Er machte ein paarmal den Versuch, sich an dem Gespräch zu beteiligen; aber jedesmal wurde seine Bemerkung wie ein Korkpfropfen aus dem Wasser herausgeworfen. Und mit ihnen zusammen zu scherzen und zu lachen, das bekam er nicht fertig.
Es lag nichts Schlimmes oder Unpassendes in dem, was sie sagten; alles war scharfsinnig und klug und hätte als komisch passieren können; aber ein gewisses Etwas, eben das, was das Salz der Heiterkeit bildet, war nicht vorhanden, ja, sie schienen überhaupt nicht zu wissen, daß es so etwas gab.
Nach dem Essen standen Speranskis Töchterchen und ihre Gouvernante auf. Speranski streichelte das Kind liebkosend mit seiner weißen Hand und küßte es. Auch dieses Benehmen machte auf den Fürsten Andrei den Eindruck des Gekünstelten.
Die Herren blieben nach englischer Sitte am Tisch beim Portwein sitzen. Bei einem Gespräch über Napoleons kriegerische Operationen in Spanien, in deren Bewunderung alle einer Meinung waren, unternahm es Fürst Andrei, ihnen zu widersprechen. Speranski lächelte und erzählte, offenbar in der Absicht, das Gespräch von der Richtung, die es nahm, wieder abzulenken, eine Anekdote, die zu dem Gegenstand des Gespräches nicht in Beziehung stand. Eine kleine Weile waren alle still.
Nachdem sie eine Zeitlang bei Tisch gesessen hatten, korkte Speranski die Weinflasche zu, sagte: »Mit einem guten Wein muß man heutzutage sparsam umgehen«, gab sie dem Diener und stand auf. Alle erhoben sich und gingen, sich ebenso laut weiter unterhaltend, in den Salon. Speranski wurden zwei Briefe überreicht, die ein Kurier gebracht hatte. Er nahm sie und ging damit in sein Arbeitszimmer. Sowie er hinaus war, verstummte die allgemeine Lustigkeit, und die Gäste begannen ruhig und vernünftig miteinander zu reden.
»Nun, jetzt aber eine Deklamation!« rief Speranski, als er wieder aus seinem Arbeitszimmer herauskam. »Er besitzt ein ganz erstaunliches Talent!« sagte er zu dem Fürsten Andrei. Magnizki stellte sich sofort in Positur und trug französische Spottgedichte vor, die er auf einige bekannte Persönlichkeiten Petersburgs verfaßt hatte; mehrmals wurde er dabei durch Beifallklatschen unterbrochen. Nach Beendigung dieser Deklamation trat Fürst Andrei an Speranski heran, um sich zu empfehlen.
»Wohin wollen Sie denn so früh?« fragte Speranski.
»Ich habe für den Abend anderweitig zugesagt …«
Beide schwiegen einen Augenblick. Fürst Andrei blickte aus der Nähe in diese spiegelartigen Augen, die kein Eindringen gestatteten, und es kam ihm lächerlich vor, wie er von Speranski und der ganzen Tätigkeit, die mit dessen Person zusammenhing, etwas hatte erwarten und dem, was Speranski tat, irgendeine Wichtigkeit hatte beimessen können. Dieses artikulierte, unecht heitere Lachen klang dem Fürsten Andrei, nachdem er von Speranski weggefahren war, noch lange in den Ohren.
Als er nach Hause zurückgekehrt war, fing Fürst Andrei an, das Leben, das er in Petersburg während dieser vier Monate geführt hatte, zu überdenken, als ob dieses Leben ihm etwas Neues wäre. Er erinnerte sich an seine eifrige Geschäftigkeit, an seine Bestrebungen, an das Schicksal seines Entwurfes eines Militärreglements, der zur Prüfung entgegengenommen war, und den man einzig und allein deshalb totzuschweigen suchte, weil eine andere, sehr schlechte Arbeit schon fertiggestellt und dem Kaiser vorgelegt war; er erinnerte sich an die Sitzungen des Komitees, zu dessen Mitgliedern auch Berg gehörte; er erinnerte sich, mit welcher Genauigkeit und Ausführlichkeit in diesen Sitzungen alles erörtert worden war, was die Form und den Geschäftsgang der Komiteesitzungen anlangte, und wie kurz man geflissentlich alles das abgetan hatte, was sich auf die Sache selbst bezog. Er erinnerte sich an seine gesetzgeberische Arbeit, erinnerte sich daran, mit welcher Sorgfalt er Artikel der römischen und französischen Gesetzsammlung ins Russische übersetzt hatte, und begann sich vor sich selbst zu schämen. Dann stellte er sich lebhaft sein Gut Bogutscharowo vor und seine Tätigkeit auf dem Land und seine Reise nach Rjasan; er erinnerte sich an seine Bauern, an den Dorfschulzen Dron, hielt in Gedanken mit diesen Leuten das Personenrecht zusammen, das er in Paragraphen eingeteilt hatte, und es kam ihm wunderlich vor, wie er sich so lange mit einer so nutzlosen Arbeit hatte beschäftigen können.
XIX
Am andern Tag fuhr Fürst Andrei aus, um Besuche bei mehreren Familien zu machen, bei denen er noch nicht gewesen war, darunter auch bei Rostows, mit denen er die Bekanntschaft auf dem Silvesterball erneuert hatte. Abgesehen davon, daß er nach den Vorschriften der Höflichkeit diesen letzteren einen Besuch abzustatten hatte, wollte Fürst Andrei auch gern dieses eigenartige, lebhafte junge Mädchen, das ihm eine so angenehme Erinnerung hinterlassen hatte, in ihrer häuslichen Umgebung sehen.
Zu den ersten Familienmitgliedern, die zu dem Besucher in den Salon kamen, gehörte auch Natascha. Sie trug ein blaues Hauskleid, in welchem sie dem Fürsten Andrei noch schöner vorkam als in der Balltoilette. Sie und die ganze Familie Rostow nahmen den Fürsten Andrei wie einen alten Freund schlicht und herzlich auf. Die gesamte Familie, über die Fürst Andrei früher ein ungünstiges Urteil gehabt hatte, schien ihm jetzt aus netten, natürlichen, braven Menschen zu bestehen. Die Gastfreundschaft und Gutherzigkeit des alten Grafen, die in Petersburg besonders angenehm überraschte, wirkte auf den Fürsten Andrei so stark, daß er nicht imstande war, eine Einladung zum Mittagessen abzulehnen. »Ja«, dachte er, »das sind gute, prächtige Menschen. Natürlich haben sie nicht das geringste Verständnis für den Schatz, den sie an Natascha besitzen; aber es sind gute Menschen, die einen vortrefflichen Hintergrund bilden, von dem sich diese hochpoetische, lebensvolle, entzückende Mädchengestalt abhebt!«
Fürst Andrei hatte gleich bei der ersten Begegnung aus Nataschas Wesen herausgefühlt, daß diese in einer ihm ganz fremden Welt lebte, angefüllt mit Freuden, die ihm unbekannt waren, in jener fremden Welt, die damals, in der Allee von Otradnoje und am Fenster in der mondhellen Nacht, als ein beunruhigendes Rätsel vor ihm gestanden hatte. Jetzt stand diese Welt nicht mehr als ein Rätsel vor ihm, sie war ihm nicht mehr fremd, sondern er selbst fand, in sie eintretend, in ihr einen ihm bisher unbekannten Genuß.
Nach Tisch ging Natascha auf des Fürsten Andrei Bitte an das Klavier und begann zu singen. Fürst Andrei stand am Fenster, sprach mit den andern Damen und hörte dem Gesang zu. Aber mitten in einem Satz verstummte Fürst Andrei, da er plötzlich fühlte, daß ihm die Tränen in die Kehle stiegen, was er bisher bei sich für unmöglich gehalten hatte. Er betrachtete die singende Natascha, und in seiner Seele vollzog sich ein neuer, beglückender Vorgang. Fürst Andrei fühlte sich glücklich und gleichzeitig traurig. Er hatte schlechterdings keinen Anlaß zum Weinen, und doch war er nahe daran, es zu tun. Worüber? Über seine frühere Liebe? Über die kleine Fürstin? Über seine Enttäuschungen? Über seine Hoffnungen für die Zukunft? … Ja und nein. Die Hauptsache, die ihn beinahe zum Weinen brachte, war der ihm auf einmal lebhaft zum Bewußtsein gekommene furchtbare Kontrast zwischen etwas unendlich Großem, Unbestimmtem, das in ihm war, und etwas Engem, Körperlichem, welches er selbst war und auch sogar sie. Dieser Kontrast war es, der ihn während ihres Gesanges zugleich quälte und erfreute.
Sowie Natascha aufgehört hatte zu singen, trat sie zu ihm und fragte ihn, wie ihm ihre Stimme gefalle. Sowie die Frage heraus war, wurde auch Natascha verlegen, da sie merkte, daß sie danach nicht hätte fragen dürfen. Er blickte sie lächelnd an und erwiderte, ihr Gesang gefalle ihm ebenso wie alles, was sie tue.
Erst am späten Abend fuhr Fürst Andrei von Rostows fort. Er legte sich in gewohnter Weise zu Bett, sah aber bald ein, daß er nicht schlafen könne. Bald saß er bei der wieder angezündeten Kerze auf dem Bett, bald stand er auf, bald legte er sich wieder hin, ohne über seine Schlaflosigkeit im geringsten verdrießlich zu werden – seine Seele war von einem so neuen, freudigen Gefühl erfüllt, als ob er aus einem dumpfigen Zimmer in die freie Gotteswelt hinausgetreten wäre. Der Gedanke, daß er in Fräulein Rostowa verliebt sei, kam ihm gar nicht in den Sinn; er dachte an sie nicht mit dem Verstand, er stellte sie sich nur mit der Einbildungskraft vor, und infolgedessen erschien ihm sein ganzes Leben in einem neuen Licht. »Warum zerquäle ich mich, warum plage ich mich ab in diesem engen, geschlossenen Rahmen, während doch das Leben, das ganze Leben mit allen seinen Freuden offen vor mir daliegt?« fragte er sich selbst. Und zum erstenmal seit langer Zeit begann er glückliche Pläne für die Zukunft zu entwerfen. Er sagte sich, er müsse jetzt für die Erziehung seines Sohnes sorgen und zunächst einen Erzieher für ihn suchen und ihn diesem übergeben; dann müsse er Urlaub nehmen und ins Ausland fahren, um England, die Schweiz und Italien zu besuchen. »Ich muß meine Freiheit genießen, solange ich noch soviel Kraft und Jugendlichkeit in mir fühle«, sagte er zu sich selbst. »Pierre hatte recht: man muß an die Möglichkeit des Glückes glauben, um glücklich zu sein. Und ich glaube jetzt an diese Möglichkeit. Lassen wir die Toten die Toten begraben; solange man am Leben ist, muß man leben und glücklich sein.«
XX
Eines Morgens kam der Oberst Adolf Berg, mit welchem Pierre, wie überhaupt mit allen Leuten in Moskau und Petersburg, bekannt war, zu ihm; er trug eine funkelnagelneue Uniform und hatte das Haar an den Schläfen ebenso nach vorn gestrichen und pomadisiert, wie es der Kaiser Alexander Pawlowitsch trug.
»Ich war soeben bei der Gräfin, Ihrer Gemahlin, und mußte leider hören, daß sie meine Bitte nicht erfüllen kann. Ich hoffe, bei Ihnen, Graf, mehr Glück zu haben«, sagte er lächelnd.
»Was ist Ihnen gefällig, Oberst? Ich stehe zu Ihren Diensten.«
»Ich bin jetzt mit der Einrichtung meiner neuen Wohnung vollständig fertig, Graf«, teilte ihm Berg mit, offenbar überzeugt, daß es einem jeden eine Freude sein müsse, dies zu hören, »und daher möchte ich gern für meine Bekannten und für die Bekannten meiner Frau so eine kleine Abendgesellschaft veranstalten.« (Er lächelte noch freundlicher.) »Ich wollte die Gräfin und Sie bitten, uns die Ehre zu erweisen, zu einer Tasse Tee und zum Abendbrot zu uns zu kommen.«
Nur die Gräfin Jelena Wasiljewna, die es unter ihrer Würde hielt, mit Leuten wie Bergs gesellschaftlich zu verkehren, konnte so grausam sein, eine solche Einladung auszuschlagen. Berg sprach es mit solcher Offenheit aus, warum er den Wunsch habe, eine kleine, auserlesene Gesellschaft bei sich zu sehen, und warum es ihm angenehm sein würde, wenn sie kämen, und daß ihm für Kartenspiel und andere schlechte Dinge das Geld leid tue, daß er aber für eine gute Gesellschaft auch bereit sei, Ausgaben zu machen – das alles sagte er so offen, daß Pierre es nicht übers Herz brachte, ihm eine abschlägige Antwort zu geben, und zu kommen versprach.
