Nach dem Mittagessen begab sich Natascha wieder auf ihr Zimmer und nahm von neuem den Brief der Prinzessin Marja zur Hand. »Ist alles wirklich jetzt schon zu Ende?« dachte sie. »Hat sich das alles wirklich so schnell zugetragen und alles Frühere vernichtet?« Sie rief sich ihre Liebe zum Fürsten Andrei in all ihrer früheren Kraft ins Gedächtnis zurück und wurde sich gleichzeitig bewußt, daß sie Kuragin liebte. Sie stellte es sich lebhaft vor, wie sie die Frau des Fürsten Andrei sein würde; sie vergegenwärtigte sich das Bild des Glückes an seiner Seite, das ihre Einbildungskraft ihr so oft schon vorgeführt hatte; und gleichzeitig erinnerte sie sich, vor Aufregung erglühend, an alle Einzelheiten ihres gestrigen Zusammenseins mit Anatol.

»Aber warum könnte nicht beides zugleich sein?« fragte sie sich ab und zu in völliger Geistesverwirrung. »Nur dann würde ich ganz glücklich sein; aber jetzt muß ich wählen und kann nicht glücklich sein, wenn ich einen von beiden entbehren muß. Aber«, dachte sie weiter, »das Geschehene dem Fürsten Andrei zu sagen und es ihm zu verbergen, ist gleich unmöglich. Nur daß, wenn ich es ihm verberge, noch nichts verdorben ist. Kann ich denn wirklich auf immer von diesem Glück der Liebe des Fürsten Andrei Abschied nehmen, von diesem Glück, mit dem ich so lange gelebt habe?«

»Gnädiges Fräulein«, sagte ein Dienstmädchen, das ins Zimmer trat, flüsternd mit geheimnisvoller Miene. »Ein Mann hat mir gesagt, ich möchte Ihnen das hier übergeben.« Das Mädchen reichte ihr einen Brief. »Ich sollte es Ihnen nur ja heimlich …«, fügte das Mädchen noch hinzu, während Natascha schon gedankenlos mit einer mechanischen Bewegung das Siegel erbrach und den Brief, einen Liebesbrief Anatols, zu lesen anfing, von dem sie, ohne den Inhalt der Worte zu fassen, nur das eine verstand, daß es ein Brief von ihm war, von dem Mann, den sie liebte. »Ja, ich liebe ihn«, sagte sie sich. »Wie hätte sich auch sonst das ereignen können, was sich ereignet hat? Könnte ich etwa sonst einen Liebesbrief von ihm in den Händen halten?«

Mit zitternden Händen hielt Natascha diesen leidenschaftlichen Liebesbrief, welchen Dolochow für Anatol verfaßt hatte, und glaubte beim Lesen in ihm einen Widerhall aller ihrer eigenen Gefühle zu finden.

»Am gestrigen Abend«, begann der Brief, »hat sich mein Geschick entschieden: ich muß Ihre Liebe gewinnen oder sterben. Einen anderen Ausweg gibt es für mich nicht.« Weiter schrieb Anatol, er wisse, daß ihre Angehörigen sie ihm nicht geben würden; es seien dafür geheime Gründe vorhanden, die er nur ihr allein enthüllen könne; aber wenn sie ihn liebe, so brauche sie nur das eine Wort »Ja« zu sagen, und keine menschliche Macht werde sie beide hindern, glücklich zu sein. Die Liebe überwinde alles. Er werde sie entführen und mit ihr bis ans Ende der Welt gehen.

»Ja, ja, ich liebe ihn!« dachte Natascha, als sie den Brief zum zwanzigsten Male las und in jedem Wort einen besonderen tiefen Sinn suchte.

An diesem Abend fuhr Marja Dmitrijewna auf Besuch zu Archarows und forderte die beiden jungen Mädchen auf mitzukommen. Aber Natascha blieb unter dem Vorwand, daß sie Kopfschmerzen habe, zu Hause.

XV


Als Sonja spät am Abend zurückkam und in Nataschas Zimmer trat, fand sie diese zu ihrer Verwunderung angekleidet auf dem Sofa schlafend. Neben ihr auf dem Tisch lag Anatols geöffneter Brief. Sonja nahm ihn in die Hand und begann ihn zu lesen.

Sie las und blickte die schlafende Natascha an, um auf deren Gesicht eine Erklärung für das, was sie da las, zu suchen, fand aber eine solche Erklärung nicht. Nataschas Gesicht sah still, sanft und glücklich aus. Blaß, vor Angst und Aufregung zitternd, griff sich Sonja nach der Brust, um nicht zu ersticken, setzte sich auf einen Stuhl und brach in Tränen aus.

»Wie ist es nur möglich, daß ich nichts davon gemerkt habe? Wie konnte die Sache sich so weit entwickeln? Hat sie wirklich aufgehört, den Fürsten Andrei zu lieben? Und wie konnte sie diesen Kuragin so weit kommen lassen? Er ist ein Betrüger, ein Schurke; das liegt auf der Hand. Was wird Nikolai, der gute, edle Nikolai, sagen, wenn er das erfährt? Das bedeutete also ihre aufgeregte, entschlossene, gekünstelte Miene vorgestern, gestern und heute!« dachte Sonja. »Aber es ist unmöglich, daß sie diesen Menschen lieben sollte! Gewiß hat sie diesen Brief erbrochen, ohne zu wissen, von wem er kam. Gewiß hat sie sich verletzt gefühlt. Das kann sie nicht tun!«

Sonja wischte sich die Tränen ab, trat wieder zu Natascha hin und betrachtete ihr Gesicht.

»Natascha!« sagte sie kaum hörbar.

Natascha wachte auf und blickte Sonja an.

»Nun, bist du zurückgekommen?«

Sie umarmte ihre Freundin mit jener energischen Zärtlichkeit, wie sie den ersten Augenblicken nach dem Aufwachen eigen ist; aber als sie den Ausdruck der Bestürzung auf Sonjas Gesicht gewahrte, malte sich auch auf ihrem Gesicht Bestürzung und Argwohn.

»Hast du den Brief gelesen, Sonja?« fragte sie.

»Ja«, antwortete Sonja leise.

Natascha lächelte schwärmerisch.

»Nein, ich kann es nicht mehr vor dir verbergen, Sonja!« sagte sie. »Ich kann es nicht mehr vor dir verbergen. Du weißt nun, daß wir uns lieben …! Sonja, liebste Sonja, er schreibt … Sonja …«

Sonja blickte, als traute sie ihren Ohren nicht, Natascha mit weitgeöffneten Augen an.

»Und Bolkonski?« fragte sie.

»Ach, Sonja, ach, wenn du wüßtest, wie glücklich ich bin!« sagte Natascha. »Du weißt nicht, was Liebe ist …«

»Aber Natascha, ist denn das Frühere alles zu Ende?«

Natascha blickte Sonja mit großen Augen an, als ob sie ihre Frage gar nicht verstände.

»Wie? Du willst dich von dem Fürsten Andrei lossagen?« fragte Sonja.

»Ach, du verstehst ja gar nichts davon; rede doch keine Dummheiten, hör nur mal zu!« rief Natascha, plötzlich ärgerlich werdend.

»Nein, ich kann es nicht glauben«, sagte Sonja wieder. »Ich begreife es nicht. Wie hast du nur ein ganzes Jahr lang einen Mann lieben können, und auf einmal … Du hast ja diesen Menschen nur dreimal gesehen. Natascha, ich glaube dir nicht; du machst Spaß. In drei Tagen alles zu vergessen und so …«

»In drei Tagen!« erwiderte Natascha. »Mir ist, als liebte ich ihn seit hundert Jahren! Mir ist, als hätte ich vor ihm nie einen Menschen geliebt! Du kannst das eben nicht verstehen. Warte mal, Sonja, setz dich her.« Natascha umarmte und küßte sie.

»Ich habe mir sagen lassen, daß dergleichen manchmal vorkommt, und du hast davon gewiß auch gehört; aber erst jetzt habe ich diese Liebe an mir selbst kennengelernt. Es ist etwas ganz anderes, als was ich früher kannte. Sowie ich ihn erblickte, fühlte ich, daß er mein Herr ist und ich seine Sklavin, und daß ich gar nicht anders kann als ihn lieben. Ja, seine Sklavin! Was er mir befiehlt, das tue ich. Du hast dafür kein Verständnis. Was soll ich machen? Was soll ich machen, Sonja?« fragte Natascha mit glückseliger und dabei doch ängstlicher Miene.

»Aber bedenke doch, was du tust«, erwiderte Sonja. »Ich kann das nicht so geschehen lassen. Diese geheime Korrespondenz … Wie konntest du ihn nur so weit kommen lassen?« sagte sie erschrocken und mit einem Abscheu, den sie nur mit Mühe verbarg.

»Ich habe dir schon gesagt«, entgegnete Natascha, »daß ich keinen eigenen Willen mehr habe. Kannst du denn das nicht verstehen: ich liebe ihn!«

»Aber ich werde das nicht so weitergehen lassen, ich werde es erzählen!« rief Sonja, und die Tränen stürzten ihr aus den Augen.

»Um Gottes willen, was redest du da! Wenn du es erzählst, bist du meine Feindin!« rief Natascha. »Du willst mein Unglück; du willst, daß man uns trennt …«

Als Sonja diese Angst Nataschas sah, flossen ihr die Tränen noch stärker, aus Scham für ihre Freundin und aus Mitleid mit ihr.

»Aber was ist denn zwischen euch beiden vorgegangen?« fragte sie. »Was hat er zu dir gesagt? Warum kommt er nicht hierher ins Haus?«

Natascha gab auf ihre Fragen keine Antwort.

»Um Gottes willen, Sonja, sage es niemandem, quäle mich nicht«, bat sie. »Du mußt doch wissen, daß man sich in solche Dinge nicht mischen darf. Ich habe es dir offenbart …«

»Aber wozu diese Heimlichkeit? Warum kommt er nicht hierher ins Haus?« fragte Sonja nochmals. »Warum bewirbt er sich nicht offen um deine Hand? Fürst Andrei hat dir ja für solche Fälle völlige Freiheit gelassen. Aber ich traue diesem Menschen nicht: Natascha, hast du wohl auch überlegt, was das für geheime Gründe sein können?«

Natascha blickte Sonja mit erstaunten Augen an. Offenbar trat ihr diese Frage zum erstenmal entgegen, und sie wußte nicht, was sie darauf antworten sollte.

»Was das für Gründe sind, weiß ich nicht. Aber Gründe sind jedenfalls vorhanden!«

Sonja seufzte und wiegte argwöhnisch den Kopf hin und her.

»Wenn Gründe vorhanden wären …«, begann sie.

Aber Natascha, die ihr Mißtrauen erriet, unterbrach sie erschrocken.

»Sonja, an ihm zu zweifeln ist Sünde! Sünde, Sünde, verstehst du wohl?« rief sie.

»Liebt er dich?«

»Ob er mich liebt?« wiederholte Natascha die Frage mit einem Lächeln des Bedauerns über die geringe Fassungskraft ihrer Freundin. »Du hast ja den Brief gelesen und hast ihn selbst gesehen.«

»Aber wenn er ein unehrenhafter Mensch ist?«

»Er …! Er ein unehrenhafter Mensch? Wenn du ihn kenntest!« erwiderte Natascha.

»Wenn er ein ehrenhafter Mensch wäre, so müßte er entweder seine Absicht offen kundtun oder darauf verzichten, mit dir weiter zusammenzukommen; und was ich tun werde, wenn du es nicht selbst tun willst, ist dies: ich werde an ihn schreiben und werde es deinem Papa sagen«, erklärte Sonja in entschlossenem Ton.

»Aber ich kann ohne ihn nicht leben!« rief Natascha.

»Natascha, ich verstehe dich gar nicht. Was redest du nur! So denke doch an deinen Vater und an Nikolai!«

»Ich will von niemandem etwas wissen; ich liebe niemand als ihn. Wie darfst du sagen, er sei unehrenhaft? Weißt du denn nicht, daß ich ihn liebe?« rief Natascha. »Geh hinaus, Sonja! Ich möchte mich mit dir nicht überwerfen, geh hinaus, um Gottes willen, geh hinaus; du siehst, wie schwer ich leide!« rief Natascha gereizt, obwohl sie sich bemühte, ihren zornigen, verzweiflungsvollen Ton zu mäßigen. Aufschluchzend stürzte Sonja aus dem Zimmer hinaus.

Natascha setzte sich an den Schreibtisch, und ohne auch nur einen Augenblick zu überlegen, schrieb sie an Prinzessin Marja jenen Antwortbrief, den sie den ganzen Vormittag über nicht hatte schreiben können. In diesem Brief teilte sie der Prinzessin Marja kurz mit, alle Mißverständnisse zwischen ihnen seien beendet; sie wolle von der hochherzigen Erlaubnis des Fürsten Andrei Gebrauch machen, der ihr bei seiner Abreise volle Freiheit zu handeln gelassen habe, und bitte sie, alles Vorgefallene zu vergessen und ihr zu verzeihen, wenn sie ihr ein Unrecht zugefügt habe; aber sie könne nicht die Frau des Fürsten Andrei werden. Alles dies erschien ihr in diesem Augenblick so leicht und einfach und klar.


Auf den Freitag war die Heimreise der Rostows nach ihrem Gut angesetzt; am Mittwoch aber fuhr der Graf mit einem Käufer nach seinem Landhaus in der Nähe der Stadt.

Für den Tag, an dem der Graf abreiste, waren Sonja und Natascha zu einem großen Diner bei Karagins eingeladen, und Marja Dmitrijewna begleitete sie. Bei diesem Diner traf Natascha wieder mit Anatol zusammen, und Sonja bemerkte, daß Natascha einmal mit ihm redete und sich dabei bemühte, von andern nicht gehört zu werden, und daß sie während des ganzen Diners noch aufgeregter war als vorher. Als sie nach Hause zurückgekehrt waren, begann Natascha von selbst ihrer Freundin die Eröffnung zu machen, welche diese erwartete.

»Siehst du wohl, Sonja, du hast allerlei törichtes Zeug über ihn gesagt«, begann Natascha in sanftem Ton, in dem Ton, in dem Kinder reden, wenn sie gern gelobt werden möchten. »Wir haben uns heute miteinander ausgesprochen.«

»Nun, wie steht es denn also? Was hat er gesagt? Wie freue ich mich, Natascha, daß du nicht auf mich böse bist! Sage mir alles, die ganze Wahrheit. Was hat er gesagt?«

Natascha überließ sich einen Augenblick ihren Gedanken.

»Ach, Sonja, wenn du ihn so kenntest, wie ich ihn kenne! Er sagte … Er fragte mich, in welcher Form ich mit Bolkonski verlobt wäre, und freute sich, als er hörte, daß es von mir abhinge, wieder zurückzutreten.«

Sonja stieß einen traurigen Seufzer aus.

»Aber du hast doch an Bolkonski keine Absage geschickt?« sagte sie.

»Vielleicht habe ich es wirklich getan! Vielleicht ist mit Bolkonski alles zu Ende. Warum denkst du, daß meine Handlungsweise schlecht ist?«

»Ich denke gar nichts; ich verstehe nur nicht …«

»Warte, Sonja, du wirst alles verstehen. Du wirst sehen, was er für ein Mann ist. Denke nichts Schlechtes, weder von mir noch von ihm.«

»Ich denke von niemandem Schlechtes; ich habe euch alle lieb und bin betrübt, wenn euch Schlimmes begegnet. Aber was soll ich tun?«

Sonja ging nicht auf den zärtlichen Ton ein, in welchem Natascha zu ihr redete. Je weicher und schmeichelnder Nataschas Miene war, um so ernster und strenger wurde Sonjas Gesichtsausdruck.

»Natascha«, sagte sie, »du hast mich gebeten, nicht mit dir darüber zu sprechen, und ich habe es auch nicht getan; jetzt hast du selbst davon angefangen. Natascha, ich traue ihm nicht. Wozu diese Heimlichkeit?«

»Also doch wieder, doch wieder!« unterbrach Natascha sie.

»Natascha, ich ängstige mich um dich.«

»Was fürchtest du denn?«

»Ich fürchte, daß du dich ins Verderben stürzest«, antwortete Sonja in festem Ton und erschrak selbst über das, was sie gesagt hatte.

Nataschas Gesicht nahm wieder einen zornigen Ausdruck an.

»Nun, wenn ich mich denn in mein Verderben stürze, dann will ich es so schnell wie möglich tun. Das ist nicht eure Sache. Den Schaden davon werdet nicht ihr haben, sondern ich. Laß mich, laß mich. Ich hasse dich!«

»Natascha!« rief Sonja erschrocken.

»Ich hasse dich, ich hasse dich! Du bist fürs ganze Leben meine Feindin!«

Natascha lief aus dem Zimmer.

Natascha sprach nicht mehr mit Sonja und wich ihr aus. Sie ging, immer mit dem gleichen Ausdruck aufgeregten Staunens und bedrückenden Schuldbewußtseins, durch die Zimmer und griff bald nach dieser, bald nach jener Beschäftigung, um sie sofort wieder hinzuwerfen.

So schwer es Sonja auch wurde, so beobachtete sie doch ihre Freundin fortwährend, ohne ein Auge von ihr zu wenden.

An dem Tag, der demjenigen vorausging, an welchem der Graf zurückerwartet wurde, bemerkte Sonja, daß Natascha den ganzen Vormittag über im Salon am Fenster saß, als ob sie auf etwas wartete, und daß sie einem vorbeireitenden Offizier, in welchem Sonja Anatol zu erkennen glaubte, ein Zeichen machte.

Sonja begann, ihre Freundin noch schärfer zu beobachten, und bemerkte, daß Natascha während des ganzen Mittagessens und Abends sich in einem seltsamen, unnatürlichen Gemütszustand befand: sie gab auf Fragen, die an sie gerichtet wurden, schiefe Antworten, begann Sätze, ohne sie zu Ende zu sprechen, und lachte über alles.

Nach dem Tee sah Sonja, daß ein verlegenes Stubenmädchen an Nataschas Tür auf diese wartete. Sonja ließ beide unbehelligt hineingehen, horchte dann aber an der Tür und vernahm, daß wieder ein Brief abgegeben wurde.

Und plötzlich wurde es ihr klar, daß Natascha irgendeinen furchtbaren Plan für den heutigen Abend vorhatte. Sonja klopfte bei ihr an; aber Natascha ließ sie nicht ein.

»Sie will mit ihm fliehen!« dachte Sonja. »Sie ist zu allem fähig. Heute hatte ihr Gesicht einen besonders trüben, entschlossenen Ausdruck. Und als sie gestern von dem Onkel Abschied nahm, brach sie in Tränen aus«, erinnerte sich Sonja. »Ja, es ist sicher, sie will mit ihm fliehen – aber was soll ich tun?« dachte Sonja, die sich jetzt alle Anzeichen ins Gedächtnis zurückrief, aus denen deutlich hervorging, daß Natascha irgend etwas Schreckliches vorhaben müsse. »Der Onkel ist nicht da. Was soll ich tun: an Kuragin schreiben und von ihm eine Erklärung verlangen? Aber wer zwingt ihn, zu antworten? Oder soll ich an Pierre schreiben, wie mir das Fürst Andrei im Fall eines Unglücks aufgetragen hat …? Aber vielleicht hat sie dem Fürsten Andrei wirklich schon eine Absage geschrieben (sie hat gestern einen Brief an Prinzessin Marja abgeschickt) …« Es Marja Dmitrijewna zu sagen, die so große Stücke von Natascha hielt, das war für Sonja ein gar zu schrecklicher Gedanke. »Aber ob nun so oder anders«, dachte Sonja, während sie auf dem dunklen Korridor stand, »jetzt oder nie ist der Augenblick gekommen, wo ich zeigen muß, daß ich die von der Familie empfangenen Wohltaten in dankbarem Gedächtnis bewahre und Nikolai liebe. Nein, und wenn ich drei Nächte lang nicht schlafen sollte, ich weiche nicht aus diesem Korridor und hindere sie mit Gewalt und dulde nicht, daß Schande über die Familie gebracht werde.«

XVI


Anatol war vor einiger Zeit zu Dolochow übergesiedelt. Der Plan, die Komtesse Rostowa zu entführen, war schon vor einigen Tagen von Dolochow entworfen und vorbereitet worden, und an dem Tag, als Sonja an Nataschas Tür gelauscht und beschlossen hatte, ihre Freundin zu überwachen, sollte dieser Plan zur Ausführung gebracht werden. Natascha hatte versprochen, um zehn Uhr zu Kuragin an die Hintertür hinauszukommen. Kuragin sollte sie in einen bereitstehenden dreispännigen Schlitten setzen und mit ihr sechzig Werst weg von Moskau nach dem Dorf Kamenka fahren, wo ein abgesetzter Pope bereitstand, der sie beide trauen sollte. In Kamenka waren Relaispferde bestellt, mit denen sie an die Warschauer Chaussee fahren wollten, und von dort wollten sie sich mit Postpferden so schnell wie möglich ins Ausland begeben.

Anatol besaß einen Paß und einen Reiseschein für die Post, ferner zehntausend Rubel, die ihm seine Schwester gegeben, und zehntausend, die er sich durch Dolochows Vermittlung geborgt hatte.

Die beiden Trauzeugen, ein ehemaliger Gerichtsschreiber Chwostikow, von dessen Beihilfe Dolochow beim Spiel Gebrauch machte, und ein entlassener Husar namens Makarin, ein gutmütiger, schwacher Mensch, der mit grenzenloser Liebe an Kuragin hing, saßen im vordersten Zimmer und tranken Tee.

In seinem großen Wohnzimmer, dessen Wände von unten bis oben mit persischen Teppichen, Bärenfellen und Waffen geschmückt waren, saß Dolochow, mit Stiefeln und in einer Reisejoppe, vor dem offenen Schreibtisch, auf welchem ein Blatt mit Zahlen und mehrere Banknotenpäckchen lagen. Anatol kam in aufgeknöpfter Uniform aus dem Zimmer, in welchem die Trauzeugen saßen, und ging durch das Wohnzimmer hindurch nach der Hinterstube, wo sein französischer Kammerdiener mit Hilfe anderer Bedienter die letzten Sachen einpackte. Dolochow zählte Geld und machte Notizen.

»Na also«, sagte er. »Diesem Chwostikow müssen wir zweitausend Rubel geben.«

»Na, dann gib sie ihm«, erwiderte Anatol.

»Makarin geht ohne Entgelt für dich durchs Feuer. Na, dann ist die Berechnung fertig«, sagte Dolochow und hielt ihm das Blatt mit den Zahlen hin. »Einverstanden?«

»Ja, selbstverständlich einverstanden«, antwortete Anatol, der offenbar gar nicht auf Dolochow hörte und mit einem steten, unveränderlichen Lächeln vor sich hinblickte.

Dolochow schlug die Klappe des Schreibtisches zu und wandte sich mit einem spöttischen Lächeln zu Anatol.

»Weißt du was?« sagte er. »Gib diese ganze Geschichte auf. Noch ist es Zeit!«

»Du Dummkopf!« erwiderte Anatol. »Rede nicht solchen Unsinn. Wenn du wüßtest … Weiß der Teufel, ich habe diesmal doch eine ganz eigene Empfindung!«

»Im Ernst, laß es bleiben«, sagte Dolochow. »Mein Rat ist vernünftig. Meinst du etwa, daß das, was du da eingefädelt hast, ein Spaß ist?«

»Ach, diese ewigen Hänseleien! Geh zum Teufel!« rief Anatol, ärgerlich die Stirn runzelnd. »Ich bin wirklich nicht in der Stimmung, deine albernen Späße anzuhören!« Er verließ das Zimmer.

Dolochow lächelte mit einer Art von nachsichtiger Geringschätzung, als Anatol hinausging.

»Warte mal«, rief er ihm nach, »ich scherze nicht; ich rede im Ernst. Komm mal her!«

Anatol kam wieder ins Zimmer und blickte, bemüht, seine Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand zu konzentrieren, Dolochow unverwandt an, dessen Willen er sich offenbar unwillkürlich fügte.

»Hör mir mal zu, ich sage es dir zum letztenmal. Warum sollte ich denn mit dir Scherz treiben? Habe ich dir etwa bei dieser Sache etwas in den Weg gelegt? Wer hat alles für dich arrangiert, einen Popen ausfindig gemacht, dir einen Paß besorgt und Geld beschafft? Alles habe ich getan, ich.«

»Na, dafür bin ich dir auch dankbar. Meinst du, daß ich das nicht anerkenne?« Anatol seufzte und umarmte Dolochow.

»Ich bin dir behilflich gewesen; aber bei alledem muß ich dir doch die Wahrheit sagen: es ist ein gefährliches und, genau besehen, ein dummes Unternehmen. Na also, du entführst sie, gut. Wird man dir das so einfach durchgehen lassen? Es wird herauskommen, daß du schon verheiratet bist. Vors Kriminalgericht wirst du gestellt werden …«

»Ach, Dummheiten, Dummheiten!« rief Anatol und runzelte wieder die Stirn. »Ich habe dir die Sache ja doch schon auseinandergesetzt, nicht wahr?« Und mit jener besonderen Vorliebe, die beschränkte Menschen häufig für logische Schlüsse haben, zu denen ihr Verstand noch gerade ausreicht, wiederholte er die Beweisführung, die er seinem Freund Dolochow schon hundertmal vorgetragen hatte: »Ich habe dir die Sache ja doch schon auseinandergesetzt; ich sage so: wenn die jetzt zu schließende Ehe ungültig ist« (hier bog er einen Finger ein), »dann habe ich natürlich nichts zu verantworten; na, und wenn sie gültig ist, dann ist es auch ganz egal, denn im Ausland wird niemand etwas davon wissen. Na, das ist doch richtig? Dagegen ist doch nichts zu sagen!«

»Im Ernst, laß die Sache bleiben! Du bindest dich nur …«

»Scher dich zum Teufel!« rief Anatol; sich in die Haare greifend ging er in das andere Zimmer, kam aber gleich wieder zurück und setzte sich Dolochow nahe gegenüber auf einen Lehnstuhl, auf den er auch die Beine hinaufzog. »Weiß der Teufel, was ich diesmal für eine Empfindung habe! Was meinst du dazu? Fühle mal, wie mein Herz schlägt!« Er faßte Dolochows Hand und legte sie sich auf das Herz. »Ach! Was für ein Füßchen, lieber Freund, und was für ein Blick! Eine Göttin!! Nicht wahr?«

Dolochow lächelte kalt, und seine schönen, frechen Augen begannen eigentümlich zu glänzen; so blickte er Anatol an, und es war klar, daß er sich noch weiter über ihn amüsieren wollte.

»Na, und wenn das Geld zu Ende ist, was dann?«

»Was dann?« wiederholte Anatol mit ungeheuchelter Verwunderung bei diesem Gedanken an die Zukunft. »Ja, was dann? Das weiß ich nicht zu sagen … Na, wozu sollen wir solchen Unsinn reden!« Er sah nach der Uhr. »Es ist Zeit!«

Er trat in die Tür nach der Hinterstube.

»Na, wird’s bald? Ihr trödelt ja hier ewig!« schrie er die Diener an.

Dolochow räumte das Geld vom Tisch weg, gab einem Diener den Befehl, ihnen vor der Abfahrt noch etwas zu essen und zu trinken zu geben, und ging dann in das Zimmer, wo Chwostikow und Makarin saßen.

Anatol legte sich im Wohnzimmer auf das Sofa, stützte sich auf den Ellbogen, lächelte in Gedanken versunken und flüsterte mit seinen schönen Lippen zärtliche Worte vor sich hin.

»Komm her und iß etwas! Und trink auch einen Schluck!« rief ihm Dolochow vom andern Zimmer her zu.

»Ich mag nicht!« antwortete Anatol, ohne sein Lächeln zu unterbrechen.

