewesen ist, daß ein Junker vom Regimentskommandeur Satisfaktion verlangt.«

Denisow hörte, auf den Schnurrbart beißend, mit finsterer Miene das Gespräch mit an und hatte augenscheinlich keine Lust, sich daran zu beteiligen. Auf die Frage des Vizerittmeisters schüttelte er verneinend den Kopf.

»Sie haben dem Regimentskommandeur in Gegenwart anderer Offiziere gesagt, daß eine solche Gemeinheit vorgekommen wäre«, fuhr der Vizerittmeister fort. »Bogdanowitsch« (so wurde der Regimentskommandeur Karl Bogdanowitsch Schubert genannt) »hat Ihnen deswegen einen Verweis erteilt.«

»Er hat mir nicht einen Verweis erteilt, sondern gesagt, ich spräche die Unwahrheit.«

»Nun ja, und da haben Sie ihm sehr ungehörig geantwortet und müssen nun um Entschuldigung bitten.«

»Um keinen Preis!« rief Rostow.

»Ein solches Benehmen hätte ich nicht von Ihnen erwartet«, sagte der Vizerittmeister in ernstem, strengem Ton. »Sie wollen nicht um Entschuldigung bitten, und doch haben Sie, lieber Freund, sich nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen das ganze Regiment, gegen uns alle, arg vergangen. Und das will ich Ihnen klarmachen. Sie hätten die Sache doch ordentlich überlegen und Kameraden um Rat fragen sollen, wie Sie sich in dieser Angelegenheit verhalten müßten; aber statt dessen rufen Sie ohne weiteres in Gegenwart von Offizieren einen solchen Skandal hervor. Was soll der Regimentskommandeur jetzt tun? Soll er den betreffenden Offizier vor Gericht stellen und über das ganze Regiment Unehre bringen? Um eines Nichtswürdigen willen das ganze Regiment an den Pranger stellen? Das ist ja wohl Ihre Meinung, nicht wahr? Aber unsere Meinung ist das nicht. Bogdanowitsch ist ein braver, tüchtiger Mann; er hat Ihnen gesagt, Sie sprächen die Unwahrheit. Das ist ja unangenehm; aber da ist weiter nichts zu machen, lieber Freund: Sie haben sich das durch Ihren Übereifer selbst zugezogen. Jetzt aber, wo man die Geschichte still beilegen will, weigern Sie sich aus eigensinnigem Dünkel, um Entschuldigung zu bitten, und wollen die Sache breittreten. Sie empfinden es als ein Unrecht, daß Sie Strafdienst bekommen und daß Sie einen alten, ehrenhaften Offizier um Entschuldigung bitten sollen! Mag Bogdanowitsch im übrigen sein, wie er will, aber jedenfalls ist er ein ehrenhafter, tapferer, alter Oberst. Also das erscheint Ihnen als ein Unrecht; aber das Regiment an den Pranger zu stellen, daraus machen Sie sich kein Gewissen!« Die Stimme des Vizerittmeisters begann zu zittern. »Sie, lieber Freund, geben ja bei unserm Regiment nur eine Art Gastrolle; heute sind Sie hier, morgen werden Sie irgendwo anders Adjutant; was scheren Sie sich darum, wenn man nachher sagt: ›Unter den Pawlograder Offizieren gibt es Diebe!‹ Uns aber ist das nicht so gleichgültig. Nicht wahr, Denisow, uns ist das nicht gleichgültig?«

Denisow schwieg noch immer, rührte sich nicht und blickte nur ab und zu mit seinen blitzenden schwarzen Augen Rostow an.

»Ihnen geht Ihr Dünkel über alles, und darum wollen Sie nicht um Entschuldigung bitten«, fuhr der Vizerittmeister fort; »aber uns alten Offizieren, die wir im Regiment aufgewachsen sind und, so Gott will, auch darin sterben werden, uns liegt die Ehre des Regiments am Herzen, und das weiß Bogdanowitsch. Ja, sehr, sehr liegt sie uns am Herzen, lieber Freund! Aber wie Sie handeln, das ist nicht schön, nicht schön! Ob Sie es mir nun übelnehmen oder nicht: ich sage immer die Wahrheit geradeheraus. Es ist nicht schön!«

Der Vizerittmeister stand auf und wandte sich von Rostow ab.

»Hol’s der Teufel, er hat recht!« schrie Denisow aufspringend. »Na also, Rostow! Na!«

Abwechselnd errötend und erbleichend, sah Rostow bald den einen, bald den andern der Offiziere an.

»Nein, meine Herren, nein … Glauben Sie das nicht von mir … Ich sehe sehr wohl ein … Sie tun mir mit Ihrem Urteil über mich unrecht … Ich … um meinetwillen … ich werde für die Ehre des Regiments … Nein, ich werde es im Kampf zeigen, daß auch für mich die Ehre der Fahne … Nun ja, ich gebe es zu, es ist richtig, ich habe einen Fehler begangen …!« Die Tränen standen ihm in den Augen. »Ich habe einen Fehler begangen, einen argen Fehler …! Nun, was verlangen Sie noch weiter?«

»Sehen Sie, so ist’s recht, Graf!« rief der Vizerittmeister, indem er sich wieder zu ihm umdrehte und ihm mit seiner großen Hand auf die Schulter schlug.

»Ich habe es dir ja gesagt«, schrie Denisow, »er ist ein prächtiger Bursche!«

»Das ist brav von Ihnen, Graf«, sagte der Vizerittmeister noch einmal, wie wenn er Rostow für sein Eingeständnis durch die Anrede mit dem Titel belohnen wollte. »Gehen Sie hin und bitten Sie um Entschuldigung, Euer Erlaucht; vorwärts!«

»Meine Herren, ich werde alles tun, niemand soll von mir auch nur ein Wort weiter über diese Sache hören«, sagte Rostow in flehendem Ton, »aber um Entschuldigung bitten kann ich nicht; bei Gott, das kann ich nicht; machen Sie mit mir, was Sie wollen! Ich kann doch nicht wie ein Knabe um Entschuldigung und um Verzeihung bitten!«

Denisow fing an zu lachen.

»Sie werden den Schaden davon haben«, sagte Kirsten. »Bogdanowitsch trägt einem dergleichen nach; Sie werden für Ihren Eigensinn büßen.«

»Bei Gott, es ist von mir nicht Eigensinn! Ich kann Ihnen nicht beschreiben, was es für ein Gefühl ist; aber …«

»Na, tun Sie, was Sie wollen«, sagte der Vizerittmeister. »Wo ist denn aber dieser schändliche Mensch geblieben?« fragte er Denisow.

»Er hat sich krank gemeldet; es ist Order da, ihn morgen aus der Liste zu streichen«, antwortete Denisow.

»Es muß bei ihm Krankheit gewesen sein; anders ist es gar nicht zu erklären«, meinte der Vizerittmeister.

»Krankheit oder nicht, aber mir soll er nicht unter die Augen kommen … ich schlage ihn tot …«, schrie Denisow blutdürstig. Da trat Scherkow ins Zimmer.

»Wie kommst du hierher?« fragten die Offiziere sofort den Ankömmling.

»Es geht los, meine Herren. Mack mit seiner ganzen Armee hat kapituliert.«

»Du schwindelst uns etwas vor!«

»Ich habe ihn selbst gesehen.«

»Wie? Du hast Mack lebendig gesehen? Mack in eigener Person?«

»Es geht los! Es geht los! Gebt ihm eine Flasche Wein für diese Nachricht. Wie kommst du aber eigentlich hierher?«

»Wegen dieses dummen Kerls, des Mack, bin ich wieder zum Regiment zurückgeschickt worden. Ein österreichischer General hat sich über mich beschwert. Ich hatte ihm zu Macks Ankunft Glück gewünscht … Was ist denn mit dir, Rostow? Du siehst ja so rot aus, als ob du eben aus dem Schwitzbad kämst?«

»Hier ist eine sehr widerwärtige Geschichte passiert, Bruder.«

Der Regimentsadjutant trat ein und bestätigte die von Scherkow gebrachte Nachricht. Für morgen war der Aufbruch befohlen.

»Es geht los, meine Herren!«

»Nun, Gott sei Dank! Wir haben schon zu lange stillgelegen.«

VI


Kutusow zog sich in der Richtung auf Wien zurück und brach dabei die Brücken über den Inn bei Braunau und über die Traun bei Linz hinter sich ab. Am 23. Oktober überschritten die russischen Truppen die Enns. Der russische Train, die Artillerie und die Truppenkolonnen zogen am Mittag durch die Stadt Enns, die auf beiden Seiten des überbrückten Flusses liegt.

Es war ein warmer, regnerischer Herbsttag. Die weite Aussicht, die sich von der Anhöhe erschloß, wo die zum Schutz der Brücke dienenden russischen Batterien standen, wurde bald unvermutet von dem dünnen Schleier eines schräg fallenden Regens verhüllt, bald eröffnete sie sich wieder ebenso unvermutet, und beim hellen Schein der Sonne wurden bis in weite Ferne die wie lackiert aussehenden Gegenstände deutlich sichtbar. Unten zu ihren Füßen sahen die Artilleristen das Städtchen mit seinen weißen Häusern und roten Dächern, mit der Kirche und mit der Brücke, auf deren beiden Seiten die russischen Truppen in dichtgedrängten Massen einherzogen. An einer Krümmung der Donau sah man Schiffe und eine Insel und ein Schloß mit einem Park, bespült von den Gewässern der dort in die Donau sich ergießenden Enns. Man sah das felsige, mit Fichtenwald bedeckte linke Donauufer und darüber hinaus in geheimnisvoller Ferne grüne Berghöhen und bläuliche Schluchten. Auch die Türme eines Klosters waren sichtbar; sie ragten aus einem anscheinend von keinem Menschen betretenen, wilden Fichtenwald hervor. Und in der Ferne nach vorn zu, auf dem Berg jenseits der Enns, erblickten die Artilleristen die Tirailleure des Feindes.

Auf der Anhöhe stand zwischen den Geschützen ganz vorn der die Arrieregarde befehligende General mit einem Offizier à la suite und betrachtete die Gegend durch ein Fernglas. Etwas weiter zurück saß auf einer Lafette Neswizki, der vom Oberkommandierenden mit einem Auftrag zur Arrieregarde geschickt worden war. Von dem Kosaken, der ihn begleitete, hatte er sich eine Tasche und eine Flasche reichen lassen und traktierte nun die Offiziere mit Pastetchen und echtem Doppelkümmel. Die Offiziere umgaben ihn fröhlich; die einen knieten, andere saßen mit untergeschlagenen Beinen auf dem feuchten Rasen.

»Ja, dieser österreichische Fürst war kein Dummkopf, daß er sich hier ein Schloß gebaut hat«, sagte Neswizki. »Eine herrliche Lage …! Aber warum essen Sie nicht, meine Herren?«

»Ich danke gehorsamst, Fürst«, antwortete einer der Offiziere, dem es ein besonderes Vergnügen war, sich mit einem so hohen Offizier vom Stab unterhalten zu dürfen. »Es ist eine wunderschöne Lage. Wir sind dicht am Park vorbeigekommen. Wir haben zwei Hirsche gesehen; und das Gebäude ist großartig!«

»Sehen Sie nur, Fürst«, sagte ein anderer, der die größte Lust hatte, noch ein Pastetchen zu nehmen, sich aber genierte und deshalb tat, als betrachte er die Gegend. »Sehen Sie nur, unsere Infanterie ist da schon eingedrungen. Da, da, auf der kleinen Wiese hinter dem Dorf, da schleppen drei Mann etwas. Die werden sich das Schloß gehörig vornehmen«, sagte er mit sichtlicher Billigung.

»Wahrhaftig, Sie haben recht«, antwortete Neswizki. »Aber, wissen Sie, ich würde mir etwas anderes wünschen«, fügte er hinzu, während er, die hübschen, feuchten Lippen bewegend, an einem Bissen Pastete kaute; »daß wir das Gebäude da gehörig vornehmen könnten.«

Er zeigte auf das Kloster mit den Türmen, das auf dem Berg sichtbar war. Er lächelte, seine Augen zogen sich zusammen und fingen an zu blitzen.

»Das wäre fein, meine Herren!«

Die Offiziere lachten.

»Wenn wir nur diesen Nönnchen ein bißchen angst machen könnten. Es heißt, es wären junge Italienerinnen darin. Wahrhaftig, fünf Jahre meines Lebens gäbe ich darum!«

»Die langweilen sich doch gewiß dadrin«, meinte lachend ein andrer Offizier in noch dreisterem Ton.

Unterdessen zeigte der weiter vorn stehende Offizier à la suite dem General etwas; der General blickte durch das Fernrohr.

»Na ja, es ist so, es ist so«, sagte der General zornig, indem er das Fernrohr von den Augen nahm und die Achseln zuckte. »Es ist so; sie werden den Brückenübergang beschießen. Warum sich unsere Leute nur nicht mehr beeilen?«

Auf der anderen Seite des Flusses war schon mit bloßem Auge der Feind und eine feindliche Batterie zu sehen, aus der sich ein milchweißes Wölkchen loslöste. Nach dem Erscheinen des Wölkchens ertönte ein ferner Schuß, und man konnte sehen, wie unsere Truppen an der Brücke auf einmal zu eilen anfingen.

Neswizki stand stöhnend auf und trat mit lächelnder Miene zu dem General hin.

»Wäre es Euer Exzellenz nicht gefällig, einen Bissen zu essen?« fragte er.

»Eine üble Geschichte!« sagte der General, ohne ihm zu antworten. »Die Unsrigen haben sich zu viel Zeit gelassen.«

»Soll ich vielleicht hinreiten, Euer Exzellenz?« fragte Neswizki.

»Ja, bitte, reiten Sie hin«, antwortete der General und wiederholte ihm den Befehl, den er schon einmal mit allen Einzelheiten hatte hinmelden lassen. »Und sagen Sie den Husaren, sie sollen als die letzten über die Brücke gehen und die Brücke in Brand stecken, wie ich befohlen habe; auch sollen die Brennstoffe auf der Brücke vorher noch einmal revidiert werden.«

»Sehr wohl«, antwortete Neswizki.

Er rief seinen Kosaken mit dem Pferd, befahl ihm, die Tasche und die Flasche in Verwahrung zu nehmen, und schwang seinen schweren Körper behend in den Sattel.

»Ich will den Nönnchen einen Besuch machen, wahrhaftig«, sagte er zu den Offizieren, die ihn lächelnd ansahen, und ritt auf einem gewundenen Fußpfad bergab.

»Wir wollen mal sehen, wie weit unsere Geschütze tragen, Hauptmann; fangen Sie an zu schießen!« sagte der General, zu dem Batteriechef gewendet. »Machen Sie sich ein Amüsement, damit Sie sich nicht gar zu sehr langweilen.«

»Die Mannschaft an die Geschütze!« kommandierte der Offizier.

Im nächsten Augenblick kamen die Artilleristen von den Feuern, bei denen sie gesessen hatten, fröhlich herbeigelaufen und luden die Kanonen.

»Erstes Geschütz, Feuer!« ertönte das Kommando.

Mit einem energischen Ruck sprang die Kanone zurück. Sie erdröhnte von einem betäubenden metallischen Klang, und über die Köpfe all der Unsrigen, die sich am Fuß der Anhöhe befanden, flog pfeifend eine Granate; sie erreichte den Feind bei weitem nicht; ein Wölkchen ließ die Stelle erkennen, wo sie niederfiel und krepierte.

Die Gesichter der Offiziere und Soldaten waren bei diesem Ton heiter geworden; alle waren aufgestanden und beobachteten gespannt die Bewegungen unserer Truppen da unten, die wie auf einem Präsentierteller zu sehen waren, sowie gegenüber die Bewegungen des heranrückenden Feindes. Gerade in diesem Augenblick trat die Sonne völlig aus den Wolken heraus, und der prächtige Klang des einzelnen Schusses und der helle Glanz der Sonne wirkten zusammen, um alle Herzen kühn und froh zu machen.

VII


Schon waren zwei feindliche Kanonenkugeln über die Brücke hinweggeflogen, und auf der Brücke war ein gewaltiges Gedränge. In der Mitte der Brücke stand Fürst Neswizki, der vom Pferd gestiegen war und nun seinen dicken Leib dicht an das Geländer preßte. Lachend blickte er zu seinem Kosaken zurück, der, die beiden Pferde am Zügel haltend, einige Schritte hinter ihm stand. Sowie Fürst Neswizki den Versuch machte, vorwärtszukommen, wurde er jedesmal von Soldaten und Fuhrwerken sofort wieder zurückgedrängt und gegen das Geländer gedrückt, und es blieb ihm nichts weiter übrig als zu lächeln.

»Aber hör mal, Brüderchen!« sagte der Kosak zu einem Trainsoldaten mit einem Fuhrwerk, der rücksichtslos auf die Infanterie losfuhr, welche ganz dicht die Räder und Pferde umdrängte, »aber hör mal! So warte doch ein bißchen; du siehst doch, daß ein General hindurch will.«

Aber der Trainsoldat achtete gar nicht auf den Generalstitel, sondern rief den Soldaten, die ihm den Weg versperrten, zu:

»Heda! Liebe Landsleute, haltet euch links, wartet mal!«

Aber seine lieben Landsleute marschierten Schulter an Schulter gedrängt, so daß die Bajonette gegeneinanderstießen, ohne sich aufhalten zu lassen, in einer einzigen, festgeschlossenen Masse über die Brücke. Fürst Neswizki sah über das Geländer und erblickte unter sich die schnellen, rauschenden, kleinen Wellen der Enns, welche Schaumkrönchen bildeten, zusammenflossen, von den Brückenpfählen zurückprallten und eine die andere weitertrieben. Und als er dann wieder nach der Brücke hinschaute, sah er die ebenso gleichförmigen, lebenden Wogen der Soldaten, die Tschakos mit den Überzügen, die Schnüre an den Tschakos, die Tornister, die Bajonette, die langen Gewehre, und unter den Tschakos die Gesichter mit den breiten Backenknochen, mit den eingefallenen Wangen und dem sorglosen, müden Ausdruck, und dann die Beine, die sich rastlos in dem klebrigen Schmutz weiterbewegten, der die Brückenbohlen überzog. Zuweilen drängte sich zwischen den gleichförmigen Wogen der Soldaten, wie ein weißer Schaumfleck auf den Wellen der Enns, ein Offizier mit vorwärts, in einem Pelerinenmantel und mit einer von den Soldatengesichtern abstechenden Physiognomie; manchmal wurde, wie ein auf dem Fluß tanzendes Holzspänchen, von den Wogen der Infanterie ein zu Fuß gehender Husar, ein Offiziersbursche oder ein Ortsbewohner über die Brücke getragen; manchmal schwamm, wie eine auf dem Fluß treibende Holzklobe, eine von allen Seiten dicht umdrängte Fuhre mit Kompanie-oder Offiziersbagage, hochbepackt und mit Lederbezügen bedeckt, über die Brücke.

»Nu seh einer, das ist ja eine Flut wie bei einem Dammbruch«, sagte der zum Stillstehen gezwungene Kosak ganz verzweifelt. »Kommen denn noch viele von euch?«

»Eine Million, weniger einen Mann!« antwortete ein dicht an ihm vorbeikommender lustiger Soldat in einem zerrissenen Mantel und zwinkerte dabei mit den Augen; dann verschwand er sofort wieder in dem weiterflutenden Menschenstrom. Hinter ihm kam ein andrer, schon älterer Soldat.

»Wenn er« (»er« war der Feind) »jetzt anfängt, auf die Brücke loszupfeffern, dann brauchst du dir nie wieder den Kopf zu kratzen«, sagte der alte Soldat finster, zu einem Kameraden gewendet.

Auch dieser ging vorüber. Hinter ihm fuhr ein anderer Soldat auf einem Fuhrwerk.

»Wo hast du denn nur die Fußlappen hingestopft, nichtswürdiger Kerl?« sagte ein Offiziersbursche, der eilig hinter dem Wagen herging und hinten in ihm herumwühlte.

Auch dieser zog mit dem Fuhrwerk vorüber. Hinter ihm kamen fröhliche, offenbar angetrunkene Soldaten.

»Nein, Bruder, wie er dem Kerl ohne weiteres mit dem Kolben in die Zähne schlug …«, sagte lustig ein Soldat mit hoch aufgeschürztem Mantel und machte dabei eine weitausholende Bewegung mit dem Arm.

»Ja, ja, es war aber auch ein prachtvoller Schinken«, antwortete ein anderer lachend.

Sie gingen vorbei, so daß Neswizki nicht erfuhr, wem in die Zähne geschlagen worden war, und in welcher Beziehung der Schinken dazu stand.

»Was lauft ihr denn so, Kerle!« sagte ein Unteroffizier ärgerlich und vorwurfsvoll. »Weil er eine ganz gewöhnliche kalte Kanonenkugel abgefeuert hat, da denkt ihr gleich, ihr werdet alle erschossen.«

»Wie die Kanonenkugel so an mir vorbeiflog, Onkelchen«, sagte ein junger Soldat mit übergroßem Mund, indem er sich halbtot lachen wollte, »da wurde ich ganz starr vor Schreck. Wahrhaftigen Gottes, ich habe einen furchtbaren Schreck bekommen, einen ganz gewaltigen Schreck!« Er prahlte förmlich mit der Angst, die er gehabt hatte.

Auch dieser ging vorüber. Hinter ihm folgte ein Wagen von ganz anderem Aussehen als alle, die vorher vorbeigefahren waren. Es war ein mit zwei Pferden bespannter Leiterwagen, hochbeladen, wie es schien, mit der ganzen Einrichtung eines Hauses; hinter dem Wagen, den ein daneben gehender Deutscher lenkte, war eine schöne, bunte Kuh mit gewaltigem Euter angebunden. Auf den Federbetten saß eine Frau mit einem Säugling, eine Alte und ein junges, gesund aussehendes, rotbackiges deutsches Mädchen. Offenbar wurden diese fortziehenden Einwohner aufgrund einer besonderen Erlaubnis herübergelassen. Die Augen aller Soldaten richteten sich auf die Frauen, und solange der Wagen, der nur Schritt vor Schritt vorwärtskam, über die Brücke fuhr, bezogen sich alle Bemerkungen der Soldaten nur auf die beiden jüngeren weiblichen Wesen. Auf allen Gesichtern lag fast das gleiche Lächeln, welchem unanständige Gedanken mit Bezug auf diese Frauen zugrunde lagen.