»Nur nicht zu spät, Graf, wenn ich bitten darf; so etwa zehn Minuten vor acht, möchte ich bitten. Wir wollen eine Kartenpartie arrangieren; unser General wird auch dasein. Er ist mir sehr gewogen. Und dann haben wir ein kleines Souper, Graf. Also haben Sie die Liebenswürdigkeit!«
Ganz entgegen seiner Gewohnheit, zu spät zu kommen, fand sich Pierre an diesem Tag statt zehn Minuten vor acht schon um dreiviertel acht bei Bergs ein.
Herr und Frau Berg waren bereits mit allen nötigen Anordnungen für die Abendgesellschaft fertig und zum Empfang der Gäste bereit.
In seinem neuen, sauberen, hellerleuchteten, mit neuen Möbeln ausgestatteten und mit Büsten und Gemälden geschmückten Arbeitszimmer saß Berg mit seiner Frau. Er saß in seiner neuen, zugeknöpften Uniform neben ihr und setzte ihr auseinander, man könne und müsse immer mit Leuten Umgang unterhalten, die über einem ständen, weil man nur dann von dem Umgang Vorteil habe. »Solchen Leuten kann man manches absehen, und man kann sie auch um dies und das bitten. Sieh nur, wie ich von den untersten Stufen an verfahren bin.« (Berg rechnete sein Leben nicht nach Jahren, sondern nach den Avancements.) »Meine ehemaligen Kameraden haben es jetzt noch zu nichts gebracht, und ich vertrete den Regimentskommandeur und habe das Glück, dein Gatte zu sein.« (Er stand auf und küßte seiner Frau die Hand, legte aber, während er zu ihr trat, eine Ecke des Teppichs zurecht, die sich umgeschlagen hatte.) »Und wodurch habe ich alles das erreicht? Hauptsächlich dadurch, daß ich es verstanden habe, meinen Verkehr richtig zu wählen. Es versteht sich von selbst, daß man auch rechtschaffen und pflichttreu sein muß.«
Berg lächelte im Bewußtsein seiner Überlegenheit über so ein beschränktes weibliches Wesen und schwieg dann, weil er sich sagte, daß seine liebe Frau doch eben nur ein beschränktes Weib sei, das kein rechtes Verständnis dafür habe, worin der Wert eines Mannes bestehe. Gleichzeitig lächelte auch Wjera in dem Bewußtsein ihrer Überlegenheit über ihren Mann, der ja ein rechtschaffener, guter Mensch war, aber doch, wie alle Männer nach Wjeras Begriffen, das Leben falsch auffaßte. Berg, nach seiner Frau urteilend, hielt alle Frauen für beschränkt und dumm. Wjera, die nur nach ihrem Mann urteilte und diese Beobachtung verallgemeinerte, war der Ansicht, alle Männer hielten sich allein für klug, verständen aber dabei doch gar nichts und seien hochmütig und egoistisch.
Berg stand auf, umarmte seine Frau vorsichtig, um nicht die Spitzenpelerine zu verdrücken, für die er viel Geld ausgegeben hatte, und küßte sie mitten auf den Mund.
»Ich habe nur den einen Wunsch, daß wir nicht so bald Kinder bekommen«, sagte er infolge einer Gedankenverknüpfung, die ihm selbst nicht zum Bewußtsein kam.
»Ja«, antwortete Wjera, »ich wünsche mir überhaupt keine. Man muß für den gesellschaftlichen Verkehr leben.«
»Genau ebenso eine hatte die Fürstin Jusopowa«, sagte Berg und deutete mit einem glückseligen, gutherzigen Lächeln auf Wjeras Pelerine.
In diesem Augenblick wurde Graf Besuchow gemeldet. Die beiden Ehegatten wechselten miteinander einen selbstzufriedenen Blick, indem ein jeder es sich zurechnete, daß ihnen die Ehre dieses Besuches zuteil wurde.
»Da sieht man, was es nützt, wenn man versteht Bekanntschaften zu machen«, dachte Berg, »und was es nützt, wenn man etwas auf sich hält!«
»Nur, bitte, wenn ich die Gäste unterhalte«, sagte Wjera, »unterbrich mich nicht immer. Ich weiß ganz genau, womit man einen jeden unterhalten muß, und für welche Gesellschaft das eine oder das andere Thema paßt.«
Berg lächelte.
»Allein kannst du es denn doch nicht übernehmen; manchmal ist für Männergesellschaft auch ein Männergespräch nötig.«
Pierre wurde in dem neuen Salon empfangen, in dem man sich nirgends hinsetzen konnte, ohne die Symmetrie, Sauberkeit und Ordnung zu stören, und daher war es sehr begreiflich und keineswegs sonderbar, daß Berg sich zwar in großmütiger Weise bereit erklärte, die Symmetrie der Lehnstühle oder des Sofas um des teuren Gastes willen zu verderben, aber doch, da er selbst in dieser Hinsicht sich augenscheinlich in einer peinlichen Unentschlossenheit befand, die Entscheidung dieser Frage dem Belieben des Gastes anheimstellte. So zerstörte denn Pierre die Symmetrie, indem er sich einen Stuhl heranzog, und nun ließen Berg und Wjera sofort ihre Abendgesellschaft beginnen: sie unterhielten den Gast und unterbrachen einander abwechselnd.
Wjera, die in ihrem klugen Kopf zu dem Resultat gelangt war, Pierre müsse mit einem Gespräch über die französische Gesandtschaft unterhalten werden, brachte sofort diesen Gegenstand aufs Tapet. Berg aber, der sich sagte, daß auch ein Männergespräch vonnöten sei, unterbrach seine Frau dadurch, daß er die Frage eines Krieges mit Österreich berührte, und ging dann unwillkürlich von dem allgemeinen Gegenstand zu einer Erörterung der Anerbietungen über, die ihm für eine Beteiligung an einem österreichischen Feldzug gemacht waren, sowie zu einer Darlegung der Gründe, weswegen er sie nicht angenommen hatte. Obwohl das Gespräch recht wenig passend war und Wjera sich über die Einmengung eines männlichen Themas ärgerte, fühlten die beiden Gatten mit Vergnügen, daß, trotzdem nur erst ein Gast da war, die »Soiree« einen sehr guten Anfang genommen hatte und jeder anderen Soiree mit Gesprächen, Tee und brennenden Lichtern glich wie ein Ei dem andern.
Bald darauf erschien auch Boris, Bergs alter Kamerad. Er behandelte Berg und Wjera mit einer Nuance von Überlegenheit und Gönnerhaftigkeit. Nach Boris kam ein Oberst mit seiner Frau, dann der General selbst, dann die Familie Rostow, und es war kein Zweifel mehr, daß diese Abendgesellschaft allen andern Abendgesellschaften vollkommen ähnlich wurde. Berg und Wjera konnten ein frohes Lächeln nicht unterdrücken beim Anblick der vielen Verbeugungen und der steten Bewegung im Salon und bei dem Geräusch dieser unzusammenhängenden Gespräche und des Kleiderraschelns. Alles war ebenso wie bei allen andern, namentlich auch die Anwesenheit und das Verhalten des Generals als Ehrenperson: er lobte die Wohnung, klopfte Berg auf die Schulter und leitete mit väterlicher Eigenmächtigkeit die Herrichtung des Bostontisches. Der General setzte sich zu dem Grafen Ilja Andrejewitsch als dem vornehmsten Gast nach ihm selbst. Die Alten saßen bei den Alten, die Jugend bei der Jugend, die Hausfrau am Teetisch, auf welchem in einem silbernen Körbchen genau ebensolches Gebäck stand, wie es neulich welches auf der Abendgesellschaft bei Panins gegeben hatte – alles war in jeder Hinsicht ebenso wie bei andern Leuten.
XXI
Pierre als einer der angesehensten Gäste mußte sich mit Ilja Andrejewitsch, dem General und dem Obersten an den Bostontisch setzen. Zufällig kam er so zu sitzen, daß er Natascha ins Gesicht sehen konnte, und er war überrascht von der seltsamen Veränderung, die mit ihr seit dem Ball vorgegangen war. Natascha war schweigsam und bei weitem nicht so schön, wie sie auf dem Ball gewesen war; ja, sie wäre geradezu häßlich gewesen, hätte auf ihrem Gesicht nicht ein solcher Ausdruck sanfter Milde und stillen Gleichmuts allem gegenüber gelegen.
»Was ist mit ihr vorgegangen?« dachte Pierre, während er sie betrachtete. Sie saß neben ihrer Schwester am Teetisch und antwortete, als Boris, der sich zu ihr gesetzt hatte, sie etwas fragte, nur wie gezwungen und ohne ihn anzusehen. Nachdem Pierre eine ganze Reihe von Trümpfen heruntergespielt und zur großen Befriedigung seines Partners fünf Stiche gemacht hatte, blickte er, als er gerade die Schritte eines ins Zimmer tretenden neuen Gastes und die Begrüßung desselben gehört hatte, während des Zusammenlegens der Stiche wieder zu Natascha hin.
»Was ist mit ihr vorgegangen?« fragte er sich jetzt mit noch größerem Erstaunen.
Fürst Andrei stand mit einer Miene rücksichtsvoller, zarter Höflichkeit vor ihr und sagte etwas zu ihr. Sie hatte den Kopf in die Höhe gehoben und sah ihn an; ihr Gesicht war ganz rot geworden, und sie bemühte sich offenbar, ihren stoßweise gehenden Atem zu beherrschen. Ein inneres, vorher beinah erloschenes Feuer war in ihr von neuem mit hellem Schein aufgeflammt. Sie war völlig umgewandelt: soeben noch häßlich, war sie wieder ebenso geworden wie sie auf dem Ball gewesen war.
Fürst Andrei trat zu Pierre, und dieser bemerkte einen neuen, jugendlichen Ausdruck in dem Gesicht seines Freundes.
Pierre wechselte während des Spieles mehrmals seinen Platz, so daß er Natascha bald den Rücken, bald das Gesicht zuwandte, und stellte während des ganzen sechsten Robbers seine Beobachtungen über sie und seinen Freund an.
»Es geht etwas sehr Wichtiges zwischen ihnen vor«, dachte Pierre, und ein freudiges und zugleich bitteres Gefühl versetzte ihn in Erregung und lenkte seine Aufmerksamkeit vom Spiel ab.
Nach Beendigung des sechsten Robbers erhob sich der General und erklärte, unter solchen Umständen sei es unmöglich weiterzuspielen. Pierre wurde frei. Natascha sprach auf der einen Seite mit Sonja und Boris; Wjera redete mit einem feinen Lächeln über irgend etwas mit dem Fürsten Andrei. Pierre trat zu seinem Freund, fragte, ob sie auch nicht etwa Geheimnisse verhandelten, und setzte sich zu ihnen. Wjera hatte, als sie die Aufmerksamkeit des Fürsten Andrei gegen Natascha bemerkte, sich gesagt, bei einer Abendgesellschaft, einer richtigen Abendgesellschaft, müßten unbedingt feine Anspielungen auf Gefühle vorkommen, und einen Augenblick benutzend, wo Fürst Andrei von keiner anderen Seite in Anspruch genommen war, hatte sie mit ihm ein Gespräch über Gefühle im allgemeinen und über ihre Schwester im besonderen angefangen. Bei einem so klugen Mann (denn für einen solchen hielt sie den Fürsten Andrei) hatte sie geglaubt, mit all ihrer diplomatischen Kunst zu Werke gehen zu müssen.
Als Pierre zu ihnen trat, bemerkte er, daß Wjera bei dem Gespräch einen selbstgefälligen Eifer bekundete, Fürst Andrei dagegen (was ihm nur selten begegnete) verlegen zu sein schien.