»Komm nur! Balaga ist auch schon da.«

Anatol stand auf und ging in das Eßzimmer. Balaga war ein bekannter Fuhrherr, der schon seit sechs Jahren mit Dolochow und Anatol in Geschäftsverbindung stand und ihnen mit seinen Wagen zu Diensten war. Oftmals war er mit Anatol, als dessen Regiment noch in Twer stand, abends aus Twer abgefahren, hatte ihn um die Morgendämmerung nach Moskau gebracht und ihn dann in der folgenden Nacht wieder zurückgefahren. Oftmals hatte er Dolochow durch schnelle Fahrt vor Verfolgung in Sicherheit gebracht. Oftmals hatte er sie mit Zigeunern und »sonen Damen«, wie Balaga sich ausdrückte, in der Stadt herumkutschiert. Oftmals hatte er bei solchen Fahrten Menschen überfahren und Droschken umgestoßen, und immer hatten ihm dann »seine Herren«, wie er sie nannte, aus der Klemme geholfen. Gar manches Pferd hatte er, wenn er sie fuhr, zu Tode gejagt. Oftmals hatten sie ihn geprügelt, oftmals ihm Champagner und (sein Lieblingsgetränk!) Madeira zu trinken gegeben, und er wußte von jedem der beiden manchen schlimmen Streich, der einem gewöhnlichen Menschen schon längst die Verbannung nach Sibirien eingetragen hätte. Zu ihren Gelagen zogen sie Balaga häufig mit heran und ließen ihn bei den Zigeunern mittrinken und mittanzen; sie behandelten ihn dabei als Vertrauensmann, und manches Tausend Rubel ihres Geldes war schon durch seine Hände gegangen. Wenn er sie fuhr, riskierte er zwanzigmal im Jahr seine Haut und sein Leben, und die Pferde, die er in ihrem Dienst zugrunde richtete, waren mehr wert, als was sie ihm für die Fahrten bezahlten. Aber er hatte die beiden Herren gern und liebte dieses unsinnige Fahren, achtzehn Werst in der Stunde, und hatte seine Freude daran, eine Droschke umzustoßen und einen Fußgänger zu überfahren und in vollem Galopp durch die Straßen Moskaus dahinzujagen. Es machte ihm Vergnügen, hinter sich den wilden Ruf seiner betrunkenen Fahrgäste: »Schneller, schneller!« zu hören, wo doch eine Steigerung der Geschwindigkeit überhaupt nicht mehr möglich war; es war ihm eine Lust, dem Bauer, der so schon halbtot vor Schreck zur Seite sprang, einen kräftigen Peitschenhieb über den Nacken zu versetzen. »Echte Herren!« dachte er.

Anatol und Dolochow ihrerseits hatten Balaga ebenfalls gern, sowohl wegen seines meisterhaften Fahrens, als auch weil er dieselben Passionen hatte wie sie. Mit anderen Leuten einigte sich Balaga vorher über den Preis, nahm fünfundzwanzig Rubel für eine zweistündige Fahrt und fuhr mit anderen nur selten persönlich, sondern schickte meistens seine Kutscher. Aber mit seinen Herren, wie er sie nannte, fuhr er immer selbst und stellte nie eine Forderung für seine Leistung. Nur kam er so etwa alle paar Monate einmal, wenn er durch die Kammerdiener erfahren hatte, daß Geld vorhanden war, frühmorgens in nüchternem Zustand zu ihnen und bat unter tiefen Verbeugungen, ihm aus der Not zu helfen. Die Herren nötigten ihn dabei immer zum Sitzen.

»Helfen Sie mir, Väterchen Fjodor Iwanowitsch«, oder: »Euer Durchlaucht«, sagte er. »Ich habe so gut wie gar keine Pferde mehr. Schießen Sie mir vor, soviel Sie gerade können, damit ich auf dem Jahrmarkt welche kaufen kann.«

Und dann gaben ihm Anatol und Dolochow, wenn sie bei Geld waren, jeder tausend oder zweitausend Rubel.

Balaga hatte dunkelblondes Haar, ein rotes Gesicht und namentlich einen roten, dicken Hals, eine untersetzte Gestalt, eine aufgestülpte Nase, glänzende kleine Augen und ein kleines Bärtchen; sein Lebensalter mochte etwa siebenundzwanzig Jahre betragen. Er trug einen feinen, blauen, mit Seide gefütterten langen Rock, den er über seinen Halbpelz angezogen hatte.

Er bekreuzte sich vor dem Heiligenbild in der Ecke des Zimmers und trat auf Dolochow zu, indem er ihm seine kleine, schwarze Hand entgegenstreckte.

»Ergebenster Diener, Fjodor Iwanowitsch«, sagte er mit einer Verbeugung.

»Guten Abend, Bruder. Nun, da ist er ja auch.«

»Guten Abend, Euer Durchlaucht«, sagte Balaga zu dem eintretenden Anatol und reichte ihm ebenfalls die Hand.

»Ich frage dich, Balaga«, begann Anatol, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte. »Hast du mich lieb oder nicht? Wie? Du sollst mir jetzt einen großen Dienst erweisen … Mit welchen Pferden bist du hergekommen?«

»Wie der Bote bestellt hat, mit euren, mit den wilden Durchgängern«, antwortete Balaga.

»Na, dann höre mal, Balaga! Peitsche das ganze Dreigespann zu Tode; aber sorge dafür, daß wir in drei Stunden da sind. Verstanden?«

»Wenn ich die Pferde totpeitsche, womit sollen wir dann fahren?« erwiderte Balaga, mit den Augen zwinkernd.

»Na, mach keine Späße, sonst zerschlage ich dir die Schnauze!« schrie Anatol auf einmal, ihn grimmig anblickend.

»Wie werde ich denn Späße machen!« sagte der Fuhrherr lächelnd. »Habe ich denn jemals für meine Herren die Pferde geschont? Wir werden fahren, so schnell sie nur irgend laufen können.«

»So ist’s recht!« erwiderte Anatol. »Na, setz dich.«

»Jawohl, setz dich hin!« sagte auch Dolochow.

»Ich kann ja stehen, Fjodor Iwanowitsch.«

»Unsinn, setz dich hin und trink!« sagte Anatol und goß ihm ein großes Glas Madeira ein.

Mit glitzernden Augen sah der Fuhrherr nach dem Wein hin. Nachdem er zuerst um des Anstandes willen abgelehnt hatte, trank er ihn aus und wischte sich mit einem rotseidenen Taschentuch, das er in seiner Mütze liegen hatte, den Mund ab.

»Nun also, wann fahren wir, Euer Durchlaucht?«

»Wir wollen jetzt gleich fahren«, erwiderte Anatol nach einem Blick auf die Uhr. »Gib dir rechte Mühe, Balaga. Wirst du auch zur bestimmten Zeit hinkommen?«

»Das kommt auf die Abfahrt an; wenn wir glücklich abfahren, warum sollten wir nicht zur rechten Zeit hinkommen? Als wir einmal von hier nach Twer fuhren, habe ich dich in sieben Stunden hingebracht. Erinnerst du dich wohl noch, Euer Durchlaucht?«

»Weißt du, ich fuhr einmal zu Weihnachten von Twer nach einem Gut«, sagte Anatol, dessen Gesicht bei dieser Erinnerung ein Lächeln überzog, zu Makarin, der ihn voller Rührung unverwandt anblickte. »Kannst du es glauben, Makarin, der Atem verging uns, so schnell flogen wir dahin. Wir fuhren in einen Zug Bauernschlitten hinein; über zwei Fuhren setzten wir hinüber. Was sagst du dazu?«

»Ja, das waren mal Pferde!« setzte Balaga die Erzählung fort. »Ich hatte damals zwei junge Seitenpferde zu dem hellbraunen Deichselpferd eingespannt«, wandte er sich an Dolochow. »Kannst du es glauben, Fjodor Iwanowitsch, sechzig Werst sausten die Biester nur so dahin; gar nicht zu halten waren sie; die Hände wurden mir starr, denn es war kalt. Ich warf die Zügel hin. ›Halte du sie, Euer Durchlaucht!‹ sagte ich; ich selbst fiel nur so in den Schlitten zurück. Von Antreiben war gar nicht die Rede: bis zum Ziel waren sie nicht zu halten. In drei Stunden brachten sie uns hin, die Teufelskanaillen. Nur das linke Seitenpferd krepierte daran.«

XVII


Anatol ging aus dem Zimmer und kehrte einige Minuten darauf in einem Pelz zurück, der von einem silbernen Gurt zusammengehalten wurde; auf dem Kopf trug er eine Zobelmütze, die, in kecker Art schief aufgesetzt, sehr gut zu seinem hübschen Gesicht paßte. Er besah sich im Spiegel, trat dann in derselben Haltung, die er vor dem Spiegel eingenommen hatte, vor Dolochow hin und ergriff ein Glas Wein.

»Na, Fjodor, leb wohl; ich danke dir für alles; leb wohl!« sagte Anatol. »Na, ihr Freunde und Kameraden …«, wandte er sich an Makarin und die andern und überlegte, was er weiter sagen sollte, »Freunde meiner Jugend, lebt wohl!«

Obgleich sie alle mit ihm mitfahren sollten, wollte Anatol offenbar doch diese Anrede an seine Kameraden zu einem rührenden, feierlichen Akt gestalten. Er sprach langsam, mit lauter Stimme, drückte die Brust heraus und schlenkerte mit dem einen Bein.

»Nehmt alle die Gläser in die Hand; auch du, Balaga. Nun, ihr Kameraden und Freunde meiner Jugend, wir haben lustig gelebt, das Leben genossen, wir haben lustig gelebt. Aber wann werden wir uns jetzt wiedersehen? Ich reise ins Ausland. Wir haben das Leben genossen; lebt wohl, Kinder! Auf euer Wohl! Hurra …!« sagte er, trank sein Glas aus und warf es auf den Boden.

»Bleibe gesund«, sagte Balaga, trank ebenfalls sein Glas aus und wischte sich den Mund mit seinem Taschentuch.

Makarin umarmte seinen geliebten Anatol mit Tränen in den Augen.

»Ach, Fürst, ich bin so traurig, daß ich von dir scheiden soll«, sagte er.

»Abfahren, abfahren!« rief Anatol.

Balaga wollte aus dem Zimmer gehen.

»Nein, warte noch!« sagte Anatol. »Mach die Tür zu; wir müssen uns noch einmal hinsetzen. Seht mal: so!«

Die Tür wurde zugemacht, und alle setzten sich.

»Na, nun vorwärts, Kinder!« sagte Anatol, indem er aufstand.

Der Kammerdiener Joseph reichte ihm den Säbel und ein Reisetäschchen, und alle gingen in das Vorzimmer hinaus.

»Aber wo ist der Pelz?« rief Dolochow. »He, Ignati! Geh schnell zu Matrona Matwjejewna und laß dir den Pelz geben, die Zobelsaloppe. Ich habe mir sagen lassen, wie man es bei Entführungen machen muß«, fuhr er fort, indem er die Augen zusammenkniff. »Sie stürzt also mehr tot als lebendig aus der Haustür, bloß in den Kleidern, die sie im Haus angehabt hat. Wenn man nun da einen Augenblick zögert, dann sind gleich die Tränen da, und sie seufzt nach Papachen und Mamachen und friert und will wieder zurück. Da muß man sie sofort in einen Pelz wickeln und in den Schlitten tragen.«

Der Diener brachte eine Frauensaloppe von Fuchspelz.

»Dummkopf, ich habe dir doch gesagt: den Zobelpelz. He, Matrona! Den Zobelpelz!« schrie er so laut, daß seine Stimme weithin durch alle Zimmer tönte.

Eine schöne, magere, blasse Zigeunerin mit glänzenden, schwarzen Augen und schwarzem, bläulich schimmerndem, krausem Haar kam mit einer Zobelsaloppe über dem Arm herbeigelaufen.

»Schön, schön, ich gebe sie gern her, nimm sie!« sagte sie; es war deutlich, daß es ihr leid tat, die Saloppe hingeben zu sollen, daß sie aber vor ihrem Herrn Angst hatte.

Dolochow nahm, ohne ihr zu antworten, den Pelz hin, hing ihn ihr um und wickelte sie darin ein.

»Siehst du, so mußt du es machen!« sagte er zu Anatol. »Und dann so!« fuhr er fort, indem er ihr den Kragen rings um den Kopf in die Höhe schlug, so daß nur vor dem Gesicht eine kleine Stelle offenblieb. »Und dann so! Siehst du wohl?« Dabei schob er Anatols Kopf an die Öffnung im Kragen heran, aus welcher Matronas Gesicht mit strahlendem Lächeln hervorlugte.

»Na, leb wohl, Matrona«, sagte Anatol und küßte sie. »Ach, mein fideles Leben hier ist nun zu Ende! Grüße Stjoschka von mir. Na, leb wohl! Leb wohl, Matrona; wünsche mir Glück zu meinem Unternehmen.«

»Nun, Gott möge dir viel Glück geben, Fürst!« sagte Matrona mit ihrem zigeunerhaften Beiklang.

Vor der Haustür standen zwei dreispännige Schlitten; zwei junge Kutscher hielten die Pferde. Balaga setzte sich auf den vordersten Schlitten und begann, die Ellbogen hoch in die Höhe hebend, ohne Übereilung die Zügel zu ordnen. Anatol und Dolochow stiegen zu ihm ein. Makarin, Chwostikow und der Kammerdiener setzten sich in den andern Schlitten.

»Fertig? Ja?« fragte Balaga.

»Los!« rief er, indem er sich die Zügel um die Hand wickelte, und der Schlitten schoß den Nikitski-Boulevard hinunter.

»Brr! He, weg da …! Brr …!« riefen Balaga und der junge Gehilfe neben ihm auf dem Kutschersitz; weiter wurde nichts gesprochen. Auf dem Arbatskaja-Platz stieß der Schlitten an eine Equipage, ein Krachen ertönte, man hörte einen Schrei, und der Schlitten flog die Arbat-Straße entlang.

Balaga fuhr den Podnowinski-Boulevard entlang und wieder zurück, mäßigte dabei den Lauf der Pferde und hielt auf der Rückfahrt bei der Kreuzung der Staraja-Konjuschennaja-Straße an. Der Gehilfe sprang hinab, um die Pferde am Zaum zu halten; Anatol und Dolochow traten auf das Trottoir. Als sie sich dem Tor genähert hatten, pfiff Dolochow. Ein Pfiff antwortete ihm, und gleich darauf kam das Stubenmädchen herausgelaufen.

»Kommen Sie herein auf den Hof; hier könnten Sie gesehen werden. Sie wird gleich herauskommen«, sagte sie.

Dolochow blieb am Tor stehen. Anatol folgte dem Stubenmädchen auf den Hof, bog um eine Ecke und lief die Stufen zur Hintertür hinauf.

Gawriil, Marja Dmitrijewnas Wagenlakai, ein Mensch von gewaltigem Wuchs, trat ihm entgegen.

»Bitte, sich zur gnädigen Frau zu bemühen!« sagte der Diener mit tiefer Stimme und vertrat dem Eingetretenen den Rückweg nach der Tür.

»Zu welcher gnädigen Frau? Und wer bist du?« fragte Anatol flüsternd mit stockendem Atem.

»Bitte, kommen Sie; ich habe Befehl, Sie hinzuführen.«

»Kuragin! Zurück!« rief Dolochow. »Verrat! Zurück!«

Dolochow rang bei dem Pförtchen am Tor, wo er stehengeblieben war, mit dem Hausknecht, welcher hinter dem eingetretenen Anatol das Pförtchen zuzuschließen versuchte. Mit äußerster Anstrengung stieß Dolochow den Hausknecht zurück, faßte Anatol, der über den Hof gelaufen kam, am Arm, zog ihn durch das Pförtchen hindurch auf die Straße und lief mit ihm zum Schlitten zurück.

XVIII


Marja Dmitrijewna hatte die verweinte Sonja auf dem Korridor getroffen und sie gezwungen, ihr alles zu gestehen. Nachdem sie ein Billett Nataschas aufgefangen und gelesen hatte, ging sie mit dem Billett in der Hand zu Natascha in deren Zimmer.

»Schändliche, Schamlose!« sagte sie zu ihr. »Ich will gar nichts weiter hören!«

Sie stieß Natascha, die sie mit erschrockenen, aber tränenlosen Augen ansah, zurück, schloß sie ein, befahl dem Hausknecht, die Männer, die heute abend kommen würden, ins Tor herein-, aber nicht wieder hinauszulassen, und dem Diener, diese Männer zu ihr zu führen, und setzte sich dann im Salon hin und erwartete die Entführer.

Als Gawriil mit der Meldung zu ihr kam, daß die beiden angekommenen Männer entronnen seien, stand sie mit finster zusammengezogenen Brauen auf, ging, die Hände auf den Rücken gelegt, lange in den Zimmern auf und ab und überlegte, was nun zu tun sei. Um Mitternacht fühlte sie nach dem Schlüssel in ihrer Tasche und ging nach Nataschas Zimmer. Sonja saß schluchzend auf dem Korridor. »Marja Dmitrijewna«, bat sie, »um Gottes willen, lassen Sie mich zu ihr!« Marja Dmitrijewna schloß, ohne ihr zu antworten, die Tür auf. »Eine garstige, widerwärtige Geschichte!« dachte sie. »In meinem Haus … So eine schändliche Dirne …! Mir tut nur der Vater leid!« Aber sie gab sich Mühe, ihren Zorn zu mäßigen. »So schwer es auch ist, werde ich doch allen befehlen, davon zu schweigen, und dem Grafen die ganze Sache verheimlichen.« Maria Dmitrijewna trat mit festen Schritten ins Zimmer. Natascha lag auf dem Sofa, das Gesicht mit den Händen verbergend, und rührte sich nicht. Sie lag noch in derselben Haltung da, in welcher Marja Dmitrijewna sie verlassen hatte.

»Eine nette Person bist du ja, eine sehr nette Person!« sagte Marja Dmitrijewna. »Gibt sich in meinem Haus Rendezvous mit Liebhabern! Daß du dich verstellst, hat keinen Zweck. Hör zu, wenn ich mit dir rede.« Marja Dmitrijewna faßte sie an den Arm. »Hör zu, wenn ich rede. Du hast dich entehrt wie die niedrigste Dirne. Ich würde mit dir verfahren, wie du es verdienst, wenn mir nicht dein Vater leid täte. Ich werde die Sache nicht bekanntwerden lassen.«

Natascha änderte ihre Lage nicht; nur begann ihr ganzer Körper infolge eines lautlosen, krampfhaften Schluchzens zu zucken, das sie zu ersticken drohte. Marja Dmitrijewna blickte sich nach Sonja um und setzte sich neben Natascha auf das Sofa.

»Sein Glück, daß er mir entgangen ist; aber ich werde ihn schon noch zu finden wissen«, sagte sie mit ihrer derben, kräftigen Stimme. »Hörst du auch wohl, was ich sage?«

Sie schob ihre große Hand unter Nataschas Kopf und drehte ihn mit dem Gesicht zu sich hin. Sowohl Marja Dmitrijewna als auch Sonja erschraken, als sie Nataschas Gesicht erblickten. Ihre Augen waren glänzend und trocken, die Lippen zusammengepreßt, die Wangen eingefallen.

»Lassen Sie mich … was wollen Sie von mir … ich sterbe …«, murmelte sie, riß sich mit einer heftigen Anstrengung von Marja Dmitrijewna los und nahm wieder ihre frühere Lage ein.

»Natalja …!« sagte Marja Dmitrijewna. »Ich meine es gut mit dir. Bleib nur liegen; bleib meinetwegen so liegen, wie du liegst; ich will dich nicht anrühren; nur höre zu … Ich will dir nicht vorhalten, wie schwer du dich vergangen hast. Das weißt du selbst. Na, aber morgen kommt dein Vater zurück; was soll ich dem sagen? Wie?«

Nataschas Körper krümmte sich wieder vor Schluchzen.

»Na, wenn er es nun erfährt und dein Bruder und dein Bräutigam …«

»Ich habe keinen Bräutigam; ich habe ihm abgeschrieben«, rief Natascha.

»Ganz gleich«, fuhr Marja Dmitrijewna fort. »Na also, wenn die es erfahren, was meinst du, werden sie die Sache so hingehen lassen? Deinen Vater kenne ich ja; wenn der nun diesen Burschen zum Duell fordert, ist denn das schön und gut? Wie?«

»Ach, lassen Sie mich doch in Ruhe; warum haben Sie uns gehindert! Ja, warum? warum? Wer hat Sie darum gebeten?« rief Natascha, indem sie sich auf dem Sofa aufrichtete und Marja Dmitrijewna zornig anblickte.

»Aber was wolltest du denn eigentlich?« rief Marja Dmitrijewna, die nun wieder hitzig wurde. »Hielten wir dich denn etwa eingesperrt? Na, wer hinderte ihn denn, in unserem Haus einen Besuch zu machen? Wozu brauchte er dich denn wie so eine Zigeunerin zu entführen …? Na, und wenn er dich nun entführt hätte, meinst du denn, daß sie ihn nicht gefunden hätten? Dein Vater oder dein Bruder oder dein Bräutigam. Aber er ist ein Schurke, ein Nichtswürdiger, das ist die Sache!«

»Er ist besser als ihr alle!« schrie Natascha, sich wieder aufrichtend. »Wenn ihr uns nicht in den Weg gekommen wäret … Ach, mein Gott, warum, warum! Sonja, womit habe ich das um dich verdient? Geht hinaus …!«

Und sie begann so verzweifelt zu schluchzen, wie die Menschen nur bei solchem Leid weinen, daß sie sich bewußt sind, selbst verschuldet zu haben. Marja Dmitrijewna wollte noch etwas sagen; aber Natascha rief: »Geht hinaus, geht hinaus! Ihr haßt mich alle, ihr verachtet mich!« Und sie ließ sich wieder auf das Sofa zurücksinken.

Marja Dmitrijewna fuhr noch eine Weile fort, auf Natascha einzureden und ihr auseinanderzusetzen, daß die ganze Sache vor dem Grafen geheimgehalten werden müsse, und daß niemand etwas davon erfahren werde, wenn sich nur Natascha anheischig mache, alles aus ihrem Gedächtnis auszulöschen und sich allen zu zeigen, als ob nichts vorgefallen sei. Natascha antwortete nicht. Sie schluchzte auch nicht mehr; aber sie hatte Fieberfrost und Zittern. Marja Dmitrijewna schob ihr ein Kissen unter den Kopf, deckte sie mit zwei Decken zu und brachte ihr selbst Lindenblütentee; oder Natascha blieb alledem gegenüber völlig teilnahmslos.

»Na, mag sie schlafen!« sagte Marja Dmitrijewna und ging aus dem Zimmer in der Meinung, daß sie eingeschlafen sei.

Aber Natascha schlief nicht und blickte mit starren, weitgeöffneten Augen aus dem blassen Gesicht gerade vor sich hin. Diese ganze Nacht über fand sie keinen Schlaf und weinte nicht und redete nicht mit Sonja, die mehrmals aufstand und zu ihr herankam.

Am anderen Tag zur Frühstückszeit kam Graf Ilja Andrejewitsch, wie er versprochen hatte, von seinem Landhaus vor der Stadt zurück. Er war sehr vergnügt: das Geschäft mit dem Käufer war glücklich erledigt, und nichts hielt ihn jetzt mehr in Moskau zurück, wo er die Trennung von seiner Gattin recht schmerzlich empfand. Marja Dmitrijewna begrüßte ihn und teilte ihm mit, Natascha sei am vorhergehenden Tag ernstlich erkrankt; sie hätten den Arzt holen lassen; aber heute gehe es ihr besser. Natascha blieb den ganzen Vormittag in ihrem Zimmer. Mit zusammengepreßten, aufgesprungenen Lippen und trockenen, starren Augen saß sie am Fenster, blickte unruhig nach den Passanten auf der Straße und wendete sich hastig um, wenn jemand zu ihr ins Zimmer trat. Augenscheinlich wartete sie auf Nachrichten von ihm; sie wartete darauf, daß er entweder selbst kommen oder ihr schreiben werde.

Als der Graf zu ihr hereinkam, drehte sie sich beim Klang seiner Männerschritte unruhig um, und ihr Gesicht nahm den früheren kalten, ja bösen Ausdruck wieder an. Sie stand nicht einmal auf, um ihm entgegenzugehen.

»Was ist dir, mein Engel? Bist du krank?« fragte der Graf.

Natascha schwieg eine Weile.

»Ja, ich bin krank«, antwortete sie dann.

Auf die besorgten Fragen des Grafen, warum sie so niedergeschlagen sei, und ob auch nichts mit dem Bräutigam vorgefallen wäre, versicherte sie ihm, es sei nichts geschehen, und bat ihn, sich nicht zu beunruhigen. Marja Dmitrijewna bestätigte dem Grafen Nataschas Angabe, daß nichts vorgefallen sei. Der Graf zog zwar aus der angeblichen Krankheit und dem verstörten Gemütszustand seiner Tochter sowie aus Sonjas und Marja Dmitrijewnas verlegenen Gesichtern seine Schlüsse und sah klar, daß sich doch in seiner Abwesenheit etwas zugetragen haben müsse; aber der Gedanke, es könne sich mit seiner geliebten Tochter etwas Schimpfliches ereignet haben, war ihm so furchtbar und er liebte so sehr seine heitere Ruhe, daß er es vermied, weitere Fragen zu stellen, sich Mühe gab zu glauben, es sei nichts Besonderes geschehen, und nur bedauerte, daß sie wegen Nataschas Unpäßlichkeit die Rückreise nach ihrem Gut aufschieben mußten.

XIX


Schon seit dem Tag, wo seine Frau nach Moskau gekommen war, hatte Pierre vorgehabt, irgendwohin zu verreisen, nur um nicht mit ihr zusammenzusein. Bald nach der Ankunft der Rostows in Moskau veranlaßte ihn der Eindruck, welchen Natascha auf ihn machte, die Ausführung seiner Absicht zu beschleunigen. Er fuhr nach Twer zu Osip Alexejewitschs Witwe, die schon vor längerer Zeit versprochen hatte, ihm die Papiere ihres verstorbenen Gatten zu übergeben.

Als Pierre nach Moskau zurückkehrte, fand er in seiner Wohnung einen Brief von Marja Dmitrijewna vor, die ihn ersuchte, in einer sehr wichtigen, den Fürsten Andrei und dessen Braut betreffenden Angelegenheit zu ihr zu kommen. Pierre hatte bisher ein Zusammentreffen mit Natascha vermieden. Er war der Meinung, daß er für sie eine stärkere Zuneigung empfinde, als sie ein verheirateter Mann für die Braut seines Freundes hegen dürfe. Und nun führte eine Art von Schicksalsfügung ihn doch beständig mit ihr zusammen.

»Was mag nur vorgefallen sein? Und warum wenden sie sich gerade an mich?« fragte er sich, während er sich anzog, um zu Marja Dmitrijewna zu fahren. »Wenn nur Fürst Andrei recht bald ankäme und sie heiratete!« dachte er auf der Fahrt zu Frau Achrosimowa.

Auf dem Twerskoi-Boulevard rief ihn jemand an.

»Pierre! Bist du schon lange wieder hier?« rief ihm eine bekannte Stimme zu. Pierre hob den Kopf in die Höhe. In einem Schlitten mit zwei grauen Trabern, die das Vorderteil des Schlittens mit Schnee bewarfen, flog Anatol mit seinem steten Begleiter Makarin vorüber. Anatol saß gerade aufgerichtet, in der von der Mode vorgeschriebenen Haltung eines militärischen Elegants: den unteren Teil des Gesichtes vom Biberkragen verhüllt und den Kopf ein wenig nach vorn geneigt. Sein Gesicht war frisch und rosig; der Hut mit dem weißen Federbusch war schräg aufgesetzt und ließ das gekräuselte, pomadisierte und mit feinem Schnee bestreute Haar sehen.

»Wahrhaftig, der da, das ist der wahre Weise!« fuhr es Pierre durch den Kopf. »Er richtet seinen Blick lediglich auf das Vergnügen des gegenwärtigen Augenblicks, ohne darüber hinauszusehen; durch nichts läßt er sich aufregen, und daher ist er immer heiter, zufrieden und ruhig. Was würde ich darum geben, ein solcher Mensch zu sein wie er!« dachte Pierre nicht ohne Neid.

In Marja Dmitrijewnas Vorzimmer sagte der Diener, der ihm den Pelz abnahm, die gnädige Frau lasse ihn zu sich in ihr Schlafzimmer bitten.