»Seht mal, der Wurstmacher1 macht sich auch davon!«

»Verkauf uns deine Frau!« sagte ein andrer Soldat, sich an den Deutschen wendend; dieser ging, die Augen auf den Boden gerichtet, zornig und ängstlich mit großen Schritten weiter.

»Hat die Junge sich aber herausgeputzt! Das sind ein paar Racker!«

»Bei denen müßtest du in Quartier liegen, Fedotow.«

»Alles schon dagewesen, Bruder.«

»Wohin fahrt ihr?« fragte ein Infanterieoffizier, der einen Apfel aß und gleichfalls mit leisem Lächeln das hübsche Mädchen ansah.

Der Deutsche schloß die Augen und deutete dadurch an, daß er nichts verstände.

»Wenn du magst, nimm ihn«, sagte der Offizier und reichte dem Mädchen den Apfel hin.

Das Mädchen lächelte und nahm den Apfel. Neswizki, wie alle die auf der Brücke waren, verwandte kein Auge von den Frauen, solange diese vorbeifuhren. Als der Wagen mit den Frauen vorbei war, kamen wieder Soldaten der gleichen Art, mit denselben Gesprächen, und endlich blieben sie alle stehen. Wie das häufig so vorkommt, waren am Ausgang der Brücke die Pferde eines Kompaniewagens stätisch geworden, und die ganze Menschenmasse mußte warten.

»Warum gehen die da vorn denn nicht weiter? Es ist keine Ordnung drin!« sagten die Soldaten. »Was drängst du, Kerl! Du kannst wohl nicht warten? Es wird noch schlimmer kommen, wenn er die Brücke in Brand schießt. Seht mal, ein Offizier ist da auch eingekeilt.« So redeten die Soldaten hier und da in der zum Stehen gekommenen Masse; alle sahen einander an, und alle drängten nach vorn zum Ausgang.

Während Neswizki von der Brücke herab auf das Wasser der Enns blickte, hörte er auf einmal einen ihm noch unbekannten Ton, wie wenn ein großer Gegenstand sich schnell näherte und ins Wasser plumpste.

»Nun seht mal, wie weit er schon reicht!« rief ärgerlich ein in der Nähe stehender Soldat, der sich nach dem Geräusch umwandte.

»Er ermuntert uns, schneller herüberzugehen«, sagte ein anderer beunruhigt.

Die Menge setzte sich wieder in Bewegung. Neswizki begriff, daß der große Gegenstand eine Kanonenkugel gewesen war.

»Heda, Kosak, bring mir mein Pferd her!« rief er. »Na ihr! Ausweichen, ausweichen! Platz gemacht!«

Nur mit größter Anstrengung arbeitete er sich zu seinem Pferd durch. Unaufhörlich schreiend ritt er vorwärts. Die Soldaten drängten sich zur Seite, um ihm Platz zu machen, drängten dann aber wieder von neuem so stark gegen ihn, daß sie ihm das Bein quetschten, doch konnten die nächsten nichts dafür, da sie selbst noch heftiger gedrängt wurden.

»Neswizki! Neswizki! So höre doch, Mensch!« ertönte in diesem Augenblick von hinten eine heisere Stimme.

Neswizki wandte sich um und erblickte in einer Entfernung von fünfzehn Schritten Waska Denisow, der durch die lebendige, sich fortbewegende Infanteriemasse von ihm getrennt war; sein Gesicht unter dem schwarzen, zerzausten Haar war dunkelrot, die Mütze saß im Nacken, der Dolman hing keck auf der einen Schulter.

»Befiehl doch diesen verdammten Kerlen, daß sie Platz machen!« schrie Denisow; er befand sich augenscheinlich in einem Wutanfall: blitzend fuhren seine kohlschwarzen, blutunterlaufenen Augen nach allen Seiten umher; in der kleinen, unbehandschuhten Faust, die ebenso rot war wie sein Gesicht, hielt er den in der Scheide steckenden Säbel und fuchtelte mit ihm wild umher.

»Sieh da! Waska!« antwortete Neswizki erfreut. »Aber warum bist du denn so grimmig?«

»Die Eskadron kann nicht durch«, schrie Waska Denisow, zornig seine weißen Zähne zeigend, und gab seinem schönen Vollblutrappen, dem »Beduinen«, die Sporen, welcher, sich an den Bajonetten stoßend, unruhig die Ohren bewegte, schnob, weißen Schaum vom Gebiß um sich spritzte, mit den Hufen dröhnend auf die Brückenbohlen schlug und willens schien, über das Brückengeländer zu springen, wenn es ihm sein Reiter erlaubt hätte.

»Was soll das heißen? Wie die Hammel! Geradezu wie die Hammel! Weg da! Macht Platz! Halt da, du mit der Fuhre! Verfluchter Kerl! Ich haue dich mit dem Säbel in Stücke!« schrie er, zog wirklich blank und schwang den bloßen Säbel.

Die Soldaten drängten sich mit erschrockenen Gesichtern zusammen, und Denisow gelangte zu Neswizki.

»Wie kommt denn das, daß du heute nicht betrunken bist?« fragte Neswizki den Rittmeister, als dieser zu ihm heranritt.

»Nicht einmal zum Trinken wird einem heute Zeit gelassen!« antwortete Waska Denisow. »Den ganzen Tag wird das Regiment bald hierhin, bald dahin gehetzt. Wenn wir fechten sollen, na gut, dann wollen wir fechten. Aber was dieses Umherschicken vorstellen soll, das mag der Teufel wissen!«

»Wie elegant du heute aussiehst!« bemerkte Neswizki, der den neuen Dolman und die neue Satteldecke Denisows erstaunt betrachtete.

Denisow lächelte, zog aus der Säbeltasche ein Taschentuch, das einen Parfümgeruch verbreitete, und hielt es dem Fürsten Neswizki unter die Nase.

»Ja, das muß so sein. Ich komme ins Gefecht; da habe ich mich vorher rasiert, mir die Zähne geputzt und mich parfümiert.«

Die stattliche Gestalt des von seinem Kosaken begleiteten Neswizki und das energische Auftreten Denisows, der mit dem Säbel umherfuchtelte und ein wildes Geschrei machte, wirkten doch so, daß sie sich nach dem andern Ende der Brücke durchzwängten und dort nun die Infanterie aufhalten konnten. Neswizki fand an diesem Ende der Brücke den Oberst, dem er den Befehl zu überbringen hatte, richtete seinen Auftrag aus und ritt wieder zurück.

Nachdem Denisow den Weg freigemacht hatte, hielt er am Anfang der Brücke an. Lässig seinen Hengst zurückhaltend, der den andern Pferden entgegenstrebte und mit dem Huf schlug, betrachtete er die ihm entgegenkommende Eskadron. Jetzt ertönten auf den Brückenbohlen die hellen Hufschläge (es klang, als ob einige Pferde galoppierten), und die Eskadron, mit den Offizieren an der Spitze, in einer Breite von vier Mann, zog sich über die Brücke und betrat das jenseitige Ufer.

Die zurückgehaltenen Infanteristen drängten sich in dem zerstampften Schmutz bei der Brücke und betrachteten mit jenem besonderen mißgünstigen Gefühl der Fremdheit und des Spottes, welches verschiedene Truppengattungen gewöhnlich im Verkehr miteinander bekunden, die sauberen, eleganten Husaren, die in guter Ordnung an ihnen vorbeizogen.

»Wie die Kerlchen geputzt sind! Auf das Podnowinskoje2 gehören sie hin!«

»Aber was bringen sie für Nutzen? Die werden ja nur zum Staat gehalten!« meinte ein andrer.

»Die Infanterie soll nicht solchen Staub machen!« witzelte ein Husar, dessen Pferd tänzelnd hin und her trat und dabei einen Infanteristen mit Schmutz bespritzte.

»Wenn du mit dem Tornister ein paar Tagemärsche machtest, dann würden deine Schnüre schön abgerieben sein!« erwiderte der Infanterist und wischte sich mit dem Ärmel den Schmutz aus dem Gesicht. »Wer so auf dem Pferd sitzt, ist eigentlich gar kein Mensch, sondern so eine Art Vogel!«

»Ja, dich müßte man auf ein Pferd setzen, Sikin; du würdest dich da nett ausnehmen!« scherzte ein Gefreiter über den mageren, von der Last des Tornisters krumm gebogenen kleinen Soldaten.

»Nimm einen Stock zwischen die Beine, dann hast du auch ein Pferd!« rief der Husar.

Fußnoten


1 Eine den Russen geläufige geringschätzige Bezeichnung für die Deutschen.

Anm. des Übersetzers.


2 Ein Boulevard in Moskau.

Anm. des Übersetzers.


VIII


Die noch übrige Infanterie drängte sich am Zugang der Brücke trichterförmig zusammen und marschierte dann eilig hinüber. Endlich hatten alle Fuhrwerke die Brücke passiert, das Gedränge nahm ab, und das letzte Bataillon betrat die Brücke. Nur die Husaren der Denisowschen Eskadron und die einer anderen seitwärts auf Vorposten befindlichen, sowie einige Kosaken waren auf dem jenseitigen Ufer dem Feind gegenüber zurückgeblieben. Der Feind, den man von dem gegenüberliegenden Berg aus in der Ferne sehen konnte, war von unten, von der Brücke aus, noch nicht zu sehen, da für die im Flußtal Befindlichen der Horizont durch eine nicht mehr als eine halbe Werst entfernte vorliegende Anhöhe begrenzt wurde. Nach dem Feind zu lag eine freie, ansteigende Fläche, auf welcher sich hier und da kleine Trupps plänkelnder Kosaken bewegten. Plötzlich erschienen oben auf jener Anhöhe, da wo der Weg über sie hinführte, Truppen in blauen Kapotmänteln und Geschütze. Das waren die Franzosen. Die Kosakenpatrouillen zogen sich im Trab den Abhang hinunter zurück. Sämtliche Offiziere und Mannschaften der Denisowschen Eskadron gaben sich zwar alle Mühe, von anderen Dingen zu reden und nach rechts und links zu blicken; aber dabei dachten sie doch unaufhörlich einzig und allein an das, was dort auf dem Berg vorging, und wandten ihre Augen fortwährend nach den am Horizont auftauchenden Flecken hin, die sie als feindliche Truppen erkannten. Das Wetter hatte sich nach dem Mittag wieder aufgehellt; die Sonne senkte sich in klarem Glanz über der Donau und den sie umgebenden dunklen Bergen herab. Die Luft war still, und von der Anhöhe, die der Feind besetzt hatte, klangen mitunter Hornsignale und Geschrei zu den Unsrigen herüber. Zwischen der Eskadron und den Feinden befand sich jetzt niemand mehr als einige kleine Patrouillen. Ein freier Raum von etwa achthundert Schritten lag zwischen der Eskadron und den Franzosen. Der Feind schoß nicht mehr, und nur um so deutlicher machte sich jene strenge, drohende, unnahbare und dabei undefinierbare Grenzlinie fühlbar, welche zwei feindliche Heere voneinander trennt.

»Einen Schritt über diese Grenze, diese mahnende Grenze hinaus, welche die Lebenden von den Toten trennt, und – man kennt kein Leid mehr, ist tot. Und was ist dort? wer ist dort? Dort hinter diesem Feld und dem Baum und dem von der Sonne beschienenen Dach? Niemand weiß es, und doch möchte es jeder wissen; jeder fürchtet sich, diese Grenze zu überschreiten, und doch möchte er es tun; er weiß, daß er sie früher oder später wird überschreiten müssen und erfahren wird, was dort, jenseits dieser Grenze ist, ebenso wie er unweigerlich erfahren wird, was dort, jenseits des Grabes ist. Aber dabei ist man doch sowohl selbst stark und gesund und froh und erregt, als auch von ebenso gesunden, erregten, lebensfrohen Menschen umgeben.« So denkt jeder Mensch, der sich dem Feind gegenüber befindet, oder wenn er nicht so denkt, so fühlt er wenigstens so, und dieses Gefühl verleiht allen Vorgängen in solchen Augenblicken einen besonderen Glanz und dem Eindruck, den sie hervorbringen, eine froh stimmende Schärfe.

Auf dem Hügel bei den Feinden erschien ein Rauchwölkchen von einem Schuß, und eine Kanonenkugel flog pfeifend über die Köpfe der Husareneskadron hin. Die Offiziere, die zusammengestanden hatten, ritten an ihre Plätze. Die Husaren bemühten sich eifrig, ihre Pferde in Reih und Glied zu halten. Alles schwieg in der Eskadron. Alle blickten nach vorn auf den Feind und auf den Eskadronchef, in Erwartung seines Kommandos. Eine zweite, eine dritte Kugel flog vorbei. Es war offenbar, daß der Feind auf die Husaren zielte; aber die Kugeln flogen mit gleichmäßigem, schnellem Pfeifen über die Köpfe der Husaren weg und schlugen irgendwo hinter ihnen ein. Die Husaren sahen sich nicht um; aber bei jedem Ton einer vorüberfliegenden Kugel hob sich wie auf Kommando die ganze Eskadron mit ihren bei aller Verschiedenheit doch so gleichförmigen Gesichtern, den Atem anhaltend, solange die Kugel flog, ein wenig in den Steigbügeln in die Höhe und ließ sich dann wieder zurücksinken. Ohne den Kopf zu drehen, schielten die Soldaten einer nach dem andern hin und beobachteten neugierig, welchen Eindruck die Sache auf die Nebenmänner machte. Auf jedem Gesicht, von Denisow bis zum Hornisten, zeigte sich um Lippen und Kinn herum ein und derselbe gemeinsame Zug, ein Ausdruck von Kampflust, Spannung und Erregung. Der Wachtmeister sah die Soldaten mit finsterem Gesicht an, wie wenn er ihnen eine Strafe androhte. Der Junker Mironow bückte sich jedesmal, wenn eine Kugel vorüberflog. Rostow war auf dem linken Flügel der Eskadron und saß auf seinem »Raben«, dessen Beine zwar nicht recht zuverlässig waren, der aber recht stattlich aussah; der junge Mann machte ein so glückliches Gesicht wie ein Schüler, der in Gegenwart eines großen Publikums beim Examen aufgerufen wird und bestimmt weiß, daß er sich auszeichnen wird. Mit heller, heiterer Miene blickte er rings um sich alle an, wie wenn er sie bitten wollte, darauf zu achten, wie ruhig er den Kugeln zum Trotz dastand. Aber auch auf seinem Gesicht zeigte sich in der Mundpartie unwillkürlich eben jener Zug, der auf ein neuartiges, ernstes Gefühl schließen ließ.

»Wer bückt sich da? Junker Mironow! Das paßt sich nicht! Sehen Sie auf mich!« schrie Denisow, der nicht auf einem Fleck bleiben konnte und vor der Front der Eskadron hin und her sprengte.

Waska Denisows Gesicht mit der aufgestülpten Nase und dem schwarzen Haar und seine gesamte kleine, kräftige Gestalt mit der sehnigen, kurzfingrigen, behaarten Faust, in der er den Griff des blank gezogenen Säbels hielt, das alles sah ganz genau ebenso aus wie immer, namentlich abends, wenn er seine zwei Flaschen Wein getrunken hatte. Er war nur noch röter als gewöhnlich, und nachdem er seinen zottigen Kopf, wie Vögel beim Trinken, in die Höhe gereckt und mit seinen kleinen Füßen dem braven »Beduinen« schonungslos die Sporen in die Seite gedrückt hatte, galoppierte er, mit dem Oberkörper nach hinten fallend, nach dem andern Flügel der Eskadron und schrie mit heiserer Stimme, die Leute sollten ihre Pistolen noch einmal nachsehen. Er kam in die Nähe des Vizerittmeisters Kirsten. Dieser ritt auf seiner breit gebauten, kräftigen Stute dem Rittmeister im Schritt entgegen. Der Vizerittmeister mit seinem langen Schnurrbart war ernst wie immer; nur seine Augen glänzten stärker als gewöhnlich.

»Was hilft das alles!« sagte er zu Denisow. »Zum Schlagen kommt es doch nicht. Du wirst sehen, wir müssen wieder zurückgehen.«

»Weiß der Teufel, was sie für Geschichten machen!« brummte Denisow. »Ah, Rostow!« rief er dem Junker zu, als er dessen fröhliches Gesicht bemerkte. »Na, nun ist’s da, worauf du so lange gewartet hast.«

Er lächelte beifällig, offenbar erfreut über die Haltung des Junkers. Rostow fühlte sich völlig glücklich. In diesem Augenblick erschien ein höherer Kommandeur auf der Brücke. Denisow galoppierte zu ihm hin.

»Exzellenz! Erlauben Sie, daß wir attackieren! Ich werde sie in die Flucht jagen!«

»Was reden Sie von Attackieren!« erwiderte der höhere Kommandeur in verdrießlichem Ton und zog das Gesicht in Falten, wie wenn ihn eine Fliege belästigte. »Wozu halten Sie denn hier noch? Sie sehen ja, daß die Tirailleure sich zurückziehen. Führen Sie die Eskadron zurück!«

Die Eskadron überschritt die Brücke und kam außer Schußweite, ohne auch nur einen Mann verloren zu haben. Hinter ihr ritt auch die zweite Eskadron, welche auf Vorposten gewesen war, herüber, und auch die letzten Kosaken räumten das jenseitige Ufer.

Die beiden Pawlograder Eskadronen gingen, nachdem sie die Brücke überschritten hatten, eine hinter der andern wieder bergauf zurück. Der Regimentskommandeur Karl Bogdanowitsch Schubert ritt zu Denisows Eskadron heran und kam im Schritt nicht weit von Rostow vorüber, ohne ihn im geringsten zu beachten, obwohl sie nach dem Renkontre in der Teljaninschen Affäre einander jetzt zum erstenmal wiedersahen. Rostow, der sich hier in der Front in der Gewalt des Mannes fühlte, gegen den er sich, wie er jetzt urteilte, vergangen hatte, verwandte kein Auge von dem herkulischen Rücken, dem blonden Hinterkopf und dem roten Hals des Regimentskommandeurs. Mitunter hatte Rostow die Vorstellung, daß Bogdanowitsch sich nur so stelle, als ob er ihn gar nicht beachte, und daß seine ganze Absicht jetzt darauf hinauslaufe, zu sehen, wie es mit seiner, des Junkers, Tapferkeit stehe; und dann richtete Rostow sich gerade auf und blickte fröhlich um sich. Bald wieder kam es ihm so vor, als ob Bogdanowitsch absichtlich in seine Nähe komme, um ihn seine, des Regimentskommandeurs, Tapferkeit sehen zu lassen. Und dann wieder kam ihm der Gedanke, sein Feind werde die Eskadron jetzt absichtlich in eine tollkühne Attacke hineinschicken, um ihn, Rostow, zu bestrafen. Und dann wieder malte er es sich aus, wie nach der Attacke der Regimentskommandeur zu ihm treten und ihm, dem Verwundeten, großmütig die Hand zur Versöhnung reichen werde.

Die den Pawlogradern wohlbekannte Gestalt Scherkows mit den hochgezogenen Schultern (der Kornett war vor einigen Tagen zum zweitenmal aus dem Regiment ausgeschieden) näherte sich zu Pferd dem Regimentskommandeur. Scherkow war, nachdem man ihn aus dem Hauptquartier weggejagt hatte, nur kurze Zeit beim Regiment geblieben. Er hatte gesagt, er würde doch nicht so dumm sein und sich im Frontdienst abplagen, während er beim Stab, ohne etwas zu tun, ein besseres Avancement haben könne, und hatte es einzurichten verstanden, daß er beim Fürsten Bagration Ordonnanzoffizier geworden war. Nun kam er zu seinem früheren Regimentskommandeur mit einem Befehl von dem Kommandeur der Arrieregarde.

»Oberst«, sagte er mit finsterem Ernst, indem er sich zu Rostows Feind wandte und dabei seinen Blick auch über seine früheren Kameraden schweifen ließ, »es ist befohlen worden, haltzumachen und erst die Brücke anzuzünden.«

»Wer hat das befohlen?« fragte der Oberst ingrimmig.

»Das weiß ich nicht, Oberst, wer das befohlen hat«, antwortete der Kornett ernst. »Ich kann nur sagen, daß mir der Fürst befohlen hat: ›Reite hin und sage dem Obersten, die Husaren sollten schleunigst wieder umkehren und die Brücke anzünden‹.«

Gleich nach Scherkow kam ein Offizier à la suite mit demselben Befehl zu dem Husarenobersten herangesprengt. Und unmittelbar nach dem Offizier à la suite kam auf einem Kosakenpferd, das ihn im Galopp nur mit Anstrengung tragen konnte, der dicke Neswizki herbei.

»Aber was soll denn das heißen, Oberst?« schrie er, ehe er noch heran war. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollten die Brücke in Brand stecken; und nun ist das wie in den Wind gesprochen! Die Herren vom Stab sind außer sich; kein Mensch weiß sich die Geschichte zu erklären.«

Ohne sich zu übereilen, ließ der Oberst das Regiment haltmachen und wandte sich zu Neswizki.

»Sie haben mir etwas von den Brennstoffen gesagt«, erwiderte er. »Aber davon, daß ich die Brücke anzünden sollte, haben Sie mir nichts gesagt.«

»Aber Väterchen«, entgegnete Neswizki, der sein Pferd angehalten hatte, die Mütze abnahm und sich mit seiner dicken Hand die schweißtriefenden Haare zurechtstrich, »wie sollte ich denn nichts vom Anzünden der Brücke gesagt haben, wenn doch die Brennstoffe schon zurechtgelegt waren?«

»Ich bin für Sie kein ›Väterchen‹, Herr Stabsoffizier, und Sie haben mir nicht gesagt, daß ich die Brücke in Brand stecken soll! Ich kenne den Dienst und bin gewohnt, einen Befehl genau auszuführen. Sie haben mir gesagt, die Brücke solle angesteckt werden; aber wer sie anstecken solle, das ist mir vom Heiligen Geist nicht offenbart worden.«

»Na ja, immer dieselbe Geschichte!« sagte Neswizki und schwenkte dabei den Arm, als ob er sagen wollte: Gegen solchen Unverstand ist man machtlos … … »Wie kommst du denn hierher?« wandte er sich an Scherkow.