»Wie denken Sie darüber?« fragte Wjera mit einem feinen Lächeln. »Sie sind ja so außerordentlich scharfsichtig, Fürst, und durchschauen den Charakter der Menschen auf den ersten Blick. Wie denken Sie über Natascha: ist sie fähig, bei ihren Neigungen Ausdauer zu beweisen? Kann sie so wie andere Frauen« (damit meinte Wjera sich selbst) »einen Menschen einmal liebgewinnen und ihm dann für immer treu bleiben? Denn das halte ich für die wahre Liebe. Wie denken Sie darüber, Fürst?«
»Ich kenne Ihre Schwester zu wenig«, antwortete Fürst Andrei mit einem spöttischen Lächeln, unter dem er seine Verlegenheit verbergen wollte; »als daß ich wagen könnte, eine so subtile Frage zu entscheiden; und dann habe ich die Beobachtung gemacht, daß eine Frau um so beständiger ist, je weniger sie gefällt«, fügte er hinzu und blickte Pierre an, der in diesem Augenblick zu ihnen trat.
»Ja, das ist richtig, Fürst; in unserer Zeit«, fuhr Wjera fort (sie redete von unserer Zeit, wie es beschränkte Leute gern tun, welche glauben, sie hätten mit feinem Urteil Besonderheiten unserer Zeit herausgefunden und die Eigenschaften der Menschen änderten sich mit den Zeiten), »in unserer Zeit hat ein junges Mädchen soviel Freiheit, daß das Vergnügen daran, sich umschwärmt zu sehen, häufig in ihrer Seele alle wahren Empfindungen erstickt. Und ich muß gestehen: auch Natascha ist dafür sehr empfänglich.« Dieses Zurückkommen auf Natascha ließ den Fürsten wieder mißmutig die Stirn runzeln; er wollte aufstehen, aber Wjera fuhr mit noch feinerem Lächeln fort:
»Ich glaube, kein Mädchen ist so umschwärmt worden wie sie; aber niemals, noch bis auf die letzte Zeit, hat ihr jemand ernstlich gefallen. Das wissen Sie ja auch, Graf«, wandte sie sich an Pierre. »Nicht einmal unser liebenswürdiger Vetter Boris, der, unter uns gesagt, sterblich in sie verliebt war.«
Fürst Andrei machte ein finsteres Gesicht und schwieg.
»Sie sind ja wohl mit Boris befreundet?« fragte ihn Wjera.
»Ja, ich kenne ihn.«
»Er hat Ihnen gewiß von seiner Kindheitsliebe zu Natascha erzählt?«
»Hat denn eine solche bestanden?« fragte Fürst Andrei plötzlich und errötete dabei.
»Ja. Sie wissen: der vertrauliche Verkehr zwischen Kusin und Kusine führt manchmal zur Liebe; Vetternschaft ist eine gefährliche Nachbarschaft. Nicht wahr?«
»Oh, ohne Zweifel!« erwiderte Fürst Andrei. Er wurde auf einmal in unnatürlicher Weise lebhaft und begann Pierre zu necken: dieser solle in seinem Verkehr mit seinen Moskauer Kusinen nur ja recht vorsichtig sein. Aber mitten in diesem scherzenden Gespräch stand er auf, faßte Pierre unter den Arm und führte ihn beiseite.
»Nun, was gibt es?« fragte Pierre, der mit Erstaunen die seltsame Lebhaftigkeit seines Freundes beobachtete und den Blick wahrnahm, den dieser beim Aufstehen auf Natascha richtete.
»Ich muß mit dir sprechen, notwendig sprechen«, sagte Fürst Andrei. »Du kennst unsere Frauenhandschuhe.« (Er meinte die Handschuhe, die bei den Freimaurern dem neu aufgenommenen Bruder übergeben wurden, damit er sie der ihm geliebten Frau einhändige.) »Ich … Aber nein, ich will ein andermal mit dir davon reden …« Und mit einem seltsamen Glanz in den Augen und mit einer sonderbaren Unruhe in seinen Bewegungen trat Fürst Andrei zu Natascha hin und setzte sich neben sie. Pierre sah, wie Fürst Andrei sie etwas fragte, und wie sie unter tiefem Erröten ihm antwortete.
Aber in diesem Augenblick trat Berg zu Pierre und bat ihn dringend, sich an einer Debatte über die kriegerischen Operationen in Spanien zu beteiligen, die sich zwischen dem General und dem Obersten entsponnen hatte.
Berg war zufrieden und glücklich. Ein Lächeln der Freude wich nicht von seinem Gesicht. Die Abendgesellschaft war sehr gut und ganz von derselben Art wie andere Abendgesellschaften, bei denen er gewesen war. Alles war ebenso: das helltönende Geplauder der Damen, und der Kartentisch, und am Kartentisch der General mit seiner lauten, herausfordernden Stimme, und der Samowar, und das Gebäck; aber eines mangelte noch, etwas, was ihm immer auf den Abendgesellschaften, die er nachzumachen suchte, entgegengetreten war: es mangelte noch ein lautes Gespräch unter den Männern und ein Streit über irgendeinen wichtigen, ernsten Gegenstand. Ein solches Gespräch hatte nun der General angefangen, und Berg beeilte sich, Pierre zu diesem Gespräch mit heranzuziehen.
XXII
Am folgenden Tag kam Fürst Andrei, da er vom Grafen Ilja Andrejewitsch eingeladen worden war, zu Rostows zum Mittagessen und verlebte bei ihnen den ganzen Rest des Tages.
Alle im Haus merkten, um wessen willen Fürst Andrei kam; auch machte er selbst kein Hehl daraus, sondern suchte die ganze Zeit über mit Natascha zusammenzusein. Nicht nur in der Seele der ängstlichen, aber glücklichen und entzückten Natascha, sondern im ganzen Haus machte sich eine Furcht vor etwas Wichtigem fühlbar, das sich vollziehen wollte. Die Gräfin blickte den Fürsten Andrei mit tiefernsten, traurigen Augen an, wenn er mit Natascha sprach, und begann mit schüchterner Verstellung irgendein gleichgültiges Gespräch, sobald er sich nach ihr hinwandte. Sonja fürchtete sich, von Natascha wegzugehen, und fürchtete sich andrerseits, zu stören, wenn sie bei ihnen bliebe. Natascha wurde ganz blaß vor banger Erwartung, wenn sie ein paar Minuten lang mit ihm unter vier Augen blieb. Sie war überrascht von der Schüchternheit des Fürsten Andrei. Sie fühlte, daß es ihn drängte, ihr etwas zu sagen, und daß er sich doch nicht dazu entschließen konnte.
Als am Abend Fürst Andrei weggefahren war, trat die Gräfin zu Natascha und fragte sie flüsternd: »Nun, wie ist’s?«
»Mama, um Gottes willen, fragen Sie mich jetzt nichts; ich kann Ihnen nichts sagen«, antwortete Natascha.
Aber trotzdem lag an diesem Abend Natascha aufgeregt und ängstlich, mit starren Augen, lange im Bett der Mutter. Sie erzählte ihr, daß er sie gelobt habe, und daß er gesagt habe, er wolle ins Ausland reisen, und daß er gefragt habe, wo sie diesen Sommer verleben würden, und daß er sie nach Boris gefragt habe.
»Aber so … so … so ist mir noch nie zumute gewesen!« rief sie. »Es ist mir so seltsam in seiner Gegenwart, immer ist mir in seiner Gegenwart so seltsam; was bedeutet das? Bedeutet das, daß dies das Richtige ist, ja? Mama, schlafen Sie?«
»Nein, liebes Kind, mir ist selbst so seltsam«, antwortete die Mutter. »Aber geh jetzt.«
»Schlafen kann ich ja doch nicht. Eine reine Unmöglichkeit. Mamachen, Mamachen, so ist mir noch nie zumute gewesen«, sagte sie erstaunt und erschrocken über das Gefühl, das sie in ihrer Seele wahrnahm. »Wie hätten wir so etwas denken können!«
Natascha hatte die Vorstellung, schon damals, als sie den Fürsten Andrei zum erstenmal in Otradnoje gesehen hatte, habe sie sich in ihn verliebt. Sie erschrak ordentlich über den seltsamen, unerwarteten Glückszufall, daß der Mann, den sie sich schon damals erwählt hatte (davon war sie fest überzeugt), daß dieser selbe Mann ihr jetzt wieder begegnet war und anscheinend eine Neigung zu ihr empfand.
»Da mußte er nun gerade jetzt, wo wir hier sind, nach Petersburg kommen. Und da mußte er mit uns auf diesem Ball zusammentreffen. Das ist alles eine Fügung des Schicksals. Es ist klar, daß das eine Fügung des Schicksals ist, und daß alles darauf abgezielt hat. Schon damals fühlte ich, sowie ich ihn nur gesehen hatte, in meinem Herzen etwas Besonderes.«
»Was hat er denn zu dir noch gesagt? Was waren denn das für Verse? Sage sie mir doch einmal her …«, sagte die Mutter nachdenklich; die Frage bezog sich auf die Verse, die Fürst Andrei in Nataschas Album geschrieben hatte.
»Mama, muß ich mich nicht schämen, daß er Witwer ist?«
»Rede keine Torheit, Natascha. Bete zu Gott. Die Ehen werden im Himmel geschlossen.«
»Liebes, süßes Mamachen, wie ich Sie liebe, und wie glücklich ich bin!« rief Natascha und umarmte ihre Mutter unter Tränen der Freude und der Aufregung.
Zu derselben Zeit saß Fürst Andrei bei Pierre und redete mit ihm über seine Liebe zu Natascha und über seine feste Absicht, sie zu heiraten.
An diesem Tag fand bei der Gräfin Jelena Wasiljewna eine Abendgesellschaft statt; der französische Gesandte war da, und der Prinz, der seit kurzem ein häufiger Gast in dem Haus der Gräfin geworden war, und viele der vornehmsten Damen und Herren. Pierre war unten, wanderte durch die Säle und fiel allen Gästen durch sein in sich gekehrtes, zerstreutes Wesen und seine finstere Miene auf.
Pierre spürte seit jenem Ball in seinem Innern wieder das Herannahen eines Anfalles von Hypochondrie und suchte mit verzweifelter Anstrengung dagegen anzukämpfen. Seit der Prinz sich Helenen genähert hatte, war Pierre unerwarteterweise zum Kammerherrn ernannt worden und konnte seitdem in größerer Gesellschaft ein bedrückendes Gefühl der Scham nicht loswerden, und es kamen ihm wieder recht oft die früheren traurigen Gedanken über die Nichtigkeit alles Menschlichen.
Gerade in dieser Zeit nahm er die wechselseitige Neigung zwischen seinem Protegé Natascha und dem Fürsten Andrei wahr, und diese Wahrnehmung diente durch den Gegensatz zwischen seiner eigenen Lage und der seines Freundes noch dazu, seine traurige Gemütsstimmung zu steigern. Er vermied es jedoch nach Kräften, an seine Frau und an Natascha und an den Fürsten Andrei zu denken. Wieder erschien ihm alles nichtig im Vergleich mit der Ewigkeit, wieder drängte sich ihm die Frage auf: »Wozu?« Und tagelang und nächtelang zwang er sich dazu, sich mit freimaurerischen Arbeiten abzumühen, in der Hoffnung, so den herannahenden bösen Geist zu verscheuchen.
Pierre hatte sich um zwölf Uhr aus den Gemächern der Gräfin entfernt und saß nun bei sich oben in einem niedrigen, mit Tabaksrauch erfüllten Zimmer in einem abgetragenen Schlafrock am Tisch und war damit beschäftigt, schottische Originalurkunden abzuschreiben, als jemand zu ihm ins Zimmer trat. Es war Fürst Andrei.
»Ach, Sie sind es«, sagte Pierre mit zerstreuter, mißvergnügter Miene. »Ich bin gerade bei der Arbeit«, fügte er hinzu und zeigte auf sein Heft mit der Miene, mit welcher unglückliche Menschen ihre Arbeit ansehen, durch die sie sich aus dem Elend des Lebens zu retten suchen.
Fürst Andrei blieb mit strahlendem, entzücktem, von neuem Lebensmut zeugenden Gesicht vor Pierre stehen und lächelte ihm mit dem Egoismus des Glücklichen zu, ohne Pierres traurige Miene zu bemerken.
»Nun, Teuerster«, sagte er, »ich wollte schon gestern mit dir sprechen und bin heute ausdrücklich deshalb zu dir gekommen. Noch nie habe ich etwas Ähnliches empfunden. Ich bin verliebt, mein Freund.«
Pierre seufzte plötzlich tief und ließ sich mit seinem schweren Körper neben den Fürsten Andrei auf das Sofa sinken.
»In Natascha Rostowa, ja?« fragte er.