Als Pierre die Tür nach dem Saal öffnete, erblickte er Natascha, die mit hagerem, blassem, finsterem Gesicht am Fenster saß. Sie sah sich nach ihm um, zog die Augenbrauen zusammen und verließ mit einer Miene kalter Würde das Zimmer.

»Was ist denn geschehen?« fragte Pierre, als er zu Marja Dmitrijewna hereintrat.

»Nette Geschichten!« antwortete Marja Dmitrijewna. »Achtundfünfzig Jahre bin ich schon auf der Welt; aber eine solche Schande habe ich noch nicht erlebt.«

Und nachdem sie Pierre das Ehrenwort abgenommen hatte, über alles, was er erfahren werde, zu schweigen, teilte ihm Marja Dmitrijewna mit, daß Natascha ihrem Bräutigam ohne Wissen ihrer Eltern abgeschrieben habe, und daß die Ursache dieser Absage Anatol Kuragin sei, mit dem Pierres Frau sie zusammengebracht habe und mit dem sie während der Abwesenheit ihres Vaters habe entfliehen wollen, um sich heimlich mit ihm trauen zu lassen.

Mit offenem Mund und mit hinaufgezogenen Schultern hörte Pierre an, was ihm Marja Dmitrijewna erzählte, und wollte seinen Ohren nicht trauen. Die Braut des Fürsten Andrei, die die leidenschaftliche Liebe ihres Bräutigams besaß, diese früher so allerliebste Natascha Rostowa, gibt einen solchen Bräutigam hin für den Narren Anatol, der schon verheiratet ist (Pierre wußte von dieser geheimen Ehe), und verliebt sich in ihn so, daß sie einwilligt, mit ihm davonzugehen – das konnte Pierre sich nicht vorstellen und nicht begreifen.

Das liebliche Bild, das er von der ihm seit ihrer Kindheit bekannten Natascha in seiner Seele getragen hatte, vermochte er mit der neuen Vorstellung von ihrer niedrigen Denkart, ihrer Torheit und Herzlosigkeit nicht zu vereinigen. Er mußte an seine Frau denken. »Sie sind doch alle von derselben Sorte!« urteilte er im stillen und sagte sich, daß er nicht der einzige sei, dem das unglückliche Los zuteil geworden wäre, mit einer unwürdigen Frau verbunden zu sein. Aber dennoch bemitleidete er den Fürsten Andrei so tief, daß er hätte weinen mögen; wie schwer mußte sich dieser in seinem Stolz verletzt fühlen! Und je mehr er seinen Freund bemitleidete, mit um so größerer Geringschätzung, ja Empörung dachte er an diese Natascha, die mit einem solchen Ausdruck kalter Würde soeben an ihm vorbei durch den Saal gegangen war. Er wußte nicht, daß Nataschas Seele übervoll war von den Gefühlen der Verzweiflung, Scham und Zerknirschung, und daß sie nichts dafür konnte, wenn ihr Gesicht wider ihren Willen den Ausdruck starrer, kalter Würde zeigte.

»Wie hätte sie sich denn mit ihm trauen lassen können?« erwiderte Pierre auf Marja Dmitrijewnas Mitteilungen. »Trauen lassen konnte er sich nicht; er ist schon verheiratet.«

»Immer besser, immer großartiger!« rief Marja Dmitrijewna. »Ein nettes Bürschchen! So ein Schurke! Und sie wartet auf Nachricht von ihm, wartet seit zwei Tagen! Wenigstens wird sie nun aufhören zu warten; das muß ich ihr mitteilen.«

Nachdem Marja Dmitrijewna von Pierre Näheres über Anatols Heirat gehört und ihrem Zorn über diesen Menschen durch kräftige Schimpfworte Luft gemacht hatte, eröffnete sie ihm, warum sie ihn habe rufen lassen. Sie fürchtete, der Graf oder Bolkonski, der jeden Augenblick eintreffen konnte, würden die Sache, obgleich sie sie ihnen zu verheimlichen beabsichtigte, doch erfahren und dann Kuragin zum Duell fordern; und darum richtete sie an Pierre die Bitte, er möchte in ihrem Namen seinem Schwager befehlen, aus Moskau zu verschwinden und es nicht zu wagen, ihr wieder unter die Augen zu kommen. Pierre versprach ihr, ihren Wunsch zu erfüllen; er hatte erst jetzt die Gefahr begriffen, die sowohl dem alten Grafen als auch Nikolai und dem Fürsten Andrei drohte. Kurz und klar setzte Marja Dmitrijewna ihm auseinander, was sie von Anatol Kuragin verlangte, und entließ ihn dann mit der Aufforderung, in den Salon zu gehen.

»Nimm dich nur recht in acht; der Graf weiß nichts von der Geschichte. Tu, als ob du nichts wüßtest«, sagte sie zu ihm. »Und ich werde jetzt hingehen und ihr sagen, daß das Warten keinen Zweck hat. Bleib doch zum Mittagessen hier, wenn du magst!« rief sie ihm noch nach.

Pierre fand im Salon den alten Grafen. Dieser war verlegen und verstört. An diesem Vormittag hatte ihm Natascha gesagt, daß sie die Verlobung mit Bolkonski aufgelöst habe.

»Es ist ein Leiden, ein wahres Leiden, lieber Freund!« sagte er zu Pierre. »Es ist ein Leiden mit solchen jungen Mädchen, wenn die Mutter nicht dabei ist; es tut mir schon leid, sehr leid, daß ich mit ihnen hergereist bin. Ich will gegen Sie ganz offenherzig sein. Haben Sie es schon gehört: sie hat ihrem Bräutigam abgeschrieben, ohne irgend jemand vorher zu fragen. Nun ja, allerdings, ich habe mich über diese in Aussicht stehende Heirat nie sonderlich gefreut. Freilich, er ist ein guter, braver Mensch; na, aber gegen den Willen des Vaters wäre es doch kein Glück gewesen, und Natascha findet leicht andere Freier. Aber trotzdem, die Sache hatte nun schon so lange gedauert; und wie konnte sie überhaupt ohne Vorwissen ihres Vaters und ihrer Mutter einen solchen Schritt tun! Jetzt ist sie nun krank, und Gott weiß was sonst noch dahintersteckt! Ja, es ist eine schlimme Aufgabe für einen Vater, junge Mädchen zu hüten, wenn die Mutter abwesend ist …«

Pierre sah, daß der alte Graf sehr niedergeschlagen war, und versuchte, das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu lenken; aber der alte Mann kam doch wieder auf seinen Kummer zurück.

Sonja trat mit aufgeregter Miene in den Salon.

»Natascha ist nicht ganz wohl«, sagte sie. »Sie ist auf ihrem Zimmer und würde gern mit Ihnen sprechen. Marja Dmitrijewna ist bei ihr und bittet Sie ebenfalls, hinzukommen.«

»Ja, Sie sind ja mit Bolkonski gut befreundet; gewiß will sie Sie bitten, ihm etwas zu bestellen oder zu übergeben«, sagte der alte Graf. »Ach mein Gott, mein Gott! Wie schön und gut war doch alles vorher!«

Er griff mit den Händen in sein dünnes, graues Haar an den Schläfen und ging aus dem Zimmer.

Marja Dmitrijewna hatte Natascha davon in Kenntnis gesetzt, daß Anatol bereits verheiratet sei. Aber Natascha hatte ihr nicht glauben wollen und eine Bestätigung dieser Angabe aus Pierres eigenem Mund verlangt. Sonja teilte dies Pierre mit, während sie ihn über den Korridor zu Nataschas Zimmer führte.

Natascha saß mit bleichem, tiefernstem Gesicht neben Marja Dmitrijewna und richtete auf Pierre, schon als dieser noch an der Tür war, aus ihren fieberhaft glänzenden Augen einen fragenden Blick. Sie lächelte nicht zur Begrüßung und winkte ihm nicht zu, sondern blickte ihn nur starr und unverwandt an, und in ihrem Blick lag nur die eine Frage, ob er in bezug auf ihr Verhältnis zu Anatol ihr Freund oder, wie die andern alle, ihr Feind sei. Als eigene Persönlichkeit existierte Pierre für sie offenbar gar nicht.

»Er weiß alles«, sagte Marja Dmitrijewna, zu Natascha gewendet, indem sie auf Pierre zeigte. »Mag er dir sagen, ob ich die Wahrheit gesprochen habe.«

Wie ein angeschossenes, verfolgtes Wild auf die sich nähernden Hunde und Jäger blickt, so blickte Natascha bald den einen, bald den andern an.

»Natalja Iljinitschna«, begann Pierre mit niedergeschlagenen Augen, da er ein tiefes Mitleid mit ihr und einen starken Widerwillen gegen die von ihm zu vollziehende Operation empfand, »ob das wahr oder unwahr ist, das sollte Ihnen eigentlich ganz gleich sein, da …«

»Also ist es unwahr, daß er verheiratet ist!«

»Nein, es ist die Wahrheit.«

»Er ist verheiratet, und schon lange?« fragte sie. »Ihr Ehrenwort?«

Pierre gab ihr sein Ehrenwort.

»Ist er noch hier?« fragte sie schnell.

»Ja, ich habe ihn vorhin eben gesehen.«

Sie war offenbar außerstande zu sprechen und machte mit den Händen Zeichen, daß sie sie alleinlassen möchten.

XX


Pierre blieb nicht zum Mittagessen, sondern fuhr, nachdem er Nataschas Zimmer verlassen hatte, sofort weg. Er fuhr in der Stadt umher, um Anatol Kuragin zu suchen; der Gedanke an diesen Menschen ließ ihm alles Blut zum Herzen strömen und machte es ihm schwer, Atem zu holen. In den Vergnügungslokalen auf den Sperlingsbergen, bei den Zigeunern, bei Comoneno war er nicht. Pierre fuhr in den Klub. Im Klub ging alles in der gewohnten Ordnung: die Gäste, die sich zum Diner versammelten, saßen gruppenweise zusammen, begrüßten Pierre und unterhielten sich mit Stadtneuigkeiten. Der Diener, der ihn gleichfalls begrüßte und mit seinem Bekanntenkreis und seinen Gewohnheiten vertraut war, meldete ihm, es sei ein Platz für ihn im kleinen Speisesaal reserviert; Fürst Michail Sacharowitsch befinde sich in der Bibliothek, aber Pawel Timofjejewitsch sei noch nicht gekommen. Einer von Pierres Bekannten fragte ihn mitten in einem Gespräch über das Wetter, ob er von der Entführung der Komtesse Rostowa durch Kuragin gehört habe; es werde viel in der Stadt darüber gesprochen; ob etwas Wahres daran sei. Pierre lachte laut auf und erwiderte, es sei der reine Unsinn; er komme eben von Rostows. Er erkundigte sich bei allen seinen Bekannten nach Anatol; der eine sagte ihm, Anatol sei noch nicht gekommen, ein anderer, er werde heute hier im Klub dinieren. Es war für Pierre eine seltsame Empfindung, auf diese ruhige, gleichmütige Menschenmenge hinzublicken, die keine Ahnung davon hatte, was in seiner Seele vorging. Er schlenderte durch den Saal, wartete, bis sich alle eingefunden hatten, die im Klub dinieren wollten, und da Anatol nicht erschienen war, so blieb auch er nicht zum Essen da, sondern fuhr nach seiner Wohnung.

Anatol, den er suchte, speiste an diesem Tag bei Dolochow und beriet mit ihm darüber, wie sich wohl das mißglückte Unternehmen mit besserem Erfolg wiederholen lasse. Unbedingt notwendig erschien ihm zu diesem Zweck eine Zusammenkunft mit der Komtesse Rostowa. So fuhr er denn am Abend zu seiner Schwester, um mit ihr zu besprechen, wie eine solche Zusammenkunft zu ermöglichen sei. Als Pierre, nachdem er vergeblich in ganz Moskau umhergefahren war, nach Hause zurückkehrte, meldete ihm sein Kammerdiener, Fürst Anatol Wasiljewitsch sei bei der Gräfin. Der Salon der Gräfin war voll von Gästen.

Pierre begab sich in den Salon und ging, als er Anatol erblickte, auf diesen zu, ohne seine Frau zu begrüßen, die er nach seiner Rückkehr aus Twer noch nicht wieder gesehen hatte (sie war ihm in diesem Augenblick verhaßter als je zuvor).

»Ah, Pierre«, sagte die Gräfin, zu ihrem Mann herankommend. »Du ahnst nicht, in welcher Gemütsverfassung sich unser Anatol befindet …«

Sie hielt inne, da sie an dem niedergebeugten Kopf ihres Mannes, an seinen funkelnden Augen und an seinem entschlossenen Gang den ihr wohlbekannten furchtbaren Ausdruck jener Wut und Kraft wahrnahm, die sie nach dem Duell mit Dolochow an sich selbst erfahren hatte.

»Wo Sie sind, da ist Sittenlosigkeit und Unheil«, sagte Pierre zu seiner Frau. »Kommen Sie, Anatol, ich habe mit Ihnen zu reden«, sagte er zu diesem auf französisch.

Anatol blickte seine Schwester an, erhob sich gehorsam und war bereit, Pierre zu folgen. Dieser faßte ihn am Arm, zog ihn zu sich heran und ging zur Tür.

»Wenn Sie sich erlauben, in meinem Salon …«, flüsterte ihm Helene noch zu; aber Pierre verließ das Zimmer, ohne ihr zu antworten.

Anatol ging in seinem gewöhnlichen, flotten Gang hinter ihm her. Aber auf seinem Gesicht war doch eine gewisse Unruhe wahrzunehmen. Als sie in Pierres Arbeitszimmer gekommen waren, machte dieser die Tür zu und wandte sich zu Anatol, jedoch ohne ihn anzublicken.

»Haben Sie der Komtesse Rostowa die Ehe versprochen und sie entführen wollen?«

»Mein Lieber«, antwortete Anatol auf französisch, und das ganze Gespräch wurde nun in dieser Sprache geführt, »ich halte mich nicht für verpflichtet, auf Fragen zu antworten, die mir in solchem Ton gestellt werden.«

Pierres Gesicht, das schon vorher blaß gewesen war, verzerrte sich nun vor Wut. Er packte mit seiner großen Hand Anatol am Kragen der Uniform und schüttelte ihn so lange von einer Seite zur andern, bis Anatols Gesicht einen genügenden Ausdruck von Angst angenommen hatte.

»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich mit Ihnen zu reden habe …«, stieß Pierre heraus.

»Na, aber, das ist doch ein törichtes Benehmen; nicht?« sagte Anatol und fühlte nach dem Kragenknopf, der mitsamt dem Tuch losgerissen war.

»Sie sind ein Schurke und ein Nichtswürdiger, und ich weiß nicht, was mich abhält, mir das Vergnügen zu bereiten, Ihnen mit diesem Gegenstand hier den Kopf zu zerschmettern«, sagte Pierre, der sich so gekünstelt ausdrückte, weil er französisch sprach.

Er hatte einen schweren Briefbeschwerer in die Hand genommen und drohend in die Höhe gehoben, legte ihn aber eilig wieder auf seinen Platz.

»Haben Sie ihr die Ehe versprochen?«

»Ich … ich … ich habe daran überhaupt nicht gedacht; übrigens habe ich es schon deswegen nie versprochen, weil …«

Pierre unterbrach ihn:

»Haben Sie Briefe von ihr? Haben Sie Briefe?« fragte er und trat dabei dicht an Anatol heran.

Anatol sah ihn an, fuhr sogleich mit der Hand in die Tasche und holte seine Brieftasche heraus.

Pierre nahm den ihm hingereichten Brief und ließ sich, einen ihm im Weg stehenden Tisch wegstoßend, auf das Sofa sinken.

»Ich werde nichts Gewalttätiges begehen; fürchten Sie nichts!« bemerkte er als Antwort auf eine ängstliche Gebärde Anatols.

»Erstens die Briefe«, sagte er dann, wie wenn er für sich eine auswendig gelernte Lektion repetierte. »Zweitens«, fuhr er nach kurzem Stillschweigen fort, indem er wieder aufstand und hin und her zu gehen begann, »zweitens müssen Sie morgen Moskau verlassen.«

»Aber wie kann ich denn …«

»Drittens«, fuhr Pierre, ohne auf ihn zu hören, fort, »dürfen Sie nie ein Wort über das, was zwischen Ihnen und der Komtesse vorgefallen ist, verlauten lassen. Ich weiß, daß ich Sie daran nicht hindern kann; aber wenn Sie noch einen Funken von Gewissen besitzen …« Pierre durchmaß einige Male schweigend das Zimmer.

Anatol saß an einem Tisch, zog finster die Brauen zusammen und biß sich auf die Lippen.

»Sie sollten doch endlich einmal begreifen, daß außer Ihrem Vergnügen auch das Glück und die Ruhe anderer Menschen eine gewisse Daseinsberechtigung haben, und daß Sie ein ganzes Leben zerstören, nur um sich zu amüsieren. Vertreiben Sie sich die Zeit mit solchen Weibern wie meine Frau; denen gegenüber sind Sie dazu berechtigt; die wissen, was Sie von ihnen verlangen, und besitzen auch dieselbe Erfahrung im Laster wie Sie und können diese Erfahrung als Waffe gegen Sie gebrauchen. Aber einem unschuldigen jungen Mädchen die Ehe zu versprechen, … sie zu betrügen, zu entführen … Sie müßten doch begreifen, daß das ebenso gemein ist, wie wenn jemand einen Greis oder ein kleines Kind mißhandelt …!«

Pierre hielt inne und blickte Anatol nicht mehr zornig, sondern nur fragend an.

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Anatol, der in demselben Maß mutiger wurde, wie Pierre seinen Zorn bemeisterte. »Das weiß ich nicht und will ich auch gar nicht wissen«, sagte er, ohne Pierre anzusehen, mit einem leisen Zittern des Unterkiefers. »Aber Sie haben mir gegenüber Ausdrücke gebraucht wie ›gemein‹ und dergleichen, und solche Ausdrücke kann ich mir als Mann von Ehre von niemandem gefallen lassen.«

Pierre sah ihn erstaunt an und konnte nicht begreifen, was er eigentlich wollte.

»Und wenn es auch unter vier Augen war«, fuhr Anatol fort, »so kann ich doch nicht …«

»Ach so, Sie wünschen Satisfaktion?« fragte Pierre spöttisch.

»Wenigstens könnten Sie Ihre Ausdrücke wieder zurücknehmen. Nicht wahr? Wenn Sie wollen, daß ich Ihre Wünsche erfülle … Nicht wahr?«

»Ich nehme sie zurück, ich nehme sie zurück«, murmelte Pierre, »und ich bitte Sie um Entschuldigung.« Pierre blickte unwillkürlich nach dem losgerissenen Knopf hin. »Und wenn Sie Geld für die Reise nötig haben …«

Anatol lächelte. Dieses blöde, gemeine Lächeln, das Pierre von seiner Frau her kannte, versetzte ihn in Empörung.

»Eine gemeine, herzlose Sorte!« sagte er vor sich hin und ging aus dem Zimmer.

Am andern Tag reiste Anatol nach Petersburg ab.

XXI


Pierre fuhr zu Marja Dmitrijewna, um ihr von der Erfüllung ihrer Forderungen, namentlich von der Ausweisung Kuragins aus Moskau, Mitteilung zu machen. Er fand das ganze Haus in Angst und Unruhe. Natascha war sehr krank; wie Marja Dmitrijewna ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitteilte, hatte sie, nachdem sie erfahren hatte, daß Anatol schon verheiratet sei, in der Nacht sich mit Arsen vergiftet, das sie sich heimlich zu verschaffen gewußt hatte. Aber als sie ein wenig davon hinuntergeschluckt hatte, war ihr doch so bange geworden, daß sie Sonja geweckt und ihr von dem Getanen Kenntnis gegeben hatte. So hatten denn noch rechtzeitig gegen das Gift die nötigen Mittel angewendet werden können, und sie war jetzt außer Gefahr; aber sie war doch so schwach, daß an eine Rückreise aufs Land nicht zu denken war; man hatte lieber einen Boten hingeschickt, um die Gräfin herzurufen. Pierre sah den verstörten Grafen und die verweinte Sonja; aber Natascha bekam er nicht zu sehen.

Er speiste an diesem Tag zu Mittag im Klub, hörte dort von allen Seiten Gespräche über einen mißglückten Versuch, die Komtesse Rostowa zu entführen, und widersprach diesen Behauptungen mit großer Energie, indem er allen versicherte, es sei weiter nichts geschehen, als daß sein Schwager der Komtesse Rostowa einen Antrag gemacht und von ihr einen Korb bekommen habe. Pierre hielt es für seine Pflicht, die ganze Angelegenheit zu verheimlichen und den guten Ruf der Komtesse Rostowa wiederherzustellen.

Mit Beklommenheit wartete er auf die Heimkehr des Fürsten Andrei und fuhr, um sich danach zu erkundigen, täglich zu dem alten Fürsten.

Fürst Nikolai Andrejewitsch hatte durch Mademoiselle Bourienne von all den Gerüchten, die in der Stadt umgingen, Kenntnis und hatte auch den Brief Nataschas an Prinzessin Marja gelesen, in welchem Natascha von der Verlobung zurücktrat. Er erschien heiterer als sonst und wartete mit großer Ungeduld auf die Ankunft seines Sohnes.

Einige Tage nach Anatols Abreise erhielt Pierre ein Billett vom Fürsten Andrei, der ihm seine Ankunft mitteilte und ihn um seinen Besuch bat.

Fürst Andrei hatte gleich im ersten Augenblick nach seinem Eintreffen in Moskau von seinem Vater Nataschas Brief an Prinzessin Marja erhalten, in welchem sie ihrem Bräutigam absagte (diesen Brief hatte Mademoiselle Bourienne der Prinzessin Marja entwendet und dem Fürsten übergeben), und von dem Vater die Geschichte von Nataschas Entführung mit allerlei Zusätzen zu hören bekommen.

Am Abend war Fürst Andrei angekommen, und am Vormittag des folgenden Tages fuhr Pierre zu ihm. Pierre erwartete, ihn etwa in derselben Gemütsverfassung anzutreffen, in der sich Natascha befand, und war daher höchst erstaunt, als er beim Eintritt in den Salon aus dem Arbeitszimmer des alten Herrn die laute Stimme des Fürsten Andrei hörte, der lebhaft über irgendeine Petersburger politische Intrige sprach. Der alte Fürst und noch jemand, welchen Pierre an der Stimme nicht erkannte, unterbrachen ihn mitunter. Prinzessin Marja kam in den Salon, um Pierre zu begrüßen. Sie seufzte und deutete mit den Augen nach der Tür des Arbeitszimmers, in welchem Fürst Andrei sich befand, wodurch sie offenbar ihr Mitgefühl mit seinem Kummer zum Ausdruck bringen wollte; aber Pierre sah an dem Gesicht der Prinzessin Marja, daß sie sich freute, und zwar sowohl über das Geschehene, als auch über die Art, wie ihr Bruder die Nachricht von der Untreue seiner Braut aufgenommen hatte.

»Er hat gesagt, das habe er erwartet«, sagte sie. »Ich weiß, daß sein Stolz ihm nicht erlaubt, seine Gefühle sichtbar werden zu lassen; aber er hat es doch besser, weit besser ertragen, als ich erwartet hatte. Es hat offenbar so sein sollen …«

»Aber ist denn wirklich alles ganz zu Ende?« fragte Pierre.

Prinzessin Marja sah ihn erstaunt an. Sie begriff gar nicht, wie jemand überhaupt noch so fragen konnte. Pierre ging in das Arbeitszimmer hinein. Fürst Andrei, der sehr verändert aussah und augenscheinlich gesünder geworden war, aber eine neue Querfalte zwischen den Brauen bekommen hatte, stand in Zivilkleidung vor seinem Vater und dem Fürsten Meschtscherski und debattierte mit großer Lebhaftigkeit und unter energischen Handbewegungen. Es war von Speranski die Rede; die Nachricht von seiner plötzlichen Verbannung und seiner angeblichen Verräterei war soeben nach Moskau gelangt.

»Jetzt beschuldigen und verdammen ihn alle diejenigen, die noch vor einem Monat für ihn begeistert waren«, sagte Fürst Andrei, »und nicht minder diejenigen, die nicht imstande waren, seine Ziele zu begreifen. Es ist sehr leicht, über einen in Ungnade Gefallenen den Stab zu brechen und ihm alle von anderen begangenen Fehler zuzuschieben; aber ich sage: wenn unter der jetzigen Regierung etwas Gutes geschaffen ist, so ist es alles von ihm geschaffen, einzig und allein von ihm …«

Er hielt inne, da er Pierre erblickte. Sein Gesicht zuckte und nahm sogleich einen finsteren Ausdruck an.

»Und die Nachwelt wird ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen«, schloß er und wandte sich dann sofort zu Pierre.

»Nun, wie geht es dir? Du wirst ja immer dicker«, sagte er lebhaft; aber die neu entstandene Falte hatte sich noch tiefer in seine Stirn eingegraben. »Ja, ich bin gesund«, antwortete er auf Pierres Frage und lächelte dabei.

Pierre war sich darüber klar, daß dieses Lächeln besagte: »Ich bin gesund; aber ob ich gesund bin oder nicht, das hat für niemand Interesse.«

Er sprach mit Pierre ein paar Worte über die scheußlichen Wege von der polnischen Grenze an, und daß er in der Schweiz mit Bekannten von Pierre zusammengetroffen sei, und über einen Herrn Dessalles, den er als Erzieher für seinen Sohn aus dem Ausland mitgebracht habe, und nahm dann wieder mit großem Eifer an dem Gespräch über Speranski teil, das die beiden alten, Herren inzwischen fortgesetzt hatten.

»Hätte er wirklich Verrat begangen und lägen Beweise vor, daß er mit Napoleon geheime Beziehungen unterhalten hätte, so würde man diese Beweise vor der ganzen Welt veröffentlichen«, sagte er schnell und in lebhafter Erregung. »Ich persönlich liebe Speranski nicht und habe ihn nie geliebt; aber ich liebe die Gerechtigkeit.«

Pierre erkannte jetzt an seinem Freund eine ihm nur zu wohl bekannte Eigenheit wieder: das Bestreben, sich aufzuregen und über eine ihn nicht tiefer berührende Sache zu streiten, lediglich um seine allzu schmerzlichen seelischen Erregungen zu übertäuben.

Sobald sich Fürst Meschtscherski empfohlen hatte, faßte Fürst Andrei Pierre unter den Arm und lud ihn ein, mit ihm in das Zimmer zu gehen, das für ihn eingerichtet war. In dem Zimmer war ein Bett aufgeschlagen; geöffnete Koffer und Mantelsäcke standen auf dem Fußboden. Fürst Andrei trat an einen Koffer heran und holte eine Schatulle hervor. Aus der Schatulle nahm er ein in Papier geschlagenes Päckchen heraus. Alles dies tat er schweigend und sehr schnell. Er richtete sich gerade und räusperte sich. Sein Gesicht war finster, die Lippen zusammengepreßt.

»Verzeih mir, wenn ich dich mit einem Auftrag belästige.«

Pierre merkte, daß Fürst Andrei von Natascha reden wollte, und sein breites Gesicht nahm einen Ausdruck von Mitgefühl und Teilnahme an. Aber über diesen Gesichtsausdruck seines Freundes ärgerte sich Fürst Andrei; er fuhr mit fester, lauter Stimme in unfreundlichem Ton fort: »Ich habe von der Komtesse Rostowa eine Absage erhalten, und es sind mir Gerüchte zu Ohren gekommen von einer Bewerbung deines Schwagers um ihre Hand, oder von etwas Ähnlichem. Ist das wahr?«

»Wahr und auch nicht wahr«, begann Pierre; aber Fürst Andrei unterbrach ihn.

»Da sind ihre Briefe und ihr Porträt«, sagte er.

Er nahm das Päckchen vom Tisch und übergab es Pierre.

»Gib es der Komtesse, wenn du sie siehst.«

»Sie ist sehr krank«, sagte Pierre.

»Also ist sie noch hier?« fragte Fürst Andrei. »Und Fürst Kuragin?« fügte er schnell hinzu.

»Der ist schon lange abgereist. Sie war dem Tod nahe …«

»Ich bedauere ihre Krankheit außerordentlich«, sagte Fürst Andrei. Er lächelte in einer unangenehmen Art, kalt und böse, wie sein Vater.