»Zu demselben Zweck wie du. Aber du bist ja ganz durchnäßt; erlaube, ich werde dich auswringen.«

»Sie sagten, Herr Stabsoffizier …«, fuhr der Oberst in gekränktem Ton fort.

»Oberst«, unterbrach ihn der Offizier à la suite, »Sie müssen sich beeilen, sonst bringt der Feind seine Artillerie so nah heran, daß er Sie mit Kartätschen beschießen kann.«

Der Oberst blickte schweigend den Offizier à la suite, den dicken Stabsoffizier und Scherkow an und zog ein finsteres Gesicht.

»Ich werde die Brücke in Brand stecken«, sagte er in feierlichem Ton, wie wenn er dadurch zum Ausdruck bringen wollte, daß er trotz aller ihm angetanen Kränkungen dennoch tun werde, was erforderlich sei.

Mit seinen langen, muskulösen Beinen schlug er sein Pferd so heftig, als wäre dieses an allem schuld, ritt vor die Front und erteilte der dritten Eskadron, eben derjenigen, in welcher Rostow unter dem Rittmeister Denisow diente, den Befehl, nach der Brücke umzukehren.

»Es ist also richtig«, dachte Rostow. »Er will mich auf die Probe stellen.« Sein Herz zog sich krampfhaft zusammen, und das Blut stürzte ihm ins Gesicht. »Mag er mich beobachten, ob ich ein Feigling bin«, dachte er.

Wieder trat auf allen Gesichtern bei der Eskadron an die Stelle der Heiterkeit jener ernste Zug, der vorhin auf ihnen gelegen hatte, als die Eskadron den Kanonenkugeln ausgesetzt war. Rostow blickte, ohne die Augen einen Moment wegzuwenden, auf seinen Feind, den Regimentskommandeur, in dem Wunsch, auf dessen Gesicht eine Bestätigung seiner Vermutungen zu finden; aber der Oberst sah ihn auch nicht ein einziges Mal an; sein Gesicht war, wie immer, wenn er vor der Front stand, streng und feierlich. Ein Kommando ertönte.

»Rasch, rasch!« hörte Rostow einige Stimmen in seiner Nähe sagen.

Mit den Säbeln an den Zügeln hängenbleibend und mit den Sporen klirrend, stiegen die Husaren eilig ab, ohne selbst zu wissen, was sie nun zu tun hatten. Sie bekreuzten sich. Rostow sah nicht mehr nach dem Regimentskommandeur hin; dazu hatte er jetzt keine Zeit. Er fürchtete, fürchtete mit Herzbeklemmung, er würde vielleicht mit den Husaren nicht schnell genug mitkommen können. Seine Hand zitterte, als er sein Pferd einem Pferdehalter übergab, und er fühlte, wie ihm das Blut laut pochend zum Herzen strömte. Denisow ritt, den Oberkörper nach hinten zurücklegend und irgend etwas schreiend, an ihm vorbei. Rostow sah nichts als die Husaren, die rings um ihn nach der Brücke zu liefen und dabei mit den Sporen anhakten und mit den Säbeln rasselten.

»Die Tragbahren!« rief eine Stimme von hinten.

Rostow dachte nicht darüber nach, was es zu bedeuten habe, daß jetzt Tragbahren verlangt wurden; er lief, einzig und allein bemüht, allen vorauszukommen; aber dicht bei der Brücke geriet er, da er nicht vor seine Füße sah, in zähen, auseinandergetretenen Schmutz, glitt aus und fiel auf die Hände. Die andern liefen an ihm vorbei.

»An den Seiten, rechts und links, Rittmeister«, hörte er den Regimentskommandeur sagen, der vorwärts geritten war und nun nicht weit von der Brücke mit feierlicher, aber heiterer Miene hielt.

Während sich Rostow die beschmutzten Hände an den Hosen abwischte, sah er sich nach seinem Feind um und lief dann weiter, in der Meinung, je weiter er vorwärts laufe, um so besser sei es. Aber Bogdanowitsch, der nur flüchtig hinsah und Rostow nicht erkannte, schrie ihn an:

»Wer läuft denn da mitten auf die Brücke? Auf die rechte Seite! Zurück, Junker!« schrie er zornig und wandte sich zu Denisow, der, mit seiner Tapferkeit paradierend, auf die Brückenbohlen hinaufritt.

»Es hat ja keinen Zweck, sich der Gefahr auszusetzen, Rittmeister. Sie sollten lieber absteigen«, sagte der Oberst.

»Ach was! Wen’s treffen soll, den trifft’s«, antwortete Waska Denisow, sich im Sattel umwendend.


Unterdessen standen Neswizki, Scherkow und der Offizier à la suite außer Schußweite beieinander und blickten bald nach diesem kleinen, an der Brücke eifrig tätigen Häuflein von Husaren in gelben Tschakos, dunkelgrünen, mit Schnüren besetzten Jacken und blauen Reithosen, bald nach der gegenüberliegenden Seite, nach den in der Ferne sich nähernden blauen Kapotmänteln und den mit Pferden untermischten Gruppen, die man leicht als Artillerie erkennen konnte.

»Ob sie wohl die Brücke in Brand bekommen werden oder nicht? Wer wohl zuerst seine Absicht erreicht: ob die Unsrigen noch rechtzeitig hinkommen und die Brücke anzünden, oder die Franzosen vorher auf Kartätsch-Schußweite heranrücken und sie über den Haufen schießen?« Diese Fragen legte sich beklommenen Herzens unwillkürlich jeder einzelne Mann in der großen Truppe vor, die diesseits der Brücke auf der Anhöhe stand und bei dem hellen Abendlicht auf die Brücke und die Husaren und jenseits auf die heranrückenden blauen Kapotmäntel mit den Bajonetten und Kanonen hinblickte.

»O weh, den Husaren wird es schlimm ergehen!« sagte Neswizki. »Jetzt ist der Feind schon auf Kartätsch-Schußweite heran.«

»Es war ein Fehler von ihm, so viele Leute hinzuführen«, sagte der Offizier à la suite.

»Allerdings«, erwiderte Neswizki. »Zwei tüchtige Burschen hätte er hinschicken sollen; das hätte dieselben Dienste getan.«

»Ach, Euer Durchlaucht«, mischte sich hier Scherkow in das Gespräch, der unverwandt nach den Husaren hinunterblickte; er sprach in seiner gewöhnlichen ungenierten Manier, bei der man nicht erraten konnte, ob er im Ernst redete oder nicht. »Ach, Euer Durchlaucht! Wie können Sie über die Sache nur so urteilen! Zwei Mann hätte der Oberst hinschicken sollen? Aber wer hätte ihm dann den Wladimirorden am Band verliehen? Aber so, wenn wir auch einige Verluste haben, kann er doch in seinem Bericht die Eskadron rühmend erwähnen und selbst ein Bändchen bekommen. Unser Bogdanowitsch weiß, wie es gemacht wird.«

»Sehen Sie«, sagte der Offizier à la suite, »da sind die Kartätschen!«

Er zeigte auf die französische Artillerie, welche abprotzte und schnell zurückfuhr.

Auf der französischen Seite, in den Gruppen, wo sich die Geschütze befanden, erschien ein Rauchwölkchen, dann ein zweites und mit ihm fast gleichzeitig ein drittes, und in demselben Augenblick, als der Knall von dem ersten Schuß herübergelangte, erschien ein viertes. Dann hörte man zwei Knaller unmittelbar nacheinander, und dann noch einen.

Die französischen Geschütze wurden schnell wieder geladen und gaben eine zweite und eine dritte Salve.

»Oh, oh!« stöhnte Neswizki wie infolge eines starken körperlichen Schmerzes und griff nach der Hand des Offiziers à la suite. »Sehen Sie nur, da ist einer gefallen, gefallen, gefallen!«

»Zwei, wie es scheint.«

»Wenn ich Kaiser wäre, würde ich nie Krieg führen«, sagte Neswizki und wandte sich ab.

Jetzt setzte sich die französische Infanterie in ihren blauen Kapotmänteln im Laufschritt nach der Brücke in Bewegung. Wieder, aber in verschiedenen Abständen, zeigten sich Rauchwölkchen, und die Kartätschen prasselten und knatterten auf die Brücke nieder. Aber diesmal war Neswizki nicht imstande zu sehen, was bei der Brücke vorging. Von der Brücke erhob sich dicker Rauch. Es war den Husaren bereits gelungen, die Brücke anzuzünden, und die französischen Geschütze schossen nach ihnen nicht mehr in der Absicht, das Anzünden zu verhindern, sondern weil die Kanonen nun einmal gerichtet waren und Feinde da waren, nach denen sie schießen konnten.

Die Franzosen hatten dreimal feuern können, bevor die Husaren zu ihren Pferden zurückkehrten. Die beiden ersten Salven waren schlecht gezielt gewesen, und die ganzen Kartätschladungen waren darüber hinweggegangen; bei der letzten dagegen fuhren die Kugeln mitten in das Häufchen Husaren hinein und warfen drei Mann zu Boden.

Rostow, dem fortwährend seine Beziehungen zu Bogdanowitsch im Kopf herumgingen, war auf der Brücke stehengeblieben, ohne zu wissen, was er nun tun solle. Zum Niederhauen (wie er sich immer einen Kampf vorgestellt hatte) war kein Gegner zur Stelle; beim Anzünden der Brücke konnte er gleichfalls nicht helfen, weil er nicht, wie die andern Soldaten, eine Strohfackel mitgenommen hatte. Er stand da und blickte um sich, als es auf einmal auf der Brücke prasselte, wie wenn Nüsse daraufgeschüttet würden, und einer der Husaren, der ihm gerade von allen am nächsten stand, stöhnend gegen das Geländer fiel. Rostow lief mit anderen zu ihm hin. Wieder rief jemand: »Eine Tragbahre!« Vier Mann faßten den Verwundeten von unten und machten sich daran, ihn aufzuheben.

»Oh, oh, oh, oh …! Laßt mich liegen, um Christi willen«, schrie dieser; aber sie hoben ihn dennoch auf und legten ihn auf die Bahre.

Nikolai Rostow wandte sich ab und blickte, wie wenn er etwas suchte, in die Ferne, nach dem Wasser der Donau, nach dem Himmel, nach der Sonne. Wie schön sah der Himmel aus, so blau, so ruhig und so tief! Wie hell und majestätisch die sinkende Sonne! Wie freundlich schimmerte und glänzte das Wasser der fernen Donau! Und noch schöner sahen jenseits der Donau die fernen, bläulichen Berge aus und das Kloster und die geheimnisvollen Schluchten und die bis zu den Wipfeln von Nebel umflossenen Fichtenwälder. So still alles, so glücklich … »Nichts, nichts wollte ich weiter wünschen, wenn ich nur dort wäre«, dachte Rostow. »In meiner Seele und in diesem Sonnenschein wohnt so viel Glück; aber hier ist nichts als Stöhnen, Leiden, Furcht und diese Ungewißheit, dieses Hasten … Da wird wieder etwas gerufen, und wieder laufen alle irgendwohin zurück, und ich laufe mit ihnen, und da, da ist er, der Tod, er schwebt über mir, um mich … Ein Augenblick nur, und ich werde nie mehr diese Sonne und dieses Wasser und diese Schluchten sehen …«

In diesem Augenblick verbarg sich die Sonne hinter dunklen Wolken; Rostow erblickte noch andere Bahren vor sich, die getragen wurden. Und die Furcht vor den Tragbahren und vor dem Tod, und die Liebe zur Sonne und zum Leben, alles floß zu einer einzigen schmerzlichen, beunruhigenden Empfindung zusammen.

»Herr Gott! Du, der du in diesem Himmel wohnst, rette mich und vergib mir und beschütze mich!« flüsterte Rostow vor sich hin.

Die Husaren waren zu ihren Pferden gelangt; die Stimmen wurden wieder lauter und ruhiger; die Tragbahren waren nicht mehr zu sehen.

»Nun, Bruder, hast du Pulver gerochen?« hörte Rostow dicht neben sich Waska Denisow schreien.

»Die Gefahr ist vorbei; aber ich bin ein Feigling, ja, ein Feigling!« dachte Rostow, nahm mit einem schweren Seufzer aus den Händen des Pferdehalters seinen »Raben« in Empfang, der den einen Fuß seitwärts gestellt hatte, und stieg auf.

»Was war denn das? Kartätschen?« fragte er Denisow.

»Und ganz gehörige!« rief Denisow. »Unsere Leute haben ihre Aufgabe wacker erledigt! Aber es war eine widerwärtige Aufgabe! Eine Attacke, das ist eine vergnügliche Sache; da kann man einhauen. Aber dies hier war eine verteufelte Geschichte; sie schossen ja nach uns wie nach der Scheibe.«

Damit trennte sich Denisow von Rostow und ritt auf eine nicht weit entfernt stehende Gruppe zu; es waren der Regimentskommandeur, Neswizki, Scherkow und der Offizier à la suite.

»Es scheint aber, daß es niemand gemerkt hat«, dachte Rostow mit Bezug auf sein Verhalten. Und wirklich war niemandem etwas aufgefallen, weil jedem das Gefühl bekannt war, das ein Junker durchmachen muß, wenn er zum erstenmal ins Feuer kommt.

»Na, nun werden wir aber mal einen Bericht über Sie machen«, sagte Scherkow. »Sie sollen sehen, es wird auch für mich etwas dabei abfallen, die Beförderung zum Sekondeleutnant.«

»Melden Sie dem Fürsten, daß ich die Brücke in Brand gesteckt habe«, sagte der Oberst in heiterem, feierlichem Ton.

»Und wenn nach den Verlusten gefragt wird?«

»Unbedeutend!« antwortete der Oberst mit seiner Baßstimme. »Zwei Husaren verwundet und einer zur Strecke gebracht«, sagte er mit sichtlicher Freude und außerstande, ein glückseliges Lächeln zu unterdrücken, während er die schöne Wendung »zur Strecke gebracht« klangvoll aussprach.

IX


Verfolgt durch eine französische Armee von hunderttausend Mann unter Bonapartes Kommando, mißgünstig aufgenommen von einer feindlich gesinnten Bevölkerung, ihren Verbündeten nicht mehr vertrauend, an Proviant Mangel leidend und genötigt, ohne alle Vorausberechnung, lediglich aufs Geratewohl zu operieren, zog sich die unter Kutusows Befehl stehende russische Armee in einer Stärke von fünfunddreißigtausend Mann eilig donauabwärts zurück; sooft der Feind sie einholte, machte sie halt und schlug ihn durch Nachhutgefechte nur so weit zurück, als notwendig war, um ohne den Verlust der Bagage weiterziehen zu können. Es fanden Gefechte bei Lambach, Amstetten und Melk statt; aber trotz der von dem Feind selbst anerkannten Tapferkeit und Standhaftigkeit, mit der sich die Russen schlugen, war die Folge dieser Kämpfe nur ein noch schnelleres Zurückweichen. Diejenigen österreichischen Heeresteile, die bei Ulm der Gefangennahme entgangen waren und sich bei Braunau mit Kutusow vereinigt hatten, trennten sich jetzt von dem russischen Heer, und Kutusow sah sich lediglich auf seine eigenen schwachen, erschöpften Truppen angewiesen. Wien noch weiter zu schützen, daran war überhaupt nicht mehr zu denken. Statt eines nach den Gesetzen der Strategie, dieser neuerfundenen Wissenschaft, tiefsinnig erdachten Angriffskrieges, zu welchem dem russischen Feldherrn während seines Aufenthaltes in Wien der Plan von dem österreichischen Hofkriegsrat eingehändigt worden war, statt dessen bestand jetzt das einzige, aber fast unerreichbare Ziel, das sich Kutusow setzte, darin, die Armee vor einem Schicksal, wie es die Macksche bei Ulm erlitten hatte, zu bewahren und sich mit den aus Rußland kommenden Truppen zu vereinigen.

Am 28. Oktober ging Kutusow mit dem Heer auf das linke Donauufer hinüber und machte, nachdem er die Donau zwischen sich und die Hauptstreitkräfte der Franzosen gebracht hatte, zum erstenmal Rast. Am 30. Oktober griff er die auf dem linken Donauufer befindliche Division Mortier an und brachte ihr eine völlige Niederlage bei. Bei diesem Kampf wurden zum erstenmal Trophäen erbeutet: eine Fahne, eine Anzahl von Geschützen und zwei feindliche Generale fielen den Russen in die Hände. Zum erstenmal nach einem zwei Wochen dauernden Rückzug waren die russischen Truppen stehengeblieben und hatten nach dem Kampf nicht nur das Schlachtfeld behauptet, sondern auch die Franzosen in die Flucht gejagt. Trotzdem die Truppen abgerissen, entkräftet und durch den Abgang der Nachzügler, Kranken, Verwundeten und Gefallenen auf ein Drittel ihrer ursprünglichen Stärke reduziert waren; trotzdem die Kranken und Verwundeten auf dem andern Donauufer hatten zurückgelassen werden müssen, mit einem Brief Kutusows, in dem sie der Humanität des Feindes empfohlen wurden; trotzdem in Krems die großen Hospitäler und die in Lazarette umgewandelten Privathäuser all die Kranken und Verwundeten nicht mehr fassen konnten: trotz alledem hob der Aufenthalt in Krems und der Sieg über Mortier den Mut der Truppen ganz bedeutend. In der gesamten Armee und im Hauptquartier waren die erfreulichsten, wiewohl unzutreffenden Gerüchte über die vermeintliche Annäherung großer Heeressäulen aus Rußland, über einen von den Österreichern errungenen Sieg und über den Rückzug des bestürzten Bonaparte verbreitet.

Fürst Andrei hatte sich während des Kampfes in der Umgebung des österreichischen Generals Schmidt befunden, der in diesem Treffen fiel. Dem Fürsten wurde das Pferd unter dem Leib verwundet, und er selbst erhielt einen leichten Streifschuß an der Hand. Zum Zeichen besonderer Gunst schickte ihn der Oberkommandierende mit der Nachricht von diesem Sieg an den österreichischen Hof, der sich nicht mehr in dem von den französischen Truppen bedrohten Wien, sondern in Brünn befand. Als Fürst Andrei in der Nacht nach dem Kampf, aufgeregt, aber nicht ermüdet (trotz seiner anscheinend nur schwachen Konstitution konnte er körperliche Anstrengungen weit besser ertragen als die stärksten Leute), mit dem Rapport Dochturows zu Kutusow nach Krems geritten war, wurde er noch in derselben Nacht als Kurier nach Brünn gesandt. Die Entsendung als Kurier gab, auch abgesehen von den augenblicklichen Auszeichnungen, eine gute Anwartschaft auf Beförderung.

Die Nacht war dunkel, obgleich die Sterne sichtbar waren; der Weg hob sich schwarz von dem weißen Schnee ab, der tags zuvor, am Tag des Treffens, gefallen war. Indem er bald die Erlebnisse des hinter ihm liegenden Kampfes noch einmal vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen ließ, bald mit stillem Genuß sich den Eindruck ausmalte, den er durch die Siegesnachricht hervorbringen werde, in Erinnerung daran, mit welcher Freude ihn als den Überbringer dieser Nachricht der Oberkommandierende Kutusow und die Kameraden empfangen und wie herzlich sie von ihm Abschied genommen hatten – so jagte Fürst Andrei in einer leichten Postkutsche dahin. Es war ihm zumute wie jemandem, der auf ein Glück lange und sehnlich gewartet und nun endlich den Anfang desselben erreicht hat. Sobald er die Augen schloß, klangen ihm in den Ohren Gewehrknattern und Kanonendonner und flossen mit dem Rasseln der Räder und dem Gedanken an den Sieg zu einer einzigen Empfindung zusammen. Einigemal entstand in seinem Gehirn die Wahnvorstellung, die Russen seien in die Flucht geschlagen und er selbst getötet; aber dann erwachte er sofort mit einem Gefühl der Glückseligkeit, wie wenn er eben erst erführe, daß nichts davon geschehen sei und vielmehr die Franzosen geflohen seien. Von neuem rief er sich alle Einzelheiten des Sieges ins Gedächtnis zurück, und was für eine Ruhe und Mannhaftigkeit er selbst während des Kampfes bewiesen hatte; und beruhigt schlummerte er dann wieder ein … Auf die dunkle Nacht mit dem sternbesäten Himmel folgte ein heller, heiterer Morgen. Der Schnee taute in der Sonne; die Pferde trabten schnell dahin, und gleichförmig zogen rechts und links immer neue, mannigfaltige Wälder, Felder und Dörfer vorüber.

Auf einer der Stationen überholte er eine Anzahl von Wagen mit russischen Verwundeten. Der russische Offizier, der den Transport leitete, hatte sich auf dem vordersten Wagen bequem ausgestreckt und schrie einem Soldaten unter groben Schimpfworten etwas zu. Auf langen Leiterwagen, die auf dem steinigen Weg entsetzlich stoßen mochten, lagen je sechs oder auch noch mehr Verwundete, mit blassen Gesichtern, nur notdürftig verbunden und mit Schmutz bedeckt. Einige von ihnen redeten miteinander (er hörte, daß sie russisch sprachen), andere aßen Brot; die Schwerverwundeten blickten mit schmerzlicher, ergebungsvoller Miene und mit einem kindlichen Interesse zu dem vorbeijagenden Kurier hin.

Fürst Andrei ließ seinen Postillion anhalten und fragte einen der Verwundeten, in welchem Kampf sie verwundet worden seien.

»Vorgestern, an der Donau«, antwortete dieser. Fürst Andrei zog seine Börse heraus und gab ihm drei Goldstücke.