»Ja, ja, in wen denn sonst? Ich hätte so etwas nie geglaubt; aber dieses Gefühl ist stärker als ich. Gestern habe ich mich gemartert und habe Pein ausgestanden; aber auch diese Pein würde ich für alles in der Welt nicht hingeben. Mein früheres Leben war kein wirkliches Leben. Erst jetzt lebe ich wahrhaft; aber ich kann nicht leben ohne sie … Aber kann sie mich lieben? Ich fürchte, ich bin zu alt für sie … Aber warum sprichst du nicht?«
»Ich? Ich? Was habe ich Ihnen gesagt?« rief Pierre, indem er aufstand und im Zimmer auf und ab zu gehen begann. »Ich habe immer gedacht, daß es so kommen werde … Dieses Mädchen ist ein solcher Schatz, eine so … Es ist ein ganz seltenes Wesen … Lieber Freund, ich bitte Sie, reflektieren Sie nicht, zweifeln Sie nicht, sondern heiraten Sie, heiraten Sie, heiraten Sie … Und ich bin überzeugt, daß es keinen glücklicheren Menschen geben wird als Sie.«
»Aber sie!«
»Sie liebt Sie.«
»Rede keinen Unsinn …«, sagte Fürst Andrei und blickte Pierre lächelnd in die Augen.
»Sie liebt Sie; ich weiß es«, schrie Pierre ärgerlich.
»Nein, hör mal«, sagte Fürst Andrei, indem er ihn am Arm festhielt. »Kannst du nachfühlen, in welcher Lage ich mich befinde? Ich muß das alles irgend jemandem gegenüber aussprechen.«
»Nun also, also, dann sprechen Sie; ich freue mich sehr«, erwiderte Pierre, und wirklich änderte sich der Ausdruck seines Gesichtes, die Falte auf der Stirn verschwand, und er hörte dem Fürsten Andrei mit heiterer Miene zu. Fürst Andrei schien ein ganz neuer Mensch geworden zu sein und war es auch wirklich. Wo waren seine Melancholie, seine Geringschätzung des Lebens, seine Entmutigung geblieben? Pierre war der einzige Mensch, vor dem er sich aussprechen konnte; aber dafür sagte er diesem nun auch alles, was er nur auf dem Herzen hatte. Bald machte er leichten, kecken Sinnes Pläne für eine lange, lange Zukunft und sprach davon, daß er sein Glück nicht einer Laune seines Vaters zum Opfer bringen könne, daß er entweder seinen Vater zwingen werde, seine Zustimmung zu dieser Ehe zu geben und Natascha zu lieben, oder sich ohne seine Zustimmung behelfen werde; bald wieder erging er sich in Ausdrücken der Verwunderung über dieses Gefühl, das sich seiner bemächtigt hatte, wie über etwas ganz Seltsames, Fremdes.
»Ich hätte es nicht geglaubt, wenn mir jemand gesagt hätte, daß ich so lieben könnte«, sagte Fürst Andrei. »Es ist eine ganz andere Empfindung als die, welche ich früher in mir fühlte. Die ganze Welt ist jetzt für mich in zwei Hälften geteilt: die eine Hälfte ist sie, und dort ist alles eitel Glück und Hoffnung und Licht; die andre Hälfte, das ist alles, wo sie nicht ist, und da ist alles Mutlosigkeit und Finsternis.«
»Ja, Mutlosigkeit und Finsternis«, wiederholte Pierre. »Ja, ja, das verstehe ich.«
»Ich kann nicht anders, ich muß das Licht lieben; das hängt nicht von meinem Willen ab. Und ich bin sehr glücklich. Verstehst du meinen Zustand? Ich weiß, daß du dich mit mir freust.«
»Ja, das tue ich«, versicherte Pierre und blickte seinen Freund gerührt und traurig an. In je hellerem Licht sich ihm das Schicksal des Fürsten Andrei zeigte, um so dunkler erschien ihm sein eigenes.
XXIII
Zu seiner Heirat bedurfte Fürst Andrei der Zustimmung seines Vaters und reiste aus diesem Grund am andern Tag zu ihm.
Der Vater nahm die Mitteilung des Sohnes äußerlich ruhig auf; aber innerlich war er darüber sehr aufgebracht. Da sein eigenes Leben schon zu Ende ging, so hatte er kein Verständnis dafür, daß andere Leute ihr Leben verändern und noch etwas Neues in dasselbe hineintragen wollten. »Sie sollten mich nur zu Ende leben lassen, wie es mir zusagt; dann könnten sie ja tun, was sie wollen«, sagte der alte Mann zu sich selbst. Dem Sohn gegenüber griff er jedoch zu den diplomatischen Künsten, deren er sich in wichtigen Fällen zu bedienen pflegte. Einen ruhigen Ton annehmend, erörterte er die ganze Angelegenheit.
Erstens sei die Partie, was Verwandtschaft, Reichtum und Vornehmheit anlange, keine glänzende. Zweitens stehe Fürst Andrei nicht mehr in der ersten Jugend und habe eine schwache Gesundheit (diesen Punkt betonte der Alte ganz besonders), und das Mädchen sei doch noch sehr jung. Drittens sei ein Sohn da, den einem so jungen Ding in die Hände zu geben bedenklich sei. »Und endlich viertens«, sagte der Vater, indem er den Sohn spöttisch anblickte, »ich bitte dich: schiebe die Sache ein Jahr auf; reise ins Ausland, kurier dich aus, suche, wie du es ja beabsichtigst, einen deutschen Erzieher für den Fürsten Nikolai, und dann, wenn deine Liebe oder deine Leidenschaft oder dein Eigensinn, wie du nun es nennen magst, wirklich so groß ist, dann heirate. Das ist mein letztes Wort, hörst du wohl, mein letztes …«, schloß der Fürst in einem Ton, durch den er zeigen wollte, daß ihn nichts veranlassen könne, seinen Entschluß zu ändern.
Fürst Andrei war sich völlig darüber klar, daß der Alte hoffte, sein Gefühl oder das seiner künftigen Braut werde die einjährige Probezeit nicht aushalten oder er selbst, der alte Fürst, werde bis dahin gestorben sein. Er beschloß, den Willen seines Vaters zu erfüllen, in der Weise, daß er um Nataschas Hand anhielte und die Hochzeit auf ein Jahr verschöbe.
Drei Wochen nach dem letzten Abend, den er bei Rostows verlebt hatte, kehrte Fürst Andrei nach Petersburg zurück.
Am Tag nach ihrer Rücksprache mit der Mutter wartete Natascha den ganzen Tag über auf den Fürsten Andrei; aber er kam nicht. Am folgenden und am dritten Tag wiederholte sich dasselbe. Auch Pierre ließ sich nicht blicken, und Natascha, die nicht wußte, daß Fürst Andrei zu seinem Vater gereist war, konnte sich sein Ausbleiben nicht erklären.
So vergingen drei Wochen. Natascha wollte nirgends hingehen und schlich wie ein Schatten, untätig und traurig, durch die Zimmer; abends weinte sie, von niemandem gesehen, und kam nicht in die Schlafstube der Mutter. Fortwährend wurde sie rot, auch war sie sehr reizbar. Sie hatte die Vorstellung, alle Leute wüßten von ihrer Enttäuschung, machten sich über sie lustig oder bedauerten sie. Und so groß auch ihr seelischer Kummer an sich schon war, so wurde die Empfindung ihres Unglücks doch durch den Schmerz über die Kränkung ihres Ehrgefühls noch verstärkt.
Einmal kam sie zu der Gräfin und wollte ihr etwas sagen; aber sie brach plötzlich in Tränen aus. Sie weinte wie ein kleines Kind, das meint, daß ihm Unrecht geschehen sei, weil es gestraft worden ist, ohne selbst zu wissen wofür.
Die Gräfin suchte Natascha zu beruhigen. Zuerst hörte Natascha an, was die Mutter sagte; aber dann unterbrach sie sie plötzlich:
»Sagen Sie nichts weiter, Mama; ich denke gar nicht darüber nach und will gar nicht darüber nachdenken! Er ist eben ohne besonderen Grund gekommen und dann auch wieder ohne besonderen Grund weggeblieben …«
Die Stimme begann ihr zu zittern, und sie war nahe daran, in Tränen auszubrechen; aber sie bezwang sich und fuhr ruhig fort:
»Ich will auch überhaupt nicht heiraten. Und ich fürchte mich vor ihm; ich bin jetzt ganz ruhig geworden, ganz ruhig …«
Am Tag nach diesem Gespräch zog Natascha jenes alte Kleid an, das ihr wegen der vielen vergnügten Morgenstunden, die sie in ihm verlebt hatte, besonders lieb und vertraut war, und begann gleich am frühen Morgen wieder mit ihrer früheren Lebensweise, von der sie nach dem Ball abgekommen war. Nachdem sie Tee getrunken hatte, ging sie in den Saal, den sie wegen seiner starken Resonanz besonders gern hatte, und begann ihre Solfeggien zu singen. Als sie mit der ersten Übungsreihe fertig war, stellte sie sich mitten in den Saal und wiederholte mehrmals ein und denselben musikalischen Satz, der ihr besonders gefiel. Mit Vergnügen horchte sie, als wäre es ihr etwas Überraschendes, auf den Wohllaut, mit dem diese Klänge, melodisch verschmelzend, den ganzen leeren Raum des Saales anfüllten und langsam erstarben, und es wurde ihr auf einmal froh ums Herz. »Was hat es für Zweck, darüber viel nachzudenken; es ist ja auch so alles ganz gut«, sagte sie zu sich selbst und begann im Saal hin und her zu gehen. Sie ging dabei über den schallenden Parkettboden nicht mit einfachen Schritten, sondern trat bei jedem Schritt vom Hacken (sie trug neue Schuhe von ihrer Lieblingsfasson) auf die Spitze, und mit demselben Genuß, wie vorher auf die Töne ihrer Stimme, horchte sie nun auf dieses taktmäßige Klappen des Absatzes und das Knarren der Spitze. Als sie am Spiegel vorbeikam, blickte sie hinein. »Das bin ich!« schien ihr Gesichtsausdruck beim Anblick ihrer eigenen Gestalt zu sagen. »Nun, es ist ja alles gut. Ich brauche keinen Menschen.«
Der Diener wollte hereinkommen, um irgend etwas im Saal aufzuräumen; aber sie ließ ihn nicht herein, machte die Tür wieder hinter ihm zu und setzte ihren Spaziergang fort. Sie kehrte an diesem Morgen wieder zu dem Zustand zurück, in dem sie sich am wohlsten fühlte: dieser Zustand bestand darin, daß sie sich selbst liebte und von sich selbst entzückt war. »Was für ein reizendes Wesen ist doch diese Natascha!« sagte sie wieder von sich selbst, als ob irgendein Dritter, eine Art Inbegriff aller Männer, spräche. »Sie ist hübsch, hat eine schöne Stimme, ist jung und belästigt niemanden; also laßt sie nur auch in Ruhe.« Aber wenn man sie auch noch so sehr in Ruhe ließ, sie konnte jetzt doch nicht mehr ruhig sein; das fühlte sie sofort.
Im Vorzimmer wurde die Außentür geöffnet; es fragte jemand: »Sind die Herrschaften zu Hause?«, und es wurden Schritte vernehmbar. Natascha blickte in den Spiegel; aber sie sah sich nicht. Sie hörte im Vorzimmer sprechen. Als sie sich dann sah, war ihr Gesicht blaß. Das war »er«. Sie wußte es bestimmt, obwohl sie den Ton seiner Stimme durch die geschlossene Tür nur schwach hatte hören können.
Blaß und erschrocken lief sie in den Salon.
»Mama, Bolkonski ist gekommen«, sagte sie. »Mama, das ist furchtbar, das kann ich nicht ertragen! Ich will diese Pein nicht aushalten! Was soll ich nur tun?«
Die Gräfin hatte noch nicht Zeit gehabt, ihr zu antworten, als schon Fürst Andrei mit ernstem, aufgeregtem Gesicht in den Salon trat. Sobald er Natascha erblickte, begann sein Gesicht zu strahlen. Er küßte der Gräfin und Natascha die Hand und setzte sich auf einen Sessel neben dem Sofa.
»Wir haben so lange nicht das Vergnügen gehabt …«, begann die Gräfin; aber Fürst Andrei unterbrach sie, indem er die in ihren Worten liegende Frage beantwortete und offenbar eilte, auf den eigentlichen Zweck seines Besuches zu kommen.