»Also hat Herr Kuragin die Komtesse Rostowa nicht seiner Hand gewürdigt?« fragte Fürst Andrei.

Er schnob in der Manier seines Vaters mehrmals hörbar mit der Nase.

»Er konnte sie nicht heiraten, weil er schon verheiratet ist«, erwiderte Pierre.

Fürst Andrei lachte in unangenehmer Weise auf, wodurch er wieder an seinen Vater erinnerte.

»Und wo befindet er sich jetzt, dein Schwager? Darf ich das erfahren?« fragte er.

»Er ist nach Petersburg gereist … oder vielmehr, ich weiß es nicht«, antwortete Pierre.

»Nun, es ist ja auch ganz gleichgültig«, sagte Fürst Andrei. »Bestelle also der Komtesse Rostowa von mir, daß sie vollkommene Freiheit hatte und hat, zu handeln, wie sie will, und daß ich ihr alles Gute wünsche.«

Pierre nahm das Päckchen mit den Briefen in Empfang. Fürst Andrei sah ihn mit starrem Blick an, als besänne er sich, ob er nicht noch irgend etwas zu sagen habe, oder als wartete er, ob Pierre nicht noch etwas sagen wolle.

»Hören Sie, erinnern Sie sich noch an einen Streit, den wir einmal in Petersburg hatten?« sagte Pierre. »Erinnern Sie sich an …«

»Ich erinnere mich«, unterbrach ihn Fürst Andrei hastig. »Ich sagte, man müsse einer gefallenen Frau verzeihen; aber ich habe nicht gesagt, daß ich dazu imstande wäre. Ich kann es nicht.«

»Lassen sich denn diese beiden Dinge auf eine Stufe stellen …?« begann Pierre.

Fürst Andrei fiel ihm ins Wort, indem er in scharfem Ton rief:

»Ja, von neuem um ihre Hand bitten, sich großmütig zeigen und mehr von der Art … Ja, das wäre sehr edel; aber ich bin nicht dazu fähig, der Nachfolger dieses Herrn zu werden. Wenn du mein Freund bleiben willst, so sprich nie wieder von dieser … von diesem ganzen Erlebnis. Bitte, laß mich jetzt allein. Also du wirst es abgeben …«

Pierre ging hinaus und begab sich zu dem alten Fürsten und zur Prinzessin Marja.

Der Alte zeigte sich lebhafter als sonst. Prinzessin Marja war genau dieselbe wie immer; aber hinter ihren Äußerungen des Mitgefühls mit ihrem Bruder spürte Pierre doch ihre Freude darüber, daß die Heirat ihres Bruders sich zerschlagen hatte. Indem Pierre so den alten Mann und die Tochter beobachtete, kam er zu der Erkenntnis, welch eine Geringschätzung und welch einen Ingrimm sie beide gegen die Familie Rostow hegten, und daß es ganz unmöglich war, in ihrer Gegenwart auch nur den Namen des Mädchens zu erwähnen, das imstande gewesen war, den Fürsten Andrei um irgendeines andern willen aufzugeben.

Beim Mittagessen kam die Rede auf den Krieg, dessen Herannahen schon nicht mehr zweifelhaft schien. Fürst Andrei sprach fortwährend und stritt bald mit dem Vater, bald mit dem Schweizer Erzieher Dessalles und legte eine ungewöhnliche Lebhaftigkeit an den Tag, deren seelische Ursache Pierre aber nur zu gut kannte.

XXII


Am Abend desselben Tages fuhr Pierre zu Rostows, um seinen Auftrag auszurichten. Natascha lag zu Bett; der Graf war im Klub; so ging denn Pierre, nachdem er die Briefe Sonja übergeben hatte, zu Marja Dmitrijewna, die gespannt war zu erfahren, wie Fürst Andrei die Nachricht aufgenommen habe. Zehn Minuten darauf trat Sonja bei Marja Dmitrijewna ein.

»Natascha will durchaus mit dem Grafen Pjotr Kirillowitsch sprechen«, sagte sie.

»Aber wie soll denn das gemacht werden? Sollst du ihn etwa zu ihr führen? Das Zimmer ist ja gar nicht aufgeräumt«, erwiderte Marja Dmitrijewna.

»Nein, sie hat sich angezogen und ist in den Salon gegangen«, sagte Sonja.

Marja Dmitrijewna zuckte nur mit den Achseln.

»Wenn nur erst die Gräfin da wäre!« wandte sie sich an Pierre. »Dieses Mädchen hat mich ganz heruntergebracht. Sei du nur auf deiner Hut und sage ihr nicht alles. Ich habe auch nicht den Mut, sie zu schelten: sie ist in einer gar zu kläglichen Verfassung!«

Abgemagert, mit blassem, tiefernstem Gesicht (aber ganz und gar nicht beschämt, wie es Pierre erwartet hatte) stand Natascha mitten im Salon. Als Pierre in der Tür erschien, machte sie ein paar hastige Bewegungen, offenbar im Zweifel, ob sie ihm entgegengehen oder ihn dort erwarten sollte.

Pierre ging eilig auf sie zu. Er glaubte, sie werde ihm, wie sonst immer, die Hand reichen; sie aber blieb, nachdem sie nun doch nahe an ihn herangetreten war, schweratmend stehen und ließ die Arme matt herunterhängen, genau in derselben Haltung, in der sie früher in die Mitte des Saales zu treten pflegte, um zu singen, aber jetzt mit völlig anderem Gesichtsausdruck.

»Pjotr Kirillowitsch«, begann sie; sie sprach sehr hastig, »Fürst Bolkonski war Ihr Freund; er ist auch noch Ihr Freund«, verbesserte sie sich (sie hatte die Vorstellung, als ob alles der Vergangenheit angehöre und nichts unverändert geblieben sei). »Er sagte mir damals, ich sollte mich an Sie wenden …« Pierre blickte sie schweigend an und atmete heftig, so daß man seine Nase hörte. Er hatte ihr bisher in seinem Herzen Vorwürfe gemacht und sich bemüht, sie zu verachten; aber jetzt tat sie ihm so leid, daß in seinem Herzen für Vorwürfe kein Raum blieb.

»Er ist jetzt hier; sagen Sie ihm … er möchte mir ver … verzeihen.«

Sie hielt inne und begann noch schneller zu atmen, weinte aber nicht.

»Ja … ich will es ihm sagen«, antwortete Pierre, »aber …«

Er wußte nicht, was er weiter sagen sollte.

Natascha erschrak, offenbar weil ihr einfiel, auf welchen Gedanken Pierre vielleicht kommen konnte.

»Nein, ich weiß, daß alles zu Ende ist«, sagte sie hastig. »Nein, das ist für immer unmöglich. Mich quält nur das Böse, das ich ihm angetan habe. Sagen Sie ihm nur, ich bäte ihn, mir zu verzeihen, mir zu verzeihen, mir alles zu verzeihen, was …«

Sie zitterte am ganzen Leib und setzte sich auf einen Stuhl.

Ein Gefühl des Mitleides, so stark, wie er es noch nie empfunden hatte, erfüllte Pierres ganze Seele.

»Ich werde es ihm sagen, ich werde ihm alles noch einmal sagen«, erwiderte Pierre. »Aber … eines möchte ich gern wissen …«

»Was möchten Sie wissen?« fragte Nataschas Blick.

»Ich möchte gern wissen, ob Sie diesen …«, Pierre wußte nicht, wie er Anatol nennen sollte, und errötete bei dem Gedanken an ihn, »ob Sie diesen schlechten Menschen geliebt haben.«

»Nennen Sie ihn nicht schlecht«, erwiderte Natascha. »Aber ich weiß nichts, gar nichts …«

Sie brach in Tränen aus. Und das Gefühl des Mitleides, der Zärtlichkeit und der Liebe ergriff Pierre noch stärker. Er spürte, wie ihm hinter der Brille die Tränen aus den Augen quollen, und hoffte, daß Natascha es nicht bemerken werde.

»Wir wollen nicht weiter davon reden, liebe Freundin«, sagte er. Durch seinen sanften, zärtlichen, von Herzen kommenden Ton fühlte sich Natascha ganz seltsam berührt.

»Wir wollen nicht davon reden, liebe Freundin; ich werde ihm alles sagen; aber um eines bitte ich Sie: halten Sie mich für Ihren Freund; und wenn Sie Hilfe oder Rat brauchen oder einfach jemanden, dem Sie Ihr Herz ausschütten möchten – nicht jetzt, sondern wenn es in Ihrer Seele wieder wird hell und klar geworden sein –, dann erinnern Sie sich an mich.« Er ergriff ihre Hand und küßte sie. »Ich werde glücklich sein, wenn ich imstande sein sollte …«

Pierre wurde verlegen.

»Reden Sie nicht so mit mir; das verdiene ich nicht!« rief Natascha und wollte aus dem Zimmer eilen; aber Pierre hielt sie an der Hand zurück.

Er hatte das Glück, daß er ihr noch etwas sagen müsse. Aber als er es sagte, war er selbst über seine eigenen Worte erstaunt.

»Fassen Sie wieder Mut; das ganze Leben liegt noch vor Ihnen«, sagte er zu ihr.

»Vor mir? Nein! Für mich ist alles verloren«, erwiderte sie voll Scham und Zerknirschung.

»Alles verloren?« entgegnete er. »Wäre ich nicht der, der ich bin, sondern der schönste, klügste, beste Mensch auf der Welt, und wäre ich dabei frei, dann würde ich in diesem Augenblick auf den Knien um Ihre Hand und um Ihre Liebe werben.«

Zum erstenmal seit vielen Tagen vergoß Natascha Tränen der Dankbarkeit und Rührung; sie blickte Pierre noch einmal innig an und verließ das Zimmer.

Unmittelbar darauf ging auch Pierre; er lief fast ins Vorzimmer, vermochte kaum die Tränen der Rührung und der Glückseligkeit zurückzuhalten, die ihm die Kehle beengten, und konnte beim Anziehen seines Pelzes lange nicht in die Ärmel hineinfinden. Er setzte sich in seinen Schlitten.

»Wohin befehlen Sie jetzt?« fragte der Kutscher.

»Ja, wohin?« fragte sich Pierre. »Wohin kann ich jetzt fahren? Bin ich jetzt wirklich imstande, nach dem Klub zu fahren oder einen Besuch zu machen?« Alle Menschen erschienen ihm so bedauernswert und arm gegenüber dem Gefühl der Rührung und Liebe, das er empfand, gegenüber jenem weichen, dankbaren Blick, mit dem sie ihn zuletzt durch ihre Tränen hindurch angesehen hatte.

»Nach Hause«, sagte Pierre, und trotz der zehn Grad Kälte schlug er den Bärenpelz über seiner breiten, freudig atmenden Brust auseinander.

Es war kalt und klar. Über den schmutzigen, halbdunklen Straßen, über den schwarzen Dächern wölbte sich der dunkle Sternenhimmel. Sowie Pierre nach dem Himmel blickte, empfand er nicht mehr die demütigende Niedrigkeit alles Irdischen gegenüber der Höhe, in der seine Seele schwebte. Als er aus der engen Straße auf den Arbatskaja-Platz hinausfuhr, erschloß sich seinen Augen in weiter Ausdehnung das Gewölbe des dunklen, von Sternen bedeckten Himmels. Beinahe in der Mitte dieses Himmels, über dem Pretschistenski-Boulevard, stand, rings von Sternen umgeben und umstreut, aber durch seine geringere Entfernung von der Erde, durch sein weißes Licht und durch den langen, nach oben gerichteten Schweif sich von allen abhebend, der gewaltige helle Komet des Jahres 1812, eben der Komet, der, wie man sagte, alle möglichen Schrecknisse und den Untergang der Welt vorherverkündete. Aber in Pierres Seele rief dieser glänzende Stern mit dem langen, leuchtenden Schweif kein banges Gefühl hervor. Im Gegenteil, freudig betrachtete Pierre mit tränenfeuchten Augen dieses helle Gestirn, das, nachdem es mit unsagbarer Geschwindigkeit den unermeßlichen Raum in einer parabolischen Linie durchflogen hatte, nun plötzlich wie ein in die Erdatmosphäre eingedrungener Pfeil dort an einer von ihm ausgewählten Stelle am schwarzen Himmel haltgemacht hatte und festhaftete, seinen Schweif energisch in die Höhe hebend und unter den unzähligen andern glitzernden Sternen mit seinem weißen Licht leuchtend und schimmernd. Pierre hatte die Empfindung, daß dieses Gestirn vollständig mit dem Gefühl harmonierte, das in seiner zu neuem Leben sich erschließenden, von Rührung und Mut erfüllten Seele rege geworden war.

Neunter Teil


I

Zu Ende des Jahres 1811 hatte die Verstärkung der Rüstung und die Zusammenziehung der Streitkräfte des westlichen Europas begonnen, und im Jahre 1812 rückten nun diese Streitkräfte, Millionen von Menschen (wenn man diejenigen mitzählt, die mit dem Transport und der Verpflegung der Armee zu tun hatten), von Westen nach Osten an die Grenzen Rußlands, wo genau ebenso seit dem Jahr 1811 die Streitkräfte Rußlands zusammengezogen waren. Am 12. Juni überschritten die Truppen Westeuropas die Grenzen Rußlands, und der Krieg begann, d.h. es vollzog sich ein der menschlichen Vernunft und der ganzen menschlichen Natur zuwiderlaufendes Ereignis. Millionen von Menschen verübten gegeneinander eine so zahllose Menge von Übeltaten, Betrug, Verrat, Diebstahl, Fälschung von Banknoten und Verteilung der gefälschten, Raub, Brandstiftung und Mord, wie sie die Chronik aller Gerichte der Welt während ganzer Jahrhunderte nicht zusammenstellt; und dabei betrachteten in dieser Zeitperiode die Menschen, die diese Taten verübten, sie gar nicht als Verbrechen.

Wodurch wurde dieses außerordentliche Ereignis herbeigeführt? Welches waren seine Ursachen? Die Historiker sagen mit naiver Zuversichtlichkeit, die Ursachen dieses Ereignisses seien gewesen: das dem Herzog von Oldenburg zugefügte Unrecht, die Verletzung des Kontinentalsystems, die Herrschsucht Napoleons, die Charakterfestigkeit Alexanders, die Fehler der Diplomaten usw.

Somit hätten nur Metternich, Rumjanzew oder Talleyrand zwischen der Cour und dem Rout sich mehr Mühe zu geben und ihre Noten kunstvoller zu redigieren brauchen oder Napoleon hätte nur an Alexander zu schreiben brauchen: »Mein Herr Bruder, ich erkläre mich bereit, dem Herzog von Oldenburg das Herzogtum zurückzugeben« – dann wäre es nicht zum Krieg gekommen.

Es ist begreiflich, daß die Zeitgenossen die Sache so auffaßten. Es ist begreiflich, daß Napoleon meinte, die Ursache des Krieges liege in den Intrigen Englands (wie er das noch auf der Insel St. Helena ausgesprochen hat). Es ist begreiflich, daß die Mitglieder des englischen Parlaments der Ansicht waren, die Ursache des Krieges sei Napoleons Herrschsucht; daß der Herzog von Oldenburg als die Ursache des Krieges die gegen ihn verübte Gewalttat betrachtete; daß die Kaufleute glaubten, die Ursache des Krieges sei das Kontinentalsystem, durch das Europa zugrunde gerichtet werde; daß die alten Soldaten und Generale die Hauptursache des Krieges in der Notwendigkeit suchten, sie wieder einmal zum Kampf zu verwenden, und die Legitimisten in der Notwendigkeit, les bons principes wiederherzustellen; daß die Diplomaten überzeugt waren, alles sei davon hergekommen, daß das Bündnis zwischen Rußland und Österreich im Jahre 1809 vor Napoleon nicht kunstvoll genug verheimlicht worden und das Memorandum Nr. 178 ungeschickt redigiert gewesen sei. Es ist begreiflich, daß diese und noch zahllose andere Dinge, deren Menge durch die unendliche Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte bedingt ist, den Zeitgenossen als Ursachen des Krieges erschienen; aber wir Nachkommen, die wir die gewaltige Größe des stattgefundenen Ereignisses in ihrem ganzen Umfang zu überblicken und die wahre, furchtbare Bedeutung dieses Ereignisses zu würdigen vermögen, wir müssen diese Ursachen für unzulänglich erachten. Für uns ist es unbegreiflich, daß Millionen von Christenmenschen einander deswegen gequält und getötet haben sollten, weil Napoleon herrschsüchtig, Alexander charakterfest, die englische Politik hinterlistig gewesen und der Herzog von Oldenburg seines Eigentums beraubt worden sei. Wir können nicht begreifen, welchen Kausalzusammenhang diese Umstände mit der Tatsache des Mordens und Vergewaltigens haben könnten, wie es zugegangen sein soll, daß infolge der Beraubung eines Herzogs Tausende von Menschen von dem einen Ende Europas die Menschen in den Gouvernements Smolensk und Moskau elend machten und töteten oder von ihnen getötet wurden.

Uns Nachkommen, die wir keine Historiker sind und uns durch die Forschertätigkeit nicht hinreißen lassen und daher jenes Ereignis mit ungetrübtem, gesundem Sinn betrachten, bieten sich Ursachen desselben in unzähliger Menge dar. Je mehr wir uns in die Erforschung der Ursachen vertiefen, in um so größerer Zahl erschließen sie sich uns; nehmen wir eine jede Ursache oder auch eine ganze Reihe von Ursachen für sich besonders, so erscheinen sie uns gleich richtig an und für sich und gleich unrichtig im Hinblick auf ihre Geringfügigkeit gegenüber der Riesenhaftigkeit des Ereignisses und gleich unrichtig im Hinblick auf ihre Unfähigkeit, allein, ohne die Mitwirkung aller andern mit ihnen zusammenfallenden Ursachen, das stattgefundene Ereignis herbeizuführen. Als eine Ursache von gleichem Wert wie Napoleons Weigerung, seine Truppen hinter die Weichsel zurückzuziehen und das Herzogtum Oldenburg herauszugeben, erscheint uns der Wunsch oder die Abneigung des ersten besten französischen Korporals, von neuem in den Militärdienst zu treten; denn hätte er nicht eintreten mögen und ebensowenig ein zweiter und ein dritter und tausend andere Korporale und Soldaten, so wäre Napoleons Heer um so viele Krieger kleiner gewesen, und der Krieg wäre unmöglich gewesen.

Hätte sich Napoleon durch die Forderung, hinter die Weichsel zurückzuweichen, nicht verletzt gefühlt und seinen Truppen nicht den Befehl zum Vorrücken gegeben, so hätte der Krieg nicht stattgefunden; aber wenn alle Sergeanten abgeneigt gewesen wären, von neuem in den Dienst zu treten, so hätte der Krieg ebenfalls nicht stattfinden können. In gleicher Weise hätte es nicht zum Krieg kommen können, wenn England nicht intrigiert und es keinen Herzog von Oldenburg gegeben und Alexander sich nicht beleidigt gefühlt und Rußland keine autokratische Regierung gehabt hätte, und wenn nicht die Französische Revolution gewesen wäre und im Anschluß daran die Diktatur und das Kaiserreich und vorher alles, wodurch die Französische Revolution hervorgerufen wurde, usw., usw. Hätte eine einzige dieser Ursachen gefehlt, so hätte es zu nichts kommen können. Also haben alle diese Ursachen, Milliarden von Ursachen, zusammengewirkt, um das herbeizuführen, was geschehen ist. Und folglich war nichts die ausschließliche Ursache jenes Ereignisses; sondern jenes Ereignis mußte sich nur deswegen vollziehen, weil es sich eben vollziehen mußte. So mußten denn Millionen von Menschen, unter Verleugnung ihrer menschlichen Gefühle und ihrer Vernunft, von Westen nach Osten ziehen und ihresgleichen töten, genau ebenso wie einige Jahrhunderte zuvor Scharen von Menschen von Osten nach Westen gezogen waren und ihresgleichen getötet hatten.

Die Handlungen Napoleons und Alexanders, der beiden Herrscher, von deren Worten es anscheinend abhing, ob das Ereignis stattfinden sollte oder nicht, waren ebensowenig willkürlich wie die Handlung eines jeden Soldaten, der ins Feld zog, weil ihn das Los getroffen hatte oder er ausgehoben worden war. Das konnte nicht anders sein; denn damit der Wille Napoleons und Alexanders (der Männer, von denen das Ereignis anscheinend abhing) in Erfüllung ging, war das Zusammentreffen unzähliger Umstände notwendig, dergestalt, daß beim Fehlen eines dieser Umstände das Ereignis nicht hätte eintreten können. Es war notwendig, daß die Millionen von Menschen, in deren Händen die wirkliche materielle Kraft lag (d.h. die Soldaten, welche schossen oder den Proviant und die Kanonen transportierten), es war notwendig, daß sie sich bereitwillig zeigten, diesen Willen der beiden einzelnen, persönlich schwachen Männer zu erfüllen, und daß sie dazu durch eine zahllose Menge komplizierter, mannigfaltiger Ursachen veranlaßt wurden.

Der Fatalismus ist in der Geschichte zur Erklärung der unvernünftigen Erscheinungen unentbehrlich, d.h. zur Erklärung derjenigen Erscheinungen, deren Vernünftigkeit wir nicht begreifen. Je mehr wir uns bemühen, diese Erscheinungen in der Geschichte mit der Vernunft zu erklären, um so unvernünftiger, unbegreiflicher werden sie für uns.

Jeder Mensch lebt um seiner selbst willen, bedient sich seiner Willensfreiheit zur Erreichung seiner persönlichen Ziele und fühlt mit seinem ganzen Wesen, daß er diese oder jene Handlung im nächsten Augenblick tun oder lassen kann; aber sobald er sie tut, wird diese in einem bestimmten Zeitpunkt ausgeführte Handlung unabänderlich, wird ein Stück Eigentum der Geschichte, in der sie nicht die Bedeutung eines Resultates des freien Willens, sondern die Bedeutung eines vorherbestimmten Ereignisses hat.

Das Leben eines jeden Menschen hat zwei Seiten: ein persönliches Leben, welches um so freier ist, je abstrakter seine Interessen sind, und ein elementares Leben, ein Herdenleben, bei dem der Mensch unweigerlich die ihm vorgeschriebenen Gesetze erfüllt.

Der Mensch lebt mit Bewußtsein um seiner selbst willen; aber unbewußt dient er als Werkzeug zur Erreichung der historischen Ziele der ganzen Menschheit. Die vollendete Handlung ist unabänderlich, und ihre Wirkung, welche zeitlich mit den Wirkungen von Millionen Taten anderer Menschen zusammenfällt, erhält eine historische Bedeutung. Je höher der Mensch auf der sozialen Stufenleiter steht, mit je höhergestellten Menschen er Beziehungen hat, je mehr Macht er über andere Menschen besitzt, um so deutlicher ist zu erkennen, daß alle seine Handlungen vorausbestimmt und unvermeidbar sind.

»Das Herz des Königs ist in Gottes Hand.«1

Ein König ist ein Sklave der Geschichte.

Die Geschichte, d.h. das unbewußte, allgemeine Herdenleben der Menschheit, benutzt jeden Augenblick im Leben der Herrscher für sich als Werkzeug zur Erreichung ihrer Ziele.


Obgleich Napoleon im Jahre 1812 mehr als je der Ansicht war, daß es von ihm abhänge, ob er das Blut seiner Völker vergießen wolle oder nicht (wie Alexander in seinem letzten Brief an ihn schrieb), so war er doch nie in höherem Maß als damals jenen unübertretbaren Gesetzen unterworfen, die, während er nach freiem Willen zu handeln meinte, ihn zwangen, für die Allgemeinheit, für die Geschichte eben das zu tun, was sich vollziehen sollte.

Die Menschen des Westens bewegten sich nach Osten, um dort andere Menschen zu töten. Und nach dem Gesetz des Zusammenfallens der Ursachen schoben sich nun diesem Ereignis ganz von selbst Tausende kleiner Ursachen für diese Bewegung und für den Krieg als Stützen unter und trafen mit diesem Ereignis zusammen: die Vorwürfe wegen der Verletzung des Kontinentalsystems; und der Herzog von Oldenburg; und der Einmarsch der Truppen in Preußen, der nach Napoleons Meinung nur unternommen war, um einen bewaffneten Frieden zu erreichen; und die Kriegslust des französischen Kaisers und seine Gewöhnung an den Krieg, womit die Neigung seines Volkes zusammentraf; und der Reiz, den die Großartigkeit der Vorbereitungen ausübte; und die Kosten dieser Vorbereitungen und das Bedürfnis, sich Vorteile zu verschaffen, durch die diese Kosten wieder ausgeglichen werden könnten; und die verblendenden Ehrenbezeigungen in Dresden; und die diplomatischen Unterhandlungen, die nach der Anschauung der Zeitgenossen mit dem aufrichtigen Wunsch geführt wurden, den Frieden zu erhalten, und die doch nur das Ehrgefühl der einen und der andern Partei verletzten; und Milliarden anderer Ursachen, die sich dem Ereignis, das sich vollziehen sollte, als Stützen unterschoben und mit ihm zusammentrafen.

Wenn der Apfel reif geworden ist und fällt, warum fällt er? Weil er von der Erde angezogen wird? Weil sein Stengel dürr geworden ist? Weil sein Fleisch von der Sonne getrocknet ist? Weil er zu schwer geworden ist? Weil der Wind ihn schüttelt? Oder weil der unten stehende Knabe ihn essen möchte?

Nichts davon ist die Ursache, sondern alles zusammen, nur das Zusammentreffen der Bedingungen, unter denen sich in der lebenden Welt jedes organische, elementare Ereignis vollzieht. Und der Botaniker, welcher findet, daß der Apfel deshalb falle, weil sein Zellgewebe sich zersetze, und mehr dergleichen, hat ebenso recht wie das unten stehende Kind, welches sagt, der Apfel sei deswegen gefallen, weil es ihn habe essen wollen und um sein Fallen gebetet habe. Wer da sagt, Napoleon sei nach Moskau gezogen, weil er dazu Lust gehabt habe, und sei zugrunde gegangen, weil Alexander ihn habe zugrunde richten wollen, der hat genau ebenso recht und unrecht wie derjenige, welcher behauptet, ein Millionen Zentner schwerer Berg, der unterminiert wurde und zusammenstürzte, sei deswegen gefallen, weil der letzte Arbeiter unter ihm zum letztenmal mit der Hacke zugeschlagen habe. Bei historischen Ereignissen sind die sogenannten großen Männer nur die Etiketten, die dem Ereignis den Namen geben; sie stehen aber, ebenso wie die Etiketten, mit dem Ereignis selbst kaum in irgendeinem inneren Zusammenhang.

Jede ihrer Handlungen, die sie als das Resultat ihres freien Willens betrachten und um ihrer eigenen Personen willen getan zu haben meinen, ist im geschichtlichen Sinn nicht ein Akt des freien Willens, sondern steht mit dem ganzen Gang der Geschichte in Verbindung und ist von Ewigkeit her vorausbestimmt.

Fußnoten


1 Sprüche Sal. 21, 1.

Anmerkung des Übersetzers.


II

Am 29. Mai brach Napoleon von Dresden auf, wo er drei Wochen zugebracht hatte, umgeben von einem Hofstaat, der aus Fürsten, Herzögen, Königen und sogar einem Kaiser bestand. Vor seiner Abreise sagte Napoleon denjenigen Fürsten, Königen und dem Kaiser, die das verdienten, Liebenswürdigkeiten und schalt die Könige und Fürsten, mit denen er unzufrieden war, aus; er beschenkte die Kaiserin von Österreich mit Perlen und Brillanten, die ihm gehörten, d.h. die er anderen Königen weggenommen hatte, und nahm, wie sein Geschichtsschreiber berichtet, mit einer zärtlichen Umarmung Abschied von der Kaiserin Marie Luise (die für seine Gemahlin galt, obwohl eine andere Gemahlin in Paris zurückgeblieben war), welche über die Trennung tief betrübt war und kaum imstande schien, sie zu ertragen. Trotzdem die Diplomaten noch fest an die Möglichkeit glaubten, den Frieden zu erhalten, und eifrig auf dieses Ziel hinarbeiteten, und trotzdem Kaiser Napoleon selbst an Kaiser Alexander einen Brief schrieb, in welchem er ihn »Mein Herr Bruder« nannte und auf das bestimmteste versicherte, daß er den Krieg nicht wünsche und den Kaiser Alexander immer lieben und hochschätzen werde, reiste er doch zur Armee und erließ auf jeder Station neue Befehle, deren Zweck es war, die Bewegung der Armee von Westen nach Osten zu beschleunigen. Er fuhr, von Pagen, Adjutanten und einer Eskorte umgeben, in einem sechsspännigen Reisewagen auf der Route über Posen, Thorn, Danzig und Königsberg. In jeder dieser Städte empfingen ihn Tausende von Menschen in zitternder Furcht und schwärmerischer Begeisterung.