»Für alle«, bemerkte er, zu dem jetzt herantretenden Offizier gewendet. »Macht nur, daß ihr bald wieder gesund werdet, Kinder«, sagte er zu den Verwundeten. »Es gibt noch viel zu tun.«

»Nun, Herr Adjutant, was gibt es Neues?« fragte der Offizier, der augenscheinlich ein Gespräch anknüpfen wollte.

»Gute Nachrichten! Vorwärts!« rief er dem Postillion zu und jagte weiter.

Es war bereits ganz dunkel, als Fürst Andrei in Brünn einfuhr. Er sah sich von hohen Häusern umgeben; von den Laternen, den erleuchteten Kaufläden und den Fenstern der Häuser ging eine schöne Helligkeit aus; über das Pflaster rasselten elegante Equipagen: kurz, er befand sich auf einmal in dem Milieu einer großen, belebten Stadt, das für einen Kriegsmann nach dem Lagerleben immer einen ganz besonderen Reiz hat. Trotz der schnellen Fahrt und der schlaflos verbrachten Nacht fühlte Fürst Andrei, als er zum Schloß fuhr, sich noch frischer und munterer als tags zuvor. Nur seine Augen leuchteten in einem fieberhaften Glanz, und in seinem Kopf lösten die Gedanken, bei außerordentlicher Klarheit, einander mit großer Geschwindigkeit ab. Schnell traten ihm wieder alle Einzelheiten des Gefechts vor die Seele, nicht mehr in undeutlicher, sondern in bestimmter Form, in einer gedrängten Darstellung, die er in Gedanken dem Kaiser Franz vortrug. Schnell vergegenwärtigte er sich die Zwischenfragen, die an ihn gerichtet werden konnten, und die Antworten, die er darauf geben würde. Er nahm an, er werde sofort beim Kaiser vorgelassen werden. Aber an dem großen Portal des Schlosses kam ein Beamter zu ihm herausgelaufen, und als er in ihm einen Kurier erkannte, führte er ihn nach einem anderen Eingang.

»Vom Korridor, bitte, nach rechts; dort finden Euer Hochgeboren den diensttuenden Flügeladjutanten«, sagte der Beamte zu ihm. »Er wird Sie zum Kriegsminister führen.«

Der diensttuende Flügeladjutant, der den Fürsten Andrei empfing, bat ihn, einen Augenblick zu warten, und ging zum Kriegsminister. Nach fünf Minuten kehrte der Flügeladjutant zurück und führte ihn, sich mit besonderer Höflichkeit verbeugend und dem Fürsten Andrei den Vortritt lassend, über den Korridor nach dem Arbeitszimmer des Kriegsministers, wo dieser, wie der Adjutant sagte, anwesend und beschäftigt war. Es machte den Eindruck, als wolle der Flügeladjutant durch seine gesuchte Höflichkeit sich vor einem etwaigen Versuch unerwünschter Familiarität seitens des russischen Adjutanten schützen. Die freudige Stimmung des Fürsten Andrei hatte, als er zur Tür des Arbeitszimmers des Kriegsministers gelangte, eine erhebliche Abschwächung erfahren. Er fühlte sich gekränkt, und dieses Gefühl der Kränkung ging in demselben Augenblick, ohne daß er selbst sich dessen bewußt geworden wäre, in ein Gefühl der Geringschätzung über, das eigentlich keine rechte Begründung hatte. Jedoch zeigte ihm sein findiger Verstand in demselben Augenblick den Standpunkt, von welchem aus er ein Recht hatte, den Adjutanten und den Kriegsminister geringzuschätzen. »Diesen Herren, die kein Pulver zu riechen bekommen, erscheint es wohl als eine sehr leichte Sache, Siege davonzutragen!« dachte er. Er kniff die Augen geringschätzig zusammen und trat mit betonter Langsamkeit in das Zimmer des Kriegsministers hinein. Dieses Gefühl wurde noch stärker, als er den Kriegsminister sah, der an einem großen Tisch saß und während der ersten zwei Minuten den Eingetretenen nicht beachtete. Der Kriegsminister hielt seinen kahlen, an den Schläfen von grauem Haar bedeckten Kopf zwischen zwei Wachskerzen herabgebeugt und las irgendwelche Papiere, auf die er mit einem Bleistift Bemerkungen setzte. Als die Tür aufging und Schritte hörbar wurden, las er, ohne den Kopf in die Höhe zu heben, das betreffende Schriftstück erst zu Ende.

»Nehmen Sie dies, und geben Sie es ab«, sagte der Kriegsminister zu seinem Adjutanten, indem er ihm die Papiere hinreichte; dem Kurier schenkte er immer noch keine Beachtung.

Fürst Andrei sagte sich, entweder habe der Kriegsminister wirklich unter allen Angelegenheiten, die ihn beschäftigten, gerade für die Operationen der Kutusowschen Armee das allergeringste Interesse, oder er halte für nötig, dies den russischen Kurier glauben zu machen. »Nun, mir kann’s völlig einerlei sein«, dachte er. Der Kriegsminister schob die zurückgebliebenen Papiere zusammen, stieß sie mit den Kanten auf den Tisch, damit die Ränder genau übereinander zu liegen kämen, und hob den Kopf in die Höhe. Sein Gesicht ließ auf einen guten Verstand und einen festen Charakter schließen. Aber in demselben Augenblick, wo er sich zum Fürsten Andrei wandte, änderte sich dieser kluge, feste Gesichtsausdruck, und zwar offenbar gewohntermaßen und wissentlich; auf dem Gesicht des Kriegsministers blieb ein dummes, erheucheltes und aus seiner Heuchelei kein Hehl machendes Lächeln zurück, ein Lächeln, wie man es häufig bei Männern findet, welche viele Bittsteller einen nach dem andern zu empfangen haben.

»Von dem Generalfeldmarschall Kutusow?« fragte er. »Hoffentlich gute Nachrichten? Hat ein Zusammenstoß mit Mortier stattgefunden? Ein Sieg? Es war auch Zeit!«

Er nahm die Depesche, die an ihn adressiert war, und begann sie mit trüber Miene zu lesen.

»O mein Gott! Mein Gott! Schmidt!« sagte er auf deutsch. »Welch ein Unglück, welch ein Unglück!«

Nachdem er die Depesche durchflogen hatte, legte er sie auf den Tisch und blickte den Fürsten Andrei an; offenbar überlegte er etwas.

»Ach, welch ein Unglück! Der Sieg, sagen Sie, war ein zweifelloser? Mortier ist aber doch nicht gefangengenommen.« Er dachte nach. »Es freut mich sehr, daß Sie gute Nachrichten gebracht haben, wiewohl Schmidts Tod ein teurer Preis für den Sieg ist. Seine Majestät wird Sie wahrscheinlich zu sehen wünschen, aber nicht mehr heute. Ich danke Ihnen; erholen Sie sich. Finden Sie sich morgen nach der Parade zur Cour ein. Übrigens werde ich Sie noch näher benachrichtigen.«

Das dumme Lächeln, das während des Gesprächs verschwunden gewesen war, erschien wieder auf dem Gesicht des Kriegsministers.

»Auf Wiedersehen; ich bin Ihnen sehr dankbar. Seine Majestät der Kaiser wird aller Wahrscheinlichkeit nach den Wunsch haben, Sie zu sehen«, sagte er noch einmal und machte mit dem Kopf eine Verbeugung.

Als Fürst Andrei aus dem Schloß heraustrat, fühlte er, daß er das ganze Gefühl freudiger Erregung, das der Sieg in ihm hervorgerufen hatte, gleichsam fortgegeben und in die Hände dieser kühlen, gleichgültigen Leute, des Kriegsministers und des höflichen Adjutanten, gelegt hatte. Seine gesamte Anschauungsweise hatte sich in dieser kurzen Zeit verändert: das Treffen erschien ihm wie ein längst vergangenes, für die Erinnerung weit zurückliegendes Ereignis.

X


Fürst Andrei stieg in Brünn bei dem russischen Diplomaten Bilibin ab, mit dem er bekannt war.

»Ah, lieber Fürst! Ein erwünschterer Gast konnte mir gar nicht kommen«, sagte Bilibin, der auf die Meldung von der Ankunft des Fürsten diesem entgegenkam. »Franz, bring das Gepäck des Fürsten in mein Schlafzimmer!« wandte er sich an den Diener, welcher Bolkonski hereingeführt hatte. »Nun, sind Sie ein Siegesherold? Wunderschön! Und ich sitze hier als Kranker, wie Sie sehen.«

Nachdem sich Fürst Andrei gewaschen und umgekleidet hatte, trat er in das luxuriös ausgestattete Arbeitszimmer des Diplomaten und setzte sich zu dem für ihn zubereiteten Diner nieder. Bilibin nahm gemächlich am Kamin Platz.

Nicht nur im Gegensatz zu seiner Reise, sondern auch im Gegensatz zu dem ganzen Feldzug, währenddessen er alle Bequemlichkeiten hatte entbehren müssen, welche Reinlichkeit und Komfort gewähren, empfand Fürst Andrei ein behagliches Gefühl der Erholung inmitten dieser luxuriösen Lebenseinrichtung, an die er von seiner Kindheit an gewöhnt war. Außerdem war es ihm nach dem Besuch bei den Österreichern angenehm, wenn auch nicht russisch (denn sie sprachen französisch), aber doch wenigstens mit einem Russen reden zu können, der, wie er voraussetzte, die allgemeine Abneigung der Russen gegen die Österreicher teilte, eine Abneigung, die Fürst Andrei gerade jetzt besonders lebhaft empfand.

Bilibin war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, unverheiratet und derselben Gesellschaftssphäre angehörig wie Fürst Andrei. Sie waren schon in Petersburg miteinander bekannt gewesen, und diese Bekanntschaft war während des letzten Aufenthaltes des Fürsten Andrei in Wien, wo er mit Kutusow gewesen war, eine noch vertrautere geworden. Wie Fürst Andrei ein junger Mann war, der Aussicht hatte, eine gute militärische Karriere zu machen, so Bilibin im diplomatischen Fach, sogar noch mit größerer Sicherheit. Er war noch ein junger Mann, aber kein junger Diplomat mehr, da er schon im Alter von sechzehn Jahren in den Dienst getreten und bereits in Paris und in Kopenhagen tätig gewesen war. Jetzt nun hatte er in Wien einen recht wichtigen Posten inne. Sowohl der Kanzler als auch unser Gesandter in Wien kannten ihn genau und wußten ihn zu schätzen. Er gehörte nicht zu der großen Zahl derjenigen Diplomaten, die, um als sehr gute Diplomaten zu gelten, nur von gewissen Fehlern frei zu sein, gewisse Dinge zu unterlassen und französisch zu sprechen brauchen; er war einer von den Diplomaten, die zum Arbeiten Lust und Fähigkeit besitzen, und obwohl er eigentlich von Natur träge war, brachte er gar manche Nacht am Schreibtisch zu. Er arbeitete gleichmäßig gut, von welcher Art auch immer die Arbeit war. Ihn interessierte nicht die Frage »wozu?«, sondern die Frage, »wie?«. Um welche diplomatische Angelegenheit es sich handelte, war ihm ganz gleichgültig; aber ein Zirkular, ein Memorandum oder einen Bericht geschmackvoll, akkurat, elegant abzufassen, das machte ihm das größte Vergnügen. Abgesehen von solchen schriftlichen Arbeiten wurden Bilibins dienstliche Leistungen auch wegen seiner Geschicklichkeit, sich in den höchsten Sphären zu bewegen und mit den höchsten Persönlichkeiten zu sprechen, hoch bewertet.

Bilibin fand, wie an einer schriftlichen Arbeit, so auch an einem Gespräch nur dann Vergnügen, wenn das Gespräch elegant und geistreich war. In Gesellschaft wartete er stets eine Gelegenheit ab, wo es ihm möglich war, etwas Bemerkenswertes zu sagen, und beteiligte sich an dem Gespräch überhaupt nur unter solchen Umständen. Dem, was er sagte, pflegte er in Gestalt von eigenartigen, geistreichen, formvollendeten, allgemein interessierenden Aussprüchen beständig gleichsam besondere Lichter aufzusetzen. Diese Aussprüche präparierte Bilibin, wenn er sie in dem Laboratorium seines Geistes herstellte, absichtlich derart, daß sie die Eigenschaft leichter Faßlichkeit besaßen, damit schwach befähigte Mitglieder der vornehmen Gesellschaft sie bequem im Gedächtnis behalten und von einem Salon zum andern weitertragen könnten. Und wirklich wurden »Bilibins Geistesblitze« in den Wiener Salons viel kolportiert und hatten häufig Einfluß auf sogenannte »Angelegenheiten von hoher Wichtigkeit«.

Sein mageres, ausgemergeltes, gelbliches Gesicht war ganz von großen Falten überzogen, die immer so sauber und reingewaschen aussahen wie die Fingerspitzen nach einem Bad. Sein Mienenspiel bestand fast nur in den Bewegungen dieser Falten. Bald bedeckte sich seine Stirn mit breiten Runzeln, und die Augenbrauen zogen sich in die Höhe; bald zogen sich die Augenbrauen nach unten, und es bildeten sich große Falten auf den Backen. Seine kleinen, tiefliegenden Augen blickten immer geradeaus und hatten einen heiteren Ausdruck.

»Na, nun erzählen Sie uns von Ihren Großtaten«, sagte er.

Bolkonski berichtete in der bescheidensten Weise, ohne auch nur ein einziges Mal seine eigene Person zu erwähnen, von dem Gang des Treffens und von seinem Empfang beim Kriegsminister.

»Sie haben mich mit meiner Nachricht aufgenommen wie einen Hund, der auf die Kegelbahn gerät«, schloß er mit einer französischen Redewendung.

Bilibin lächelte, wobei sich seine Hautfalten auseinanderzogen.

»Aber, mein Lieber«, sagte er, indem er von weitem seine Fingernägel betrachtete und die Haut über dem linken Auge zusammenzog, »trotz aller Hochachtung, die ich vor dem rechtgläubigen russischen Kriegsheer habe, muß ich doch gestehen, daß euer Sieg keiner von den glänzendsten ist.«

Wie bisher, so sprach er auch weiter französisch und schob nur dann russische Worte ein, wenn er einem Begriff eine geringschätzige Färbung verleihen wollte.

»Wie? Ihr mit eurer ganzen Truppenmacht seid über den unglücklichen Mortier mit seiner einen Division hergefallen, und dieser Mortier ist euch dann doch aus den Händen entschlüpft? Wie kann man das einen Sieg nennen?«

»Aber, um ernsthaft zu reden«, entgegnete Fürst Andrei, »wir können doch ohne Prahlerei sagen, daß dies etwas besser gewesen ist als Ulm …«

»Warum habt ihr uns nicht einen, wenigstens einen einzigen Marschall gefangen?«

»Weil sich nicht alles so ausführen läßt, wie man es sich wohl vornimmt, und es im Kampf nicht so regelrecht zugeht wie auf der Parade. Wie ich Ihnen schon sagte, nahmen wir an, wir würden dem Feind um sieben Uhr morgens in den Rücken fallen können, und waren um fünf Uhr nachmittags noch nicht so weit gekommen.«

»Aber warum, warum seid ihr um sieben Uhr morgens nicht so weit gekommen? Ihr mußtet eben um sieben Uhr morgens da sein«, sagte Bilibin lächelnd. »Ihr mußtet um sieben Uhr morgens so weit kommen.«

»Warum habt ihr denn nicht Bonaparte auf diplomatischem Weg zu der Überzeugung gebracht, daß es für ihn das beste sei, Genua aufzugeben?« erwiderte Fürst Andrei in demselben Ton.

»Ich weiß«, unterbrach ihn Bilibin, »Sie meinen, es sei sehr leicht, Marschälle gefangenzunehmen, wenn man auf dem Sofa am Kamin sitzt. Das ist ja richtig; aber dennoch: warum habt ihr ihn nicht gefangengenommen? Da wundert euch nicht, wenn weder der Kriegsminister noch auch der Allerhöchste Kaiser und König Franz über euren Sieg sonderlich glücklich ist; ja auch ich, ein unglücklicher Sekretär der russischen Gesandtschaft, verspüre keinen Drang in mir, meinem Franz als Ausdruck meiner Freude einen Taler zu schenken und ihn mit seinem Liebchen nach dem Prater gehen zu lassen … Ach so, hier ist ja kein Prater.«

Er sah dem Fürsten Andrei gerade ins Gesicht und ließ auf einmal die zusammengezogene Haut von der Stirn nach unten sinken.

»Jetzt bin ich an der Reihe, Sie nach dem ›Warum?‹ zu fragen, mein Lieber«, sagte Bolkonski. »Ich bekenne Ihnen, daß ich eines nicht verstehe; vielleicht stecken da diplomatische Feinheiten dahinter, die über meinen schwachen Verstand hinausgehen; aber eines verstehe ich nicht: Mack verliert seine ganze Armee; der Erzherzog Ferdinand und der Erzherzog Karl verharren in völliger Untätigkeit und machen Fehler über Fehler; Kutusow ist der einzige, der endlich einen wirklichen Sieg erringt, den Zauber der Franzosen bricht – und der Kriegsminister interessiert sich nicht einmal dafür, die Einzelheiten zu erfahren.«

»Gerade dies ist der Grund, mein Lieber. Sehen Sie, bester Freund, ihr da beim Kutusowschen Heer ruft: ›Ein Hurra für den Zaren, für Rußland, für den Glauben!‹ Alles ganz schön und gut; aber was gehen uns, ich meine den österreichischen Hof, eure Siege an? Bringen Sie uns eine nette Nachricht von einem Sieg des Erzherzogs Karl oder des Erzherzogs Ferdinand (Sie wissen: ein Erzherzog ist gerade soviel wert wie der andere), und wäre es auch nur die Nachricht von einem Sieg über eine Feuerwehrkompanie bei Bonapartes Truppen: dann werden unsere Kanonen Viktoria schießen. Aber was Sie uns da, wie mit besonderer Absicht, melden, das kann uns nur verdrießen. Der Erzherzog Karl tut gar nichts; der Erzherzog Ferdinand bedeckt sich mit Schmach. Wien gebt ihr auf und schützt es nicht mehr, als wenn ihr zu uns sagen wolltet: ›Gott stehe uns und euch und eurer Hauptstadt bei!‹ Der einzige General, den wir alle gern hatten, war Schmidt; den führt ihr in den Kugelregen, wo er fällt, und dann beglückwünscht ihr uns zu dem Sieg! Das müssen Sie doch selbst sagen: etwas, wodurch der Hof sich schlimmer gereizt fühlen könnte als durch die Nachricht, die Sie bringen, kann man sich gar nicht ausdenken. Dieses Ereignis macht gewissermaßen den Eindruck der Absichtlichkeit. Außerdem, selbst wenn ihr einen wahrhaft glänzenden Sieg davongetragen hättet, ja selbst wenn dies dem Erzherzog Karl gelungen wäre: inwiefern würde dadurch der allgemeine Gang der Dinge beeinflußt werden? Jetzt käme das alles doch zu spät, da Wien von den französischen Truppen besetzt ist.«

»Besetzt, sagen Sie? Wien besetzt?«

»Und nicht bloß das; sondern es ist auch schon Bonaparte in Schönbrunn, und der Graf, unser lieber Graf Wrbna, begibt sich zu ihm, um seine Befehle einzuholen.«

Bolkonski merkte, daß die Reise und der Besuch beim Minister und namentlich das Diner ihn doch dermaßen ermüdet und seine geistige Kraft gelähmt hatten, daß er die ganze Bedeutung der soeben gehörten Worte nicht verstand.

»Heute morgen war Graf Lichtenfels bei mir«, fuhr Bilibin fort, »und zeigte mir einen Brief, in dem die Parade der Franzosen in Wien ausführlich beschrieben war. Prinz Murat und alles, was drum und dran hängt … Sie sehen, daß Ihr Sieg keineswegs besonders erfreulich ist, und daß man Sie nicht als Retter empfangen kann …«

»Wirklich, die Art des Empfanges ist mir ganz gleichgültig, völlig gleichgültig«, sagte Fürst Andrei, der zu verstehen begann, daß seine Nachricht von einem Kampf in der Nähe von Krems angesichts solcher Ereignisse, wie es die Besetzung der österreichischen Hauptstadt war, in der Tat nur eine sehr untergeordnete Bedeutung hatte. »Wie ist es denn aber zugegangen, daß Wien eingenommen wurde?« fragte er. »Und wie ist es mit der Brücke und dem berühmten Brückenkopf und dem Fürsten Auersperg? Bei uns hieß es doch, Fürst Auersperg werde Wien verteidigen.«

»Fürst Auersperg steht auf dieser Seite der Donau, auf der unsrigen, und beschützt uns; ich glaube zwar, daß er nur ein schlechter Schutz für uns ist, nun, aber er beschützt uns doch. Wien aber liegt auf der andern Seite. Sie fragen nach der Brücke; nein, die Brücke ist noch nicht genommen und wird auch, wie ich hoffe, nicht genommen werden, weil Minen darin gelegt sind und Befehl gegeben ist, sie in die Luft zu sprengen. Andernfalls wären wir schon längst in den böhmischen Gebirgen, und Sie und Ihre Armee hätten eine böse Viertelstunde zwischen zwei Feuern durchzumachen gehabt.«

»Aber das soll doch nicht heißen, daß der ganze Feldzug beendet wäre?« fragte Fürst Andrei.