»Ich bin diese ganze Zeit her nicht bei Ihnen gewesen, weil ich bei meinem Vater war; ich mußte mit ihm über eine sehr wichtige Angelegenheit Rücksprache nehmen. Erst in dieser Nacht bin ich zurückgekommen«, sagte er und warf dabei einen Blick zu Natascha hin. »Ich muß mit Ihnen sprechen, Gräfin«, fügte er nach einem kurzen Stillschweigen hinzu.
Die Gräfin seufzte schwer und schlug die Augen nieder.
»Ich stehe zu Ihren Diensten«, erwiderte sie.
Natascha wußte, daß sie hinausgehen sollte; aber sie fühlte sich außerstande, dies zu tun: es schnürte ihr etwas die Kehle zu, und unhöflich, mit weitgeöffneten Augen blickte sie den Fürsten Andrei starr an.
»Wird es jetzt gleich geschehen? Diesen Augenblick …? Nein, es kann nicht sein!« dachte sie.
Er sah sie wieder an, und dieser Blick überzeugte sie, daß sie sich nicht getäuscht hatte. Ja, jetzt, in diesem Augenblick hatte sich ihr Schicksal entschieden.
»Geh, Natascha, ich werde dich rufen«, flüsterte ihr die Gräfin zu.
Natascha blickte mit angstvoll flehenden Augen den Fürsten Andrei und ihre Mutter an und ging hinaus.
»Ich bin gekommen, Gräfin, um Sie um die Hand Ihrer Tochter zu bitten«, sagte Fürst Andrei.
Das Gesicht der Gräfin färbte sich dunkelrot; aber sie antwortete eine Zeitlang nicht.
»Ihr Antrag …«, begann sie dann in würdigem Ton. Fürst Andrei schwieg und blickte ihr in die Augen. »Ihr Antrag …« (sie wurde verlegen) »ist uns angenehm, und … ich nehme Ihren Antrag an; ich freue mich sehr. Auch mein Mann wird … wie ich hoffe … Aber es wird von ihr selbst abhängen …«
»Ich werde sie fragen, sobald ich Ihre Einwilligung erlangt habe. Wollen Sie mir Ihre Einwilligung geben?« sagte Fürst Andrei.
»Ja«, antwortete die Gräfin, streckte ihm die Hand hin und drückte, als er sich über ihre Hand beugte, mit einem aus Fremdheit und Herzlichkeit gemischten Gefühl ihre Lippen auf seine Stirn. Sie war willens, ihn wie einen Sohn zu lieben; aber sie fühlte, daß er ihr fremd war und ihr Furcht einflößte. »Ich bin überzeugt, daß mein Mann einverstanden sein wird«, sagte die Gräfin. »Aber Ihr lieber Vater …«
»Mein Vater, dem ich von meiner Absicht Mitteilung machte«, erwiderte Fürst Andrei, »hat zur unerläßlichen Bedingung seiner Einwilligung gemacht, daß die Hochzeit erst in einem Jahr stattfinden solle. Auch hiervon wollte ich Sie in Kenntnis setzen.«
»Natascha ist ja freilich noch sehr jung; aber das ist doch sehr lange.«
»Es war nicht anders möglich, seine Einwilligung zu erlangen«, antwortete Fürst Andrei mit einem Seufzer.
»Ich werde sie Ihnen herschicken«, sagte die Gräfin und verließ das Zimmer.
»Herr, erbarme dich unser«, sagte sie mehrmals vor sich hin, während sie ihre Tochter suchte.
Sonja sagte ihr, daß Natascha im Schlafzimmer sei. Natascha saß auf ihrem Bett, blaß, mit trockenen Augen, blickte nach den Heiligenbildern und flüsterte etwas, wobei sie sich schnell bekreuzte.
»Was ist, Mama …? Was ist?«
»Geh, geh zu ihm. Er hält um deine Hand an«, erwiderte die Mutter, wie es Natascha vorkam, in kaltem Ton. »Geh … geh«, sagte die Mutter noch einmal traurig und vorwurfsvoll zu der davoneilenden Tochter und seufzte schwer.
Natascha wußte gar nicht, wie sie nach dem Salon gekommen war. Als sie in die Tür trat und ihn erblickte, blieb sie stehen. »Ist dieser fremde Mann jetzt wirklich mein alles geworden?« fragte sie sich und antwortete augenblicklich: »Ja, mein alles; er allein ist mir jetzt teurer als alles in der Welt.« Fürst Andrei trat mit gesenkten Augen an sie heran.
»Ich habe Sie von dem Augenblick an liebgewonnen, wo ich Sie zum erstenmal gesehen habe. Darf ich hoffen?«
Er sah sie an, und die ernste Leidenschaftlichkeit, die sich auf ihrem Gesicht ausprägte, überraschte ihn. Ihr Gesicht schien zu sagen:
»Wozu noch fragen? Wozu noch zweifeln an dem, was einem nicht unbekannt sein kann? Wozu noch reden, da man doch nicht mit Worten ausdrücken kann, was man fühlt?«
Sie näherte sich ihm und blieb stehen. Er ergriff ihre Hand und küßte sie.
»Lieben Sie mich?«
»Ja, ja«, antwortete Natascha in einem Ton, als ob sie ärgerlich wäre; dann seufzte sie tief und noch einmal und immer häufiger und brach in Schluchzen aus.
»Warum? Was ist Ihnen?«
»Ach, ich bin so glücklich«, erwiderte sie, durch ihre Tränen lächelnd, beugte sich näher zu ihm, überlegte eine Sekunde lang, als ob sie sich fragte, ob sie das dürfe, und küßte ihn.
Fürst Andrei hielt ihre beiden Hände in den seinen, blickte ihr in die Augen und fand in seiner Seele nicht mehr die frühere Art von Liebe zu ihr. In seiner Seele war plötzlich eine Veränderung vorgegangen: er fühlte nicht mehr den früheren poetischen, geheimnisvollen Reiz des Verlangens, sondern eine Art von Mitleid mit ihrer weiblichen, kindlichen Schwäche, eine Furcht vor ihrer Hingebung und ihrem rückhaltlosen Vertrauen, ein drückendes und zugleich beglückendes Bewußtsein der Pflicht, die ihn nun für das ganze Leben mit ihr verband. Dieses jetzige Gefühl war zwar nicht so hell und poetisch wie das frühere, aber dafür ernster und stärker.
»Hat Ihnen Ihre Mama gesagt, daß es nicht vor Ablauf eines Jahres möglich ist?« fragte Fürst Andrei, indem er ihr immer noch in die Augen blickte.
»Bin ich das wirklich, ich, der Backfisch, wie sie mich alle nannten?« dachte Natascha. »Bin ich jetzt wirklich von diesem Augenblick an eine Frau, die gleichstehende Lebensgefährtin dieses fremden, liebenswürdigen, klugen Mannes, den sogar mein Vater hochschätzt? Ist das wirklich wahr? Ist es wirklich wahr, daß ich das Leben jetzt nicht mehr als einen Scherz betrachten darf, daß ich nun eine Erwachsene bin und für jede meiner Handlungen, für jedes meiner Worte verantwortlich? Aber wonach hat er mich denn nur gefragt?«
»Nein«, antwortete sie; aber sie erinnerte sich nicht, wonach er gefragt hatte.
»Verzeihen Sie mir«, sagte Fürst Andrei, »aber Sie sind noch so jung, und ich habe schon so viel im Leben erfahren. Ich bin in Sorge um Sie. Sie kennen sich selbst nicht.«
Natascha hörte mit angestrengter Aufmerksamkeit zu, bemüht, den Sinn seiner Worte zu verstehen; aber sie vermochte es trotzdem nicht.
»Wie schwer mir dieses Jahr auch werden wird, durch das mein Glück einen Aufschub erleidet«, fuhr Fürst Andrei fort, »so werden doch Sie in dieser Zeit die Möglichkeit haben, sich selbst zu prüfen. Ich bitte Sie, nach Ablauf des Jahres mich glücklich zu machen; aber Sie sind frei: unsere Verlobung wird ein Geheimnis bleiben, und wenn Sie zu der Überzeugung gelangen sollten, daß Sie mich nicht lieben, oder wenn Sie einen andern liebgewinnen sollten …«, sagte Fürst Andrei mit einem gezwungenen Lächeln.
»Wozu sagen Sie das?« unterbrach ihn Natascha. »Sie wissen, daß ich Sie gleich von dem Tag an geliebt habe, als Sie zum erstenmal nach Otradnoje kamen«, sagte sie, in der festen Überzeugung, daß sie damit die Wahrheit sage.
»Im Laufe dieses Jahres werden Sie sich selbst kennenlernen …«
»Ein gan-zes Jahr!« rief Natascha plötzlich, die jetzt erst verstand, daß die Hochzeit ein Jahr verschoben werden sollte. »Aber warum denn gleich ein Jahr? Warum denn gleich ein Jahr?« Fürst Andrei begann ihr die Gründe dieses Aufschubes auseinanderzusetzen; aber Natascha hörte ihm nicht zu.
»Und es ist wirklich nicht anders möglich?« fragte sie. Fürst Andrei antwortete nicht; aber sie sah an seinem Gesicht, daß eine Abänderung dieser Entscheidung ausgeschlossen war.
»Das ist zu schrecklich! Nein, das ist zu schrecklich, zu schrecklich!« rief Natascha und fing von neuem an zu schluchzen. »Ich sterbe, wenn ich ein Jahr lang warten soll; das ist unmöglich, das ist zu schrecklich.« Sie blickte ihrem Bräutigam ins Gesicht und sah dort den Ausdruck der Bestürzung und des Mitleids.
»Nein, nein, ich werde alles tun«, sagte sie und hemmte auf einmal ihre Tränen. »Ich bin ja so glücklich!«
Der Vater und die Mutter traten ins Zimmer und segneten Bräutigam und Braut.
Von diesem Tag an verkehrte Fürst Andrei im Rostowschen Hause als Bräutigam.
XXIV
Eine Verlobungsfeier fand nicht statt, und niemandem wurde von Bolkonskis Verlobung mit Natascha Mitteilung gemacht; darauf bestand Fürst Andrei. Er sagte, da er die Ursache des Aufschubes sei, so müsse er auch den ganzen schmerzlichen Druck desselben tragen. Er seinerseits habe sich durch sein Wort lebenslänglich gebunden; er wolle aber nicht, daß Natascha gebunden sei, und lasse ihr volle Freiheit. Wenn sie nach einem halben Jahr fühle, daß sie ihn nicht liebe, so werde sie durchaus berechtigt sein, ihm eine Absage zu erteilen. Selbstverständlich wollten weder die Eltern noch Natascha davon etwas hören; aber Fürst Andrei beharrte auf seinem Entschluß. Er besuchte Rostows täglich, verkehrte aber mit Natascha nicht wie ein Bräutigam: er nannte sie »Sie« und küßte ihr nur die Hand. Zwischen dem Fürsten Andrei und Natascha hatten sich seit dem Tag, an dem er seinen Antrag gemacht hatte, ganz andere Beziehungen als früher herausgebildet, schlichte, nahe Beziehungen. Es war, als ob die beiden einander bisher noch nicht gekannt hätten. Er sowohl wie sie erinnerten sich jetzt gern daran, wie sie sich gegeneinander benommen hatten, bevor die Verlobung erfolgt war; jetzt fühlten sie sich als ganz andere Wesen: damals war alles gekünstelt und verstellt gewesen, jetzt war alles schlicht und wahrhaft. Anfangs machte sich in der Familie eine gewisse Verlegenheit im Verkehr mit dem Fürsten Andrei fühlbar; er erschien wie ein Mensch aus einer fremden Welt, und Natascha bemühte sich lange, ihre Angehörigen über das Wesen des Fürsten Andrei aufzuklären, und versicherte allen mit Stolz, er scheine nur ein so besonderer Mensch zu sein, im Grunde sei er von derselben Art wie sie alle, und sie fürchte sich gar nicht vor ihm, und es brauche sich überhaupt niemand vor ihm zu fürchten. Nach einigen Tagen hatte man sich in der Familie an ihn gewöhnt und führte ungeniert in seiner Gegenwart die frühere Lebensweise weiter, an der er selbst teilnahm. Er verstand es, mit dem Grafen über wirtschaftliche Dinge zu reden und mit der Gräfin und Natascha über Toilettenfragen und mit Sonja über Alben und Stickereien. Manchmal sprachen die Mitglieder der Familie Rostow unter sich und auch in Gegenwart des Fürsten Andrei ihre Verwunderung darüber aus, wie alles so gekommen war, und fanden, daß manches entschieden als Vorbereitung und Vorzeichen aufgefaßt werden müsse: der Besuch des Fürsten Andrei in Otradnoje, und ihre Übersiedlung nach Petersburg, und die Ähnlichkeit zwischen Natascha und dem Fürsten Andrei, die die Kinderfrau gleich bei dem ersten Besuch des Fürsten Andrei herausgefunden hatte, und das Zusammentreffen des Fürsten Andrei mit Nikolai im Jahre 1805; und so entdeckten die Hausgenossen noch viele andere Vorbedeutungen auf das, was sich zugetragen hatte.