Die Armee bewegte sich von Westen nach Osten, und unter häufigem Pferdewechsel fuhr er ebendorthin. Am 10. Juni holte er die Armee ein und übernachtete im Wald von Wilkowiski, in einem für ihn vorbereiteten Quartier auf dem Gut eines polnischen Grafen.

Am folgenden Tag fuhr Napoleon, der Armee voraus, in seinem Wagen an den Niemen; dort legte er, um die Stelle des Übergangs zu besichtigen, eine polnische Uniform an und ritt ans Ufer.

Als er auf dem jenseitigen Ufer die Kosaken sah und die weitausgedehnten Steppen, in deren Mitte das »heilige« Moskau lag, die Hauptstadt jenes Reiches, das dem Skythenland glich, in welches einst Alexander von Mazedonien eingedrungen war, da gab Napoleon, für alle unerwartet und gegen alle strategischen und diplomatischen Erwägungen, den Befehl zum Vormarsch, und am folgenden Tag begannen seine Truppen den Niemen zu überschreiten.

Am 12. frühmorgens trat er aus dem Zelt, das an diesem Tag auf dem steilen linken Ufer des Niemen aufgeschlagen war, und betrachtete durch das Fernrohr, wie seine Truppen aus dem Wald von Wilkowiski herausströmten und sich nach den drei Brücken hin verteilten, die über den Niemen geschlagen waren. Die Soldaten wußten von der Anwesenheit des Kaisers, suchten ihn mit den Augen, und sobald sie auf der Anhöhe vor dem Zelt eine von dem Gefolge gesonderte Gestalt in Oberrock und Hut erblickten, warfen sie die Mützen in die Höhe und riefen: »Vive l’empereur!« So kamen sie, ein Regiment nach dem andern, ein unerschöpflicher Strom, aus dem gewaltigen Wald herausgeflutet, der sie bis dahin verborgen hatte, flossen nach den drei Brücken in drei Arme auseinander und zogen zum jenseitigen Ufer hinüber.

»Diesmal werden wir tüchtig vorwärtskommen. Oh, wenn er selbst sich der Sache annimmt, dann kommt Feuer dahinter … Wahrhaftigen Gottes, da ist er …! Es lebe der Kaiser …! Das sind da also die asiatischen Steppen! Ein häßliches Land, das muß man sagen … Auf Wiedersehen, Beauché; ich werde das schönste Palais in Moskau für dich reservieren … Auf Wiedersehen! Viel Glück … Hast du den Kaiser gesehen? Es lebe der Kaiser …! Wenn er mich zum Statthalter von Indien ernennt, Gérard, dann mache ich dich zum Minister von Kaschmir; darauf kannst du dich verlassen … Es lebe der Kaiser …! Diese Schufte von Kosaken, wie sie auskratzen! Es lebe der Kaiser! Da ist er! Siehst du ihn? Ich habe ihn zweimal so nah gesehen, wie dich jetzt. Der kleine Korporal … Ich habe gesehen, wie er einem von den alten Soldaten das Kreuz der Ehrenlegion gab … Es lebe der Kaiser …!« So redeten alte und junge Soldaten miteinander, Leute von ganz verschiedenem Charakter und ganz verschiedener sozialer Stellung. Auf den Gesichtern aller dieser Leute lag derselbe gemeinsame Ausdruck, der Ausdruck der Freude über den Beginn des längst erwarteten Feldzuges, sowie der Ausdruck der Begeisterung und Hingebung für den Mann im grauen Rock, der da auf der Anhöhe stand.

Am 13. Juni ließ sich Napoleon ein kleines arabisches Pferd von reiner Rasse bringen, stieg auf und ritt im Galopp nach einer der Brücken über den Niemen, fortwährend umtost von dem begeisterten Geschrei, das er offenbar nur deswegen ertrug, weil er es den Soldaten nicht gut verbieten konnte, durch dieses Geschrei ihre Liebe zu ihm zum Ausdruck zu bringen; aber dieses Geschrei, das ihn überall begleitete, belästigte ihn und störte ihn in seinen militärischen Überlegungen, die ihn seit seiner Ankunft beim Heer beschäftigten. Er ritt über eine der auf Kähnen schaukelnden Brücken nach dem jenseitigen Ufer, machte dann eine scharfe Wendung nach links und galoppierte in der Richtung auf Kowno weiter, von berittenen Gardejägern eskortiert, die vor ihm hersprengten, um ihm einen Weg durch die Truppen zu bahnen, und vor Begeisterung und Glückseligkeit sich kaum zu lassen wußten. Als er an die breite Wilija gelangt war, machte er neben einem polnischen Ulanenregiment halt, das am Ufer stand.

»Vivat!« schrien mit gleicher Begeisterung auch die Polen, stürzten aus der Front vorwärts und zerdrückten einander fast, um ihn zu sehen.

Napoleon betrachtete den Fluß, stieg vom Pferd und setzte sich auf einen Balken, der am Ufer lag. Auf ein stummes Zeichen wurde ihm ein Fernrohr gereicht; er legte es auf die Schulter eines herbeigeeilten, glückseligen Pagen und musterte nun das jenseitige Ufer. Dann vertiefte er sich in das Studium einer über mehrere Balken ausgebreiteten Landkarte. Ohne den Kopf in die Höhe zu heben, sagte er etwas, und zwei seiner Adjutanten sprengten zu den polnischen Ulanen hin.

»Was hat er gesagt? Was hat er gesagt?« ging ein Fragen durch die Reihen der polnischen Ulanen, als der eine Adjutant zum Regiment gelangt war.

Napoleon hatte befohlen, eine Furt zu suchen und auf das andere Ufer hinüberzugehen. Der polnische Ulanenoberst, ein schöner alter Mann, der vor Aufregung ganz rot geworden war und ins Stottern geriet, fragte den Adjutanten, ob es ihm wohl erlaubt werden würde, mit seinen Ulanen, ohne erst eine Furt zu suchen, den Fluß zu durchschwimmen. Mit sichtlicher Furcht vor einer abschlägigen Antwort, wie ein Knabe, der um die Erlaubnis bittet, ein Pferd besteigen zu dürfen, bat er um die Erlaubnis, vor den Augen des Kaisers den Fluß schwimmend passieren zu dürfen. Der Adjutant erwiderte, der Kaiser werde wahrscheinlich über diesen allerdings unnötigen Eifer nicht ungehalten sein.

Sowie der Adjutant das gesagt hatte, hob der alte schnurrbärtige Offizier mit glückstrahlendem Gesicht und blitzenden Augen seinen Säbel in die Höhe, rief »Vivat!«, befahl den Ulanen, ihm zu folgen, gab seinem Pferd die Sporen und sprengte zum Fluß hin. Grimmig trieb er das sich unter ihm sträubende Tier an, setzte laut klatschend ins Wasser und nahm seine Richtung gerade nach der tiefen Strömung hin. Die Ulaneneskadronen jagten hinter ihm her und ritten ebenfalls in den Fluß hinein. In der Mitte des Flusses war das Wasser kalt und die Strömung sehr stark. Die Ulanen klammerten sich aneinander und glitten von den Pferden. Mehrere Pferde ertranken; es ertranken auch eine Anzahl von Menschen; die übrigen versuchten zu schwimmen, die einen im Sattel sitzend, die andern sich an der Mähne haltend. Sie bemühten sich, vorwärts nach dem jenseitigen Ufer zu schwimmen, und obwohl die Breite des Flusses etwa achthundert Schritt betrug, waren sie lediglich von einem Gefühl des Stolzes darüber erfüllt, daß sie in diesem Fluß unter den Augen jenes Mannes schwammen und ertranken, der da auf dem Balken saß und nicht einmal danach hinsah, was sie taten. Als der zurückgekehrte Adjutant, einen geeigneten Augenblick benutzend, sich erlaubte, die Aufmerksamkeit des Kaisers auf die begeisterte Ergebenheit der Polen für seine Person zu lenken, stand der kleine Mann im grauen Rock auf, rief Berthier zu sich und begann mit ihm am Ufer auf und ab zu gehen, indem er ihm Befehle erteilte und mitunter verdrießlich zu den ertrinkenden Ulanen hinblickte, die seine Aufmerksamkeit ablenkten.

Es war für ihn keine neue Wahrnehmung, daß seine Gegenwart an allen Enden der Welt, von Afrika bis zu den russischen Steppen, die Menschen in Begeisterung versetzte und zu wahnsinniger Selbstaufopferung hinriß. Er ließ sich sein Pferd bringen und ritt wieder nach seinem Quartier.

Es waren trotz der zu Hilfe geschickten Kähne etwa vierzig Ulanen im Fluß ertrunken. Die Mehrzahl der Überlebenden war an das Ufer zurückgetrieben worden, von dem sie losgeschwommen waren. Der Oberst und einige seiner Leute hatten den Fluß durchschwommen und kletterten mühsam am jenseitigen Ufer heraus. Aber kaum waren sie in ihren triefend nassen Kleidern wieder auf festem Boden, als sie »Vivat!« schrien und begeistert nach der Stelle hinblickten, wo Napoleon gestanden hatte, jetzt aber nicht mehr stand; sie fühlten sich in diesem Augenblick hochbeglückt.

Am Abend erließ Napoleon zwei Befehle: erstens, es sollten möglichst schnell die bereits angefertigten falschen russischen Banknoten herbeigeschafft werden, damit sie in Rußland in Umlauf gesetzt werden könnten, und zweitens, es solle ein Sachse erschossen werden, von dem man einen Brief mit Nachrichten über die Dispositionen bei der französischen Armee aufgefangen hatte. Und zwischen diesen Befehlen gab er noch einen dritten: der polnische Oberst, der sich ohne Not in den Fluß gestürzt hatte, solle in die Ehrenlegion aufgenommen werden, deren Oberhaupt Napoleon selbst war.

Quos deus vult perdere, dementat. Wen Gott verderben will, den verblendet er.

III


Unterdessen hatte sich der russische Kaiser schon über einen Monat lang in Wilna aufgehalten, Truppenschauen abgehalten und Manöver veranstaltet. Noch war nichts für den Krieg bereit, den doch alle erwarteten und zu dessen Vorbereitung der Kaiser aus Petersburg gekommen war. Ein allgemeiner Operationsplan war nicht vorhanden. Das Schwanken, welcher von all den vorgeschlagenen Plänen denn nun angenommen werden sollte, war nach der einmonatigen Anwesenheit des Kaisers im Hauptquartier nur noch ärger geworden. Von den drei Armeen hatte eine jede ihren besonderen Oberkommandierenden; aber einen gemeinsamen Oberfeldherrn für alle Armeen gab es nicht, und der Kaiser selbst wollte diese Stellung nicht übernehmen.

Je länger der Kaiser in Wilna verweilte, um so weniger bereitete man sich auf den Krieg vor, den zu erwarten man schon müde geworden war. Alle Bemühungen der Personen, die den Kaiser umgaben, schienen lediglich darauf gerichtet zu sein, dem Kaiser einen angenehmen Zeitvertreib zu verschaffen, damit er den bevorstehenden Krieg vergäße.

Nach vielen Bällen und anderen Festlichkeiten, die bei den polnischen Magnaten, bei den Herren vom Hoflager und beim Kaiser selbst stattgefunden hatten, kam im Juni einer der polnischen Generaladjutanten auf den Gedanken, die Gesamtheit der Generaladjutanten solle dem Kaiser ein Diner und einen Ball geben. Dieser Gedanke fand bei allen freudige Aufnahme. Der Kaiser erklärte seine Einwilligung. Die Generaladjutanten brachten durch Subskription das erforderliche Geld zusammen. Eine Dame, von der sich annehmen ließ, daß sie dem Kaiser besonders angenehm sein werde, wurde aufgefordert, auf dem Ball die Obliegenheiten der Wirtin zu übernehmen. Graf Bennigsen, der im Gouvernement Wilna begütert war, bot sein vor der Stadt gelegenes Landhaus für dieses Fest an, und so wurde denn auf den 12. Juni Diner, Ball, Gondelfahrt und Feuerwerk in Sakret, dem Landsitz des Grafen Bennigsen, angesetzt.

An eben dem Tag, an welchem Napoleon Befehl zum Übergang über den Niemen gab und seine Vorhut die russische Grenze überschritt und die Kosaken zurückdrängte, brachte Alexander den Abend in dem Landhaus des Grafen Bennigsen zu, auf dem Ball, den ihm seine Generaladjutanten gaben.

Es war ein heiteres, glänzendes Fest; Sachkundige versicherten, es seien selten so viele schöne Frauen auf einem Platz versammelt gewesen. Unter den russischen Damen, die dem Kaiser von Petersburg nach Wilna gefolgt waren und an diesem Ball teilnahmen, befand sich auch die Gräfin Besuchowa, die durch ihre üppige (man nannte dies: russische) Schönheit die schlanken polnischen Damen in den Schatten stellte. Sie erregte Aufmerksamkeit, und der Kaiser würdigte sie eines Tanzes.

Boris Drubezkoi war gleichfalls auf diesem Ball, als Garçon, wie er sich ausdrückte, da er seine Frau in Moskau gelassen hatte; obgleich er nicht die Stelle eines Generaladjutanten bekleidete, hatte er sich doch mit einer beträchtlichen Geldsumme an der Subskription für den Ball beteiligt. Boris war jetzt ein reicher Mann, der in der allgemeinen Wertschätzung einen hohen Platz einnahm und nicht mehr Protektion suchte, sondern mit den vornehmsten seiner Kameraden auf gleichem Fuß verkehrte. Er hatte Helene, nachdem er sie lange Zeit nicht gesehen hatte, hier in Wilna wiedergetroffen und das Vergangene nicht erwähnt; aber da Helene sich der Gunst einer sehr hohen Persönlichkeit erfreute und Boris sich unlängst verheiratet hatte, so verkehrten sie miteinander wie ein Paar alte, gute Freunde.

Um Mitternacht wurde noch getanzt. Helene, die keinen ihrer würdigen Kavalier gefunden hatte, forderte selbst Boris zur Mazurka auf. Sie saßen als drittes Paar da. Boris betrachtete kaltblütig Helenes glänzende, nackte Schultern, die sich aus dem dunklen, von Goldfäden durchzogenen Gazekleid heraushoben, erzählte Geschichtchen von alten Bekannten und hörte dabei, ohne daß er sich dessen selbst bewußt geworden wäre und ohne daß andere es merkten, keine Sekunde lang auf, den in demselben Saal anwesenden Kaiser zu beobachten. Der Kaiser tanzte nicht; er stand an der Tür und hielt bald diesen, bald jenen mit ein paar freundlichen Worten an, wie nur er sie zu sprechen verstand.

Als die Mazurka begann, sah Boris, daß der Generaladjutant Balaschow, einer der Vertrauten des Kaisers, zu ihm herantrat und wider die Hofetikette in der Nähe des Kaisers stehenblieb, der mit einer polnischen Dame im Gespräch begriffen war. Nachdem er noch eine kleine Weile mit der Dame gesprochen hatte, richtete der Kaiser einen fragenden Blick auf Balaschow, und da er offenbar merkte, daß dieser nur aus wichtigem Grund so handelte, so nickte er der Dame leicht zu und wandte sich zu ihm. Kaum hatte Balaschow angefangen zu reden, als sich Erstaunen auf dem Gesicht des Kaisers malte. Er faßte Balaschow unter den Arm und ging mit ihm quer durch den Saal, wobei er, ohne es zu beachten, einen etwa neun Schritte breiten freien Weg herstellte, indem die Anwesenden vor ihm nach beiden Seiten zurücktraten. Dem achtsamen Boris fiel es auf, was Araktschejew für ein aufgeregtes Gesicht machte, als der Kaiser mit Balaschow durch den Saal ging. Nach dem Kaiser hinschielend und laut durch seine rote Nase schnaufend, drängte sich Araktschejew durch die Menge, als ob er erwartete, daß der Kaiser sich zu ihm wenden werde. Boris durchschaute es, daß Araktschejew auf Balaschow neidisch war und sich darüber ärgerte, daß irgendeine, augenscheinlich wichtige Nachricht durch einen andern als durch ihn selbst dem Kaiser überbracht wurde.

Aber der Kaiser ging mit Balaschow vorüber, ohne Araktschejew zu bemerken, und begab sich durch die Ausgangstür in den illuminierten Garten. Araktschejew, den Degen mit der Hand haltend und zornig um sich blickend, ging in einer Entfernung von zwanzig Schritten hinter ihnen her.

Während Boris fortfuhr, die einzelnen Touren der Mazurka auszuführen, quälte ihn unablässig der Gedanke, was für eine Neuigkeit Balaschow wohl gebracht haben möge, und auf welche Weise er selbst sie früher als andere erfahren könne.

In einer Tour, wo er eine Dame zu wählen hatte, flüsterte er seiner Tänzerin Helene zu, er wolle die Gräfin Potocka holen, die ja wohl nach der Veranda hinausgegangen sei, und über das Parkett hingleitend, lief er bis in die nach dem Garten führende Tür; als er dort den Kaiser gewahrte, der mit Balaschow, auf dem Rückweg in den Saal begriffen, auf die Terrasse kam, blieb er stehen. Der Kaiser näherte sich mit Balaschow der Tür. Boris drückte sich eilig, als wenn er nicht mehr Zeit habe sich zu entfernen, an den Türpfosten und neigte ehrerbietig den Kopf.

Der Kaiser, der mit der Erregung eines persönlich Beleidigten sprach, beendete das Gespräch mit folgenden Worten:

»Ohne Kriegserklärung in Rußland einzurücken! Ich werde erst dann Frieden schließen, wenn kein bewaffneter Feind mehr auf meinem Boden steht.«

Boris hatte den Eindruck, daß es dem Kaiser Vergnügen machte, diese Worte auszusprechen: er war zufrieden mit der Form, die er gefunden hatte, um seinen Gedanken auszudrücken; aber er war unzufrieden darüber, daß Boris diese Worte gehört hatte.

»Es darf niemand davon wissen!« fügte der Kaiser mit zusammengezogenen Brauen hinzu.

Boris verstand, daß sich diese Bemerkung auf ihn bezog; er schloß die Augen und neigte leicht den Kopf. Der Kaiser ging wieder in den Saal und verweilte noch ungefähr eine halbe Stunde auf dem Ball.

Boris war der erste, der die Nachricht von dem Übergang der französischen Truppen über den Niemen gehört hatte, und er verdankte diesem Umstand die Möglichkeit, einigen hochgestellten Personen zu zeigen, daß ihm vieles bekannt werde, was anderen verborgen bleibe; so gelang es ihm, in der Meinung dieser Personen noch höher zu steigen.


Die Nachricht von dem Übergang der Franzosen über den Niemen wirkte nach einem Monat vergeblichen Wartens ganz besonders überraschend, und diese Wirkung wurde noch dadurch gesteigert, daß die Nachricht gerade auf einem Ball eintraf. Der Kaiser hatte im ersten Augenblick nach Empfang dieser Nachricht, in dem frischen Gefühl der Empörung über die ihm zugefügte Beleidigung, jenen nachher berühmt gewordenen Ausdruck gefunden, der ihm selbst sehr gefiel und vollständig seine Empfindung wiedergab. Als er vom Ball nach Hause zurückgekehrt war, ließ der Kaiser um zwei Uhr nachts den Staatssekretär Schischkow holen und befahl ihm, einen Befehl an die Truppen und einen Erlaß an den Feldmarschall Fürsten Saltykow aufzusetzen; in diesem Erlaß sollten (das forderte der Kaiser unbedingt) die Worte angebracht werden, er werde nicht Frieden schließen, solange auch nur noch ein bewaffneter Franzose auf russischem Boden stehe.

Am andern Tag wurde folgender Brief an Napoleon geschrieben:


»Mein Herr Bruder! Ich habe gestern erfahren, daß trotz der Gewissenhaftigkeit, mit der ich meine Verpflichtungen Euer Majestät gegenüber erfüllt habe, Ihre Truppen die Grenzen Rußlands überschritten haben, und empfange soeben aus Petersburg eine Note, in welcher Graf Lauriston mir als Grund dieses Angriffs angibt, Euer Majestät hätten sich seit dem Augenblick, wo Fürst Kurakin seine Pässe verlangt habe, als im Kriegszustand mit mir befindlich betrachtet. Die Gründe, auf welche der Herzog von Bassano seine Weigerung, sie ihm auszuliefern, gestützt hat, hätten mich niemals zu der Annahme kommen lassen, daß dieser Schritt meines Gesandten jemals zum Vorwand eines Angriffs dienen könnte. In der Tat ist dieser Gesandte, wie er das auch selbst erklärt hat, niemals dazu ermächtigt worden, und sobald ich davon Kenntnis erlangt hatte, habe ich ihn unverzüglich wissen lassen, wie sehr ich sein Verhalten mißbilligte, und ihm befohlen, auf seinem Posten zu bleiben. Wenn Euer Majestät nicht die Absicht haben, das Blut unserer Völker wegen eines derartigen Mißverständnisses zu vergießen, und einwilligen, Ihre Truppen aus dem russischen Gebiet zurückzuziehen, so werde ich das Vorgefallene als ungeschehen betrachten, und es wird noch eine Verständigung zwischen uns möglich sein. Im entgegengesetzten Fall, Euer Majestät, werde ich mich gezwungen sehen, einen Angriff zurückzuweisen, der meinerseits durch nichts provoziert worden ist. Noch hängt es von Euer Majestät ab, der Menschheit die Leiden eines neuen Krieges zu ersparen.

Ich bin usw.

(gez.) Alexander.«

IV


In der Nacht vom 13. zum 14. Juni um zwei Uhr ließ der Kaiser Balaschow zu sich kommen, las ihm seinen Brief an Napoleon vor und befahl ihm, diesen Brief zu überbringen und dem französischen Kaiser persönlich einzuhändigen. Während er Balaschow abfertigte, wiederholte der Kaiser ihm von neuem die Worte, daß er nicht Frieden schließen werde, solange auch nur noch ein bewaffneter Feind auf russischem Boden stehe, und befahl ihm, unter allen Umständen diese Worte dem Kaiser Napoleon mitzuteilen. In den Brief an Napoleon hatte Alexander diese Worte nicht aufgenommen, weil er mit dem ihm eigenen Takt fühlte, daß die Mitteilung dieser Worte unangebracht sei in einem Augenblick, wo der letzte Versuch, den Frieden zu erhalten, unternommen werde; aber er befahl Balaschow ausdrücklich, sie dem Kaiser Napoleon mündlich zur Kenntnis zu bringen.

Balaschow, der in der Nacht, von einem Trompeter und zwei Kosaken begleitet, ausgeritten war, stieß um die Morgendämmerung in dem Dorf Rykonty auf die französischen Vorposten diesseits des Niemen. Er wurde von französischen Kavalleriewachtposten angehalten. Ein französischer Husarenunteroffizier, in roter Uniform, mit zottiger Fellmütze, rief den heranreitenden Balaschow an und befahl ihm zu halten. Balaschow hielt nicht sofort, sondern ritt im Schritt auf der Landstraße weiter.

Der Unteroffizier zog die Stirn kraus, brummte ein Schimpfwort und kam so nahe an Balaschow herangeritten, daß die Pferde Brust an Brust standen. An den Säbel fassend, schrie er den russischen General grob an und fragte ihn, ob er denn taub sei, daß er nicht höre, was man zu ihm sage. Balaschow nannte seinen Namen und Rang. Der Unteroffizier schickte einen Soldaten zu seinem Offizier.

Ohne Balaschow weiter zu beachten, begann der Unteroffizier mit seinen Kameraden über seine Regimentsangelegenheiten zu sprechen und sah den russischen General gar nicht an.

Es war für Balaschow eine ganz eigentümliche Empfindung, nachdem er sich so lange in nächster Nähe der höchsten Autorität und Machtfülle bewegt hatte, und nachdem er noch vor drei Stunden eine Unterredung mit dem Kaiser gehabt hatte, und da er überhaupt in seiner dienstlichen Stellung gewohnt war, respektiert zu werden – es war für ihn eine ganz eigentümliche Empfindung, sich hier auf russischem Boden in dieser feindlichen und vor allen Dingen respektlosen Art seitens der rohen Gewalt behandelt zu sehen.

Die Sonne begann eben aus Wolken aufzusteigen; in der Luft spürte man den frischen Tau; auf dem Weg wurde aus dem Dorf eine Herde getrieben. Auf den Feldern stiegen die Lerchen eine nach der andern, wie Bläschen im Wasser, trillernd in die Höhe.

Balaschow blickte um sich, während er auf die Ankunft des Offiziers aus dem Dorf wartete. Die russischen Kosaken und der Trompeter auf der einen, die französischen Husaren auf der andern Seite blickten einander ab und zu schweigend an.

Der französische Husarenoberst, der augenscheinlich eben erst aus dem Bett aufgestanden war, kam auf einem schönen, wohlgenährten Grauschimmel, von zwei Husaren begleitet, aus dem Dorf herausgeritten. Der Offizier, die Soldaten und ihre Pferde machten einen stattlichen und eleganten Eindruck.

Es war noch die Anfangszeit des Feldzuges, wo sich die Truppen noch in einem Zustand der Korrektheit befanden, der beinahe dem Zustand bei einer Truppenschau im Frieden glich, nur mit einer leisen Färbung schmucker Kriegsbereitschaft im Anzug, sowie in geistiger Hinsicht mit einer Beimischung von Heiterkeit und Unternehmungslust, Empfindungen, die stets den Anfang von Feldzügen begleiten.

Der französische Oberst unterdrückte nur mit Mühe das Gähnen, war aber höflich und hatte offenbar Verständnis für Balaschows Bedeutung. Er führte ihn an seinen Soldaten vorbei hinter die Vorpostenkette und teilte ihm mit, sein Wunsch, dem Kaiser vorgestellt zu werden, werde wahrscheinlich sofort erfüllt werden, da sich das kaiserliche Quartier, soviel er wisse, in der Nähe befinde.

Sie ritten durch das Dorf Rykonty, vorbei an den Reihen angebundener französischer Husarenpferde, an Schildwachen und Soldaten, die ihrem Obersten die Honneurs erwiesen und neugierig die russische Uniform betrachteten; so gelangten sie hindurch nach der andern Seite des Dorfes. Nach der Angabe des Obersten befand sich in einer Entfernung von zwei Kilometern der Divisionschef; dieser werde Balaschow empfangen und an den Ort seiner Bestimmung führen.

Die Sonne war schon in die Höhe gestiegen und glänzte heiter auf dem hellen Grün.

Kaum waren sie hinter der Schenke eine Anhöhe hinangeritten, als auf der andern Seite vom Fuß der Anhöhe her ein ihnen entgegenkommender Reitertrupp sichtbar wurde. Voran ritt auf einem Rappen, dessen Geschirr in der Sonne glänzte, ein Mann von hoher Statur, mit einem Federhut, schwarzem, lockigem Haar, das ihm bis auf die Schultern hing, in einem roten Mantel, die langen Beine nach vorn gestreckt, wie die Franzosen zu reiten pflegen. Dieser Mann ritt Balaschow im Galopp entgegen: sein Federbusch und Mantel flatterten im Wind, seine Edelsteine und Tressen blitzten in der hellen Junisonne.