»Ich meine allerdings, daß er beendet ist. Und derselben Ansicht sind auch die großen Schlafmützen hier; sie wagen nur nicht, es auszusprechen. Es tritt eben ein, was ich gleich zu Beginn des Feldzuges gesagt habe: nicht durch euer Scharmützel bei Dürrenstein wird die Sache entschieden und überhaupt nicht durch das Pulver, sondern durch die Leute, die das Pulver erfunden haben«, sagte Bilibin, eines seiner Witzworte wiederholend. Er zog die Haut auf der Stirn auseinander und hielt einen Augenblick inne. »Die Frage ist nur, was die Zusammenkunft des Kaisers Alexander mit dem König von Preußen in Berlin für einen Erfolg hat. Wenn Preußen in die Allianz eintritt, dann hat Österreich nicht mehr freie Hand, und der Krieg geht weiter. Wenn nicht, dann kommt es nur darauf an, zu verabreden, wo die Präliminarien für ein neues Campo Formio aufgestellt werden sollen.«

»Aber welch eine erstaunliche Genialität!« rief auf einmal Fürst Andrei, indem er seine kleine Hand zur Faust ballte und damit auf den Tisch schlug. »Und was für ein Glück dieser Mensch hat!«

»Buonaparte?« erwiderte Bilibin in fragendem Ton; er runzelte die Stirn und gab damit zu verstehen, daß sogleich eine pointierte Wendung kommen werde. »Buonaparte?« sagte er und legte dabei einen besonderen Nachdruck auf den Vokal u. »Ich möchte doch meinen, daß, wenn er jetzt dem österreichischen Kaiserstaat von Schönbrunn aus Gesetze vorschreibt, man ihn von seinem u befreien sollte. Ich führe entschlossenen Mutes eine Neuerung ein und nenne ihn künftig schlechtweg Bonaparte.«

»Nein, nun ohne Scherz«, sagte Fürst Andrei. »Sind Sie wirklich der Ansicht, daß der Feldzug zu Ende ist?«

»Meine Ansicht ist diese. Österreich hat die Zeche bezahlen müssen; aber daran ist dieser Staat nicht gewöhnt. Er wird es uns wiedervergelten. Die Zeche bezahlt hat Österreich insofern, als seine Provinzen verwüstet sind (man sagt, die rechtgläubigen Truppen verständen sich auf das Plündern in einer entsetzlichen Weise), seine Armee geschlagen und seine Hauptstadt vom Feind besetzt, und das alles um der schönen Augen Seiner sardinischen Majestät willen. Und daher (unter uns, mein Lieber) glaube ich zu wittern, daß Österreich uns betrügt; ich glaube zu wittern, daß es Verhandlungen mit Frankreich angeknüpft und einen Friedensschluß, den Abschluß eines geheimen Separatfriedens, ins Auge gefaßt hat.«

»Das ist nicht möglich!« rief Fürst Andrei. »Das wäre ja schändlich!«

»Qui vivra, verra«, erwiderte Bilibin und zog die Stirnhaut wieder auseinander, woraus zu ersehen war, daß er dieses Gespräch als beendet betrachtete.

Als Fürst Andrei in das für ihn zurechtgemachte Zimmer kam und sich in frischer Wäsche auf Federbetten und parfümierte, gewärmte Kissen legte, da hatte er die Empfindung, als ob das Treffen, von dem er die Nachricht hergebracht hatte, weit, weit hinter ihm läge. Das Bündnis mit Preußen, die Verräterei Österreichs, der neue Triumph Bonapartes sowie morgen die Parade und die Cour und die Audienz beim Kaiser Franz, das war’s, was seine Gedanken beschäftigte.

Er schloß die Augen; aber in demselben Augenblick ging auch in seinen Ohren das Donnern der Kanonen, das Knattern des Gewehrfeuers, das Rasseln der Räder seines Postwagens los, und da stiegen wieder von dem Berg in lang ausgedehnten Linien die Musketiere herab, und die Franzosen schossen, und er fühlte, wie sein Herz zu zucken begann, und er ritt neben dem General Schmidt vorwärts, und die Kugeln pfiffen lustig um ihn herum, und er empfand das Gefühl einer verzehnfachten Lebensfreude, wie er sie seit seiner Kindheit nicht mehr gekannt hatte.

Er erwachte.

»Ja, das ist wirklich alles geschehen …!« sagte er mit einem glücklichen, kindlichen Lächeln zu sich selbst, und dann versank er in einen festen, jugendlichen Schlaf.

XI


Am nächsten Morgen erwachte er erst spät. Indem er sich die Ereignisse des vergangenen Tages ins Gedächtnis zurückrief, erinnerte er sich vor allem daran, daß er sich heute dem Kaiser Franz vorstellen sollte, und weiter erinnerte er sich an den Kriegsminister, an den höflichen österreichischen Flügeladjutanten, an Bilibin und an das Gespräch, das er mit diesem am vorhergehenden Abend geführt hatte. Nachdem er zu der Fahrt nach dem Schloß volle Paradeuniform angelegt hatte, was bei ihm schon lange nicht mehr dagewesen war, trat er frisch und munter, eine hübsche Erscheinung, mit verbundener Hand in Bilibins Arbeitszimmer. Hier waren vier Herren vom diplomatischen Korps anwesend. Den Fürsten Ippolit Kuragin, welcher Gesandtschaftssekretär war, kannte Bolkonski bereits; mit den übrigen machte ihn Bilibin bekannt.

Diese Herren, die bei Bilibin zu Besuch waren, sämtlich lebenslustige, vornehme, reiche junge Männer, bildeten hier in Brünn, wie schon vorher in Wien, einen besonderen Zirkel, welchen Bilibin, sozusagen der Vorsitzende desselben, »die Unsrigen«, les nôtres, nannte. Dieser fast ausschließlich aus Diplomaten bestehende Klub hatte augenscheinlich seine eigenen Interessen, die mit Krieg und Politik nichts gemein hatten; diese Interessen drehten sich um Ereignisse in der höheren Gesellschaft, um Beziehungen zu gewissen Damen und um die bureaumäßige Seite des Dienstes. Diese Herren empfingen den Fürsten Andrei in ihrem Kreis allem Anschein nach gern, wie einen der Ihrigen, eine Ehre, die sie nur wenigen erwiesen. Aus Höflichkeit, und um dadurch das Gespräch in Gang zu bringen, richteten sie an ihn einige Fragen über das Heer und das Treffen; dann aber löste sich das Gespräch in Scherze und Plaudereien auf, die sich locker aneinanderreihten.

»Aber das schönste dabei war«, sagte einer, der von dem Mißgeschick eines diplomatischen Kollegen erzählte, »das schönste dabei war, daß der Kanzler ihm geradezu sagte, seine Ernennung nach London sei eine Beförderung, und als solche möge er sie auch ansehen. Können Sie sich vorstellen, was er dabei für eine Figur machte?«

»Was jedoch das allerschlimmste ist, meine Herren«, fügte ein anderer hinzu, »ich muß Kuragin vor Ihnen anklagen: jener arme Kerl sitzt in der Patsche, und dieser Don Juan hier macht sich das zunutze; so ein entsetzlicher Mensch!«

Fürst Ippolit lag auf einem bequemen Lehnstuhl und streckte die Beine über die Seitenlehne.

»Das könnte wohl zutreffen«, sagte er.

»Oh, Sie Don Juan, Sie Schlange!« riefen mehrere Herren.

»Sie wissen nicht, Bolkonski«, wandte sich Bilibin an den Fürsten Andrei, »daß alle Schreckenstaten der französischen Armee (beinahe hätte ich gesagt: der russischen) nichts sind im Vergleich mit dem Unheil, das dieser Mensch unter den Frauen angerichtet hat.«

»Das Weib ist die Genossin des Mannes«, bemerkte Fürst Ippolit und betrachtete seine hochliegenden Füße durch die Lorgnette.

Bilibin und die »Unsrigen« lachten beim Anblick seines Gesichts laut los. Fürst Andrei merkte, daß dieser Ippolit, auf den er (er konnte es nicht ableugnen) beinahe wegen seiner Frau eifersüchtig geworden wäre, in dieser Gesellschaft die Stelle eines Hansnarren einnahm.

»Nein, ich muß Ihnen Kuragin in seiner ganzen Glorie zeigen«, sagte Bilibin leise zu Bolkonski. »Er ist unbezahlbar, wenn er über Politik spricht; diese Wichtigtuerei müssen Sie sehen.«

Er setzte sich neben Ippolit, legte seine Stirn in die üblichen Falten und begann mit ihm ein Gespräch über Politik. Fürst Andrei und die andern umringten die beiden.

»Das Berliner Kabinett kann seine Ansicht über ein Bündnis nicht aussprechen«, begann Ippolit und blickte dabei alle bedeutsam an, »ohne auszusprechen … wie in seiner letzten Note … Sie verstehen … Sie verstehen … Übrigens, wenn Seine Majestät der Kaiser nicht dem Grundgedanken unseres Bündnisses untreu wird …«

»Warten Sie, ich bin noch nicht fertig«, sagte er zum Fürsten Andrei und ergriff dessen Hand. »Ich bin der Ansicht, daß eine Intervention stärker sein wird als die Unterlassung derselben. Und …« Er schwieg einen Augenblick. »Man kann unmöglich die Sache durch die Nichtannahme unserer Depesche vom 28. Oktober für beendet halten. So wird der Ausgang der ganzen Sache sein.«

Er ließ Bolkonskis Hand wieder los und deutete damit an, daß er nun wirklich ganz fertig sei.

»Demosthenes, ich erkenne dich an dem Kieselstein, den du in deinem goldenen Mund versteckt hältst«, sagte Bilibin, dem sich vor Vergnügen der ganze Haarschopf auf dem Kopf verschob.

Alle lachten, und Ippolit am lautesten von allen. Es machte ihm offenbar physischen Schmerz, und er konnte kaum Atem holen; aber er war nicht imstande, dieses heftige Lachen zu hemmen, bei dem sich sein sonst immer unbewegliches Gesicht in die Länge zog.

»Hören Sie einmal zu, meine Herren«, sagte Bilibin. »Bolkonski ist mein Gast sowohl in meiner Wohnung als auch hier in Brünn, und ich möchte ihn, soweit es in meinen Kräften steht, mit allen Lebensgenüssen, die hier zu haben sind, regalieren. Wenn wir in Wien wären, so wäre das eine leichte Sache; aber hier in diesem häßlichen mährischen Loch ist es schwieriger, und ich bitte Sie alle um Ihren Beistand. Wir müssen ihm Brünn von der besten Seite zeigen. Sie nehmen das Theater auf sich, ich die Gesellschaft, Sie, Ippolit, selbstverständlich die Weiber.«

»Wir müssen ihm Amélie zeigen, dieses reizende Wesen!« sagte einer der »Unsrigen«, indem er seine Fingerspitzen küßte.

»Überhaupt müssen wir diesen blutdürstigen Krieger zu einer humaneren Anschauungsweise bringen«, meinte Bilibin.

»Ich werde von Ihren gastfreundlichen Anerbietungen kaum Gebrauch machen können«, sagte Bolkonski, und mit einem Blick auf die Uhr fügte er hinzu: »Und jetzt ist es Zeit, daß ich wegfahre.«

»Wohin denn?«

»Zum Kaiser.«

»Oh! oh! oh!«

»Na, dann also auf Wiedersehen, Bolkonski! Auf Wiedersehen, Fürst. Kommen Sie ja recht früh zum Mittagessen«, redeten die Herren durcheinander. »Wir rechnen auf Sie.«

»Nehmen Sie, wenn Sie mit dem Kaiser reden, darauf Bedacht, die gute Ordnung in der Lieferung des Proviants und der Transportmittel soviel wie irgend möglich zu loben«, sagte Bilibin, während er seinen Gast bis ins Vorzimmer begleitete.

»Ich würde es gern loben; aber nach meiner Kenntnis der Verhältnisse kann ich es nicht wahrheitsgemäß tun«, antwortete Bolkonski lächelnd.

»Nun, reden Sie überhaupt soviel wie möglich. Audienz zu geben ist seine besondere Passion; aber selbst zu sprechen, das liebt er nicht und versteht er auch nicht, wie Sie sehen werden.«

XII


Bei der Cour blickte Kaiser Franz dem Fürsten Andrei, der an dem ihm angewiesenen Platz zwischen den österreichischen Offizieren stand, nur starr ins Gesicht und nickte ihm mit seinem langen Kopf zu. Aber nach der Cour teilte dem Fürsten Andrei der ihm vom vorhergehenden Tage bekannte Flügeladjutant in sehr höflicher Weise mit, daß der Kaiser den Wunsch habe, ihm Audienz zu erteilen. Kaiser Franz empfing ihn mitten im Zimmer stehend. Ehe das Gespräch begann, war Fürst Andrei überrascht, zu sehen, daß der Kaiser gewissermaßen verlegen war, nicht wußte, was er sagen sollte, und errötete.

»Sagen Sie, wann hat das Treffen angefangen?« fragte er dann hastig.

Fürst Andrei antwortete. Auf diese Frage folgten andere von ebenso einfachem Inhalt: ob Kutusow gesund sei; wie lange es her sei, daß er, Fürst Andrei, aus Krems abgefahren sei, usw. Der Kaiser sprach in einem Ton, als ob seine ganze Absicht nur darin bestände, eine gewisse Anzahl von Fragen zu stellen. Die Antworten auf diese Fragen aber vermochten (das war nur zu offensichtlich) kein Interesse bei ihm zu erwecken.

»Um welche Stunde hat das Treffen angefangen?« fragte der Kaiser.

»Ich kann Euer Majestät nicht Auskunft geben, um welche Stunde das Treffen in der Front begonnen hat; aber in Dürrenstein, wo ich mich befand, begannen unsere Truppen den Angriff zwischen fünf und sechs Uhr abends«, antwortete Bolkonski lebhafter werdend; diese Frage brachte ihn zu dem Glauben, er werde nun die Möglichkeit haben, die in seinem Kopf bereits fertige, wahrheitsgemäße Schilderung alles dessen, was er wußte und zum Teil selbst gesehen hatte, vorzutragen.

Aber der Kaiser lächelte und unterbrach ihn:

»Wieviel Meilen?«

»Von wo bis wohin, Euer Majestät?«

»Von Dürrenstein bis Krems.«

»Drei und eine halbe Meile, Euer Majestät.«

»Die Franzosen haben das linke Ufer verlassen?«

»Wie die Kundschafter meldeten, sind die letzten in der Nacht auf Flößen übergesetzt.«

»Ist genug Furage in Krems?«

»Die Furage war nicht in derjenigen Quantität geliefert …«

Der Kaiser unterbrach ihn:

»Um wieviel Uhr ist General Schmidt gefallen?«

»Ich glaube, um sieben Uhr.«

»Um sieben Uhr. Sehr traurig! Sehr traurig!«

Der Kaiser sagte, er sei ihm dankbar und verbeugte sich. Fürst Andrei ging hinaus und sah sich sofort von allen Seiten von Hofleuten umringt. Von allen Seiten blickten ihn freundliche Augen an und wurden freundliche Worte an ihn gerichtet. Der Flügeladjutant von gestern machte ihm Vorwürfe, daß er nicht im Schloß Quartier genommen habe, und stellte ihm seine eigene Wohnung zur Verfügung. Der Kriegsminister trat zu ihm heran und beglückwünschte ihn zu dem Maria-Theresia-Orden dritter Klasse, den ihm der Kaiser verliehen hatte. Ein Kammerherr der Kaiserin brachte ihm eine Einladung zu Ihrer Majestät. Die Erzherzogin wünschte ebenfalls, ihn zu sehen. Er wußte gar nicht, wem er zuerst antworten sollte, und brauchte einige Augenblicke, um seine Gedanken zu sammeln. Der russische Gesandte faßte ihn an der Schulter, führte ihn an ein Fenster und begann ein Gespräch mit ihm.

Ganz gegen Bilibins Voraussagung wurde die Nachricht, welche Fürst Andrei gebracht hatte, sehr freudig aufgenommen. Ein Dankgottesdienst wurde angeordnet. Kutusow wurde mit dem Großkreuz des Maria-Theresia-Ordens belohnt; auch viele Offiziere und Mannschaften wurden mit Dekorationen bedacht. Bolkonski empfing von allen Seiten Einladungen und sah sich genötigt, den ganzen Vormittag über bei den höheren österreichischen Würdenträgern Visiten zu machen. Als er gegen fünf Uhr nachmittags mit seinen Besuchen fertig geworden war, machte er sich auf den Weg nach Hause, zu Bilibin, und entwarf unterwegs in Gedanken einen Brief an seinen Vater über das Treffen und über seine Reise nach Brünn. Vor der Tür des Hauses, in welchem Bilibin wohnte, stand eine bereits zur Hälfte mit Gepäck beladene Britschke, und Franz, Bilibins Diener, trat gerade, mühsam einen Koffer schleppend, aus der Haustür.

Ehe Fürst Andrei wieder zu Bilibin fuhr, war er noch in einer Buchhandlung gewesen, um sich für den Feldzug mit Büchern zu versorgen, und hatte sich dort unvermerkt etwas länger aufgehalten.

»Was gibt es denn?« fragte Bolkonski.

»Ach, Durchlaucht«, antwortete Franz, indem er den Koffer mit Anstrengung auf die Britschke hob. »Wir ziehen noch weiter. Der Bösewicht ist schon wieder hinter uns her!«

»Was bedeutet das? Was ist los?« fragte sich Fürst Andrei und ging eilig hinein.

In der Wohnung kam ihm Bilibin entgegen. Auf seinem sonst immer so ruhigen Gesicht prägte sich doch eine ziemliche Erregung aus.

»Nein, nein, das müssen Sie doch selbst zugeben«, sagte er, »daß diese Geschichte mit der Taborbrücke« (eine Brücke in Wien) »geradezu köstlich ist. Sie sind hinübergekommen, ohne irgendwelchen Widerstand zu finden.«

Fürst Andrei verstand ihn nicht.

»Aber wo kommen Sie denn her, daß Sie nicht wissen, was bereits jeder Kutscher in der Stadt weiß?«

»Ich komme von der Erzherzogin. Da habe ich nichts gehört.«

»Und haben Sie nicht gesehen, daß überall gepackt wird?«

»Nein, ich habe nichts gesehen … Aber was ist denn eigentlich geschehen?« fragte Fürst Andrei ungeduldig.

»Was geschehen ist? Die Franzosen haben die Brücke passiert, die Auersperg verteidigen sollte, und die Brücke ist nicht in die Luft gesprengt worden, so daß Murat in diesem Augenblick schon auf der Chaussee nach Brünn dahinjagt und heute oder morgen hier sein wird.«

»Hier? Aber warum ist denn die Brücke nicht in die Luft gesprengt worden, da sie doch unterminiert ist?«

»Das frage ich Sie. Das weiß kein Mensch, nicht einmal Bonaparte selbst.«

Bolkonski zuckte die Achseln.

»Aber wenn sie die Brücke passiert haben, so ist damit unsere Armee verloren; sie wird abgeschnitten werden«, sagte er.

»Das ist ja bei diesem schlauen Streich auch die Absicht«, antwortete Bilibin. »Hören Sie zu. Die Franzosen rücken in Wien ein, wie ich Ihnen schon erzählt habe. Alles sehr schön. Am andern Tag, das heißt gestern, steigen die Herren Marschälle Murat, Lannes und Belliard zu Pferd und reiten nach der Brücke. (Bitte zu beachten, daß sie alle drei aus der Gascogne stammen.) ›Meine Herren‹, sagt einer von ihnen, ›Sie wissen, daß die Taborbrücke unterminiert ist, und daß sich an ihrem jenseitigen Ende ein furchtbarer Brückenkopf befindet und fünfzehntausend Mann, welche Befehl haben, die Brücke in die Luft zu sprengen und uns nicht hinüberzulassen. Aber unserm Kaiser Napoleon wird es angenehm sein, wenn wir diese Brücke nehmen. Wir wollen alle drei hinüberreiten und diese Brücke nehmen.‹ – ›Schön, reiten wir hinüber!‹ sagen die andern; und sie überschreiten die Brücke und nehmen sie und befinden sich jetzt mit ihrer ganzen Armee auf dieser Seite der Donau und rücken gegen uns und gegen euch und eure Verbindungen vor.«

»Lassen Sie die Späße«, sagte Fürst Andrei ernst und traurig.

Diese Nachricht war für den Fürsten Andrei betrübend, eröffnete ihm aber doch zugleich eine erwünschte Aussicht.

Sowie er gehört hatte, daß sich die russische Armee in so gefährlicher Lage befinde, war ihm auch sofort der Gedanke durch den Kopf geschossen, er, gerade er sei dazu prädestiniert, die Armee aus dieser Lage zu retten; hier sei sein Toulon, das ihn aus der Masse der unbekannten Offiziere herausheben und ihm den Eintritt in die Ruhmeslaufbahn ermöglichen werde. Während er Bilibin zuhörte, stellte er es sich bereits vor, wie er nach seiner Rückkehr zur Armee im Kriegsrat seinen Plan, das einzige Mittel zur Rettung der Armee, vorlegen und wie man ihn allein mit der Ausführung dieses Planes beauftragen werde.

»Lassen Sie die Späße«, sagte er.