Im Haus herrschte jetzt jene poetische Langeweile und Schweigsamkeit, die sich immer einzustellen pflegen, wenn eine Braut und ein Bräutigam zugegen sind. Oft, wenn man zusammensaß, schwiegen alle. Mitunter standen die andern sachte auf und gingen hinaus; aber das Brautpaar schwieg, allein zurückgeblieben, doch in derselben Weise weiter. Nur selten sprachen die beiden von der künftigen Gestaltung ihres Lebens. Fürst Andrei hatte eine Scheu, darüber zu reden. Natascha teilte diese Empfindung, wie alle seine Empfindungen, die sie stets erriet. Einmal fragte sie ihn allerlei nach seinem kleinen Sohn. Fürst Andrei errötete, was ihm jetzt häufig begegnete, und was Natascha an ihm besonders gern hatte, und antwortete, sein Sohn werde nicht mit ihnen beiden zusammen leben.
»Warum nicht?« fragte Natascha betroffen.
»Ich kann ihn dem Großvater nicht wegnehmen, und dann …«
»Wie lieb würde ich ihn haben!« rief Natascha, die sofort den Gedanken erriet, den er nicht aussprach. »Aber ich weiß, Sie wollen jeden Anlaß vermeiden, daß Ihnen und mir Vorwürfe gemacht würden.«
Der alte Graf trat mitunter zum Fürsten Andrei, küßte ihn und fragte ihn um Rat in betreff der Erziehung Petjas oder der dienstlichen Angelegenheiten Nikolais. Die alte Gräfin seufzte nicht selten, wenn sie das Brautpaar anblickte. Sonja fürchtete fortwährend, störend zu sein, und suchte Vorwände, um die Brautleute alleinzulassen, auch wenn es gar nicht in deren Wünschen lag.
Wenn Fürst Andrei sprach (und er war ein sehr geschickter Erzähler), so hörte Natascha, stolz auf ihn, zu; wenn sie selbst redete, so bemerkte sie mit Angst und Freude zugleich, daß er sie aufmerksam und prüfend anschaute. Sie fragte sich zweifelnd: »Was sucht er in mir? Was möchte er mit seinem Blick ergründen? Wie, wenn das, was er mit seinem Blick sucht, gar nicht in mir ist?« Manchmal geriet sie in die ihr eigene ausgelassen fröhliche Stimmung hinein, und dann machte es ihr besondere Freude, zu hören und zu sehen, wie Fürst Andrei lachte. Er lachte selten; aber dafür gab er sich, wenn er einmal lachte, ganz seinem Lachen hin, und jedesmal nach einem solchen herzlichen Lachen fühlte sie sich ihm näher. Natascha wäre völlig glücklich gewesen, wenn sie nicht der Gedanke an die bevorstehende, heranrückende Trennung geängstigt hätte, wie denn auch er bei dem bloßen Gedanken daran blaß wurde und ein Gefühl von Kälte verspürte.
Am Tag vor seiner Abreise aus Petersburg brachte Fürst Andrei Pierre mit, der seit dem Ball kein einziges Mal bei Rostows gewesen war.
Pierre schien zerstreut und verlegen. Er knüpfte ein Gespräch mit der Mutter an. Natascha setzte sich mit Sonja an das Schachtischchen, was den Fürsten Andrei veranlaßte, ihr zu folgen. Er trat zu ihnen beiden hin.
»Sie kennen ja wohl Besuchow schon lange?« fragte er. »Haben Sie ihn gern?«
»Ja, er ist ein prächtiger Mensch, aber sehr komisch.«
Und wie immer, wenn sie von Pierre sprach, begann sie Anekdoten von seiner Zerstreutheit zu erzählen, teils wahre, teils solche, die von Witzbolden über ihn erfunden waren.
»Sie wissen, ich habe ihm unser Geheimnis anvertraut«, sagte Fürst Andrei. »Ich kenne ihn von frühen Jahren her. Er hat ein goldenes Herz. Ich bitte Sie, Natascha«, fuhr er, plötzlich sehr ernst werdend, fort, »ich reise weg, und Gott weiß, was alles vorfallen kann. Sie können aufhören, mich zu lieben … Nun, ich weiß, daß ich davon nicht sprechen soll. Aber um eines bitte ich Sie: was auch immer Ihnen zustoßen mag, wenn ich nicht hier bin …«
»Was sollte mir denn zustoßen?«
»Wenn Sie irgendein Kummer befällt«, fuhr Fürst Andrei fort, »ich bitte Sie, und auch Sie, Fräulein Sonja, was auch immer vorfallen mag, wenden Sie sich an ihn, nur an ihn, um Rat und Hilfe. Er ist ein sehr zerstreuter, komischer Mensch, aber er hat ein wahrhaft goldenes Herz.«
Weder die Eltern noch Sonja noch Fürst Andrei selbst konnten vorhersehen, wie der Abschied von ihrem Bräutigam auf Natascha wirken werde. Mit gerötetem Gesicht, in großer Erregung, mit trockenen Augen ging sie an diesem Tag im Haus umher und beschäftigte sich mit den gleichgültigsten Dingen, als hätte sie gar kein Verständnis für das, was ihrer wartete. Sie weinte nicht einmal in dem Augenblick, als er ihr beim Abschied zum letztenmal die Hand küßte.
Sie sagte nur: »Reisen Sie nicht weg!«, und sie sagte das in einem Ton, der ihn veranlaßte, noch einmal ernstlich zu überlegen, ob er nicht wirklich dableiben sollte, und den er nachher lange Zeit nicht vergessen konnte. Auch als er abgereist war, weinte sie nicht; aber sie saß mehrere Tage lang, ohne zu weinen, in ihrem Zimmer, bezeigte für nichts Interesse und sagte nur ab und zu:
»Ach, warum ist er weggefahren!«
Aber zwei Wochen nach seiner Abreise genas sie, ebenso unerwartet für ihre Umgebung, von ihrer seelischen Krankheit und wurde wieder dieselbe Natascha, die sie früher gewesen war, nur mit gleichsam veränderter seelischer Physiognomie, so wie Kinder nach einer langwierigen Krankheit mit einem ganz anderen Gesicht vom Bett aufstehen.
XXV
Der Gesundheitszustand und die Charaktereigenschaften des alten Fürsten Nikolai Andrejewitsch Bolkonski verschlimmerten sich in diesem Jahr, nach der Abreise seines Sohnes, bedeutend. Er wurde noch reizbarer als früher, und die Ausbrüche seines grundlosen Zornes entluden sich größtenteils über die Prinzessin Marja. Er schien geflissentlich alle ihre wunden Punkte zu suchen, um seine Tochter in möglichst grausamer Weise geistig zu quälen. Prinzessin Marja hatte zwei Leidenschaften und daher auch zwei Freuden: ihren kleinen Neffen Nikolenka1 und die Religion, und beides waren Lieblingsthemen für die Angriffe und Spötteleien des Fürsten. Womit auch das Gespräch begonnen wurde, er lenkte es mit Vorliebe auf den Aberglauben alter Jungfern oder auf die schädliche Verhätschelung der Kinder. »Du möchtest ihn« (den kleinen Nikolenka) »zu ebenso einer alten Jungfer machen, wie du eine bist; das laß nur bleiben; Fürst Andrei will einen Sohn haben und nicht ein zimperliches Mädchen«, sagte er. Oder er wandte sich an Mademoiselle Bourienne und fragte sie in Gegenwart der Prinzessin Marja, wie ihr unsere Popen und Heiligenbilder gefielen, und machte darüber seine Späße.
Fortwährend fügte er der Prinzessin Marja schmerzliche Kränkungen zu; aber es kostete die Tochter gar keine Anstrengung, ihm zu verzeihen.
Konnte er denn überhaupt ihr gegenüber sich irgendwie schuldig machen, und konnte ihr Vater, der (davon war sie trotz alledem fest überzeugt) sie liebte, ungerecht sein? Und was war denn das eigentlich: die Gerechtigkeit? Die Prinzessin hatte niemals über dieses stolze Wort »Gerechtigkeit« nachgedacht. Alle die komplizierten Gesetze der Menschheit flossen für sie in ein einziges einfaches, klares Gesetz zusammen: in das Gesetz der Liebe und Selbstaufopferung, das uns von Ihm gegeben ist, der aus Liebe für die Menschheit litt, obwohl Er selbst Gott war. Was ging es sie an, ob andere Menschen gerecht oder ungerecht waren? Sie kannte ihre eigene Pflicht: zu leiden und zu lieben; und diese Pflicht erfüllte sie.
Als Fürst Andrei im Winter nach Lysyje-Gory gekommen war, war er heiter, sanft und zärtlich gewesen, wie ihn Prinzessin Marja seit langer Zeit nicht gesehen hatte. Sie hatte geahnt, daß mit ihm etwas vorgegangen war; aber er hatte ihr nichts von seiner Liebe gesagt. Vor der Abreise hatte er eine lange Unterredung mit dem Vater gehabt; Prinzessin Marja hatte nicht gewußt, worüber; aber sie hatte bemerkt, daß beide vor der Abreise gegeneinander verstimmt waren.
Bald nach der Abreise des Fürsten Andrei schrieb Prinzessin Marja aus Lysyje-Gory nach Moskau an ihre Freundin Julja Karagina. Prinzessin Marja hätte gern aus dieser Julja und ihrem Bruder Andrei ein Paar gemacht, wie denn junge Mädchen immer dergleichen Pläne schmieden. Julja hatte damals gerade Trauer wegen des Todes ihres Bruders, der in der Türkei gefallen war. Der Brief lautete folgendermaßen:
»Der Kummer ist offenbar unser gemeinsames Los, meine liebe, teure Freundin Julja.
Der Verlust, den Sie erlitten haben, ist so schrecklich, daß ich ihn mir nur als eine besondere Gnade Gottes erklären kann, der aus Liebe Sie und Ihre vortreffliche Mutter prüfen will. Ach, meine Freundin, die Religion, und nur die Religion allein kann uns, ich will nicht sagen trösten, aber doch vor der Verzweiflung bewahren; nur die Religion kann uns das erklären, was der Mensch ohne ihre Beihilfe nicht zu begreifen vermag: warum brave, gute, edle Menschen, die alle erforderlichen Eigenschaften besitzen, um in diesem Leben glücklich zu sein, die niemandem schaden, sondern für das Glück anderer notwendig sind, warum die zu Gott gerufen werden, während Menschen, die schlecht, unnütz, schädlich oder sich selbst und andern eine Last sind, am Leben bleiben. Der erste Todesfall, den ich mit ansah, und den ich niemals vergessen werde, der Tod meiner lieben Schwägerin, hat auf mich diesen Eindruck gemacht. Gerade ebenso wie Sie an das Schicksal die Frage richten, warum Ihr prächtiger Bruder sterben mußte, geradeso fragte ich, weshalb unsere engelgleiche Lisa sterben mußte, die keinem Menschen etwas Böses tat und überhaupt nie andere als gute Gedanken in ihrer Seele hatte. Und jetzt, meine Freundin? Jetzt, wo seitdem erst fünf Jahre vergangen sind, beginne ich bereits mit meinem geringen Verstand einzusehen, weswegen sie sterben mußte, und auf welche Weise dieser Tod nur ein Ausdruck der unendlichen Güte des Schöpfers war, dessen Taten sämtlich, obgleich wir sie größtenteils nicht begreifen, nur Offenbarungen Seiner unendlichen Liebe zu Seinen Kreaturen sind. Vielleicht, so denke ich oft, war sie von zu engelhafter Unschuld, als daß sie die Kraft gehabt hätte, alle Pflichten einer Mutter zu erfüllen. Sie war ohne Tadel in ihrer Eigenschaft als junge Frau; vielleicht wäre sie nicht imstande gewesen, eine ebensolche Mutter zu sein. Jetzt hat sie uns und namentlich dem Fürsten Andrei eine mit dem reinsten Bedauern verbundene Erinnerung hinterlassen und gewiß dort in jener Welt eine Stätte erlangt, die ich für mich selbst nicht zu erhoffen wage. Aber um nicht nur von ihr allein zu sprechen, so hat dieser frühzeitige, schreckliche Todesfall, trotz allen Kummers, den wohltätigsten Einfluß auf mich und auf meinen Bruder ausgeübt. Damals, im Augenblick des Verlustes, konnten mir diese Gedanken nicht kommen; damals hätte ich sie mit Schrecken zurückgewiesen; aber jetzt ist mir das alles ganz klar und unzweifelhaft. Ich schreibe Ihnen, liebe Freundin, dies alles nur, um Sie von der Wahrheit des Spruches im Evangelium zu überzeugen, der für mich zur Lebensregel geworden ist: es fällt kein Haar von unserm Haupt ohne Seinen Willen. Und Sein Wille wird nur durch Seine unendliche Liebe zu uns bestimmt, und daher kann alles, was nur immer uns zustößt, nur zu unserm Heil gereichen.