Balaschow war nur noch zwei Pferdelängen von dem Reiter mit den Armbändern, Federn, Halsketten und Goldstickereien entfernt, der mit feierlicher theatralischer Miene auf ihn zugesprengt kam, als Julner, der französische Oberst, ihm respektvoll zuflüsterte: »Der König von Neapel!« Und es war wirklich Murat, der jetzt König von Neapel genannt wurde. Es war völlig unverständlich, warum er König von Neapel sein sollte; aber er wurde so genannt, und er selbst war von dieser seiner hohen Stellung überzeugt und hatte sich darum eine noch feierlichere und wichtigere Miene zu eigen gemacht als früher. Er war so fest davon überzeugt, tatsächlich König von Neapel zu sein, daß, als er am Tag vor seiner Abreise aus Neapel mit seiner Frau in den Straßen Neapels spazierenging und einige Italiener in seiner Nähe schrien: »Es lebe der König!«, er sich mit trübem Lächeln zu seiner Gemahlin wandte und sagte: »Die Unglücklichen, sie wissen nicht, daß ich sie morgen verlasse!«

Aber obwohl er fest davon überzeugt war, König von Neapel zu sein, und den Kummer seiner Untertanen bedauerte, die er verließ, hatte er doch neuerdings, nachdem ihm befohlen war, wieder in den Militärdienst einzutreten, und besonders nach der Begegnung mit Napoleon in Danzig, wo sein hoher Schwager zu ihm gesagt hatte: »Ich habe Sie zum König gemacht, damit Sie nach meiner Weise regieren und nicht nach der Ihrigen«, freudig das ihm wohlbekannte Soldatenhandwerk wiederaufgenommen. Es ging ihm wie einem Pferd, das gute Nahrung gehabt hat, aber nicht zu fett geworden ist: nun er sich wieder im Geschirr fühlte, machte er in der Gabeldeichsel vergnügte Sprünge; er putzte sich so bunt und kostbar wie nur möglich heraus und galoppierte fröhlich und zufrieden, ohne selbst zu wissen wohin und wozu, auf den Landstraßen Polens einher.

Als er den russischen General erblickte, warf er mit einer großartigen Gebärde, wie sie einem König wohlsteht, den Kopf mit dem bis auf die Schultern herabwallenden Haar zurück und blickte fragend den französischen Obersten an. Der Oberst teilte Seiner Majestät ehrfurchtsvoll mit, wer Balaschow sei und zu welchem Zweck er gekommen sei; aber den Familiennamen desselben vermochte er nicht ordentlich auszusprechen.

»De Bal-machève!« sagte der König, indem er mit energischer Entschlossenheit die Schwierigkeit überwand, die der Name dem Obersten bereitete. »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, General«, fügte er mit einer herrschermäßigen, gnädigen Handbewegung hinzu.

Aber sobald der König laut und schnell zu sprechen begann, verließ ihn sofort seine gesamte königliche Würde, und er ging, ohne es selbst zu merken, in den Ton gutmütiger Vertraulichkeit über. Er legte seine Hand auf den Widerrist des Pferdes Balaschows.

»Nun, General, wir bekommen Krieg, wie es scheint«, sagte er, wie wenn er eine Lage bedauerte, über die ihm kein Urteil zustände.

»Sire«, antwortete Balaschow, »der Kaiser, mein Gebieter, wünscht den Krieg ganz und gar nicht, wie Euer Majestät ja sehen.« Während des ganzen Gespräches verwendete Balaschow den Titel »Euer Majestät« in allen Kasus, die es nur gibt; diese stete Wiederholung des Titels hatte zwar unvermeidlich etwas Geziertes, verfehlte aber bei jemandem, dem dieser Titel noch etwas Neues war, ihre Wirkung nicht.

Murats Gesicht strahlte vor törichter Befriedigung, während er anhörte, was Balaschow ihm vortrug. Aber Königtum legt Verpflichtungen auf: er fühlte die Notwendigkeit, mit dem Gesandten Alexanders über Staatsangelegenheiten wie ein König und wie ein Verbündeter Napoleons zu sprechen. Er stieg vom Pferd, faßte Balaschow unter den Arm, entfernte sich mit ihm einige Schritte von der ehrfurchtsvoll wartenden Suite, begann mit ihm auf und ab zu gehen und versuchte bedeutsame Äußerungen zu tun. Er erinnerte daran, daß Kaiser Napoleon sich durch die Forderung, er solle seine Truppen aus Preußen herausführen, beleidigt gefühlt habe, namentlich da diese Forderung allgemein bekannt geworden und dadurch die Würde Frankreichs verletzt worden sei.

Balaschow erwiderte, daß in dieser Forderung nichts Kränkendes liegen könne, da … Aber Murat unterbrach ihn.

»Also Sie halten den Kaiser Alexander nicht für den Anstifter des Krieges?« fragte er plötzlich mit einem gutmütig dummen Lächeln.

Balaschow setzte auseinander, weswegen er allerdings annehmen müsse, daß der Urheber des Krieges Napoleon sei.

»Ach, mein lieber General«, unterbrach ihn Murat wieder, »ich wünsche von ganzem Herzen, daß die Kaiser sich miteinander einigen möchten, und daß der gegen meinen Wunsch begonnene Krieg sobald als möglich sein Ende finden möge.« Er sprach in dem Ton, in welchem Diener zu sprechen pflegen, die, trotz des Zankes der Herrschaften unter sich, miteinander gute Freunde zu bleiben wünschen.

Und nun ging er dazu über, sich nach dem Großfürsten zu erkundigen, nach seiner Gesundheit, und gedachte der Zeit in Neapel, die er so lustig und vergnügt mit ihm verlebt habe. Dann auf einmal richtete Murat, wie wenn ihm plötzlich seine königliche Würde wieder einfiele, sich feierlich gerade, nahm die Haltung an, in der er bei der Krönung dagestanden hatte, und sagte, indem er mit der rechten Hand eine Gebärde der Entlassung machte: »Aber ich will Sie nicht länger aufhalten, General; ich wünsche Ihrer Mission einen guten Erfolg!« Und mit seinem wallenden, roten, gestickten Mantel, dem flatternden Federbusch und den glänzenden Juwelen trat er wieder zu seiner Suite hin, die respektvoll auf ihn gewartet hatte.

Balaschow ritt weiter und nahm nach Murats Worten an, daß er sehr bald dem Kaiser Napoleon selbst werde vorgestellt werden. Aber statt daß er zu Napoleon vorgedrungen wäre, wurde er beim nächsten Dorf von den Infanterieposten des Davoutschen Korps wieder ebenso angehalten, wie es in der Vorpostenkette geschehen war, und ein herbeigerufener Adjutant des Korpskommandeurs begleitete ihn in das Dorf zum Marschall Davout.

V


Davout war der Araktschejew des Kaisers Napoleon – kein Feigling wie Araktschejew, aber ebenso diensteifrig und hart und ebensowenig wie jener imstande, seine Anhänglichkeit an den Herrscher anders als durch Härte und Grausamkeit zum Ausdruck zu bringen.

In dem Mechanismus des Staatswesens sind solche Menschen ebenso notwendig wie die Wölfe in der gesamten Einrichtung der Natur; auch sie sind immer vorhanden, kommen immer wieder zum Vorschein und behaupten sich, wie ungehörig es auch scheinen mag, daß sie überhaupt existieren und sich der obersten Regierungsgewalt so nahe befinden. Nur aus dieser Notwendigkeit läßt es sich erklären, daß Araktschejew, ein Mann von solcher Grausamkeit, daß er eigenhändig den Grenadieren die Schnurrbärte ausriß, dabei von so schwachen Nerven, daß er keine Gefahr ertragen konnte, ein Mensch ohne Bildung und ohne höfische Gewandtheit, dennoch so lange bei dem ritterlich edlen, zartfühlenden Alexander einen solchen Einfluß behaupten konnte.

Balaschow traf den Marschall Davout in einem Schuppen, der zu einem Bauernhaus gehörte; der Marschall saß auf einem kleinen Faß und war mit schriftlichen Arbeiten beschäftigt: er revidierte Rechnungen. Ein Adjutant stand neben ihm. Es wäre mit Leichtigkeit möglich gewesen, ein besseres Unterkommen zu finden; aber der Marschall Davout war einer von den Menschen, die sich absichtlich in die verdrießlichsten Lebensverhältnisse versetzen, um ein Recht zu haben verdrießlich zu sein. Und zu demselben Zweck arbeiten solche Menschen auch immer eilig und hartnäckig. »Wie kann ich hier an die freundliche Seite des menschlichen Lebens denken, wenn ich, wie Sie sehen, in einem schmutzigen Schuppen auf einem Faß sitzen und arbeiten muß«, sagte seine Miene. Das größte Vergnügen und geradezu ein Bedürfnis ist es für solche Leute, wenn sie mit einem lebensfrohen Menschen zusammenkommen, diesem ihre eigene mürrische, eigensinnige Tätigkeit vorwurfsvoll vor Augen zu halten. Dieses Vergnügen machte sich Davout, als Balaschow zu ihm geführt wurde. Er vertiefte sich noch mehr in seine Arbeit, als der russische General zu ihm hereingeführt wurde, warf zwar durch die Brille einen Blick nach Balaschows Gesicht, das unter der Einwirkung des schönen Morgens und des Gesprächs mit Murat einen frischen, lebhaften Ausdruck zeigte, stand aber nicht auf und rührte sich nicht einmal, sondern zog die Augenbrauen noch finsterer zusammen und lächelte grimmig.

Als er dann auf Balaschows Gesicht den üblen Eindruck wahrnahm, den ein solcher Empfang bei diesem hervorrief, hob er den Kopf in die Höhe und fragte kalt, was er wünsche.

In der Voraussetzung, dieser Empfang könne ihm nur deswegen bereitet werden, weil Davout nicht wisse, daß er Generaladjutant des Kaisers Alexander und sogar dessen Repräsentant dem Kaiser Napoleon gegenüber sei, beeilte sich Balaschow, den Marschall von seinem Stand und seiner bedeutsamen Mission in Kenntnis zu setzen. Aber gegen seine Erwartung wurde Davout, als er diese Mitteilungen hörte, nur noch mürrischer und gröber.

»Wo haben Sie denn Ihren Brief?« fragte er. »Geben Sie ihn her, ich werde ihn dem Kaiser schicken.«

Balaschow erwiderte, er habe Befehl, den Brief persönlich dem Kaiser selbst zu übergeben.

»Die Befehle Ihres Kaisers werden bei Ihrem Heer befolgt; aber hier«, entgegnete Davout, »haben Sie zu tun, was Ihnen gesagt wird.«

Und als ob er den russischen General seine Abhängigkeit von der rohen Gewalt noch mehr empfinden lassen wollte, schickte Davout seinen Adjutanten weg, um den diensttuenden Offizier zu rufen.

Balaschow zog das Kuvert hervor, in dem das Schreiben des Kaisers enthalten war, und legte es auf den Tisch; dieser Tisch bestand aus einer auf zwei Tonnen gelegten Tür, an der noch die ausgerissenen Haspen saßen. Davout nahm den Brief und las die Adresse.

»Sie sind vollkommen berechtigt, mir Achtung zu bezeigen oder zu versagen, wie es Ihnen gut scheint«, sagte Balaschow. »Aber gestatten Sie mir die Bemerkung, daß ich die Ehre habe, die Stellung eines Generaladjutanten Seiner Majestät zu bekleiden.«

Davout blickte ihn schweigend an, und es machte ihm offenbar Vergnügen, auf Balaschows Gesicht eine gewisse Erregung und Verstimmung wahrzunehmen.

»Was Ihnen gebührt, wird Ihnen nicht vorenthalten werden«, antwortete er, schob den Brief in die Tasche und verließ den Schuppen.

Gleich darauf erschien der diensttuende Adjutant des Marschalls, ein Herr de Castré, und führte Balaschow in das für ihn bestimmte Quartier.

Zu Mittag speiste Balaschow an diesem Tag mit dem Marschall in dem Schuppen, an jener über die Fässer gelegten Brettertür.

Am andern Tag ritt Davout frühmorgens weg. Vorher ließ er Balaschow zu sich rufen und sagte ihm mit großem Nachdruck, er ersuche ihn, hierzubleiben und, wenn dazu Befehl kommen sollte, mit der Bagage weiterzugehen und mit niemandem als mit Herrn de Castré zu sprechen.

Nach vier Tagen der Einsamkeit, der Langeweile und des peinlichen Gefühls der Abhängigkeit und Machtlosigkeit, das für ihn deshalb besonders drückend war, weil er ganz vor kurzem selbst zu den Vielvermögenden gehört hatte, und nach mehreren Märschen mit der Bagage des Marschalls und den französischen Truppen, die die ganze Gegend anfüllten, wurde Balaschow endlich nach Wilna gebracht, das jetzt von den Franzosen besetzt war, und zwar unter demselben Schlagbaum hindurch, durch den er vier Tage vorher ausgeritten war.

Am andern Tag kam der kaiserliche Kammerherr de Turenne zu Balaschow und teilte ihm mit, Kaiser Napoleon wolle ihm eine Audienz gewähren.

Vier Tage vorher hatten vor demselben Haus, nach dem Balaschow gebracht wurde, Schildwachen des Preobraschenski-Regiments gestanden; jetzt waren dort zwei französische Grenadiere in blauen auf der Brust aufgeknöpften Uniformen und zottigen Mützen postiert, und eine Eskorte von Husaren und Ulanen und eine glänzende Suite von Adjutanten, Pagen und Generalen standen vor der Haustür um Napoleons Reitpferd und seinen Mamelucken Rustan herum und warteten auf das Herauskommen des Kaisers. Napoleon empfing Balaschow in demselben Haus in Wilna, aus welchem ihn Alexander abgeschickt hatte.

VI


Obwohl Balaschow an höfische Pracht gewöhnt war, überraschte ihn doch der Prunk und die Üppigkeit der napoleonischen Hofhaltung.

Graf Turenne führte ihn in ein großes Wartezimmer, wo viele Generale und Kammerherren warteten, auch viele polnische Magnaten, von denen Balaschow nicht wenige am Hof des russischen Kaisers gesehen hatte. Duroc sagte, der Kaiser Napoleon wolle den russischen General vor seinem Spazierritt empfangen.

Nach einigen Minuten des Wartens kam ein diensttuender Kammerherr aus den inneren Gemächern in das große Wartezimmer und forderte Balaschow mit höflicher Vorbeugung auf, ihm zu folgen.

Balaschow trat in ein kleinen Empfangszimmer, aus welchem eine Tür in das Arbeitszimmer führte, in jenes selbe Arbeitszimmer, in welchem der russische Kaiser ihn abgesandt hatte. Dort stand er etwa zwei Minuten wartend da. Auf der andern Seite der Tür ließen sich eilige Schritte vernehmen. Beide Türflügel wurden schnell geöffnet, alles wurde wieder still, und nun ertönten aus dem Arbeitszimmer andere, feste, entschlossene Schritte: das war Napoleon. Er hatte soeben seine Toilette für den Spazierritt beendet. Er trug einen blauen Uniformrock, der über der weißen, auf den rundlichen Bauch herabreichenden Weste aufgeknöpft war, weiße Lederhosen, welche die fetten Schenkel der kurzen Beine eng umspannten, und Stulpstiefel. Sein kurzgeschnittenes Haar war offenbar eben erst gekämmt; aber ein Haarbüschel fiel in der Mitte über die breite Stirn herab. Der dicke, weiße Hals hob sich in scharfem Farbenkontrast aus dem schwarzen Uniformkragen heraus. Der Kaiser duftete nach Eau de Cologne. Auf seinem jugendlich aussehenden, vollen Gesicht mit dem vortretenden Kinn lag der Ausdruck eines gnädigen, majestätischen, kaiserlichen Grußes.

Er trat schnell ein, bei jedem Schritt ein wenig zuckend, den Kopf etwas nach hinten zurückgeworfen. Seine ganze korpulente, kurze Figur, mit den breiten, dicken Schultern, dem unwillkürlich nach vorn herausgedrückten Brustkasten und Unterleib, hatte jenes präsentable, stattliche Aussehen, wie es bei Vierzigern, die sich nichts abgehen zu lassen brauchen, häufig ist. Außerdem war ihm anzusehen, daß er sich an diesem Tag in recht guter Stimmung befand.

Er nickte mit dem Kopf als Antwort auf Balaschows tiefe, ehrfurchtsvolle Verbeugung, trat nahe an ihn heran und begann sogleich zu reden wie jemand, dem jede Minute seiner Zeit kostbar ist und der sich nicht dazu herabläßt, seine Reden vorzubereiten, sondern überzeugt ist, daß er immer das, was nötig ist, sagen und dieses gut sagen wird.

»Guten Tag, General!« sagte er. »Ich habe den Brief des Kaisers Alexander erhalten, den Sie überbracht haben, und freue mich sehr, Sie zu sehen.« Er blickte Balaschow mit seinen großen Augen ins Gesicht, sah aber dann sogleich an ihm vorbei.

Augenscheinlich interessierte ihn Balaschows Persönlichkeit nicht im geringsten. Es war klar, daß nur das, was in seinem eigenen Geist vorging, für ihn Interesse hatte. Alles, was außer seiner eigenen Person lag, hatte für ihn keine Bedeutung, weil nach seiner Auffassung alles in der Welt lediglich von seinem Willen abhing.

»Ich wünsche den Krieg nicht und habe ihn nie gewünscht«, sagte er. »Aber man drängt ihn mir auf. Auch jetzt noch« (er legte einen besonderen Nachdruck auf das Wort »jetzt«) »bin ich bereit, alle Aufklärungen anzunehmen, die Sie mir geben können.«

Und nun begann er in knapper, klarer Form die Gründe seiner Unzufriedenheit mit der russischen Regierung darzulegen. Aus dem maßvollen, ruhigen, freundlichen Ton, in dem der französische Kaiser sprach, glaubte Balaschow mit Sicherheit schließen zu dürfen, daß er den Frieden wünsche und in Unterhandlungen einzutreten beabsichtige.

»Sire! Der Kaiser, mein Gebieter …«, begann Balaschow seine längst vorbereitete Rede, als Napoleon seine Auseinandersetzung beendet hatte und den russischen Abgesandten fragend anblickte; aber der Blick der auf ihn gerichteten Augen des Kaisers setzte ihn in Verwirrung. »Sie sind verwirrt, fassen Sie sich!« schien Napoleon gewissermaßen zu sagen, indem er mit ganz leisem Lächeln Balaschows Uniform und Degen betrachtete.

Balaschow hatte seine Fassung wiedergewonnen und begann zu reden. Er sagte, Kaiser Alexander halte den Umstand, daß Kurakin seine Pässe verlangt habe, für keine hinlängliche Ursache zum Krieg; Kurakin habe dies nach seinem eigenen Kopf und ohne die Genehmigung des Kaisers getan; Kaiser Alexander wünsche den Krieg nicht, und mit England bestehe kein geheimes Einverständnis.

»Noch nicht«, schob Napoleon dazwischen, und wie wenn er fürchtete, sich von seinem Affekt hinreißen zu lassen, zog er die Augenbrauen zusammen und nickte leicht mit dem Kopf, um dadurch Balaschow zu verstehen zu geben, daß er fortfahren könne.

Nachdem Balaschow alles übrige vorgetragen hatte, was ihm befohlen war, fügte er hinzu, Kaiser Alexander wünsche den Frieden, werde aber nur unter der Bedingung in Unterhandlungen eintreten, daß … Hier stockte Balaschow: er hatte die Worte im Gedächtnis, welche Kaiser Alexander nicht in den Brief aufgenommen, deren Einsetzung in den an Saltykow gerichteten Erlaß er aber unbedingt verlangt hatte, und welche zur Kenntnis Napoleons zu bringen auch ihm, Balaschow, vom Kaiser befohlen worden war. Balaschow hatte die Worte im Gedächtnis: »Solange noch ein einziger bewaffneter Feind auf russischem Boden steht«; aber eine Empfindung, in der sich mancherlei Elemente vereinigten, hielt ihn zurück. Er vermochte es nicht, diese Worte auszusprechen, obgleich er es tun wollte. Er stockte und sagte dann: »Unter der Bedingung, daß die französischen Truppen über den Niemen zurückgehen.«

Napoleon bemerkte, daß Balaschow in Verlegenheit geriet, als er die letzten Worte sprach; das Gesicht des Kaisers zuckte, seine linke Wade begann leise zu zittern. Ohne den Platz, wo er stand, zu verlassen, begann er lauter und schneller als vorher zu reden. Während der nun folgenden Rede des Kaisers schlug Balaschow mehrmals die Augen nieder und beobachtete unwillkürlich das Zittern der linken Wade Napoleons, das um so stärker wurde, je mehr er die Stimme erhob.

»Ich wünsche den Frieden nicht weniger als der Kaiser Alexander«, begann er. »Tue ich nicht seit achtzehn Monaten alles mögliche, um ihn zu erhalten? Seit achtzehn Monaten warte ich auf Aufklärungen. Aber was verlangt man von mir, um in Verhandlungen einzutreten?« sagte er, indem er die Stirn runzelte und eine energische fragende Gebärde mit seiner kleinen, weißen, dicken Hand machte.

»Das Zurückgehen der Truppen hinter den Niemen, Majestät«, antwortete Balaschow.

»Hinter den Niemen?« wiederholte Napoleon. »Also jetzt wollen Sie, daß ich hinter den Niemen zurückgehe, nur hinter den Niemen?« fragte er noch einmal und blickte dabei Balaschow gerade ins Gesicht.

Balaschow neigte respektvoll den Kopf.

»Statt der vor vier Monaten gestellten Forderung, daß ich Pommern räumen solle, fordert man also jetzt nur, daß ich hinter den Niemen zurückgehe.« Napoleon wandte sich schnell um und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Sie sagen, daß man von mir als Bedingung für die Anknüpfung von Verhandlungen das Zurückgehen hinter den Niemen verlangt; aber genau ebenso hat man von mir vor zwei Monaten das Zurückgehen hinter die Oder und hinter die Weichsel gefordert, und obwohl ich das nicht getan habe, sind Sie jetzt doch bereit zu unterhandeln.«

Er ging schweigend von einer Ecke des Zimmers nach der andern und blieb dann wieder vor Balaschow stehen. Dieser bemerkte, daß Napoleons linke Wade noch schneller zitterte als vorher und daß sich sein Gesicht in seinem strengen Ausdruck gleichsam versteinerte. Dieses Zittern der linken Wade kannte Napoleon an sich. »Das Zittern meiner linken Wade ist bei mir ein bedeutsames Zeichen«, äußerte er gelegentlich.

»Solche Zumutungen wie die, das Land bis zur Oder und Weichsel zu räumen, kann man an den Fürsten eines Landes wie Baden richten, aber nicht an mich«, rief Napoleon fast schreiend und war selbst von dem Klang seiner Stimme überrascht. »Solche Bedingungen würde ich nicht annehmen, selbst wenn ihr mir Petersburg und Moskau bötet. Ihr sagt, ich hätte diesen Krieg begonnen! Aber wer ist denn früher zur Armee gegangen? Der Kaiser Alexander und nicht ich! Und jetzt macht ihr mir den Vorschlag, Unterhandlungen zu beginnen, jetzt, wo ich Millionen ausgegeben habe, wo ihr ein Bündnis mit England geschlossen habt und wo eure Lage eine üble ist. Jetzt macht ihr mir den Vorschlag zu Unterhandlungen! Und welchen Zweck verfolgt denn euer Bündnis mit England? Was hat euch England gegeben?« sagte er schnell. Offenbar beabsichtigte er bei seiner Rede nicht mehr, die Vorteile des Friedensschlusses darzulegen und seine Möglichkeit zu erörtern, sondern nur die Rechtmäßigkeit seines eigenen Verhaltens und seiner Stärke und demgegenüber Alexanders Unrecht und schlimme Fehler zu beweisen.

Der Anfang seiner Rede hatte augenscheinlich den Zweck verfolgt, die Vorteile seiner Lage auseinanderzusetzen und zu zeigen, daß er trotzdem bereit sei, in Verhandlungen einzutreten. Aber nun er ins Sprechen hineingekommen war, vermochte er, je länger er sprach, um so weniger seiner Rede eine bestimmte Richtung zu geben.

Der ganze Zweck seiner Rede war jetzt offenbar nur, sich selbst zu erhöhen und über Alexander Verletzendes zu sagen, das heißt gerade das zu tun, was er am Anfang der Unterredung am allerwenigsten hatte tun wollen.

»Es heißt, Sie hätten mit den Türken Frieden geschlossen?« Balaschow neigte bejahend den Kopf.

»Der Friede ist geschlossen …«, begann er.

Aber Napoleon ließ ihn nicht weiterreden. Er schien allein reden zu wollen und fuhr mit jener Redelust und nervösen Unaufhaltsamkeit zu reden fort, zu welcher verwöhnte Menschen neigen.

»Ja, ich weiß, Sie haben mit den Türken Frieden geschlossen, ohne die Moldau und die Walachei zu erhalten. Und ich hätte Ihrem Kaiser diese Provinzen ebenso gegeben, wie ich ihm Finnland gegeben habe. Ja«, fuhr er fort, »ich hatte es versprochen und hätte dem Kaiser Alexander die Moldau und die Walachei gegeben; und jetzt wird er nun diese schönen Provinzen nicht bekommen. Und doch hätte er sie mit seinem Reich vereinigen und so seine Herrschaft vom Bottnischen Meerbusen bis zu den Donaumündungen ausdehnen können. Katharina die Große hätte nichts Großartigeres erreichen können«, sagte Napoleon, der immer mehr in Hitze geriet, im Zimmer auf und ab ging und Balaschow gegenüber fast dieselben Worte wiederholte, die er in Tilsit zu Alexander selbst gesagt hatte. »Alles das hätte er meiner Freundschaft verdankt. Ach, was für ein schönes Reich, was für ein schönes Reich!« wiederholte er mehrere Male, blieb stehen, holte eine goldene Tabaksdose aus der Tasche, öffnete sie und zog gierig etwas von dem Inhalt mit der Nase ein. »Was für ein schönes Reich hätte das Reich des Kaisers Alexander sein können!«

Er richtete einen mitleidigen Blick auf Balaschow; aber kaum schickte sich dieser an, etwas zu bemerken, als Napoleon ihn wieder hastig unterbrach.

»Was konnte er wünschen und suchen, das er in meiner Freundschaft nicht gefunden hätte …?« sagte er und zuckte dabei verwundert mit den Achseln. »Aber nein, er fand es besser, meine Feinde zu sich heranzuziehen, und wen? wen?« fuhr Napoleon fort. »Männer wie Stein, Armfelt, Bennigsen, Wintzingerode hat er zu sich berufen. Stein ist ein aus seinem Vaterland vertriebener Verräter, Armfelt ein Wüstling und Intrigant, Wintzingerode ein geflüchteter französischer Untertan; Bennigsen hat ein bißchen mehr von einem Soldaten an sich als die andern, aber er ist dabei doch ein unfähiger Mensch, der im Jahre 1807 nicht verstanden hat, etwas zu erreichen, und eigentlich beim Kaiser Alexander schreckliche Erinnerungen erwecken müßte … Nun ja, wenn es noch fähige Menschen wären, dann könnte man sich ihrer ja bedienen«, fuhr Napoleon fort, kaum imstande, mit dem Wort den unaufhörlich in seinem Geist sich bildenden einzelnen Gedanken zu folgen, die ihm als Beweise für sein Recht und für seine Macht (was in seiner Vorstellung dasselbe war) dienten. »Aber auch das ist nicht der Fall: sie taugen nichts, weder im Krieg noch im Frieden! Barclay, heißt es, ist tüchtiger als die übrigen; aber nach seinen ersten Bewegungen zu urteilen, kann ich das nicht sagen. Und was tun sie denn, was tun sie denn, alle diese Höflinge? Pfuel macht einen Vorschlag, Armfelt bekämpft ihn, Bennigsen prüft ihn nach, und Barclay, dessen Aufgabe es ist, mit den Truppen zu operieren, weiß dann nicht, wozu er sich entschließen soll; so vergeht die Zeit, ohne daß etwas geleistet wird. Nur Bagration ist ein Militär. Viel Verstand hat er nicht; aber er besitzt Erfahrung, Augenmaß und Entschlossenheit … Und was für eine Rolle spielt Ihr junger Kaiser in dieser häßlichen Gesellschaft? Sie kompromittieren ihn und wälzen ihm die Verantwortung für alles, was geschieht, zu. Ein Herrscher soll sich nur dann beim Heer aufhalten, wenn er selbst ein Feldherr ist«, sagte er, und es war unverkennbar, daß diese Worte geradezu als eine Kränkung gegen die Person des Kaisers Alexander gerichtet waren. Napoleon wußte, wie heiß Alexander ein Feldherr zu sein wünschte.