»Das sind keine Späße«, fuhr Bilibin fort. »Nichts kann wahrer und trauriger sein. Diese drei Herren reiten ganz allein auf die Brücke und heben weiße Tücher in die Höhe; sie versichern, es sei ein Waffenstillstand abgeschlossen, und sie, die Marschälle, kämen, um mit dem Fürsten Auersperg das Erforderliche zu besprechen. Der wachhabende Offizier läßt sie in den Brückenkopf hinein. Sie erzählen ihm tausend Gascogner Schwindelgeschichten, sagen, der Krieg sei beendet, Kaiser Franz habe mit Bonaparte eine Zusammenkunft verabredet, und sie selbst hätten den Wunsch, mit dem Fürsten Auersperg zu reden, und was solcher Gasconaden mehr sind. Der Offizier schickt zu Auersperg, um diesen holen zu lassen; die Herren Marschälle umarmen die Offiziere, scherzen und setzen sich auf die Kanonen; unterdessen aber rückt ein französisches Bataillon unbeachtet auf die Brücke, wirft die Säcke mit Brennstoffen ins Wasser und nähert sich dem Brückenkopf. Endlich erscheint der Generalleutnant selbst, unser lieber Fürst Auersperg von Mautern. ›Liebenswürdiger Gegner! Perle des österreichischen Heeres, Held der Türkenkriege! Die Feindschaft ist beendet; wir können einander die Hand reichen. Der Kaiser Napoleon brennt vor Verlangen, den Fürsten Auersperg kennenzulernen.‹ Mit einem Wort, diese Herren, die nicht umsonst Gascogner sind, überschütten Auersperg derartig mit schönen Worten, und dieser ist so entzückt über seine schnell entstandene Intimität mit den französischen Marschällen, so geblendet von dem Anblick des Mantels und der Straußfedern und der Brillantagraffe Murats, daß er nur das Feuer der Edelsteine sieht und nicht an das Feuer denkt, das er auf die Feinde geben lassen müßte.« (Trotz der Lebhaftigkeit seiner Darstellung vergaß Bilibin nicht, nach diesem Witzwort einen Augenblick innezuhalten, um seinem Zuhörer Zeit zu lassen, es gebührend zu bewundern.) »Das französische Bataillon dringt im Laufschritt in den Brückenkopf ein, vernagelt die Kanonen, und die Brücke ist genommen. Nein, und was das allerschönste ist«, fuhr er fort, und es schien, als ob der Reiz seiner eigenen Erzählung ihm zu einer gewissen Beruhigung von seiner Aufregung verhülfe, »der Sergeant, der bei der Kanone aufgestellt war, auf deren Signalschuß die Mine angezündet und die Brücke in die Luft gesprengt werden sollte, dieser Sergeant wollte, als er sah, daß das französische Militär auf die Brücke gelaufen kam, schon den Signalschuß abgeben, aber Lannes hielt ihm den Arm zurück. Der Sergeant, der augenscheinlich klüger war als sein General, tritt zu Auersperg heran und sagt: ›Fürst, man betrügt Sie; da kommen die Franzosen!‹ Murat sieht, daß sie ihr Spiel verloren haben, wenn sie den Sergeanten weiterreden lassen. Mit erheucheltem Staunen (der echte Gascogner!) wendet er sich zu Auersperg: ›Ich werde irre an der in der ganzen Welt so gepriesenen österreichischen Disziplin‹, sagt er; ›Sie erlauben Ihrem Untergebenen in dieser Weise zu Ihnen zu reden?‹ Das war wahrhaft genial! Der Fürst Auersperg fühlt sich in seiner Ehre gekränkt und läßt den Sergeanten in Arrest setzen. Nein, da müssen Sie aber doch zugeben, daß diese ganze Geschichte von der Taborbrücke reizend ist. Das ist weder Dummheit noch Feigheit …«

»Vielleicht ist es Verrat«, sagte Fürst Andrei und stellte sich lebhaft die grauen russischen Soldatenmäntel, die Wunden, den Pulverqualm, das Knattern des Gewehrfeuers und den Ruhm vor, der ihn erwartete.

»Auch das nicht. Der Hof kommt dadurch in eine sehr üble Lage«, fuhr Bilibin fort. »Es ist weder Verrat noch Feigheit noch Dummheit; es ist dieselbe Geschichte wie bei Ulm …« Er schien nachzudenken, wie wenn er nach einem Ausdruck suchte. »Es ist Mack in neuer Auflage. Wir sind ›gemackt‹«, schloß er in dem Gefühl, ein Witzwort gesagt zu haben, ein neues Witzwort, und zwar von der Art, daß sich hoffen ließ, es werde weiterkolportiert werden.

Die Falten, die seine Stirn bisher bedeckt hatten, zogen sich schnell auseinander, ein deutliches Anzeichen des Vergnügens, das ihm sein Bonmot machte; leise lächelnd begann er seine Nägel zu betrachten.

»Wohin wollen Sie?« fragte er plötzlich den Fürsten Andrei, der aufstand und nach seinem Zimmer zu ging.

»Ich will fort.«

»Wohin?«

»Zur Armee.«

»Aber Sie wollten doch noch ein paar Tage bei uns bleiben?«

»Jetzt halte ich für notwendig, sogleich abzureisen.«

Fürst Andrei ordnete das Erforderliche für seine Abreise an und begab sich auf sein Zimmer.

»Wissen Sie was, mein Lieber«, sagte Bilibin, der bald darauf zu ihm ins Zimmer trat. »Ich habe über Sie nachgedacht. Warum wollen Sie eigentlich hinreisen?«

Und wie zum Beweis der Unbestreitbarkeit des Arguments, das er vorbringen wollte, verschwanden alle Falten von seinem Gesicht.

Fürst Andrei sah seinen Wirt fragend an und antwortete nichts.

»Warum wollen Sie hinreisen? Ich weiß, Sie halten es für Ihre Pflicht, jetzt zur Armee zu eilen, weil die Armee in Gefahr ist. Ich verstehe das, mein Lieber; das ist Heroismus …«

»Keineswegs«, erwiderte Fürst Andrei.

»Aber Sie sind ein Philosoph; so seien Sie es denn auch ganz, und betrachten Sie die Dinge auch von der andern Seite; dann werden Sie einsehen, daß Ihre Pflicht vielmehr darin besteht, sich selbst zu erhalten. Überlassen Sie es anderen, die zu nichts anderem taugen, unter den vorliegenden Umständen weiterzukämpfen … Sie haben keinen Befehl, zurückzufahren, und von hier sind Sie nicht entlassen; folglich können Sie bleiben und mit uns fahren, wohin uns unser unglückliches Schicksal führen wird. Es heißt, wir gehen nach Olmütz. Olmütz ist eine sehr angenehme Stadt. Wir beide können bequem zusammen in meinem Wagen fahren.«

»Hören Sie auf mit Ihren Scherzen, Bilibin«, sagte Bolkonski.

»Ich rede zu Ihnen so, wie ich denke, und als Freund. Erwägen Sie selbst: wohin und wozu wollen Sie jetzt wegfahren, während Sie doch bei uns bleiben können? Eines von zwei Dingen erwartet Sie mit Bestimmtheit« (er zog die Haut über der linken Schläfe in Falten): »entweder kommen Sie gar nicht bis zur Armee, und es wird schon vorher Friede geschlossen, oder Niederlage und Schmach wird mit der ganzen Kutusowschen Armee auch Ihnen zuteil.«

Hier zog Bilibin die Haut wieder auseinander, überzeugt, daß sein Dilemma unwiderleglich sei.

»Erwägungen darf ich hierbei nicht anstellen«, antwortete Fürst Andrei kühl und dachte: »Ich fahre hin, um die Armee zu retten.«

»Mein Lieber, Sie sind ein Held«, sagte Bilibin.

XIII


Bolkonski machte dem Kriegsminister einen Abschiedsbesuch und fuhr dann noch in derselben Nacht zur Armee ab, obwohl er selbst nicht wußte, wo er sie finden könne, und Gefahr lief, auf dem Weg nach Krems von den Franzosen abgefangen zu werden.

In Brünn war der Hof nebst der gesamten Hofgesellschaft mit Einpacken beschäftigt, und das schwerere Gepäck war bereits nach Olmütz abgegangen. Bei Hetzelsdorf gelangte Fürst Andrei auf die Landstraße, auf der sich mit der größten Eile und in der größten Unordnung die russische Armee fortbewegte. Die Straße war von Fuhrwerken, die sich aufstauten, dermaßen angefüllt, daß es für den Fürsten ein Ding der Unmöglichkeit war, in seinem Wagen weiterzufahren. Er ließ sich daher von einem Kosakenoffizier ein Pferd und einen Kosaken geben und ritt, die langen Wagenzüge überholend, hungrig und müde auf der Landstraße hin, um den Oberkommandierenden und seinen eigenen Reisewagen zu suchen. Schon unterwegs hatte er die schlimmsten Gerüchte über den Zustand der Armee zu hören bekommen, und der Anblick dieser unordentlich und hastig dahinziehenden Massen bestätigte jene Gerüchte.

»Dieser russischen Armee, die das englische Gold vom äußersten Ende der Welt hergeführt hat, werden wir das gleiche Schicksal bereiten« (nämlich wie der Armee von Ulm): an diese Worte aus einem Armeebefehl Bonapartes vor dem Beginn des Feldzuges erinnerte sich Fürst Andrei, und diese Worte erweckten in seinem Innern gleichzeitig ein Gefühl der Bewunderung für die Genialität dieses Helden und die Empfindung gekränkten Stolzes und die Hoffnung, sich Ruhm zu erwerben. »Aber wenn mir nun nichts weiter übrigbleibt als zu sterben?« dachte er. »Nun gut; wenn’s sein muß! Ich werde es nicht schlechter machen als andre.«

Mit schmerzlicher Geringschätzung blickte Fürst Andrei auf diese endlosen, ungeordneten Truppenmassen, Trainfuhrwerke, Munitionswagen, Geschütze und wieder Fuhrwerke, Fuhrwerke und Fuhrwerke von allen möglichen Arten, die einander überholten und in drei, vier Reihen nebeneinander die schmutzige Landstraße versperrten. Von überall her, von hinten und von vorn, soweit nur das Ohr reichte, hörte man das Knarren der Räder, das Rumpeln der schweren und leichteren Fuhrwerke und der Lafetten, das Getrappel der Pferde, Peitschenschläge und Geschrei beim Antreiben, Schimpfworte der Soldaten, der Offiziersburschen und der Offiziere. An den Rändern der Straße sah man fortwährend bald gefallene Pferde, teils abgehäutet, teils unabgehäutet, bald zerbrochene Fuhrwerke, bei denen einzelne Soldaten saßen und auf irgend etwas warteten, bald Soldaten, die sich von ihren Abteilungen getrennt hatten und sich in einzelnen Trupps in die nächsten Dörfer begaben oder schon aus den Dörfern Hühner, Schafe, Heu oder Säcke mit irgendwelchem Inhalt herbeischleppten. Wo die Straße anstieg oder sich senkte, wurde das Gedränge noch dichter, und es gab dort ein ununterbrochenes Stöhnen und Schreien. Soldaten, bis an die Knie im Schmutz watend, packten mit den Händen die Geschütze und Wagen, um sie vom Fleck zu bringen; die Peitschenhiebe hagelten, die Hufe glitten aus, die Stränge rissen; alle schrien, soviel die Lunge hergab. Die Offiziere, die den Marsch zu beaufsichtigen hatten, ritten zwischen den Wagenreihen bald vorwärts, bald zurück. Ihre Stimmen waren inmitten des allgemeinen Getöses nur schwach hörbar, und es war ihnen am Gesicht anzusehen, daß sie an der Möglichkeit, diese Unordnung zu beheben, verzweifelten.

»Das ist also das liebe, rechtgläubige Kriegsheer«, dachte Bolkonski, in Erinnerung an einen von Bilibin gebrauchten Ausdruck.

In der Absicht, einen von diesen Menschen zu fragen, wo der Oberkommandierende sei, ritt er an einen solchen Wagenzug heran. Dabei stieß er gerade auf ein seltsames, einspänniges Fuhrwerk, das augenscheinlich von ungeschickten Soldatenhänden zurechtgemacht war und eine Art Mittelding von Bauernwagen, Kabriolett und Kalesche bildete. Gelenkt wurde der Wagen von einem vorn daraufsitzenden Soldaten, und innen, unter dem ledernen Verdeck, hinter dem Spritzleder, saß eine ganz in Tücher gewickelte Frau. Fürst Andrei ritt heran und wendete sich schon mit einer Frage an den Soldaten, als das verzweifelte Geschrei der innen im Wagen sitzenden Frauensperson seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Offizier, der den Wagenzug beaufsichtigte, hatte nach dem Soldaten auf dem Kutschersitz dieses Wägelchens geschlagen, weil er andere Wagen hatte überholen wollen, und die Peitsche hatte das Spritzleder des Gefährtes getroffen. Die Frau begann entsetzlich zu kreischen. Als sie den Fürsten Andrei erblickte, bog sie sich hinter dem Spritzleder heraus und schrie, indem sie die mageren Arme aus ihrem Schaltuch herausstreckte und mit ihnen winkte:

»Adjutant! Herr Adjutant …! Ich bitte Sie um Gottes willen … Schützen Sie mich … Was soll nur aus mir werden …? Ich bin die Frau des Arztes vom siebenten Jägerregiment … Sie lassen uns nicht durch … Wir sind zurückgeblieben und haben die Unsrigen verloren …«

»Ich schlage dich zu Brei! Kehr um!« schrie der Offizier wütend den Soldaten an. »Kehr um mit deiner Vogelscheuche!«

»Herr Adjutant, schützen Sie mich! Mein Gott, mein Gott!« schrie die Doktorenfrau.

»Bitte, lassen Sie doch diesen Wagen weiterfahren. Sie sehen ja doch, daß eine Frau darinsitzt«, sagte Fürst Andrei, zu dem Offizier heranreitend.

Der Offizier blickte ihn an und wandte sich, ohne zu antworten, wieder zu dem Soldaten: »Ich werde dir das Überholen anstreichen … Zurück …!«

»Lassen Sie den Wagen weiterfahren, sage ich Ihnen«, wiederholte Fürst Andrei noch einmal und preßte die Lippen zusammen.

»Was bist du denn für einer?« fuhr ihn plötzlich der Offizier mit der Wut, in welche Betrunkene oft geraten, an. »Was bist du für einer? Du« (er legte einen besonderen Nachdruck auf das Du) »bist wohl ein hoher Vorgesetzter, wie? Hier bin ich der Vorgesetzte, und nicht du. Zurück, du da!« rief er von neuem. »Ich schlage dich zu Brei!«

Dieser Ausdruck mußte dem Offizier wohl besonders gut gefallen.

»Der ist dem feinen Adjutanten gehörig über das Maul gefahren«, rief jemand von hinten.

Fürst Andrei sah, daß sich der Offizier in jenem bekannten Zustand der Trunkenheit befand, in welchem die Leute ohne Anlaß Wutanfälle bekommen und nicht mehr wissen, was sie sagen. Er sah, daß sein eigenes Eintreten für die Doktorenfrau mit einer gewissen Lächerlichkeit behaftet war (und gerade das war es, was er am meisten in der Welt fürchtete); aber sein natürliches Gefühl warf hier solche Erwägungen über den Haufen. Der Offizier hatte das letzte Wort noch nicht zu Ende gesprochen, als Fürst Andrei mit wutverzerrtem Gesicht dicht an ihn heranritt und die Kosakenpeitsche erhob.

»Lassen Sie den Wagen weiterfahren!«

Der Offizier machte eine Handbewegung im Sinne von: »Meinetwegen; so viel liegt mir nicht daran!« und ritt schleunigst davon.

»Diese Kerle, diese hohen Offiziere, stören doch immer nur die Ordnung«, brummte er. »Na, tut, was ihr wollt.«

Fürst Andrei ritt eilig, ohne aufzublicken, von der Doktorenfrau weg, die ihn ihren Retter nannte, und indem er voll Widerwillen noch einmal die Einzelheiten dieser unwürdigen Szene sich vergegenwärtigte, ritt er so schnell als möglich nach dem Dorf hin, wo, wie man ihm sagte, sich der Oberkommandierende befand.

Als er zu dem Dorf gekommen war, stieg er ab und ging auf das erste Haus los, in der Absicht, sich wenigstens einen Augenblick zu erholen, etwas zu essen und alle diese widerwärtigen, peinigenden Gedanken zur Klarheit zu bringen. »Das ist ein Haufe Gesindel, aber kein Heer«, dachte er, während er auf die Tür des ersten Hauses zuging. Da rief eine ihm bekannte Stimme seinen Namen.

Er blickte um sich. Aus einem der kleinen Fenster steckte Neswizki sein hübsches Gesicht heraus. Mit vollem Mund lebhaft kauend und mit den Händen winkend, rief er den Fürsten Andrei heran.

»Bolkonski, Bolkonski, hörst du nicht? Komm schnell!« rief er.

Als Fürst Andrei in das Haus trat, sah er Neswizki und noch einen andern Adjutanten mit einem kalten Imbiß beschäftigt. Eilig wandten sie sich zu Bolkonski mit der Frage, ob er etwas Neues wisse. Auf ihren ihm so wohlbekannten Gesichtern las Fürst Andrei den Ausdruck der Besorgnis und Unruhe. Dieser Ausdruck war besonders auffällig auf Neswizkis sonst immer lachendem Gesicht.

»Wo ist der Oberkommandierende?« fragte Bolkonski.

»Hier, in dem Haus, dort«, antwortete der andere Adjutant.

»Nun, ist es denn wahr, daß eine Kapitulation stattfindet und Friede geschlossen wird?« fragte Neswizki.

»Danach möchte ich euch fragen. Ich weiß nichts, als daß ich mich mit größter Mühe zu euch durchgearbeitet habe.«

»Aber bei uns, Bruder, das ist ein Zustand! Schauderhaft! Ich muß mich schuldig bekennen, Bruder: über Mack haben wir gelacht; aber uns selbst geht es jetzt noch schlimmer«, sagte Neswizki. »Aber setz dich doch und iß einen Bissen.«

»Ihren Reisewagen werden Sie jetzt nicht finden, Fürst«, sagte der andere Adjutant. »Zu finden ist überhaupt nichts. Ihr Pjotr ist Gott weiß wo.«

»Wohin wird denn das Hauptquartier gelegt?«

»In Znaim werden wir übernachten.«

»Ich habe mir alles, was ich brauche, auf zwei Pferde packen lassen«, sagte Neswizki, »und die Leute haben die Packlasten ganz vorzüglich eingerichtet. Damit könnten wir sogar durch die böhmischen Berge Reißaus nehmen. Es ist eine schlimme Geschichte, Bruder. Aber was hast du denn? Du bist wohl krank, daß du so zuckst?« fragte er, da er bemerkte, daß Fürst Andrei zusammenfuhr, wie bei der Berührung einer Leidener Flasche.

»Mir fehlt weiter nichts«, erwiderte Fürst Andrei.

Er hatte gerade an die Szene denken müssen, die er kurz vorher mit der Doktorenfrau und dem Trainoffizier gehabt hatte.

»Was tut denn der Oberkommandierende hier?« fragte er.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Neswizki.

»Das eine weiß ich, daß die ganze Sache greulich ist, greulich, greulich!« sagte Fürst Andrei und ging nach dem Haus, wo sich der Oberkommandierende aufhielt.

Nachdem Fürst Andrei an Kutusows Equipage, an den abgetriebenen Reitpferden der Suite und an einigen in lauter Unterhaltung begriffenen Kosaken vorbeigekommen war, trat er in den Hausflur. Kutusow selbst befand sich, wie dem Fürsten Andrei gesagt wurde, in der Stube mit dem Fürsten Bagration und Weyrother zusammen. Weyrother war der österreichische General, der an die Stelle des gefallenen Schmidt getreten war. Im Hausflur hockte der kleine Koslowski in kauernder Stellung vor einem Schreiber. Der Schreiber hatte die Ärmel seines Uniformrocks zurückgeschlagen und schrieb eilig auf einer umgestürzten Bütte. Koslowskis Gesicht sah matt und welk aus; er hatte augenscheinlich gleichfalls in der Nacht nicht geschlafen. Er sah den Fürsten Andrei an, nickte ihm aber nicht einmal mit dem Kopf zu.

»Zweite Linie … Hast du das geschrieben?« fuhr er, dem Schreiber diktierend, fort: »Das Kiewer Grenadierregiment, das Podolsker …«

»Ich kann nicht mitkommen, Euer Hochwohlgeboren«, sagte der Schreiber in respektlosem, ärgerlichem Ton, indem er zu Koslowski aufblickte.

In diesem Augenblick war durch die Tür zu hören, wie Kutusow mit erregter, unzufriedener Stimme etwas sagte und eine andere, unbekannte Stimme ihn unterbrach. An dem Ton dieser Stimmen, an der Achtlosigkeit, mit der ihn Koslowski angesehen hatte, an der Unehrerbietigkeit des ermüdeten Schreibers, sowie daran, daß der Schreiber und Koslowski in so geringer Entfernung von dem Oberkommandierenden auf dem Fußboden neben einer Bütte saßen, und daran, daß die Kosaken, welche die Pferde hielten, dicht vor dem Fenster des Hauses so laut lachten: an alledem merkte Fürst Andrei, daß etwas Schlimmes von großer Bedeutung bevorstand.

Fürst Andrei wandte sich mit Fragen an Koslowski, obwohl er sah, daß diesem die Störung unwillkommen war.

»Sofort, Fürst«, antwortete Koslowski. »Disposition für Bagration.«

»Und die Kapitulation?«

»Es findet keine Kapitulation statt; es sind Anordnungen zum Kampf getroffen.«

Fürst Andrei ging auf die Tür zu, durch die die Stimmen zu hören waren. Aber in dem Augenblick, als er die Tür öffnen wollte, schwiegen die Stimmen im Zimmer, die Tür öffnete sich ohne sein Zutun, und Kutusow mit seiner Adlernase in dem aufgedunsenen Gesicht erschien auf der Schwelle. Fürst Andrei stand unmittelbar vor ihm; aber an dem Ausdruck des einzigen sehenden Auges des Oberkommandierenden war zu merken, daß seine Gedanken und Sorgen ihn so stark beschäftigten, daß sie ihm geradezu die Sehkraft beeinträchtigten. Er blickte seinem Adjutanten gerade ins Gesicht, ohne ihn zu erkennen.

»Nun, wie ist’s? Bist du fertig?« wandte er sich an Koslowski.

»Im Augenblick, Euer hohe Exzellenz.«

Bagration, dessen festes, unbewegliches Gesicht einen orientalischen Typus aufwies, ein Mann von kleinem Wuchs, hager, noch nicht bejahrt, trat hinter dem Oberkommandierenden aus dem Zimmer.

»Ich habe die Ehre, mich zurückzumelden«, sagte Fürst Andrei ziemlich laut zu Kutusow und überreichte ihm einen Brief.

»Ah, aus Wien? Schön. Nachher, nachher!«

Kutusow trat mit Bagration auf die Stufen vor der Haustür hinaus.

»Nun, Fürst, lebe wohl«, sagte er zu Bagration. »Christus sei mit dir. Ich segne dich zu einem großen Werk.«

Auf einmal wurde Kutusows Miene weich, und auf seinen Wangen erschienen Tränen. Mit der linken Hand zog er Bagration an sich heran, und mit der rechten, an der er einen Ring trug, bekreuzte er ihn mit einer ihm offenbar sehr geläufigen Bewegung. Hierauf hielt er ihm seine fleischige Wange hin; indessen küßte Bagration ihn nicht auf die Wange, sondern auf den Hals.