Sie fragen, ob wir den nächsten Winter in Moskau verleben werden. Trotz meines lebhaften Wunsches, Sie wiederzusehen, glaube und wünsche ich es nicht. Und Sie werden erstaunt sein zu hören, daß der Grund davon Bonaparte ist. Das hängt so zusammen. Der Gesundheitszustand meines Vaters hat sich merklich verschlechtert; er kann keinen Widerspruch ertragen und ist sehr reizbar. Diese Reizbarkeit tritt, wie Sie wissen, ganz besonders auf dem Gebiet der Politik hervor. Er vermag den Gedanken nicht zu ertragen, daß Bonaparte mit allen Herrschern Europas und insonderheit mit dem unsrigen, dem Enkel der großen Katharina, verkehrt, als ob er ihresgleichen wäre! Wie Sie wissen, interessiere ich mich für Politik nicht im geringsten; aber aus den Äußerungen meines Vaters und seinen Gesprächen mit Michail Iwanowitsch weiß ich alles, was in der Welt vorgeht, und namentlich, welche Ehren diesem Bonaparte erwiesen werden, der, wie es scheint, auf dem ganzen Erdball, nur in Lysyje-Gory noch nicht als großer Mann, geschweige denn als französischer Kaiser, anerkannt wird. Und das kann mein Vater nicht ertragen. Mir scheint, daß mein Vater namentlich infolge seiner politischen Anschauungen, und weil er die heftigen Zusammenstöße voraussieht, die er bei seiner Manier, seine Meinung ohne Rücksicht auf irgend jemand auszusprechen, mit Sicherheit haben würde – mir scheint, daß er aus diesem Grund ungern von einer Reise nach Moskau spricht. Alles, was er dort durch die ärztliche Behandlung gewinnen würde, würde er durch die Debatten über Bonaparte, die sich nicht würden vermeiden lassen, wieder einbüßen. Jedenfalls aber wird sich das sehr bald entscheiden.
Unser Familienleben geht, abgesehen von einem Besuch, den uns mein Bruder Andrei gemacht hat, seinen alten Gang. Er hat sich, wie ich Ihnen schon geschrieben habe, in der letzten Zeit sehr verändert: nach dem schweren Schlag, der ihn getroffen hat, ist er erst jetzt, in diesem Jahr, seelisch wieder völlig aufgelebt. Er ist wieder so geworden, wie ich ihn als Knaben gekannt habe: gut, zärtlich, ein Mensch mit einem goldenen Herzen, wie ich kein zweites kenne. Wie mir scheint, hat er eingesehen, daß das Leben für ihn noch nicht zu Ende ist. Aber gleichzeitig mit dieser seelischen Umwandlung hat sich sein leiblicher Zustand sehr verschlechtert. Er ist magerer geworden als früher und nervöser. Ich bin um ihn in Sorge und freue mich, daß er diese Reise ins Ausland unternommen hat, die die Ärzte ihm schon längst verordnet hatten. Ich hoffe, daß ihn das wiederherstellen wird.
Sie schrieben mir, daß er in Petersburg für einen der tätigsten, gebildetsten und klügsten jungen Männer gilt. Verzeihen Sie mir diesen Familiendünkel: ich habe nie daran gezweifelt, daß er das ist. Das Gute, das er hier allen erwiesen hat, von seinen Bauern angefangen bis zu den Edelleuten, ist gar nicht zu zählen. Bei seiner Übersiedelung nach Petersburg ist ihm nur der gebührende Lohn zuteil geworden. Ich wundere mich, auf welche Weise überhaupt Gerüchte aus Petersburg nach Moskau gelangen, und noch dazu so falsche wie das, von dem Sie mir schreiben: über eine angeblich bevorstehende Heirat zwischen meinem Bruder und der kleinen Rostowa. Ich glaube nicht, daß Andrei sich jemals wieder verheiraten wird, und am allerwenigsten mit ihr. Und zwar aus folgenden Gründen: erstens weiß ich, daß, wenn er auch nur selten von seiner verstorbenen Frau spricht, doch der Kummer über diesen Verlust in seinem Herzen zu tief Wurzel geschlagen hat, als daß er sich jemals entschließen könnte, ihr eine Nachfolgerin und unserm kleinen Engel eine Stiefmutter zu geben; zweitens weil, soviel ich weiß, dieses junge Mädchen nicht zu der Kategorie von Frauen gehört, wie sie dem Fürsten Andrei gefallen können. Ich glaube nicht, daß Fürst Andrei sie zu seiner Frau wählen würde, und sage offen: ich würde es auch nicht wünschen.
Aber ich bin zu sehr ins Plaudern hineingeraten; ich bin schon am Ende des zweiten Bogens. Leben Sie wohl, meine liebe Freundin; Gott behüte Sie in Seinem heiligen, mächtigen Schutz. Meine liebe Freundin Mademoiselle Bourienne küßt Sie.
Marja.«
Fußnoten
1 Verkleinerungsform für Nikolai.
Anmerkung des Übersetzers.
XXVI
In der Mitte des Sommers erhielt Prinzessin Marja unerwartet einen Brief vom Fürsten Andrei aus der Schweiz, in dem er ihr eine seltsame, überraschende Neuigkeit mitteilte. Fürst Andrei gab ihr Kenntnis von seiner Verlobung mit Komtesse Rostowa.
Dieser ganze Brief atmete eine schwärmerische Liebe zu seiner Braut und eine zärtliche Freundschaft und ein herzliches Vertrauen zu seiner Schwester. Er schrieb, er habe noch nie so geliebt, wie er jetzt liebe; erst jetzt habe er für das Leben Verständnis gewonnen und es in seinem Wert erkannt; er bat die Schwester um Verzeihung dafür, daß er bei seinem Besuch in Lysyje-Gory ihr von diesem Entschluß nichts gesagt habe, obwohl er mit dem Vater darüber gesprochen habe. Er habe ihr deswegen nichts gesagt, weil Prinzessin Marja dann den Vater gebeten haben würde, seine Einwilligung zu geben, dadurch den Vater, ohne doch dieses Ziel zu erreichen, gereizt und dann die ganze Last seines Mißvergnügens zu tragen gehabt hätte. »Übrigens«, schrieb er, »war damals die Sache noch nicht so definitiv entschieden wie jetzt. Damals bestimmte mir der Vater eine Wartezeit von einem Jahr, und nun sind schon sechs Monate, die Hälfte der festgesetzten Zeit, vergangen, und ich verharre fester als je bei meinem Entschluß. Wenn mich nicht die Ärzte hier im Bad zurückhielten, so wäre ich selbst schon in Rußland; aber so muß ich meine Rückkehr noch drei Monate aufschieben. Du kennst mich und mein Verhältnis zum Vater. Ich brauche nichts von ihm; ich bin bisher von ihm unabhängig gewesen und werde es immer sein; aber wenn ich etwas wider seinen Willen täte und mir dadurch seinen Zorn zuzöge, während ihm doch vielleicht nur noch so kurze Zeit bei uns zu sein beschieden ist, so würde ich mir dadurch selbst die Hälfte meines Glückes zerstören. Ich schreibe jetzt an ihn einen Brief über eben diesen Gegenstand und bitte Dich, einen günstigen Augenblick abzupassen, ihm den Brief zu übergeben und mich dann zu benachrichtigen, wie er die ganze Sache ansieht, und ob Hoffnung darauf vorhanden ist, daß er in eine Verkürzung der Wartezeit um drei Monate willigt.«
Nach langem Schwanken, Zweifeln und Beten stellte Prinzessin Marja dem Vater den Brief zu. Am folgenden Tag sagte der alte Fürst zu ihr in ruhigem Ton:
»Schreibe deinem Bruder, er möchte warten, bis ich tot bin … Es wird nicht mehr lange dauern. Ich werde ihn bald frei machen …«
Die Prinzessin wollte etwas erwidern; aber der Vater ließ sie nicht zu Wort kommen und redete immer lauter und lauter weiter.
»Heirate nur, heirate nur, mein Söhnchen …! Hast dir eine schöne Verwandtschaft ausgesucht …! Sind wohl sehr kluge Leute, he? Reiche Leute, he? Jawohl, jawohl! Eine nette Stiefmutter wird Nikolenka bekommen! Schreib ihm nur, meinetwegen könnte er gleich morgen Hochzeit machen. Die da wird Nikolenkas Stiefmutter sein, und ich werde die Bourienne heiraten …! Hahaha, er soll auch eine Stiefmutter haben! Nur eins verlange ich: mehr Weiber mag ich in meinem Haus nicht haben; wenn er heiratet, dann soll er für sich wohnen. Vielleicht wirst du auch zu ihm ziehen?« wandte er sich an Prinzessin Marja. »Nun, in Gottes Namen! Mach, daß du wegkommst; mach, daß du wegkommst!«
Nach diesem Zornesausbruch sprach der Fürst auch nicht ein einziges Mal mehr über diese Angelegenheit. Aber sein zurückgehaltener Ärger darüber, daß sein Sohn nicht höher hinaus wollte, kam in dem Verhältnis des Vaters zur Tochter zum Ausdruck. Zu den früheren beiden Themen, die der Fürst für seine Spötteleien benutzte, trat nun noch ein neues: Äußerungen, daß er seinen Kindern eine Stiefmutter geben wolle. Und zu diesen Äußerungen stimmten seine Liebenswürdigkeiten gegen Mademoiselle Bourienne.
»Warum sollte ich sie nicht heiraten?« sagte er zu seiner Tochter. »Sie wird eine famose Fürstin abgeben!«
Und zu ihrer staunenden Verwunderung nahm Prinzessin Marja seit dieser Zeit wahr, daß ihr Vater wirklich anfing, die Französin mehr und mehr an sich heranzuziehen. Prinzessin Marja schrieb dem Fürsten Andrei, wie der Vater seinen Brief aufgenommen habe; aber sie tröstete den Bruder, indem sie ihm Hoffnung machte, daß es noch gelingen werde, den Vater freundlich zu stimmen.