»Nun ist es schon eine Woche her, daß der Feldzug begonnen hat, und ihr habt nicht einmal verstanden, Wilna zu schützen. Ihr seid in zwei Teile getrennt und aus den polnischen Provinzen vertrieben. Eure Armee murrt.«

»Im Gegenteil, Euer Majestät«, wandte Balaschow ein, der kaum imstande war, alles im Kopf zu behalten, was der Kaiser zu ihm sagte, und nur mit Mühe diesem prasselnden Feuerwerk von Worten folgte. »Die Truppen brennen vor Verlangen …«

»Ich weiß alles«, unterbrach ihn Napoleon, »ich weiß alles und kenne die Zahl eurer Bataillone ebenso genau wie die der meinigen. Ihr habt keine zweihunderttausend Mann, und ich habe dreimal soviel. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort«, sagte Napoleon, ohne daran zu denken, daß dieses sein Ehrenwort keinen Wert haben konnte, »ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich fünfhundertunddreißigtausend Mann diesseits der Weichsel stehen habe. Die Türken sind für euch keine Hilfe: sie taugen zu nichts und haben das dadurch bewiesen, daß sie mit euch Frieden geschlossen haben. Und was die Schweden anlangt, so sind sie einmal dazu prädestiniert, von wahnsinnigen Königen regiert zu werden. Ihr früherer König war verrückt; sie haben ihn gewechselt und sich einen andern genommen, diesen Bernadotte, und der hat nun auch gleich den Verstand verloren; denn nur ein Wahnsinniger kann als Schwede ein Bündnis mit Rußland schließen.«

Napoleon lächelte boshaft und führte wieder die Tabaksdose an die Nase.

Auf jeden Satz Napoleons hätte Balaschow etwas zu erwidern gehabt und hätte das gern getan; er machte fortwährend Bewegungen, wie wenn er etwas zu sagen wünschte; aber Napoleon ließ ihn nicht zu Worte kommen. Gegen die Verrücktheit der Schweden wollte Balaschow sagen, daß Schweden eine Insel sei, wenn Rußland als Freund hinter ihm stehe; aber Napoleon fing zornig zu schreien an, um seine Stimme zu übertönen. Napoleon befand sich in jenem Zustand nervöser Erregung, wo man reden und reden und reden muß, nur um sich selbst zu beweisen, daß man recht hat. Balaschows Lage wurde peinlich: als Abgesandter fürchtete er, seiner Würde etwas zu vergeben, und hielt für notwendig, etwas zu erwidern; aber als Mensch duckte er sich, in geistigem Sinn gesagt, vor diesem maßlosen Zorn, in den Napoleon ohne eigentlichen Grund augenscheinlich hineingeraten war. Er war überzeugt, daß alles das, was Napoleon jetzt sagte, keine weitere Bedeutung habe, und daß dieser selbst, sobald er zur Besinnung komme, sich des Gesagten schämen werde. Balaschow stand mit gesenkten Augen da, blickte danach hin, wie sich Napoleons dicke Beine beim Auf- und Abgehen bewegten, und suchte seinem Blick auszuweichen.

»Was können mir diese eure Verbündeten schaden?« sagte Napoleon. »Ich habe ganz andere Verbündete, die Polen; das sind achtzigtausend Mann; die werden wie die Löwen kämpfen. Und bald werden ihrer zweihunderttausend sein.«

Und wahrscheinlich in noch größere Aufregung hineingeratend, weil er sich bewußt war, damit eine offenbare Unwahrheit gesagt zu haben, und weil Balaschow, voll Ergebung in sein Schicksal, in derselben Haltung schweigend vor ihm dastand, drehte er sich bei seiner Wanderung kurz um, kam zurück, trat ganz dicht vor Balaschows Gesicht hin und schrie ihn unter heftigen, schnellen Gestikulationen seiner weißen Hände an:

»Das mögt ihr wissen: wenn ihr Preußen gegen mich aufwiegelt, so wische ich es von der Landkarte Europas weg«, sagte er mit blassem, wutverzerrtem Gesicht und schlug dabei energisch mit einer seiner kleinen Hände in die andere. »Ja, ich werde euch hinter die Düna und hinter den Dnjepr zurückwerfen und gegen euch jenes Bollwerk wieder aufrichten, dessen Zerstörung zu gestatten Europa verbrecherisch und blind genug war. Ja, so wird es euch ergehen; das ist’s, was ihr damit gewonnen habt, daß ihr meine Gegner geworden seid«, sagte er und ging schweigend und mit den dicken Schultern zuckend wieder einige Male im Zimmer hin und her.

Er steckte die Tabaksdose in die Westentasche, nahm sie aber sogleich wieder heraus, hielt sie sich ein paarmal an die Nase und blieb vor Balaschow stehen. Er schwieg, blickte dem Abgesandten spöttisch gerade in die Augen und sagte mit leiser Stimme:

»Und was für ein schönes Reich hätte Ihr Gebieter haben können!«

Balaschow, der es für notwendig hielt, etwas zu erwidern, sagte, Rußland sehe die Dinge nicht in so trübem Licht. Napoleon schwieg, fuhr fort ihn spöttisch anzusehen und hörte augenscheinlich nicht darauf hin, was er sagte. Balaschow bemerkte, in Rußland erwarte man vom Krieg alles Gute. Napoleon nickte freundlich und herablassend mit dem Kopf, wie wenn er sagen wollte: »Ich weiß, Sie müssen pflichtmäßig so sprechen; aber Sie glauben es selbst nicht; ich habe Sie überzeugt.«

Als Balaschow mit seiner Antwort zu Ende war, zog Napoleon wieder die Tabaksdose heraus, schnupfte aus ihr und klopfte, wie als Signal, mit dem Fuß zweimal auf den Boden. Die Tür öffnete sich; ein Kammerherr überreichte dem Kaiser mit ehrfurchtsvoller Verbeugung Hut und Handschuhe, ein anderer das Taschentuch. Ohne die beiden Kammerherren anzusehen, wandte sich Napoleon zu Balaschow:

»Bringen Sie von mir dem Kaiser Alexander die Versicherung«, sagte er, indem er den Hut hinnahm, »daß ich ihm wie früher ergeben bin; ich kenne ihn genau und schätze seine vorzüglichen Eigenschaften sehr hoch. Aber ich will Sie nicht länger aufhalten, General; mein Brief an den Kaiser wird Ihnen zugestellt werden.«

Mit diesen Worten ging Napoleon schnell zur Tür. Aus dem Wartezimmer eilten alle ihm voran und die Treppe hinunter.

VII


Nach allem, was Napoleon zu ihm gesagt hatte, nach jenen Zornausbrüchen und nach den letzten in trockenem Ton gesprochenen Worten: »Ich will Sie nicht länger aufhalten, General; mein Brief wird Ihnen zugestellt werden«, war Balaschow überzeugt, daß Napoleon nicht mehr wünschen werde, ihn zu sehen, ja sogar ein nochmaliges Zusammentreffen mit ihm geflissentlich vermeiden werde, mit ihm, dem beleidigten Abgesandten und vor allen Dingen dem Zeugen seiner unpassenden Heftigkeit. Aber zu seiner Verwunderung empfing Balaschow durch Duroc eine Einladung zur Tafel des Kaisers für denselben Tag.

Bei dem Diner waren noch Bessières, Caulaincourt und Berthier zugegen.

Napoleon begrüßte Balaschow mit heiterer, freundlicher Miene. Von Verlegenheit oder Selbstvorwürfen wegen seines heftigen Wesens am Vormittag war ihm nichts anzumerken; ganz im Gegenteil gab er sich Mühe, Balaschow aufzumuntern. Man sah, daß für Napoleon nach seiner Anschauung die Möglichkeit, Irrtümer und Fehler zu begehen, schon längst nicht mehr existierte, und daß nach seiner Meinung alles, was er tat, gut war, nicht weil es sich mit dem allgemein anerkannten Begriff des Guten deckte, sondern eben weil er es tat.

Der Kaiser war nach seinem Spazierritt durch Wilna sehr gut gelaunt. Große Haufen Volkes hatten ihn enthusiastisch begrüßt und geleitet. Aus allen Fenstern der Straßen, durch die er geritten war, waren Teppiche, Fahnen und sein Monogramm ausgehängt gewesen, und die polnischen Damen hatten zu seiner Begrüßung mit den Taschentüchern geweht.

Bei Tisch wies er Balaschow einen Platz neben sich an und behandelte ihn nicht nur freundlich, sondern so, als ob er auch Balaschow zu seinen Hofleuten rechnete, zu denen, die mit seinen Plänen sympathisierten und sich über seine Erfolge naturgemäß freuten. Unter anderen Gesprächsgegenständen fing er auch an über Moskau zu reden und erkundigte sich bei Balaschow nach dieser russischen Residenz, nicht nur in der Art, wie ein wißbegieriger Reisender sich nach einem fremden Ort erkundigt, den er zu besuchen beabsichtigt, sondern gewissermaßen in der Überzeugung, daß Balaschow sich als Russe durch diese Wißbegierde geschmeichelt fühlen müsse.

»Wieviel Einwohner hat Moskau? Wieviel Häuser? Ist es wahr, daß Moskau das heilige Moskau genannt wird? Wieviel Kirchen gibt es in Moskau?« fragte er.

Und auf die Antwort, daß es dort mehr als zweihundert Kirchen gebe, sagte er:

»Wozu denn eine solche Unmenge von Kirchen?«

»Die Russen sind sehr fromm«, antwortete Balaschow.

»Aber eine große Zahl von Klöstern und Kirchen ist immer ein Zeichen der Rückständigkeit eines Volkes«, bemerkte Napoleon und blickte sich nach Caulaincourt um, um zu sehen, wie dieser wohl über die soeben ausgesprochene allgemeine Behauptung urteilte.

Balaschow erlaubte sich respektvoll anderer Meinung zu sein als der französische Kaiser.

»Jedes Land hat seine eigenen Sitten«, sagte er.

»Aber nirgends in Europa gibt es etwas Ähnliches«, entgegnete Napoleon.

»Ich bitte Euer Majestät um Verzeihung«, antwortete Balaschow. »Außer in Rußland gibt es auch in Spanien viele Kirchen und Klöster.«

Diese Antwort Balaschows, die eine Hindeutung auf die Niederlage enthielt, welche die Franzosen unlängst in Spanien erlitten hatten, wurde, als Balaschow von ihr am Hof des Kaisers Alexander berichtet hatte, dort außerordentlich bewundert, während sie jetzt an der Tafel Napoleons sehr wenig gewürdigt wurde und fast unbeachtet vorüberging.

Den gleichgültigen, verwunderten Gesichtern der Herren Marschälle war anzusehen, daß sie nicht begriffen, worin bei diesem Satz eigentlich die Pointe stecken sollte, da doch auf das Vorhandensein einer solchen Balaschows besondere Betonung hinzuweisen schien. »Wenn wirklich eine Pointe darin war, so haben wir sie nicht verstanden, oder sie ist nicht gerade sehr geistreich gewesen«, sagte der Gesichtsausdruck der Marschälle. So wenig wurde diese Antwort gewürdigt, daß Napoleon auf sie überhaupt nicht aufmerksam wurde und an Balaschow die sehr naive Frage richtete, über welche Städte der gerade Weg von Wilna nach Moskau führe. Balaschow, der während des ganzen Diners auf seiner Hut war, antwortete, wie jeder Weg nach Rom führe, so führe auch jeder nach Moskau; es gebe viele Wege, darunter auch den über Poltawa, welchen Karl XII. gewählt habe. Dabei wurde Balaschow unwillkürlich ganz rot vor Freude darüber, daß ihm diese Antwort so gut gelungen sei. Aber er hatte die letzten Worte über Poltawa noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als schon Caulaincourt von der Unbequemlichkeit der Landstraße von Petersburg nach Moskau und von seinen Petersburger Erinnerungen zu reden begann.

Als die Tafel aufgehoben war, ging man, um Kaffee zu trinken, in Napoleons Arbeitszimmer, welches vier Tage vorher das Arbeitszimmer des Kaisers Alexander gewesen war. Napoleon setzte sich, nippte ein wenig an seinem Kaffee in der Sèvres-Tasse und lud durch eine Handbewegung Balaschow ein, auf dem Stuhl neben ihm Platz zu nehmen.

Nach dem Mittagessen befindet man sich nicht selten in einer solchen Stimmung, daß man, unbekümmert um alle Vernunftgründe, mit sich selbst zufrieden ist und alle Menschen für seine Freunde hält. In dieser Stimmung war auch Napoleon. Er hatte die Empfindung, daß er von Menschen umgeben sei, die ihn vergötterten, und war überzeugt, daß nach seinem Diner auch Balaschow sein Freund und Verehrer sei. Mit einem freundlichen, ein wenig spöttischen Lächeln wandte er sich zu ihm.

»Wie mir gesagt wurde, ist dies dasselbe Zimmer, in welchem Kaiser Alexander gewohnt hat. Sonderbar, nicht wahr, General?« sagte er, augenscheinlich ohne daran zu zweifeln, daß diese Bemerkung dem Angeredeten nur angenehm sein könne, da aus ihr seine, Napoleons, Überlegenheit über Alexander hervorging.

Balaschow konnte darauf nichts antworten und neigte schweigend den Kopf.

»Ja, in diesem Zimmer haben vor vier Tagen Wintzingerode und Stein Rat gehalten«, fuhr Napoleon mit demselben spöttischen, selbstzufriedenen Lächeln fort. »Was ich nicht begreifen kann«, fügte er hinzu, »ist dies, daß Kaiser Alexander alle meine persönlichen Feinde in seine Nähe gezogen hat. Das begreife ich nicht. Er hat wohl nicht bedacht, daß ich dasselbe tun kann?« sagte er in fragendem Ton zu Balaschow, und dieser Gedanke führte ihn wieder auf die Vorstellungsreihe, bei der er am Vormittag so zornig geworden war; dieser Zorn glühte in seinem Innern noch unter der Asche.

»Er mag sich gesagt sein lassen, daß ich das tun werde«, sagte Napoleon, indem der aufstand und seine Tasse mit der Hand zurückstieß. »Und ich werde auch alle seine Verwandten aus Deutschland vertreiben: die Württemberger und die Badenser und die Weimaraner … jawohl, hinausjagen werde ich sie. Er mag nur ein Asyl für sie in Rußland bereithalten!«

Balaschow neigte den Kopf und deutete durch seine Miene an, daß er sich gern empfehlen möchte und nur zuhöre, weil er eben nicht anders könne als anhören, was zu ihm gesagt werde. Aber Napoleon bemerkte diesen Gesichtsausdruck nicht; er verkehrte mit Balaschow nicht wie mit dem Abgesandten seines Feindes, sondern wie mit jemandem, der ihm jetzt völlig ergeben sei und sich über die Herabsetzung seines früheren Herrn freuen müsse.

»Und warum hat Kaiser Alexander das Kommando über die Truppen übernommen? Was hat das für Zweck? Der Krieg ist mein Handwerk; er versteht wohl ein Land zu regieren, aber nicht Truppen zu kommandieren. Warum hat er eine so große Verantwortung auf sich genommen?«

Napoleon griff wieder zu seiner Tabaksdose, ging schweigend einige Male im Zimmer auf und ab und trat plötzlich unerwartet an Balaschow heran. Mit freundlicher Miene und mit einer solchen Sicherheit, Schnelligkeit und Natürlichkeit, als ob das, was er tat, nicht nur etwas sehr Wichtiges, sondern auch für Balaschow etwas sehr Angenehmes wäre, hob er die Hand zu dem Gesicht des vierzigjährigen russischen Generals in die Höhe, faßte ihn am Ohr und zog leise daran, wobei er nur mit den Lippen lächelte.

Vom Kaiser am Ohr gezogen zu werden galt am französischen Hof für die größte Ehre und Gnade.

»Nun, Sie sagen ja gar nichts, Sie Bewunderer und Höfling des Kaisers Alexander?« sagte er, als wäre es komisch, in seiner Gegenwart der Höfling und Bewunderer eines anderen zu sein als der seinige, Napoleons. »Stehen Pferde für den General bereit?« fügte er hinzu und neigte leicht den Kopf als Antwort auf Balaschows Verbeugung. »Geben Sie ihm von meinen Pferden; er hat weit zu reiten.«

Das Antwortschreiben, das Balaschow überbrachte, war der letzte Brief Napoleons an Alexander. Alle Einzelheiten der Unterredung wurden dem russischen Kaiser berichtet, und der Krieg begann …

VIII


Nach dem Wiedersehen mit Pierre in Moskau reiste Fürst Andrei nach Petersburg, in Geschäften, wie er seinen Angehörigen sagte, aber in Wirklichkeit, um dort Anatol Kuragin zu treffen, was er für unumgänglich notwendig hielt. Aber Kuragin, nach dem er sich sogleich nach seiner Ankunft in Petersburg erkundigte, war nicht mehr dort. Pierre hatte seinem Schwager mitgeteilt, daß Fürst Andrei auf der Suche nach ihm sei, und Anatol Kuragin hatte sofort von dem Kriegsminister die Weisung erhalten, sich zur Moldau-Armee zu begeben, und war dieser Weisung nachgekommen. Zu derselben Zeit war Fürst Andrei in Petersburg mit seinem ehemaligen Chef Kutusow zusammengetroffen, der ihm immer freundlich gesinnt gewesen war, und dieser hatte ihm den Vorschlag gemacht, mit ihm zur Moldau-Armee zu gehen, zu deren Oberkommandierendem der alte General ernannt war. Nachdem Fürst Andrei seine Zuweisung zum Stab des Hauptquartiers erhalten hatte, reiste er nach der Türkei ab.

An Kuragin zu schreiben und ihm zum Duell zu fordern, hielt Fürst Andrei für unzweckmäßig. Da kein neuerer Grund zum Duell vorlag, so fürchtete Fürst Andrei, durch eine derartige Forderung die Komtesse Rostowa zu kompromittieren, und suchte deshalb eine persönliche Begegnung mit Kuragin, in der Absicht, dabei einen neuen Grund zum Duell zu finden. Aber auch bei der Moldau-Armee gelang es ihm nicht, Kuragin zu treffen, der, unmittelbar nachdem Fürst Andrei dort eingetroffen war, die Rückreise nach Rußland angetreten hatte.

In dem neuen Land und in den neuen Verhältnissen wurde es dem Fürsten Andrei leichter, das Leben zu ertragen. Nach dem Treuebruch seiner Braut, der ihn um so tiefer schmerzte, je sorgfältiger er dessen Wirkung auf sein Gemüt vor allen zu verbergen suchte, war ihm die ganze Lebenssphäre, in der er so glücklich gewesen war, gar zu drückend geworden und noch drückender die Freiheit und Unabhängigkeit, die er früher so hoch geschätzt hatte. Er hing nicht mehr jenen früheren Gedanken nach, die ihm zum erstenmal gekommen waren, als er auf dem Schlachtfeld von Austerlitz zum Himmel emporblickte, und die er gern im Gespräch mit Pierre weiter verfolgt hatte, und mit denen er seine einsamen Stunden in Bogutscharowo und dann in der Schweiz und in Rom ausgefüllt hatte; ja er mied es sogar, sich an diese Gedanken zu erinnern, die ihm eine unendliche, helle Fernsicht erschlossen hatten. Ihn interessierten jetzt nur die nächstliegenden praktischen Beschäftigungen, die mit seinen früheren in keiner Verbindung standen, und nach diesen Beschäftigungen griff er mit um so größerer Gier, je weiter sie von seinen früheren ablagen. Es hatte sich gewissermaßen jenes endlose, ferne, ferne Himmelsgewölbe, das über ihm gestanden hatte, in ein niedriges, eng begrenztes, ihn erdrückendes Gewölbe verwandelt, in welchem zwar alles deutlich sichtbar war, aber nichts Ewiges, Geheimnisvolles Raum fand.

Von den Tätigkeiten, die sich ihm darboten, war der Militärdienst die einfachste und ihm vertrauteste. In der Stellung eines diensttuenden Generals im Stab Kutusows widmete er sich den Geschäften mit hartnäckigem Eifer und setzte Kutusow durch seine Arbeitslust und Sorgfalt in Erstaunen. Nachdem er Kuragin in der Türkei nicht gefunden hatte, hielt Fürst Andrei es nicht für notwendig, ihm wieder nach Rußland nachzujagen; aber soviel wußte er: mochte es auch noch so lange dauern, bis er Kuragin traf – trotz aller Verachtung, die er gegen diesen Menschen hegte, und trotz aller Beweise, die er sich selbst gegenüber dafür vorbrachte, daß er sich nicht dazu herabwürdigen dürfe, ihm als Gegner gegenüberzutreten, werde er, wenn er ihn einmal träfe, einem inneren Zwang gehorchend ihn fordern, gerade wie ein Hungriger nicht anders kann als sich auf die Speise stürzen. Und dieses Bewußtsein, daß die Beleidigung noch nicht gerächt war, daß der Grimm noch keinen Ausbruch gefunden hatte, sondern ihm auf der Seele lastete, vergiftete dem Fürsten Andrei die künstliche Ruhe, die er sich bei einer mühevollen, anstrengenden und bis zu einem gewissen Grade ehrgeizigen, ruhmsüchtigen Tätigkeit in der Türkei zu eigen zu machen suchte.

Als im Jahre 1812 die Kunde von dem Krieg mit Napoleon nach Bukarest gelangte (wo Kutusow zwei Monate lang gewohnt und alle Tage und Nächte bei seiner Walachin zugebracht hatte), richtete Fürst Andrei an Kutusow die Bitte um seine Versetzung zur Westarmee. Kutusow, der Bolkonskis bereits überdrüssig geworden war, da dessen eifrige Geschäftigkeit gewissermaßen einen Vorwurf für seine eigene Untätigkeit bildete, entließ ihn sehr gern und gab ihm eine Überweisung an Barclay de Tolly mit.

Bevor Fürst Andrei sich zur Armee begab, die sich im Mai in einem Lager an der Drissa befand, fuhr er nach Lysyje-Gory heran, welches dicht an seinem Weg lag, da es nur drei Werst von der großen Smolensker Landstraße entfernt war. Die letzten drei Jahre hatten im Leben des Fürsten Andrei so viele Umwälzungen mit sich gebracht, er hatte so vieles durchdacht, empfunden und gesehen (er war im Westen und im Osten herumgekommen), daß er sich ganz sonderbar überrascht fühlte, als er bei der Einfahrt in Lysyje-Gory wahrnahm, daß hier das Leben genau so wie früher, bis auf die geringsten Einzelheiten genau ebenso dahinfloß. Als er in die Allee und in das steinerne Tor einfuhr, da hatte er die Empfindung, als komme er in ein verzaubertes, schlafendes Schloß. Dieselbe Ehrbarkeit, dieselbe Sauberkeit, dieselbe Stille herrschte in diesem Haus wie ehemals: da waren noch dieselben Möbel, dieselben Wände, dieselben Geräusche, derselbe Geruch und dieselben furchtsamen Gesichter, nur daß diese etwas älter geworden waren. Prinzessin Marja war noch ganz dasselbe schüchterne, unschöne, alternde Mädchen, das in Furcht und steten seelischen Leiden, ohne Nutzen und Freude, die besten Jahre ihres Lebens hinbrachte. Mademoiselle Bourienne war dieselbe selbstzufriedene, kokette Person, die jede Minute ihres Lebens heiter ausnutzte und für ihre eigene Zukunft die fröhlichsten Hoffnungen hegte; nur war sie, wie es dem Fürsten Andrei vorkam, noch sicherer und zuversichtlicher in ihrem Auftreten geworden. Der Erzieher Dessalles, den er aus der Schweiz mitgebracht hatte, trug einen Rock nach russischem Schnitt und sprach unter arger Entstellung der Sprache russisch mit der Dienerschaft; aber er war immer noch derselbe mäßig kluge, gebildete, tugendhafte, pedantische Erzieher. Der alte Fürst hatte sich körperlich nur insofern verändert, als an der einen Seite des Mundes das Fehlen eines Zahnes zu bemerken war; geistig war er ganz derselbe wie früher; nur zeigte er sich noch jähzorniger und glaubte noch weniger an die Wirklichkeit dessen, was in der Welt vorging. Nur Nikolenka war gewachsen und hatte sich sehr verändert: er hatte rote Wangen und dunkles, lockiges Haar bekommen, und wenn er vergnügt war und lachte, so zog er, ohne es selbst zu wissen, die Oberlippe seines hübschen Mündchens genau ebenso in die Höhe, wie es die verstorbene kleine Fürstin getan hatte. Er war der einzige, der in diesem verzauberten, schlafenden Schloß dem Gesetz der Unveränderlichkeit nicht unterworfen war. Aber obgleich äußerlich alles beim alten geblieben zu sein schien, hatten sich doch die inneren Beziehungen aller dieser Menschen während der Zeit, wo Fürst Andrei sie nicht gesehen hatte, gar sehr verändert. Die Hausgenossen hatten sich in zwei Lager geteilt, die einander fremd und feindlich gegenüberstanden und nur jetzt, solange Fürst Andrei da war, um seinetwegen ihre gewohnte Lebensweise änderten und sich miteinander vertrugen. Zu dem einen Lager gehörten der alte Fürst, Mademoiselle Bourienne und der Baumeister, zu dem andern Prinzessin Marja, Dessalles, Nikolenka und alle Kinderfrauen und Wärterinnen.

Während der Anwesenheit des Fürsten Andrei in Lysyje-Gory aßen alle Hausgenossen zusammen zu Mittag; aber allen war unbehaglich zumute, und Fürst Andrei fühlte, daß er ein Gast war, um dessentwillen eine Ausnahme gemacht wurde, und daß er alle durch seine Gegenwart genierte. Am ersten Tag war Fürst Andrei, der das unwillkürlich fühlte, beim Mittagessen schweigsam, und der alte Fürst, der wohl merkte, daß der Sohn sich nicht frei und natürlich gab, beobachtete gleichfalls ein mürrisches Stillschweigen und zog sich gleich nach Tisch wieder auf sein Zimmer zurück. Als Fürst Andrei am Abend zu ihm ging und, um ihn ein wenig anzuregen, von dem Feldzug des jungen Grafen Kamenski zu erzählen anfing, da begann der alte Fürst unerwarteterweise mit ihm von der Prinzessin Marja zu sprechen und schalt auf sie wegen ihres Aberglaubens und wegen ihrer Lieblosigkeit gegen Mademoiselle Bourienne, die nach seiner Behauptung die einzige war, die ihm eine treue Hingabe bewies.

Der alte Fürst sagte, wenn er krank sei, so sei daran nur Prinzessin Marja schuld; sie quäle und reize ihn absichtlich; auch verderbe sie den kleinen Fürsten Nikolai durch Verhätschelung und durch törichte Redereien. Der alte Fürst wußte sehr wohl, daß er seine Tochter quälte und daß diese ein sehr schweres Leben hatte; aber er wußte auch, daß er nicht anders konnte als sie quälen, und war der Meinung, daß sie das verdiente. »Warum sagt denn Fürst Andrei, der doch sieht, wie es steht, mir nichts von seiner Schwester?« dachte der alte Fürst. »Was denkt er denn eigentlich? Daß ich ein Bösewicht oder ein alter Narr bin und mich ohne Grund von meiner Tochter abgewandt und diese Französin an mich herangezogen habe? Er hat kein Verständnis dafür, und darum ist es nötig, daß ich es ihm erkläre und er meine Gründe hört.« Und so begann er denn die Gründe darzulegen, weshalb er das verdrehte Benehmen seiner Tochter nicht ertragen könne.