»Christus sei mit dir!« sagte Kutusow noch einmal und ging zu seinem Wagen. »Fahr mit mir«, forderte er den Fürsten Andrei auf.

»Euer hohe Exzellenz, ich würde wünschen, mich hier nützlich zu machen. Gestatten Sie mir, bei der Abteilung des Fürsten Bagration zu bleiben.«

»Fahr nur mit«, wiederholte Kutusow, und als er bemerkte, daß Bolkonski zauderte, fügte er hinzu: »Gute Offiziere habe ich selbst nötig, sehr nötig.«

Sie stiegen in den Wagen und fuhren einige Minuten lang schweigend.

»Wir haben noch viel Schweres vor uns, recht Schweres«, sagte Kutusow mit dem Scharfblick des erfahrenen Alters, wie wenn er alles durchschaut hätte, was in Bolkonskis Seele vorging. »Wenn von Bagrations Abteilung morgen der zehnte Teil davonkommt, dann will ich Gott danken«, fügte er wie im Selbstgespräch hinzu.

Fürst Andrei sah zu Kutusow hin, und unwillkürlich haftete sein Blick in einer Entfernung von nicht viel mehr als einem Fuß auf den sauber gewaschenen Falten der Narbe an Kutusows Schläfe, wo ihm beim Sturm auf Ismaïl eine Kugel in den Kopf gedrungen war, und auf dem ausgelaufenen Auge des Oberkommandierenden. »Ja, er hat ein Recht, so ruhig von dem bevorstehenden Untergang dieser Menschen zu sprechen«, dachte Bolkonski.

»Eben deswegen bat ich, mich dieser Abteilung zuzuweisen«, sagte er.

Kutusow antwortete nicht. Er schien schon wieder vergessen zu haben, was er soeben gesagt hatte, und saß in tiefen Gedanken da. Aber fünf Minuten darauf schaukelte Kutusow sich gemächlich auf den weichen Sprungfedern des Polstersitzes und wandte sich zu dem Fürsten Andrei. Auf seinem Gesicht war keine Spur von Erregung mehr zu bemerken. Mit feinem Spott erkundigte er sich bei dem Fürsten Andrei nach den Einzelheiten seiner Begegnung mit dem Kaiser, nach der Aufnahme, die die Nachricht von dem Treffen in der Nähe von Krems bei Hof gefunden habe, und nach einigen Damen aus ihrem gemeinsamen Bekanntenkreis.

XIV


Kutusow hatte durch einen seiner Kundschafter am 1. November eine Nachricht erhalten, die ihm die Lage der von ihm kommandierten Armee als beinah hoffnungslos erscheinen ließ. Der Kundschafter berichtete, daß die Franzosen nach Überschreitung der Brücke bei Wien mit gewaltigen Streitkräften auf die Verbindungslinie zwischen Kutusow und den aus Rußland kommenden Truppen anrückten. Entschloß sich Kutusow nun, in Krems zu bleiben, so schnitt die hundertfünfzigtausend Mann starke Armee Napoleons ihn von allen Verbindungen ab, umringte sein nur vierzigtausend Mann starkes, erschöpftes Heer, und er befand sich dann in derselben Lage wie Mack bei Ulm. Entschloß sich Kutusow aber, die Straße zu verlassen, die zur Vereinigung mit den aus Rußland kommenden Truppen führte, so mußte er ohne ordentliche Wege in das unbekannte Gebiet der böhmischen Gebirge ziehen, sich dabei gegen einen an Streitkräften überlegenen Feind verteidigen und jede Hoffnung auf Vereinigung mit Buxhöwden aufgeben. Und drittens, wenn sich Kutusow dafür entschied, sich auf dem Weg von Krems nach Olmütz zurückzuziehen, um sich mit den Truppen aus Rußland zu vereinigen, so lief er Gefahr, daß die Franzosen, nach Passierung der Brücke bei Wien, ihm auf diesem Weg zuvorkamen und er auf diese Weise gezwungen wurde, einen Kampf auf dem Marsch anzunehmen, mit dem gesamten Train und Troß und gegenüber einem Gegner, der ihm dreifach überlegen war und ihn von zwei Seiten einschloß.

Kutusow entschied sich für diesen letzten Plan.

Die Franzosen zogen, wie der Kundschafter meldete, nach Passierung der Brücke bei Wien in Eilmärschen nach Znaim, welches an der Straße lag, auf welcher Kutusow sich zurückzog, und zwar mehr als hundert Werst vor ihm. Erreichte er Znaim vor den Franzosen, so konnte er gute Hoffnung hegen, daß ihm die Rettung seines Heeres gelingen werde; ließ er zu, daß ihm die Franzosen in Znaim zuvorkamen, so war eines von zwei traurigen Dingen sicher: entweder mußte er über seine ganze Armee dieselbe Schmach ergehen lassen, die das Macksche Heer bei Ulm betroffen hatte, oder er mußte seine ganze Armee dem Untergang weihen. Aber den Franzosen mit der gesamten Armee einfach durch Schnelligkeit zuvorzukommen, war unmöglich. Der Weg der Franzosen von Wien nach Znaim war kürzer und besser als der Weg der Russen von Krems nach Znaim.

Nach Empfang jener Nachricht schickte Kutusow noch in der Nacht die viertausend Mann starke Vorhut unter Bagration nach rechts über die Berge, von der Krems-Znaimer Straße nach der Wien-Znaimer hinüber. Bagration sollte diesen Übergang, ohne unterwegs zu rasten, ausführen, dann, wenn es ihm gelungen wäre, den Franzosen zuvorzukommen, mit der Front nach Wien und dem Rücken nach Znaim haltmachen und sie aufhalten, solange er irgend könnte. Kutusow selbst zog, auch mit der gesamten Bagage, nach Znaim.

Nachdem Bagration mit seinen hungrigen, barfüßigen Soldaten, ohne Weg, über die Berge, in Nacht und Sturm fünfundvierzig Werst zurückgelegt und dabei ein Drittel seiner Leute als Marode eingebüßt hatte, gelangte er nach Hollabrunn an der Wien-Znaimer Straße einige Stunden früher als die Franzosen, die von Wien nach Hollabrunn marschiert waren. Kutusow brauchte mit seinem Troß noch volle vierundzwanzig Stunden, um Znaim zu erreichen, und daher sollte, um die Armee zu retten, Bagration mit seinen viertausend hungrigen, entkräfteten Soldaten ganze vierundzwanzig Stunden lang die gesamte feindliche Armee, die in Hollabrunn mit ihm zusammenstieß, aufhalten – was offenbar ein Ding der Unmöglichkeit war. Aber eine eigentümliche Fügung des Schicksals machte das Unmögliche möglich. Das Gelingen jenes Betruges, der ohne allen Kampf die Wiener Brücke den Franzosen in die Hände geliefert hatte, gab dem Prinzen Murat den Gedanken ein, in gleicher Weise auch Kutusow zu täuschen. Als Murat auf der Znaimer Straße auf die schwache Abteilung Bagrations stieß, glaubte er, daß dies die ganze Armee Kutusows sei. Um diese Armee mit Sicherheit niederwerfen zu können, wollte er erst die Truppen erwarten, die noch auf dem Weg von Wien zurückgeblieben waren, und bot zu diesem Zweck einen Waffenstillstand auf drei Tage an, mit der Bedingung, daß die beiderseitigen Truppen ihre Stellungen nicht verändern und ihre Standorte nicht verlassen dürften. Murat versicherte, die Friedensunterhandlungen seien bereits im Gang, und deshalb schlage er zur Vermeidung unnützen Blutvergießens den Waffenstillstand vor. Der österreichische General Graf Nostitz, der auf Vorposten stand, traute den Worten des Muratschen Parlamentärs und zog sich zurück, wodurch er Bagrations Abteilung bloßgab. Ein anderer Parlamentär Murats ritt nach der russischen Vorpostenkette, um dieselbe Nachricht über die Friedensverhandlungen mitzuteilen und den russischen Truppen einen dreitägigen Waffenstillstand vorzuschlagen. Bagration antwortete, er sei weder befugt, einen Waffenstillstand anzunehmen noch zurückzuweisen, und schickte einen seiner Adjutanten mit einem Bericht über den ihm gemachten Vorschlag zu Kutusow.

Der Waffenstillstand war für Kutusow das einzige Mittel, um Zeit zu gewinnen, damit die erschöpfte Abteilung Bagrations sich erholen könnte und der Train und Troß (dessen Bewegungen den Franzosen verborgen blieben) wenigstens um einen weiteren Tagesmarsch näher an Znaim herankäme. Der Vorschlag eines Waffenstillstandes gewährte die einzige und ganz unerwartete Möglichkeit, das Heer zu retten. Sobald Kutusow diese Nachricht erhalten hatte, schickte er unverzüglich den bei ihm bediensteten Generaladjutanten Wintzingerode in das feindliche Lager. Wintzingerode sollte nicht nur den Waffenstillstand annehmen, sondern auch Vorschläge über die Bedingungen einer Kapitulation machen; gleichzeitig aber schickte Kutusow mehrere Adjutanten nach rückwärts, um die Bewegung des Trains der ganzen Armee auf der Krems-Znaimer Straße soviel als irgend möglich zu beschleunigen. Nur die entkräftete, hungrige Abteilung Bagrations sollte, um gleichsam als Wand diese Bewegung des Trains und des ganzen Heeres zu verdecken, regungslos vor dem achtmal stärkeren Feind stehenbleiben.

Kutusows Erwartungen gingen in Erfüllung, sowohl in bezug darauf, daß die zu nichts verpflichtenden Kapitulationsvorschläge einem ziemlichen Teil des Trains Zeit gaben, vorbeizukommen, als auch in bezug darauf, daß Murats Irrtum sehr bald als solcher erkannt werden mußte. Sobald Bonaparte, der sich in Schönbrunn, fünfundzwanzig Werst von Hollabrunn, befand, Murats Bericht empfangen und von dem Projekt eines Waffenstillstandes und einer Kapitulation Kenntnis erhalten hatte, durchschaute er sofort die Täuschung und schrieb an Murat den nachstehenden Brief:


»An den Prinzen Murat.

Schönbrunn, den 25. Brumaire 1805,

acht Uhr morgens.


Ich finde keine Worte, um Ihnen meine Unzufriedenheit auszudrücken. Sie kommandieren nur meine Avantgarde und haben kein Recht, ohne meinen Befehl einen Waffenstillstand abzuschließen. Durch Ihre Schuld komme ich jetzt um die Früchte eines ganzen Feldzuges. Brechen Sie den Waffenstillstand sofort, und rücken Sie gegen den Feind vor. Lassen Sie ihm die Erklärung zugehen, daß der General, der diese Kapitulation unterzeichnet hat, dazu nicht berechtigt war, und daß einzig und allein der Kaiser von Rußland dazu berechtigt ist.

Wenn übrigens der Kaiser die besagte Konvention ratifizieren sollte, so werde auch ich sie ratifizieren; aber das Ganze ist nur eine List. Gehen Sie drauflos, und vernichten Sie die russische Armee … Sie haben die Möglichkeit, den Russen ihre Bagage und ihre Artillerie wegzunehmen.

Der Generaladjutant des Kaisers von Rußland ist ein … Die Offiziere haben nicht das geringste zu bedeuten, wenn sie keine Vollmacht haben, und dieser hatte keine … Die Österreicher haben sich mit dem Übergang über die Wiener Brücke düpieren lassen, und Sie lassen sich durch einen Adjutanten des Kaisers düpieren.

Napoleon.«


Ein Adjutant Bonapartes jagte, was nur sein Pferd laufen konnte, mit diesem strengen Brief zu Murat. Bonaparte selbst, der sich auf seine Generale nicht verlassen mochte, brach mit der ganzen Garde nach dem Kampfplatz auf, in Besorgnis, daß ihm das schon sicher geglaubte Schlachtopfer doch noch entschlüpfen könne; die viertausend Mann starke Abteilung Bagrations aber zündete sich fröhlich im Freien tüchtige Feuer an, trocknete sich, wärmte sich, kochte zum erstenmal seit drei Tagen sich wieder ihre Grütze, und niemand von den Leuten dieser Abteilung wußte, was ihm bevorstand, oder dachte überhaupt daran.

XV


Um vier Uhr nachmittags kam Fürst Andrei, der mit seiner Bitte bei Kutusow doch noch durchgedrungen war, in dem Dorf Grund an und meldete sich bei Bagration. Der Adjutant Bonapartes war noch nicht bis zu dem Muratschen Korps gelangt, und der Kampf hatte daher noch nicht begonnen. In Bagrations Abteilung wußte man nichts von dem Gang der Dinge im großen; man sprach vom Frieden, glaubte aber eigentlich nicht an die Möglichkeit desselben. Man sprach von einem Kampf und glaubte gleichfalls nicht, daß er nahe bevorstehe. Bagration, welcher wußte, daß dieser Adjutant Bolkonski in besonderem Maß die Gunst und das Vertrauen des Oberkommandierenden besaß, empfing ihn mit besonderer Auszeichnung und mit der leutseligen Herablassung eines Vorgesetzten, teilte ihm mit, es werde wahrscheinlich heute oder morgen ein Kampf stattfinden, und stellte ihm völlig frei, ob er während des Kampfes sich in seiner Umgebung aufhalten wolle oder bei der Arrieregarde, um dort die Ordnung des Rückzuges zu überwachen, »was gleichfalls von hoher Wichtigkeit ist«.

»Übrigens wird es heute wahrscheinlich noch nicht zum Kampf kommen«, sagte Bagration, wie wenn er den Fürsten Andrei damit beruhigen wollte.

»Ist er einer der gewöhnlichen Gecken von der Suite«, dachte Bagration, »die nur zur Truppe geschickt werden, um einen Orden zu bekommen, so wird er zur Arrieregarde gehen, wo er ja zu einer solchen Dekoration gleichfalls gelangen kann; will er aber bei mir bleiben, nun, so mag er das tun; wenn er ein tapferer Offizier ist, wird er mir gute Dienste leisten können.« Fürst Andrei bat, ohne hinsichtlich der ihm freigestellten Wahl eine Antwort zu geben, um die Erlaubnis, die Stellung abzureiten und sich die Aufstellung der Truppen anzusehen, um im Fall eines Auftrages zu wissen, wohin er zu reiten habe. Der Offizier du jour bei der Abteilung, ein schöner Mann, der in seiner Kleidung etwas Stutzerhaftes hatte, einen Brillantring am Zeigefinger trug und schlecht, aber mit besonderer Vorliebe französisch sprach, erbot sich, den Fürsten Andrei zu führen.

Überall sahen sie vom Regen durchnäßte, trüb blickende Offiziere, die den Eindruck machten, als ob sie etwas suchten, und Soldaten, die aus dem Dorf Türen, Bänke und Zaunpfähle herbeischleppten.

»Sehen Sie, Fürst, bei diesem Volk können wir kein korrektes Verhalten erzielen«, sagte der Stabsoffizier, auf diese Soldaten weisend. »Die Schuld liegt an den Offizieren, die keine rechte Aufsicht führen und ihnen alles durchgehen lassen. Aber hier«, er zeigte auf ein in der Nähe aufgeschlagenes Marketenderzelt, »hier finden sie sich zusammen und sitzen wer weiß wie lange. Erst heute morgen habe ich sie alle hinausgejagt; aber Sie werden sehen, das Zelt ist schon wieder voll. Wir müssen hinreiten, Fürst, und ihnen einen Schreck einjagen. Wir brauchen dazu nur einen Augenblick.«

»Schön, reiten wir hin; ich will mir auch gleich bei dem Marketender ein Stück Käse und eine Semmel kaufen«, sagte Fürst Andrei, der noch nicht dazu gekommen war, etwas zu genießen.

»Aber warum haben Sie mir das nicht gesagt, Fürst? Ich hätte Ihnen von meinem Mundvorrat angeboten.«

Sie stiegen von den Pferden und traten in das Marketenderzelt. Offiziere mit geröteten, müden Gesichtern saßen dort an Tischen, tranken und aßen.

»Aber meine Herren, was soll das heißen!« rief der Stabsoffizier in einem vorwurfsvollen Ton, dem man es anhörte, daß er dieselbe Ermahnung schon wiederholt ausgesprochen hatte. »Sie dürfen sich doch nicht in dieser Weise von Ihren Leuten entfernen. Der Fürst hat verboten, daß sich jemand hier aufhält. Nun sehen Sie nur, Herr Hauptmann«, wandte er sich an einen kleinen, schmutzigen, mageren Artillerieoffizier, der ohne Stiefel (er hatte sie dem Marketender zum Trocknen gegeben), nur in Strümpfen, vor den beiden Eintretenden aufgestanden war und ein wenig lächelte, was aber nicht recht natürlich herauskam. »Schämen Sie sich denn gar nicht, Hauptmann Tuschin?« fuhr der Stabsoffizier fort. »Sie als Artillerist sollten doch eigentlich anderen ein gutes Beispiel geben, und nun haben Sie nicht einmal Stiefel an! Wenn Alarm geschlagen wird, werden Sie ohne Stiefel eine sehr hübsche Figur machen.« Der Stabsoffizier lächelte. »Wollen die Herren sich auf ihre Posten begeben, alle, alle!« fügte er im Ton des befehlenden Vorgesetzten hinzu.

Fürst Andrei mußte beim Anblick des Hauptmanns Tuschin unwillkürlich ebenfalls lächeln. Schweigend und lächelnd und von einem stiefellosen Fuß auf den andern tretend, blickte Tuschin mit seinen großen, klugen, guten Augen bald den Fürsten Andrei, bald den Stabsoffizier fragend an.

»Die Soldaten pflegen zu sagen: ohne Stiefel geht man bequemer«, sagte Hauptmann Tuschin dann schüchtern und immer noch lächelnd; er wünschte offenbar, sich durch den scherzenden Ton aus seiner unbehaglichen Situation herauszuhelfen.

Aber er hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, als er merkte, daß sein Scherz ordnungswidrig war und nicht gut ankam. Er wurde verlegen.

»Bitte, auf Ihre Posten, meine Herren!« sagte der Stabsoffizier wieder und gab sich alle Mühe, ernst zu bleiben.

Fürst Andrei betrachtete noch einmal die kleine Gestalt des Artillerieoffiziers. Sie hatte etwas Eigentümliches, ganz und gar nicht Militärisches, einigermaßen Komisches, aber doch außerordentlich Anziehendes.

Der Stabsoffizier und Fürst Andrei stiegen wieder zu Pferd und ritten weiter.

Als sie aus dem Dorf herausgekommen waren, trafen sie fortwährend, überholend oder begegnend, auf hierhin oder dorthin gehende Soldaten und Offiziere verschiedener Waffengattungen und erblickten linker Hand im Bau begriffene Schanzen, die von der frisch ausgehobenen Tonerde eine rötliche Färbung hatten. Mehrere Bataillone Soldaten, trotz der kalten Witterung in Hemdsärmeln, wimmelten wie weiße Ameisen auf diesen Schanzen umher; hinter einem Wall hervor wurden von unsichtbaren Händen unablässig Schaufeln voll roter Tonerde herausgeworfen. Die beiden Reiter ritten an eine Schanze heran, besichtigten sie und setzten dann ihren Weg fort. Unmittelbar hinter der Schanze stießen sie auf ein paar Dutzend Soldaten, bei denen eine fortwährende Ablösung stattfand, indem manche zur Schanze zurückliefen und andere von dort kamen. Die beiden Reiter mußten sich die Nasen zuhalten und ihre Pferde in Trab setzen, um aus der verdorbenen Atmosphäre hinauszukommen.

»Ja, das sind so die Annehmlichkeiten des Lagerlebens, Fürst«, sagte der Stabsoffizier du jour.

Sie ritten die gegenüberliegende Anhöhe hinan. Von dieser Anhöhe aus konnte man schon die Franzosen sehen. Fürst Andrei hielt sein Pferd an und sah prüfend um sich.

»Sehen Sie, dort haben wir eine Batterie stehen«, sagte der Stabsoffizier und wies nach dem höchsten Punkt. »Sie wird von eben dem wunderlichen Gesellen befehligt, der ohne Stiefel im Marketenderzelt saß; von dort oben ist alles zu sehen; lassen Sie uns hinreiten, Fürst.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar; aber ich reite nun wohl allein weiter«, erwiderte Fürst Andrei, der den Stabsoffizier gern loswerden wollte. »Bitte, bemühen Sie sich nicht mehr.«

Der Stabsoffizier trennte sich von Fürst Andrei, und dieser ritt allein weiter.

Je weiter er nach vorn, näher an den Feind heran, kam, um so ordentlicher und munterer wurde das Aussehen der Truppen. Die schlimmste Unordnung und Niedergeschlagenheit hatte bei jener Abteilung des Trains geherrscht, die Fürst Andrei am Vormittag auf der Krems-Znaimer Landstraße getroffen hatte und die von den Franzosen zehn Werst entfernt war. Auch in dem Dorf Grund machte sich eine gewisse Unruhe und Ängstlichkeit fühlbar. Aber je mehr sich Fürst Andrei der französischen Vorpostenkette näherte, um so mehr Zuversicht und Selbstvertrauen kam in der ganzen Erscheinung unserer Truppen zum Ausdruck. In Reih und Glied aufgestellt, standen die Soldaten in ihren Mänteln da, und die Feldwebel und Kompaniechefs zählten ihre Leute durch, wobei sie immer dem letzten Mann einer jeden Abteilung mit dem Finger auf die Brust tippten und ihn die Hand in die Höhe heben ließen; andere schleppten, sich in der ganzen Umgegend zerstreuend, Brennholz und Buschwerk herbei und bauten unter eifriger Unterhaltung und fröhlichem Gelächter kleine Hütten; wieder andere saßen, mehr oder minder bekleidet, um offene Feuer, trockneten ihre Hemden und Fußlappen oder besserten ihre Stiefel und Mäntel aus; viele drängten sich um die Kessel, wo die Köche die Grütze kochten. In einer Kompanie war das Mittagessen gerade fertig, und mit begierigen Gesichtern blickten die Soldaten nach den dampfenden Kesseln und warteten auf die Begutachtung der Probe, die der Kapitän d’armes in einem Holznapf dem auf einem Baumklotz vor seiner primitiven Hütte sitzenden Offizier brachte.