»Wenn Sie mich fragen«, erwiderte Fürst Andrei, ohne seinen Vater anzusehen (es war das erstemal in seinem Leben, wo er seinem Vater sagte, daß er ihm unrecht gäbe), »– ich hatte nicht reden wollen, aber wenn Sie mich fragen, so will ich Ihnen über alles dies aufrichtig meine Meinung sagen. Wenn zwischen Ihnen und Marja Verstimmung und Entfremdung bestehen, so vermag ich ihr in keiner Weise die Schuld daran beizumessen; ich weiß, welche Liebe und Verehrung sie für ihren Vater fühlt. Wenn Sie mich fragen«, fuhr Fürst Andrei erregt fort, wie er denn in letzter Zeit immer leicht in Erregung geriet, »so kann ich nur das eine sagen: wenn eine Entfremdung besteht, so ist die Ursache davon das nichtswürdige Frauenzimmer, das nicht die Gesellschafterin meiner Schwester sein dürfte.«

Der Alte hatte anfangs seinen Sohn mit starren Augen angeblickt und beim Lächeln in einer unnatürlich wirkenden Weise die neue Zahnlücke sichtbar werden lassen, an deren Anblick Fürst Andrei sich noch nicht hatte gewöhnen können.

»Gesellschafterin? Gesellschafterin, mein Teuerster? He? Du hast schon mit deiner Schwester davon gesprochen? He?«

»Lieber Vater, ich wollte mich nicht zum Richter aufwerfen«, erwiderte Fürst Andrei in bitterem, hartem Ton; »aber Sie haben mich aufgefordert, und daher habe ich gesagt und werde ich immer sagen, daß Prinzessin Marja keine Schuld trägt; die Schuld tragen … die Schuld trägt diese Französin …«

»Ach, er spricht mich schuldig … spricht mich schuldig!« sagte der Alte leise und, wie es dem Fürsten Andrei schien, verlegen; aber dann sprang er plötzlich auf und schrie: »Hinaus, hinaus! Laß dich hier nicht wieder blicken …!«


Fürst Andrei wollte sofort abreisen; aber Prinzessin Marja bat ihn, noch einen Tag zu bleiben. An diesem Tag bekam Fürst Andrei den Vater nicht zu sehen, der nicht aus seinem Zimmer ging und niemanden zu sich hereinließ als Mademoiselle Bourienne und Tichon und sich mehrere Male erkundigte, ob sein Sohn schon abgereist sei. Am andern Tag ging Fürst Andrei vor seiner Abreise in die Zimmer seines Sohnes. Er nahm den frischen, gesunden Knaben, der von seiner Mutter das lockige Haar hatte, auf den Schoß und begann ihm das Märchen von Blaubart zu erzählen, versank aber, noch ehe er die Erzählung zu Ende geführt hatte, in seine Gedanken. Während er sein nettes Söhnchen auf dem Schoß hielt, dachte er nicht an das Kind, sondern an sich selbst. Er suchte in seinem Innern ein Gefühl der Reue darüber, daß er seinen Vater erzürnt hatte, ein Gefühl des Bedauerns darüber, daß er (zum erstenmal in seinem Leben) in Unfrieden von ihm ging, und gewahrte mit Schrecken, daß diese Gefühle in ihm nicht vorhanden waren. Und das Wichtigste war ihm, daß er auch die frühere Zärtlichkeit gegen seinen Sohn vergeblich in sich suchte, die er dadurch, daß er den Knaben liebkoste und auf den Schoß nahm, in sich zu erwecken gehofft hatte.

»Aber erzähle doch weiter!« sagte der Kleine.

Fürst Andrei hob ihn, ohne zu antworten, von seinem Schoß herunter und ging aus dem Zimmer.

Sowie Fürst Andrei seine tägliche Beschäftigung aufgegeben hatte, und namentlich sowie er wieder in die früheren Lebensverhältnisse eingetreten war, in denen er damals gelebt hatte, als er noch glücklich war, hatte ihn sogleich wieder der Lebensüberdruß mit der alten Kraft gepackt, und er beeilte sich nun, möglichst schnell von diesen Erinnerungen wegzukommen und recht bald wieder eine Tätigkeit für sich zu finden.

»Wirst du wirklich abreisen, Andrei?« fragte ihn seine Schwester.

»Gott sei Dank, daß ich fort kann«, erwiderte Fürst Andrei. »Es tut mir sehr leid, daß du es nicht kannst.«

»Warum redest du so!« rief Prinzessin Marja. »Warum redest du so, jetzt, wo du in diesen schrecklichen Krieg gehst und der Vater so alt ist! Mademoiselle Bourienne sagt, er habe nach dir gefragt …«

Sobald sie hiervon zu sprechen anfing, begannen ihre Lippen zu zittern und die Tränen zu fließen. Fürst Andrei wendete sich von ihr ab und ging im Zimmer hin und her.

»Ach, mein Gott! Mein Gott!« sagte er. »Und wenn man bedenkt, wodurch und durch wen … durch was für nichtswürdige Kreaturen Menschen unglücklich gemacht werden können!« stöhnte er mit einem Ingrimm, über den Prinzessin Marja erschrak.

Sie verstand, daß er mit den nichtswürdigen Kreaturen nicht nur Mademoiselle Bourienne meinte, durch die sie unglücklich geworden war, sondern auch den Mann, der ihm sein Glück zerstört hatte.

»Andrei, um eines bitte ich dich, flehe ich dich an«, sagte sie, indem sie seinen Ellbogen berührte und ihn mit leuchtenden Augen durch ihre Tränen hindurch anblickte. »Ich verstehe dich« (Prinzessin Marja schlug die Augen nieder). »Glaube nicht, daß Menschen dir Leid bereitet haben. Die Menschen sind nur Seine Werkzeuge.« Sie blickte ein wenig über den Kopf des Fürsten Andrei hinweg, mit dem sicheren, gewohnten Blick, mit dem man nach dem bekannten Platz eines Porträts hinsieht. »Das Leid kommt von Ihm, nicht von Menschen. Die Menschen sind nur Seine Werkzeuge; sie tragen keine Schuld. Wenn es dir scheint, daß sich jemand gegen dich vergangen hat, so vergib und vergiß. Wir haben kein Recht zu strafen. Dann wirst du die Wonne des Verzeihens kosten.«

»Wenn ich ein Weib wäre, so würde ich das tun, Marja. Das ist eine Tugend für Frauen. Aber ein Mann kann und soll nicht vergeben und vergessen«, erwiderte er, und obwohl er bis zu diesem Augenblick nicht an Kuragin gedacht hatte, stieg plötzlich der ganze noch nicht durch Rache gestillte Ingrimm in seinem Herzen wieder in die Höhe.

»Wenn Prinzessin Marja mir schon zuredet, zu verzeihen«, dachte er, »so folgt daraus, daß ich ihn schon längst hätte bestrafen müssen.« Und ohne ihr zu antworten, malte er sich jetzt den frohen, furchtbaren Augenblick aus, wo er mit Kuragin zusammentreffen werde, der, wie er wußte, sich bei der Armee befand.

Prinzessin Marja bat ihren Bruder inständig, doch noch einen Tag zu warten; sie sagte, sie wisse, wie unglücklich der Vater sein werde, wenn Andrei abreise, ohne sich mit ihm versöhnt zu haben; aber Fürst Andrei erwiderte, er werde wahrscheinlich bald wieder von der Armee zurückkommen; jedenfalls werde er an den Vater schreiben; je länger er jetzt noch bliebe, um so mehr werde sich der Zwist verschärfen.

»Adieu, Andrei. Halte dir gegenwärtig, daß das Leid von Gott kommt und die Menschen nie daran schuld sind«, das waren die letzten Worte, die er von seiner Schwester hörte, als er von ihr Abschied nahm.

»Ja, so muß es zugehen!« dachte Fürst Andrei; als er aus der Allee von Lysyje-Gory hinausfuhr. »Sie, dieses schuldlose, bedauernswerte Wesen, bleibt den Peinigungen des geistesschwach gewordenen alten Mannes ausgesetzt. Dieser selbst fühlt, daß er sich versündigt, ist aber nicht imstande sich zu ändern. Mein Knabe wächst heran und freut sich seines Lebens, in welchem er ein ebensolcher Mensch werden wird wie alle: ein Betrüger oder ein Betrogener. Ich reise zur Armee, ich weiß selbst nicht, warum, und wünsche jenen von mir verachteten Menschen zu treffen, um ihm die Möglichkeit zu geben, mich zu töten und sich über mich lustig zu machen!« Die Lebensverhältnisse des Fürsten Andrei waren früher dieselben gewesen; aber damals hatten sie alle unter sich eine Verbindung und einen Zusammenhang gehabt, jetzt war alles auseinandergefallen. Nur sinnlose Erscheinungen ohne alle Verknüpfung boten sich eine nach der andern seinem geistigen Auge dar.

IX


Fürst Andrei traf Ende Juni im Hauptquartier ein. Die Truppen der ersten Armee, derjenigen, bei der sich der Kaiser befand, waren in einem befestigten Lager an der Drissa untergebracht; die Truppen der zweiten Armee, welche den Versuch gemacht hatten, sich mit der ersten zu vereinigen, waren zurückgewichen, weil sie, wie es hieß, durch überlegene französische Streitkräfte von jener abgeschnitten worden waren. Alle waren mit dem gesamten Gang, den der Krieg für die russische Armee nahm, unzufrieden; aber an die Gefahr eines Einrückens der Feinde in die russischen Gouvernements dachte niemand; niemand glaubte, daß sich der Krieg noch über die westlichen, polnischen Gouvernements hinaus ausdehnen werde.

Fürst Andrei fand Barclay de Tolly, dem er zugewiesen war, am Ufer der Drissa. Da in der Nähe des Lagers kein größeres Dorf oder Städtchen lag, so hatte sich die ganze gewaltige Menge der Generale und Hofleute, die sich bei der Armee befand, in einem Umkreis von zehn Werst in den besten Häusern der kleinen Dörfchen diesseits und jenseits des Flusses einquartiert. Barclay de Tollys Quartier lag vier Werst von dem des Kaisers entfernt. Er empfing Bolkonski trocken und kühl und sagte ihm mit seiner deutschen Aussprache, er werde dem Kaiser über ihn Meldung machen, damit ihm eine bestimmte Stellung zugewiesen werde; vorläufig ersuche er ihn, bei seinem Stab zu bleiben. Anatol Kuragin, den Fürst Andrei bei der Armee zu finden gehofft hatte, war nicht dort: er war jetzt wieder in Petersburg; und diese Nachricht war dem Fürsten Andrei angenehm. Der gewaltige Krieg, der sich jetzt abspielte und in dessen Zentrum er sich befand, nahm ihn ganz in Anspruch, und er war froh, auf einige Zeit von der gereizten Stimmung freizukommen, die der Gedanke an Kuragin bei ihm hervorrief. Während der ersten vier Tage, wo niemand von ihm eine Tätigkeit verlangte, ritt Fürst Andrei das ganze befestigte Lager ab und suchte mit Hilfe seiner Kenntnisse und eingehender Gespräche mit Sachkundigen sich eine bestimmte Meinung darüber zu bilden. Aber die Frage, ob dieses Lager vorteilhaft oder unvorteilhaft sei, mochte Fürst Andrei nicht entscheiden. Er hatte aus seiner militärischen Erfahrung bereits die Überzeugung gewonnen, daß im Krieg die mit der tiefsten Gelehrsamkeit ausgedachten Pläne nichts nützen (wie er das bei der Schlacht bei Austerlitz mit angesehen hatte), sondern alles davon abhängt, wie man auf die unerwarteten und gar nicht vorherzusehenden Handlungen des Feindes antwortet, sowie davon, wie und von wem die ganze Sache geleitet wird. Um über diese letzte Frage ins klare zu kommen, suchte Fürst Andrei unter Benutzung seiner Stellung und seiner Bekanntschaften in den Charakter der Heeresleitung, d.h. der an ihr beteiligten Personen und Parteien einzudringen, und gelangte dabei zu folgender Anschauung von der Lage der Dinge.

Als sich der Kaiser noch in Wilna befand, war die Armee in drei Teile geteilt: die erste Armee kommandierte Barclay de Tolly, die zweite Bagration, die dritte Tormasow. Der Kaiser befand sich bei der ersten Armee, aber nicht in der Eigenschaft eines Oberkommandierenden. In den Tagesbefehlen an die Armeen war nicht gesagt, daß der Kaiser das Kommando führen werde; gesagt war nur, er werde bei der Armee sein. Außerdem war beim Kaiser persönlich nicht der Stab des Oberkommandierenden, sondern der Stab des kaiserlichen Hauptquartiers. Bei ihm befanden sich: der Chef des kaiserlichen Stabes, Generalquartiermeister Fürst Wolkonski, Generale, Flügeladjutanten, Beamte der Diplomatie und eine große Anzahl von Ausländern; aber der Stab der Armee war nicht da. Außerdem waren ohne eigentliches Amt in der Umgebung des Kaisers: der frühere Kriegsminister Araktschejew; Graf Bennigsen, der Rangälteste unter den Generalen; der Großfürst Thronfolger Konstantin Pawlowitsch; der Kanzler Graf Rumjanzew; der ehemalige preußische Minister Stein; der schwedische General Armfelt; Pfuel, der bei der Aufstellung des Feldzugsplanes die Oberleitung gehabt hatte; der Generaladjutant Paulucci, ein sardinischer Emigrant; Wolzogen und viele andere. Obgleich diese Personen sich ohne ein militärisches Amt bei der Armee befanden, übten sie doch vermöge ihrer Stellung einen großen Einfluß aus, und oftmals wußte ein Korpskommandeur oder sogar der Oberkommandierende selbst nicht, in welcher Eigenschaft Bennigsen oder der Großfürst oder Araktschejew oder Fürst Wolkonski über dies und das Fragen stellten und den einen oder andern Rat gaben, und ob eine solche in Form eines Rates gekleidete Weisung von diesen Herren persönlich oder vom Kaiser herrührte, und ob sie somit befolgt werden mußte oder nicht. Aber dies war nur etwas mehr Äußerliches; welche Bedeutung die Anwesenheit des Kaisers und aller dieser Personen in Wirklichkeit hatte, das war vom höfischen Standpunkt aus (und bei Anwesenheit des Kaisers werden alle zu Hofleuten) einem jeden klar. Diese Bedeutung war folgende: der Kaiser hatte den Titel eines Oberkommandierenden nicht angenommen, traf aber Anordnungen für alle Armeen, und die Männer, die ihn umgaben, waren dabei seine Gehilfen. Araktschejew war ein treuer Vollstrecker der kaiserlichen Befehle, ein Wächter der Ordnung, ein Leibtrabant des Kaisers. Bennigsen besaß im Gouvernement Wilna Güter und machte sozusagen die Honneurs des Gouvernements; er war wirklich ein tüchtiger General, im Rat gut zu gebrauchen und auch insofern nützlich, als man ihn immer in Bereitschaft hatte, um Barclay zu ersetzen. Der Großfürst war da, weil es ihm so beliebte, der ehemalige Minister Stein, weil er bei Beratungen nützliche Dienste leisten konnte und weil Kaiser Alexander seine persönlichen Eigenschaften hoch schätzte. Armfelt war ein grimmiger Hasser Napoleons und ein General, der ein großes Selbstvertrauen besaß, was auf Kaiser Alexander nie seine Wirkung verfehlte. Paulucci war da, weil er im Reden eine große Dreistigkeit und Entschiedenheit an den Tag legte. Die Generaladjutanten waren da, weil sie eben überall zu finden waren, wo sich der Kaiser Alexander von der Zweckmäßigkeit dieses Planes überzeugt hatte und nun die gesamten Operationen leitete. Zu Pfuel gehörte auch Wolzogen, dessen Aufgabe es war, Pfuels Gedanken in verständlicherer Form vorzutragen, als es dieser selbst, ein krasser, selbstbewußter, alle anderen verachtender Stubengelehrter vermochte.

Außer diesen genannten Personen, teils Russen, teils Ausländer (von denen besonders die Ausländer mit derjenigen Dreistigkeit, die sich die Menschen beim Wirken in fremder Umgebung gern aneignen, alle Tage neue, überraschende Pläne in Vorschlag brachten), waren noch viele Personen zweiten Ranges da, die sich deshalb bei der Armee befanden, weil ihre Chefs dort waren.

Aus all den Meinungen und Reden bei dieser gewaltigen, unruhigen, glänzenden, stolzen Menschenklasse erkannte Fürst Andrei die folgenden Richtungen und Parteien heraus, die ziemlich scharf voneinander gesonderte Unterabteilungen darstellten.

Die erste Partei wurde von Pfuel und seinen Anhängern gebildet, Theoretikern des Krieges, die da glaubten, es gebe eine Wissenschaft des Krieges und in dieser Wissenschaft unveränderliche Gesetze, Gesetze der schrägen Bewegung, der Umgebung usw. Gemäß diesen strikten, von der vermeintlichen Theorie des Krieges vorgeschriebenen Gesetzen verlangten Pfuel und seine Anhänger, die Armeen sollten sich tief in das Innere des Landes zurückziehen, und erblickten in jeder Abweichung von dieser Theorie nur Barbarentum, Mangel an Bildung oder böse Absichten. Zu dieser Partei gehörten die deutschen Prinzen, Wolzogen, Wintzingerode und andere, hauptsächlich Deutsche.

Die zweite Partei stand zu der ersten in schroffem Gegensatz. Wie es gewöhnlich der Fall ist, fehlte es dem einen Extrem gegenüber nicht an Vertretern des anderen Extrems. Die Männer dieser Partei waren diejenigen, die in Wilna verlangt hatten, man solle nach Polen vorrücken und sich durch keinerlei im voraus festgesetzte Pläne in der Bewegungsfreiheit beschränken lassen. Abgesehen davon, daß die Anhänger dieser Partei für kühnes Handeln eintraten, waren sie auch gleichzeitig die Vertreter der nationalen Richtung, was sie bei den Debatten noch einseitiger machte. Dies waren die Russen Bagration, Jermolow, dessen Stern damals im Aufsteigen begriffen war, und einige andere. Damals wurde zuerst das bekannte Witzwort Jermolows kolportiert: er wolle den Kaiser nur um die eine Gnade bitten, ihn zum Deutschen zu ernennen. Die Männer dieser Partei sagten unter Berufung auf Suworow, man müsse nicht grübeln, nicht die Landkarte mit Stecknadeln bestecken, sondern kämpfen, den Feind schlagen, ihn nicht nach Rußland hineinlassen und dafür sorgen, daß die Truppen nicht mutlos würden.

Zu der dritten Partei, zu welcher der Kaiser das meiste Vertrauen hatte, gehörten Hofleute, die einen Kompromiß zwischen den erstgenannten beiden Richtungen herzustellen suchten. Die Männer dieser Partei, zu der auch Araktschejew, größtenteils aber Zivilisten gehörten, glaubten und sagten, was gewöhnlich Leute sagen, die keine eigene Überzeugung haben, aber doch eine solche zu haben scheinen möchten. Sie sagten, der Krieg verlange ohne Zweifel, namentlich wenn man es mit einem solchen Genie wie Bonaparte zu tun habe (man nannte ihn jetzt wieder Bonaparte), die tiefsinnigsten Kombinationen, eine subtile Kenntnis der Wissenschaft, und auf diesem Gebiet sei Pfuel geradezu genial; aber zugleich müsse man zugeben, daß die Theoretiker oft einseitig seien, und dürfe ihnen deshalb nicht ausschließlich vertrauen, sondern müsse auch auf das hören, was Pfuels Gegner sagten, die Männer der Praxis, die im Kriegswesen Erfahrung hätten, und aus allem die Mitte nehmen. Die Männer dieser Partei befürworteten, man solle dem Pfuelschen Plan gemäß das Lager an der Drissa beibehalten, aber die Bewegungen der anderen Armeen ändern. Obgleich bei dieser Art zu handeln weder das eine noch das andere Ziel erreicht wurde, schien es den Männern dieser Partei dennoch so das beste zu sein.

Die vierte Richtung war die, deren hervorragendster Vertreter der Großfürst Thronfolger war, der die ihm bei Austerlitz widerfahrene Enttäuschung nicht vergessen konnte, wo er wie bei einer Parade in Helm und Koller vor der Garde einhergeritten war in der Erwartung, die Franzosen mit frischem Mut niederzuwerfen, und, da er unvermutet in die vorderste Linie gekommen war, nur mit Mühe sich in der allgemeinen Verwirrung gerettet hatte. Die Männer dieser Partei zeigten in ihren Äußerungen die Vorzüge und die Fehler der Offenherzigkeit. Sie fürchteten Napoleon, sahen in ihm ein Sinnbild der Kraft, in sich ein Sinnbild der Schwäche und sprachen dies unverhohlen aus. Sie sagten: »Dies alles führt zu weiter nichts als zu Unglück, Schande und Verderben! Wir haben Wilna aufgegeben, wir haben Witebsk aufgegeben, wir werden auch die Drissa aufgeben. Das einzig Verständige, das uns zu tun übrigbleibt, ist Frieden zu schließen, und zwar so schnell wie möglich, ehe wir auch noch aus Petersburg verjagt werden!« Diese in den höheren Schichten der Armee stark verbreitete Anschauung fand auch in Petersburg Unterstützung, sowie bei dem Kanzler Rumjanzew, der aus Gründen der Staatsräson gleichfalls für den Frieden war.

Die fünfte Partei waren diejenigen, die sich zu Barclay de Tolly hielten, weil sie, ohne alle seine menschlichen Eigenschaften zu verteidigen, seine Tätigkeit als Kriegsminister und Oberkommandierender hochschätzten. Sie sagten: »Mag er im übrigen sein, wie er will« (so begannen ihre Reden stets), »aber ehrenhaft und tüchtig ist er, und einen besseren haben wir nicht. Man gebe ihm nur eine wirkliche Macht, da ein Krieg ohne einheitliche Leitung nicht mit Erfolg geführt werden kann, und er wird zeigen, was er leisten kann, wie er es in Finnland gezeigt hat. Wenn unsere Armee, ohne Niederlagen zu erleiden, in guter Ordnung und ungeschwächt bis zur Drissa zurückgegangen ist, so verdanken wir das nur Barclay. Wird Barclay jetzt durch Bennigsen ersetzt, so ist alles verloren; denn Bennigsen hat seine Unfähigkeit schon im Jahre 1807 hinreichend gezeigt.« So redeten die Männer dieser Partei.

Die Anhänger der sechsten, Bennigsenschen Partei sagten dagegen, es sei doch niemand tüchtiger und erfahrener als Bennigsen, und wie man sich auch drehen und wenden möge, man komme doch immer wieder auf ihn zurück. »Macht nur jetzt immerzu Fehler!« (Und die Männer dieser Partei bewiesen, daß unser ganzer Rückmarsch zur Drissa die schmachvollste Niederlage und eine ununterbrochene Reihe von Fehlern gewesen sei.) »Je mehr Fehler ihr macht, um so besser; wenigstens werdet ihr dann eher zu der Einsicht kommen, daß es so nicht weitergehen kann«, sagten sie. »Wir brauchen nicht einen Barclay, sondern einen Mann wie Bennigsen, der sich schon im Jahre 1807 bewährt hat und dem Napoleon selbst hat Gerechtigkeit widerfahren lassen; wir brauchen einen Mann, in dessen Hände wir mit frohem Herzen die Macht legen können. Und ein solcher Mann ist einzig und allein Bennigsen.«

Die siebente Partei bildeten Leute, wie sie in der Umgebung von Herrschern, und namentlich von jungen Herrschern, immer zu finden sind, und die in der Umgebung des Kaisers Alexander besonders zahlreich waren: Generale und Flügeladjutanten, die ihm leidenschaftlich ergeben waren und ihn nicht als Kaiser, sondern als Menschen vergötterten, aufrichtig und uneigennützig wie es Rostow im Jahre 1805 getan hatte, und die an ihm nicht nur alle Tugenden, sondern auch alle Geistesgaben fanden, die ein Mensch nur besitzen kann. Diese Männer waren zwar von der Bescheidenheit des Kaisers entzückt, der auf das Kommando über die Truppen verzichtet hatte, tadelten aber dieses Übermaß von Bescheidenheit und wünschten und verlangten nur das eine: der vergötterte Kaiser möge, das übermäßige Mißtrauen gegen sich selbst ablegend, offen erklären, daß er sich an die Spitze der Truppen stelle; er möge sich mit dem Generalstab umgeben und, indem er sich erforderlichenfalls mit erfahrenen Theoretikern und Praktikern berate, selbst seine Truppen führen, die nur dadurch auf den höchsten Grad der Begeisterung gebracht werden könnten.

Die achte, größte Gruppe, die ihrer gewaltigen Quantität nach sich zu den andern wie neunundneunzig zu eins verhielt, bestand aus Menschen, die weder den Frieden noch den Krieg wünschten, weder Offensivbewegungen noch ein Defensivlager, weder an der Drissa noch sonstwo, weder Barclay noch den Kaiser, weder Pfuel noch Bennigsen, sondern nur eines, das für sie den Kern des Ganzen bildete: möglichst viel Vorteil und Vergnügen für sich selbst. In dem trüben Gewässer der einander kreuzenden und verwirrenden Intrigen, von denen es im kaiserlichen Hauptquartier wimmelte, war es in vieler Hinsicht möglich, Dinge zu erreichen, deren Erreichung zu anderer Zeit undenkbar gewesen wäre. Der eine, der weiter nichts wünschte als seine vorteilhafte Stellung nicht zu verlieren, stimmte an dem einen Tag mit Pfuel, am nächsten mit dessen Gegner, und erklärte am dritten Tag, lediglich um sich der Verantwortung zu entziehen und es dem Kaiser recht zu machen, er habe über den betreffenden Gegenstand kein eigenes Urteil. Ein anderer, welcher Vorteile zu erlangen wünschte, lenkte die Aufmerksamkeit des Kaisers dadurch auf sich, daß er das, was der Kaiser tags zuvor als seine eigene Meinung angedeutet hatte, im Kriegsrat mit großem Stimmaufwand vortrug, stritt und schrie und sich auf die Brust schlug und Andersdenkende zum Duell forderte und damit zeigte, daß er bereit sei, sich für das Gemeinwohl zum Opfer zu bringen. Ein dritter forderte einfach zwischen zwei Sitzungen und in Abwesenheit seiner persönlichen Feinde für sich eine Extrabelohnung für seine treuen Dienste, da er wohl wußte, daß jetzt keine Zeit war, die Sache zu prüfen und die Bitte abzuschlagen. Ein vierter kam, anscheinend zufällig, dem Kaiser gerade in solchen Augenblicken vor Augen, wo er den Eindruck machen konnte, als sei er mit Arbeit überlastet. Ein fünfter bewies mit großer Erregung und unter Beibringung mehr oder minder starker und zutreffender Gründe die Richtigkeit oder Unrichtigkeit irgendeiner neu auftretenden Idee, lediglich um ein längst ersehntes Ziel zu erreichen: eine Einladung zur kaiserlichen Tafel. Alle, die zu dieser Partei gehörten, haschten nach Rubeln, Orden und Beförderungen und achteten bei diesen Bestrebungen nur darauf, nach welcher Richtung die Wetterfahne der kaiserlichen Gunst wies. Kaum hatten sie bemerkt, daß diese Wetterfahne sich nach einer bestimmten Seite gewandt hatte, so begann auch dieser ganze Drohnenschwarm beim Heer nach derselben Seite zu blasen, so daß es dem Kaiser um so schwerer wurde, die Fahne wieder nach einer anderen Seite zu drehen. Inmitten der Ungewißheit der Lage und angesichts der ernsten, drohenden Gefahr, die jedem Schritt etwas Beängstigendes, Aufregendes gab, und inmitten dieses Wirbels von Intrigen, von ehrgeizigen Bestrebungen und von mannigfaltigen aufeinanderprallenden Meinungen und Richtungen, und endlich bei der Nationalitätsverschiedenheit aller dieser Personen: zu alledem steigerte diese achte, größte Partei, deren Mitglieder sich nur mit persönlichen Interessen beschäftigten, noch in hohem Grad die Zerfahrenheit und Unklarheit, die in den öffentlichen Angelegenheiten herrschten. Welche Frage auch immer neu aufgeworfen wurde, der Schwarm dieser Drohnen flog, ehe noch das erste Thema erledigt war, zum neuen herüber, machte durch sein Gesumme die ehrlich debattierenden Stimmen unverständlich und betäubte sie völlig.

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