In einer anderen, noch glücklicheren Kompanie (da es Branntwein nicht bei allen Kompanien gab) standen die Soldaten dichtgedrängt um den pockennarbigen, breitschultrigen Feldwebel herum, der in die ihm der Reihe nach hingereichten Deckel der Feldflaschen, jedesmal das Fäßchen ein wenig biegend, jedem sein Quantum eingoß. Mit andächtiger Miene führten die Soldaten die Flaschendeckel zum Mund, tranken sie aus, spülten den Branntwein im Mund umher, wischten sich den Mund mit dem Mantelärmel ab und traten mit vergnügten Gesichtern wieder von dem Feldwebel zurück. Die Gesichter aller waren so ruhig, als ob dies alles nicht angesichts des Feindes und vor einem Kampf stattfände, bei dem voraussichtlich mindestens die Hälfte der Truppe auf dem Platz bleiben mußte, sondern irgendwo in der Heimat, wo ihnen ein ruhiges Quartier in Aussicht stand. Nachdem Fürst Andrei bei einem Jägerregiment vorbeigeritten war, kam er zu den Kiewer Grenadieren, stattlichen, gutaussehenden Leuten, die in denselben friedlichen Beschäftigungen begriffen waren; dort gelangte er nicht weit von der Baracke des Regimentskommandeurs, die sich durch ihre Höhe vor den übrigen auszeichnete, vor die Front einer Grenadier-Korporalschaft, vor der ein Mann mit entblößtem Oberkörper auf der Erde lag. Zwei Soldaten hielten ihn fest, und zwei andere schwangen biegsame Gerten und schlugen taktmäßig auf den nackten Rücken los. Der Gezüchtigte schrie mörderisch. Ein dicker Major ging vor der Front auf und ab und sagte, ohne sich um das Geschrei zu kümmern, fortwährend:

»Stehlen ist für den Soldaten eine Schande. Der Soldat soll ehrlich, anständig und tapfer sein. Wenn aber einer seinen Kameraden bestiehlt, dann hat er keine Ehre im Leib; so einer ist ein Lump. Immer weiter, immer weiter!«

Und das Klatschen der schwanken Gerten und das schreckliche, aber heuchlerisch übertriebene Geschrei dauerten fort.

»Immer weiter, immer weiter!« sagte dazu der Major.

Ein junger Offizier trat mit einer Miene des Staunens und des Schmerzes von dem Gezüchtigten weg und blickte den vorüberreitenden Adjutanten fragend an.

Nun war Fürst Andrei an die vorderste Reihe gelangt und ritt an der Front entlang. Unsere Vorpostenkette und die feindliche standen auf dem linken und auf dem rechten Flügel weit voneinander entfernt; aber im Zentrum, an der Stelle, wo am Vormittag die Parlamentäre herangekommen waren, standen die Linien einander so nahe, daß die Gegner die Gesichter unterscheiden und ein Gespräch herüber führen konnten. Außer denjenigen Soldaten, die an dieser Stelle auf Posten waren, stand hier auf beiden Seiten aus Neugier noch eine Menge anderer Soldaten, welche lachend die ihnen sonderbar und fremdartig erscheinenden Feinde betrachteten.

Obwohl jede Annäherung an die Vorpostenkette verboten war, waren doch die dortigen Offiziere vom frühen Morgen an außerstande gewesen, die Neugierigen abzuwehren. Die Soldaten aber, die auf Vorposten standen, benahmen sich wie Leute, die dem Publikum irgendeine Rarität zeigen: sie selbst blickten gar nicht mehr nach den Franzosen hin, sondern stellten statt dessen an den Herbeikommenden ihre Beobachtungen an und warteten gelangweilt auf die Ablösung. Fürst Andrei hielt an, um nach den Franzosen hinüberzublicken.

»Nu sieh mal, sieh mal«, sagte ein Soldat zu seinem Kameraden und zeigte auf einen russischen Gemeinen von den Musketieren, der mit einem Offizier an die Vorpostenkette herangetreten war und mit einem französischen Grenadier ein erregtes Gespräch führte. »Nein, was der flink plappert! Da kommt ja der Franzose selbst kaum mit. Na, du solltest doch auch mal mitreden, Sidorow!«

»Warte, laß mich mal hören! Ei ja, das geht flink!« antwortete Sidorow, der in dem Ruf stand, französisch sprechen zu können.

Der Gemeine, auf den die beiden Lacher hinwiesen, war Dolochow. Fürst Andrei erkannte ihn und hörte seinem Gespräch zu. Dolochow war zusammen mit seinem Kompaniechef vom linken Flügel, wo ihr Regiment stand, in die Vorpostenkette gekommen.

»Na, immer weiter, immer weiter!« hetzte der Kompaniechef und beugte sich vor, um nur ja keins der ihm doch unverständlichen Worte zu verlieren. »Schnell, schnell, bitte. Was hat er denn gesagt?«

Dolochow antwortete dem Kompaniechef nicht; er war mit dem französischen Grenadier in einen hitzigen Streit geraten. Sie redeten, wie es nicht anders sein konnte, vom Krieg. Der Franzose behauptete, indem er die Österreicher mit den Russen verwechselte, die Russen hätten bei Ulm teils sich ergeben, teils wären sie geflohen; Dolochow behauptete, die Russen hätten sich nicht ergeben, sondern die Franzosen geschlagen.

»Und sobald wir hier Befehl erhalten, euch wegzujagen, jagen wir euch auch hier weg«, sagte Dolochow.

»Nehmt euch nur in acht, daß wir euch nicht mitsamt allen euren Kosaken in die Tasche stecken«, erwiderte der Grenadier.

Die französischen Zuschauer und Zuhörer lachten los.

»Wir werden euch schon tanzen lehren, wie euch Suworow hat tanzen lassen«, sagte Dolochow.

»Was redet er da?« fragte einer der Franzosen.

»Alte, abgetane Geschichten«, antwortete der andre, der wenigstens so viel erriet, daß Dolochow von früheren Kriegen sprach. »Der Kaiser wird eurem Suwara schon ebenso wie allen andern zeigen, was eine Harke ist.«

»Bonaparte …«, begann Dolochow, aber der Franzose unterbrach ihn.

»Es gibt keinen Bonaparte; es gibt nur einen Kaiser. Sacré nom …«, schrie er wütend.

»Der Teufel soll euren Kaiser holen!« Dolochow fügte auf russisch ein paar grobe Soldatenschimpfworte hinzu, warf sein Gewehr herum und trat zurück.

»Kommen Sie mit, Iwan Lukitsch«, sagte er zu seinem Kompaniechef.

»Na, der hat mal schön französisch geredet!« meinten die Soldaten in der Vorpostenkette. »Na, nun du mal los, Sidorow!«

Sidorow kniff die Augen zusammen, wandte sich nach den Franzosen hin und begann, schnell, ganz schnell sinnlose Worte zu plappern:

»Kari, mala, tafa, safi, muter, kaskà«, schrie er und bemühte sich dabei, seiner Stimme eine energische, wechselnde Klangfarbe zu verleihen.

»Ho, ho, ho! Ha, ha, ha! Huch, huch, huch!« erscholl bei den russischen Soldaten eine laute Salve eines gesunden, fröhlichen Gelächters, das unwillkürlich über die Vorpostenkette hinüber auch auf die Franzosen überging. Auf ein solches Gelächter konnte, wie es schien, nichts anderes folgen, als daß man aus den Gewehren die Ladungen herausnahm und alle Soldaten sofort auseinandergingen und in ihre Heimat zurückkehrten.

Aber die Gewehre blieben geladen; die Schießscharten an den Häusern und Schanzen blickten ebenso drohend nach vorn wie vorher, und die abgeprotzten Kanonen standen noch ebenso gegeneinander gerichtet da.

XVI


Nachdem Fürst Andrei die ganze Truppenlinie vom rechten bis zum linken Flügel abgeritten hatte, ritt er zu der Batterie hinauf, von der man nach der Angabe des Stabsoffiziers das ganze Terrain überblicken konnte. Hier stieg er vom Pferd und blieb bei dem letzten der vier abgeprotzten Geschütze stehen. Vor den Geschützen ging ein Artillerist als Wachtposten auf und ab; er wollte vor dem Offizier Front machen und salutieren; aber auf ein ihm von diesem gegebenes Zeichen nahm er seine gleichmäßige, langweilige Wanderung wieder auf. Hinter den Geschützen standen die Protzkästen; noch weiter zurück sah man die Biwakfeuer der Artilleristen und die Pferde, die an Seilen angebunden waren, welche zwischen eingegrabenen Pfählen gespannt waren. Links, nicht weit von dem letzten Geschütz, befand sich eine neue, aus Baumzweigen geflochtene Hütte, aus der ein lebhaftes Gespräch mehrerer Offiziere zu hören war.

Oben bei der Batterie erschloß sich in der Tat eine weite Umsicht: man übersah fast die gesamte Stellung der russischen Truppen und einen großen Teil der feindlichen Stellung. Der Batterie gerade gegenüber, am oberen Saum der gegenüberliegenden Anhöhe, war das Dorf Schöngrabern sichtbar; links und rechts davon konnte man an drei Stellen, inmitten rauchender Lagerfeuer, Abteilungen französischer Truppen erkennen, während die Hauptmasse sich offenbar im Dorf selbst und jenseits des Berges befand. Links vom Dorf, in dem Rauch, schien etwas zu sein, was wie eine Batterie aussah; aber mit bloßem Auge war es nicht mit Sicherheit zu erkennen. Unser rechter Flügel war auf einer ziemlich steilen Anhöhe postiert, von wo aus er die französische Stellung beherrschte. Über diese Anhöhe hin war unsere Infanterie verteilt, und weiterhin, am äußersten Rand, waren die Dragoner sichtbar. Im Zentrum, wo sich die Tuschinsche Batterie befand, von welcher aus Fürst Andrei die Stellung betrachtete, war der steilste und kürzeste Abstieg nach dem Bach zu, der uns von Schöngrabern trennte. Links lehnten sich unsere Truppen an einen Wald, wo die Biwakfeuer unserer holzfällenden Infanterie rauchten. Die französische Aufstellung dehnte sich weiter aus als die unsrige, und es war klar, daß die Franzosen uns mit Leichtigkeit auf beiden Flügeln umgehen konnten. Hinter unserer Stellung befand sich eine tiefe, steile Schlucht, welche zu passieren bei einem Rückzug für die Artillerie und Kavallerie schwierig gewesen wäre. Fürst Andrei holte sein Notizbuch heraus, stützte sich mit dem Ellbogen auf eine Kanone und zeichnete sich für seinen eigenen Gebrauch einen Plan der Truppenstellung. An zwei Stellen machte er mit dem Bleistift Bemerkungen, die er dem Fürsten Bagration mitzuteilen beabsichtigte. Er wollte zweierlei vorschlagen, erstens, die ganze Artillerie im Zentrum zu vereinigen, und zweitens, die Kavallerie zurückzunehmen und auf der anderen Seite der Schlucht aufzustellen. Da Fürst Andrei sich beständig in der Umgebung des Oberkommandierenden befunden, die Bewegungen der gesamten Truppenmassen und die allgemeinen Dispositionen eifrig verfolgt, auch beständig historische Schlachtberichte studiert hatte, so überlegte er auch für den bevorstehenden Kampf den zu erwartenden Gang der militärischen Operationen unwillkürlich nur in großen Zügen. Er vergegenwärtigte sich im Geist nur die das Ganze betreffenden Möglichkeiten, und zwar folgendermaßen: »Wenn der Feind einen Angriff auf den rechten Flügel macht«, sagte er zu sich selbst, »so müssen das Kiewer Grenadierregiment und das Podolsker Jägerregiment ihre Stellung so lange behaupten, bis die Reserven aus dem Zentrum heranrücken; in diesem Fall können die Dragoner den Feind in der Flanke fassen und in die Flucht schlagen. Für den Fall dagegen, daß der Angriff sich gegen das Zentrum richtet, stellen wir auf dieser Anhöhe eine große Zentrumsartillerie auf, ziehen dann unter ihrem Schutz den linken Flügel zusammen und gehen in Echelons bis an die Schlucht zurück.« So legte er sich das in Gedanken zurecht.

Die ganze Zeit über, während er bei der Batterie an dem Geschütz stand, hörte er zwar ununterbrochen die Stimmen der Offiziere, die in der Hütte miteinander redeten, verstand aber, wie das häufig vorkommt, mit seinen Gedanken beschäftigt, kein Wort von dem, was sie sagten. Plötzlich fiel ihm eine dieser Stimmen durch ihren warmen, von Herzen kommenden Ton dermaßen auf, daß er unwillkürlich hinhorchte.

»Nein, mein Bester«, sagte die angenehme Stimme, die dem Fürsten Andrei bekannt vorkam, »ich bin überzeugt, wenn wir von unserem Zustand nach dem Tod Kenntnis haben könnten, dann würde niemand von uns den Tod fürchten. Ganz bestimmt nicht, mein Bester!«

Eine andere, jugendlicher klingende Stimme unterbrach ihn:

»Ob man sich nun fürchtet oder nicht, entgehen kann man dem Tod doch nicht.«

»Fürchten tut man sich doch! Ach, ihr klugen Leute!« sagte eine dritte, sehr mannhaft klingende Stimme, welche die beiden ersten unterbrach. »Ja, ja, ihr Artilleristen, eure große Klugheit kommt davon her, daß ihr alles mögliche mitführen könnt, Schnaps und Mundvorrat!«

Und der Besitzer der mannhaften Stimme, offenbar ein Infanterieoffizier, lachte kräftig.

»Ja, fürchten tut man sich doch«, fuhr die erste, bekannte Stimme fort. »Man fürchtet sich vor dem Unbekannten; das ist es. Und wenn man auch noch so oft sagt: die Seele kommt in den Himmel. Wir wissen ja doch, daß es keinen Himmel gibt, sondern nur eine Atmosphäre.«

Von neuem unterbrach die mannhafte Stimme den Artilleristen.

»Na, spendieren Sie mir ein Gläschen von Ihrem Kräuterschnaps, Tuschin«, sagte diese Stimme.

»Ah! Das ist der Hauptmann, der im Marketenderzelt ohne Stiefel dastand«, dachte Fürst Andrei, und es machte ihm Vergnügen, die angenehme, philosophierende Stimme als die jenes Hauptmanns wiederzuerkennen.

»Ein Kräuterschnäpschen können Sie haben«, erwiderte Tuschin. »Aber ich muß doch sagen, zu erkennen, wie es mit dem künftigen Leben steht …«

Er sprach nicht zu Ende. In diesem Augenblick ließ sich in der Luft ein Pfeifen vernehmen, immer näher und näher, immer schneller und lauter, lauter und schneller; und in diesem Ton plötzlich innehaltend, wie jemand, der beim Reden mitten im Satz abbricht, klatschte eine Kanonenkugel nicht weit von der Hütte auf die Erde nieder. Ein Sprühregen von Lehm und Sand wurde mit ungeheurer Gewalt in die Luft geschleudert, und die Erde stöhnte gleichsam auf unter dem furchtbaren Schlag.

In demselben Augenblick sprang, früher als alle andern, der kleine Tuschin aus der Hütte heraus; eine kleine Tabakspfeife hing ihm im Mundwinkel; sein gutes, kluges Gesicht sah ein wenig blaß aus. Hinter ihm trat der Besitzer der mannhaften Stimme heraus, ein frischer, kräftiger Infanterieoffizier, und lief zu seiner Kompanie, indem er sich im Laufen den Rock zuknöpfte.

XVII


Fürst Andrei hielt zu Pferd bei der Batterie und spähte nach dem Rauch des Geschützes, aus dem die Kugel abgefeuert war. Er ließ seine Augen in dem weiten Raum umherschweifen. Er sah nur, daß die vorher an ihren Plätzen verharrenden Massen der Franzosen in Bewegung geraten waren, und daß sich zur Linken tatsächlich eine Batterie befand. Von hier war der Schuß gekommen: das Rauchwölkchen über der Batterie hatte sich noch nicht verteilt. Zwei französische Reiter, wahrscheinlich Adjutanten, sprengten auf der Anhöhe einher. Eine deutlich erkennbare kleine feindliche Abteilung marschierte bergab, wohl zur Verstärkung der Vorpostenkette. Noch hatte sich der Rauch von dem ersten Schuß nicht verzogen, als ein zweites Rauchwölkchen sich zeigte und ein Schuß ertönte. Der Kampf begann. Fürst Andrei wandte sein Pferd und ritt in scharfem Tempo nach Grund zurück, um den Fürsten Bagration aufzusuchen. Er hörte, wie hinter ihm die Kanonade häufiger und lauter wurde. Offenbar hatten die Unsrigen angefangen zu antworten. Unten, in der Gegend, wo am Vormittag die Parlamentäre erschienen waren, erscholl Gewehrfeuer.

Sowie Lemarrois mit dem streng tadelnden Brief Bonapartes nach scharfem Ritt bei Murat eingetroffen war, setzte Murat, der sich schämte und seinen Fehler wiedergutmachen wollte, seine Truppen sofort zum Angriff auf das Zentrum und zur Umgehung der beiden Flügel in Bewegung, in der Hoffnung, es werde ihm noch vor dem Abend und vor der Ankunft des Kaisers gelingen, die unbedeutende Abteilung, die ihm gegenüberstand, zu erdrücken.

»Es hat angefangen! Nun ist es da!« dachte Fürst Andrei und fühlte, wie ihm das Blut in größeren Wellen zum Herzen strömte. »Aber wo und wie wird sich mein Toulon zeigen?«

Während er zwischen den Kompanien dahinritt, die noch vor einer Viertelstunde ihre Grütze gegessen und ihren Schnaps getrunken hatten, sah er überall die gleichen, schnellen Bewegungen der sich aufstellenden und ihre Gewehre bereitmachenden Soldaten und erkannte auf allen Gesichtern das gleiche Gefühl lebhafter Erregung, von dem sein eigenes Herz erfüllt war. »Es hat angefangen! Nun ist es da! Furchtbar und lustig zugleich!« stand gleichsam auf dem Gesicht jedes Soldaten und Offiziers geschrieben.

Er hatte die im Bau begriffene Verschanzung noch nicht erreicht, als er in der abendlichen Beleuchtung des trüben Herbsttages eine Anzahl von Reitern erblickte, die ihm entgegenkamen. Der vorderste, der einen Filzmantel und eine Mütze mit einem Besatz von Lämmerfell trug, ritt einen Schimmel. Dies war Fürst Bagration. Fürst Andrei machte halt und erwartete ihn. Fürst Bagration hielt gleichfalls sein Pferd einen Augenblick an, und als er den Fürsten Andrei erkannte, nickte er ihm mit dem Kopf zu. Er fuhr fort, gerade vor sich hin zu blicken, während Fürst Andrei ihm berichtete, was er gesehen hatte.

Der Gedanke: »Es hat angefangen! Nun ist es da!« war auch auf dem festen, braunen Gesicht des Fürsten Bagration mit den halbgeschlossenen, trüben, verschlafenen Augen zu lesen. Mit besorgter Neugier betrachtete Fürst Andrei dieses regungslose Gesicht und hätte gern gewußt, ob dieser Mann in diesem Augenblick etwas dachte und fühlte, und was er dachte und fühlte. »Geht überhaupt hinter diesem regungslosen Gesicht irgendeine Geistesarbeit vor?« fragte sich Fürst Andrei, während er ihn ansah. Fürst Bagration neigte den Kopf zum Zeichen des Einverständnisses mit dem, was ihm Fürst Andrei dargelegt hatte, und sagte: »Gut, gut!« mit einer Miene, als ob alles, was vorging und was ihm mitgeteilt wurde, genau das sei, was er bereits vorhergesehen habe. Fürst Andrei, der von dem schnellen Ritt außer Atem gekommen war, hatte hastig geredet. Fürst Bagration dagegen brachte jene Worte mit seiner orientalischen Aussprache ganz besonders langsam heraus, wie wenn er hervorheben wollte, daß zur Eile kein Anlaß sei. Indessen setzte er doch sein Pferd in Trab, und zwar in Richtung auf die Batterie Tuschins zu. Fürst Andrei ritt mit der Suite hinter ihm her. Die Suite bildeten ein Offizier à la suite, der persönliche Adjutant des Fürsten, Scherkow, ein Ordonnanzoffizier, der Stabsoffizier du jour auf einem hübschen anglisierten Pferd und ein Zivilbeamter, ein Auditeur, der sich aus Neugierde die Erlaubnis erbeten hatte, mit ins Treffen reiten zu dürfen. Der Auditeur, ein wohlbeleibter Mann mit vollem Gesicht, sah sich mit einem naiven, fröhlichen Lächeln nach allen Seiten um, schwankte auf seinem Pferd hin und her und bot in seinem Kamelotmantel auf einem Trainsattel mitten unter den Husaren, Kosaken und Adjutanten einen höchst sonderbaren Anblick.

»Er möchte sich gern den Kampf mit ansehen«, sagte Scherkow zu Bolkonski, indem er auf den Auditeur zeigte. »Aber er hat jetzt schon Herzbeklemmungen.«

»Ach, was Sie alles reden!« entgegnete der Auditeur mit einem strahlenden, naiven und gleichzeitig schlauen Lächeln, als wenn er sich geschmeichelt fühlte, als Stichblatt für Scherkows Späße zu dienen, und als wenn er sich absichtlich Mühe gäbe, dümmer zu scheinen, als er wirklich war.

»Ein schnurriger Kauz, mon monsieur prince«, sagte der Stabsoffizier du jour. Er erinnerte sich, daß im Französischen bei der Anrede mit dem Titel Fürst irgendein besonderer Sprachgebrauch zu beachten sei, konnte aber damit nicht zurechtkommen.

In diesem Augenblick waren sie alle bereits der Tuschinschen Batterie nahe gekommen, und vor ihnen schlug gerade eine Kanonenkugel ein.

»Was ist da hingefallen?« fragte naiv lächelnd der Auditeur.

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