Nikolenka und seine Erziehung, Andrei und die Religion; das war es, worin Prinzessin Marja ihren Trost und ihre Freude fand; aber außerdem hegte sie, wie denn jeder Mensch seine persönlichen Hoffnungen haben muß, in der geheimsten Tiefe ihrer Seele eine verborgene Sehnsucht und Hoffnung, die für sie in ihrem Leben eine besondere Quelle des Trostes war. Diese tröstliche Sehnsucht und Hoffnung entstammte dem Verkehr mit den Gottesleuten (den Verzückten und den Wallfahrern), die ohne Wissen des Fürsten sie besuchten. Je länger Prinzessin Marja lebte, je mehr sie das Leben aus eigener Erfahrung und durch Beobachtung anderer kennenlernte, um so mehr staunte sie über die Kurzsichtigkeit der Menschen, die hier auf Erden Genuß und Glück suchen und sich abmühen und leiden und kämpfen und einander Böses tun, um dieses unmögliche, eingebildete und sündhafte Glück zu erreichen. »Fürst Andrei«, so dachte sie bei sich, »hat eine Frau geliebt, und sie ist gestorben; nun hat er daran noch nicht genug, er will sein Glück auf eine andere Frau setzen. Der Vater ist nicht einverstanden, weil er für Andrei eine vornehmere, reichere Partie wünscht. Und so kämpfen sie alle und leiden, sie quälen und verderben ihre Seele, ihre unsterbliche Seele, um Güter zu erreichen, deren Dauer doch nicht mehr als einen Augenblick beträgt. Und nicht genug, daß wir das aus uns selbst wissen, es ist auch Christus, der Sohn Gottes, auf die Erde herabgekommen und hat uns gesagt, daß dieses Leben ein schnell vergängliches Leben ist, eine Prüfung; aber trotz alledem klammern wir uns an dieses Leben und meinen in ihm das Glück zu finden. Wie geht es nur zu, daß niemand das begriffen hat?« fragte sich Prinzessin Marja. »Niemand als diese verachteten Gottesleute, die mit dem Quersack auf den Schultern durch die Hintertür zu mir kommen, in Angst, von dem Fürsten gesehen zu werden; und was sie dabei fürchten, ist nicht, daß sie etwas Schlimmes von ihm erleiden könnten, sondern daß sie ihm ein Anlaß werden könnten, eine Sünde zu begehen. Von der Familie, der Heimt und allen Sorgen um irdische Güter sich loszumachen und, durch nichts gebunden, in grobem, hanfenem Kleid, unter fremdem Namen, von Ort zu Ort zu wandern, ohne jemandem Schaden zu tun, sondern für die Menschen betend, sowohl für diejenigen, die uns von ihrer Schwelle wegtreiben, als auch für diejenigen, die uns Schutz gewähren: das ist die höchste Erkenntnis und das beste Leben!«
Es war da eine Pilgerin namens Fedosjuschka, eine fünfzigjährige, kleine, stille, pockennarbige Frau, die schon mehr als dreißig Jahre lang barfuß und mit Ketten behangen wallfahrtete. Dieser war die Prinzessin Marja besonders zugetan. Als Fedosjuschka einmal im dunklen Zimmer, in dem nur das Lämpchen vor dem Heiligenschrein brannte, allerlei aus ihrem Leben erzählte, da drängte sich der Prinzessin Marja unwiderstehlich die Überzeugung auf, daß Fedosjuschka allein den wahren Weg des Lebens gefunden habe, und es kam ihr der Gedanke, selbst wallfahrten zu gehen. Sobald Fedosjuschka schlafen gegangen war, dachte Prinzessin Marja lange über diese Frage nach und gelangte endlich zu dem Resultat, daß, mochte es auch sonderbar scheinen, es für sie ein Ding der Notwendigkeit sei, zu wallfahrten. Sie vertraute ihre Absicht nur ihrem Beichtvater, dem Mönch Vater Akinsi, an, und der Beichtvater billigte ihr Vorhaben. Unter dem Vorwand, sie wolle einer Wallfahrerin damit ein Geschenk machen, schaffte sich Prinzessin Marja den vollständigen Anzug einer Wallfahrerin an: ein grobes Kleid, Bastschuhe, einen Tuchmantel und ein schwarzes Tuch. Oft trat sie zu der Kommode, die diesen weihevollen Inhalt barg, und blieb davor stehen, in zweifelnder Überlegung, ob wohl schon der richtige Zeitpunkt gekommen sei, um ihr Vorhaben zur Ausführung zu bringen.
Oft, wenn sie die Erzählungen der Pilgerinnen anhörte, geriet sie durch diese einfachen Reden, die den Erzählerinnen bereits mechanisch geworden waren, für sie, die Hörerin, aber einen tiefen Sinn enthielten, dermaßen in Erregung, daß sie nahe daran war, alles im Stich zu lassen und auf und davon zu gehen. In ihrer Phantasie sah sie sich bereits, wie sie mit Fedosjuschka in grobem Gewand, mit Stock und Quersack auf der staubigen Landstraße dahinschritt und ohne Haß, ohne irdische Liebe, ohne Wünsche von einem Heiligen zum andern pilgerte, und schließlich dorthin, wo es kein Leid und kein Seufzen gibt, sondern ewige Freude und Seligkeit.
»Wenn ich an irgendeine Stätte komme, so werde ich da beten; kann ich mich da nicht eingewöhnen und den Ort liebgewinnen, so werde ich weitergehen. Ich werde so lange gehen, bis mir die Füße den Dienst versagen, und dann werde ich mich irgendwo niederlegen und sterben und endlich in jenen ewigen, stillen Hafen gelangen, wo es kein Leid und kein Seufzen gibt!« dachte Prinzessin Marja.
Aber wenn sie dann ihren Vater und namentlich den kleinen Nikolenka ansah, wurde sie in ihrem Vorsatz doch wieder wankend, weinte im stillen und fühlte, daß sie eine große Sünderin war: denn sie liebte ihren Vater und ihren Neffen mehr als den allmächtigen Gott.
Siebenter Teil
I
Die biblische Überlieferung sagt, daß das Fehlen jeglicher Arbeit, das Nichtstun, ein wesentliches Moment der Glückseligkeit des ersten Menschen vor seinem Sündenfall gewesen sei. Die Liebe zum Müßiggang ist bei dem Menschen auch nach dem Fall dieselbe geblieben; aber es lastet nun auf dem Menschen ein Fluch, und zwar nicht nur insofern, als wir uns nur im Schweiß unseres Angesichtes unser Brot erwerben können, sondern auch insofern, als wir vermöge unserer moralischen Eigenschaften nicht zugleich müßiggehen und in unserer Seele ruhig sein können. Eine geheime Stimme sagt uns, daß wir durch Müßiggang eine Schuld auf uns laden. Könnte der Mensch einen Zustand finden, in dem er müßigginge und doch dabei das Gefühl hätte, ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu sein und seine Schuldigkeit zu tun, dann hätte er damit ein Stück der ursprünglichen Glückseligkeit wiedergefunden. Und eines solchen Zustandes, in welchem der Müßiggang pflichtmäßig ist und keinem Tadel unterliegt, erfreut sich ein ganzer Stand: der Militärstand. In diesem pflichtmäßigen, tadelsfreien Müßiggang hat von jeher die hauptsächliche Anziehungskraft des Militärdienstes bestanden, und das wird auch allzeit so bleiben.
Nikolai Rostow genoß diese Glückseligkeit in vollem Umfang; er hatte nach dem Jahr 1807 in dem Pawlograder Regiment weitergedient und kommandierte bereits eine Eskadron desselben, die er von Denisow übernommen hatte.
Er war ein guter, braver Mensch geworden, in seinem Wesen ein bißchen ungehobelt, und seine Moskauer Bekannten hätten ihn wohl ein wenig mauvais genre gefunden; aber seine Kameraden, Untergebenen und Vorgesetzten liebten und achteten ihn, und er fühlte sich mit seinem Leben ganz zufrieden. In der letzten Zeit, im Jahr 1809, fand er immer häufiger in den Briefen von zu Hause Klagen der Mutter über den zunehmenden Verfall der Vermögensverhältnisse, und sie schrieb ihm, es wäre Zeit, daß er nach Hause käme, um seine alten Eltern zu erfreuen und ihnen, wenn möglich, zu einem ruhigen Zustand zu verhelfen.
Wenn Nikolai derartige Briefe las, so überkam ihn immer eine Furcht, man wolle ihn aus dieser Umgebung herausreißen, in welcher er, beschirmt vor allen Wirrsalen des Lebens, ein so stilles, ruhiges Dasein führte. Er sagte sich, daß er früher oder später wieder werde in diesen Pfuhl des Lebens hinein müssen: mit Vermögensverfall und Versuchen, Besserung zu schaffen, mit Abrechnungen von Verwaltern, mit Zänkereien, Intrigen und Konnexionen, mit dem gesellschaftlichen Leben, mit Sonjas Liebe und mit dem Versprechen, das er ihr gegeben hatte. Das waren alles sehr schwierige, verwickelte Dinge, und so antwortete er denn auf die Briefe der Mutter mit kühlen, französischen Briefen, die nach einem Schema geschrieben waren und mit den Worten »Meine teure Mama« begannen und mit den Worten »Ihr gehorsamer Sohn« schlossen, aber die Frage, wann er zu kommen beabsichtige, mit Stillschweigen übergingen. Im Jahre 1810 erhielt er von seinen Angehörigen einen Brief, in dem sie ihm Nataschas Verlobung mit Bolkonski mitteilten, sowie daß die Hochzeit erst in einem Jahr stattfinden werde, weil der alte Fürst es nicht anders wolle. Durch diese Nachricht wurde Nikolai in Betrübnis und in Empörung versetzt. Erstens tat es ihm leid, Natascha, die er am liebsten von allen seinen Angehörigen hatte, aus dem Haus zu verlieren; und zweitens bedauerte er von seinem Husarenstandpunkt aus, nicht dabeigewesen zu sein, weil er dann diesem Bolkonski auseinandergesetzt haben würde, daß es ganz und gar nicht eine so besondere Ehre für die Familie Rostow sei, mit ihm verwandt zu werden, und daß, wenn er Natascha wirklich liebe, er auch auf die Einwilligung des verrückten Vaters verzichten könne. Er schwankte einen Augenblick, ob er nicht um Urlaub einkommen solle, um Natascha als Braut zu sehen; aber die Manöver rückten heran, und dann kamen ihm auch die Gedanken an Sonja und an all den Wirrwarr dort, und so schob er es denn wieder auf. Aber im Frühling desselben Jahres erhielt er einen Brief von seiner Mutter, den sie ihm ohne Wissen des Grafen geschrieben hatte, und dieser Brief veranlaßte ihn nun doch hinzureisen. Sie schrieb ihm, wenn er nicht hinkäme und sich der geschäftlichen Angelegenheiten annähme, so würde das ganze Gut unter den Hammer und sie alle an den Bettelstab kommen. Der Graf sei so schwach und gutmütig, habe dem Geschäftsführer Dmitri ein solches Vertrauen geschenkt und lasse sich dermaßen von allen Leuten betrügen, daß alles immer schlechter und schlechter gehe. »Um Gottes willen, ich bitte Dich inständig, komm sofort her, wenn Du nicht mich und Deine ganze Familie unglücklich machen willst«, schrieb die Gräfin.
Dieser Brief verfehlte auf Nikolai seine Wirkung nicht. Nikolai besaß jenen gesunden Mittelverstand, der ihm sagte, was seine Schuldigkeit war.
Jetzt mußte er nach Hause fahren; er brauchte ja nicht gleich den Abschied zu nehmen, er konnte sich Urlaub geben lassen. Was er eigentlich, wenn er hinkam, dort tun sollte, das wußte er nicht; aber nachdem er nach dem Mittagessen ausgeschlafen hatte, ließ er seinen grauen Hengst Mars satteln, ein sehr böses Tier, das er lange nicht geritten hatte, und als er auf dem schaumbedeckten Hengst wieder nach Hause gekommen war, teilte er seinem Burschen Lawrenti (dieser frühere Bursche Denisows war bei Rostow geblieben) sowie den Kameraden, die am Abend zu ihm kamen, mit, daß er um Urlaub einkommen und nach seiner Heimat reisen werde. Zwar konnte er sich nur schwer in den seltsamen Gedanken hineinfinden, daß er wegfahren sollte, ohne aus dem Stab erfahren zu haben (was ihn ganz besonders interessierte), ob er für die letzten Manöver die Beförderung zum Rittmeister oder den Annenorden erhalten werde; zwar war es ihm wunderlich, zu denken, daß er abreisen sollte, ohne dem Grafen Goluchowski das rehbraune Dreigespann verkauft zu haben, um welches dieser polnische Graf mit ihm in Unterhandlung stand (Rostow hatte mit Kameraden gewettet, er werde für die Pferde zweitausend Rubel bekommen); zwar schien es ihm unfaßbar, daß ohne ihn der Ball stattfinden sollte, den die Husaren der Panna Przezdecka zu Ehren geben wollten, aus Rivalität mit den Ulanen, die für ihre Panna Brzozowska einen Ball veranstaltet hatten: aber er wußte, daß er nun einmal aus dieser Welt, wo alles so klar und schön war, dahin fahren mußte, wo ihn nur Unsinn und Verwirrung erwartete. Nach einer Woche kam sein Urlaub. Rostows Kameraden, die Husarenoffiziere, nicht nur von seinem Regiment, sondern von der ganzen Brigade, gaben ihm ein Diner, bei dem in der Subskriptionsliste der Preis für das Gedeck auf fünfzehn Rubel angesetzt war; die Musik wurde von zwei Kapellen und von zwei Chören ausgeführt; Rostow tanzte mit dem Major Basow den Trepak; die betrunkenen Offiziere umarmten ihn, schwenkten ihn in die Luft und ließen ihn dabei hinfallen; die Soldaten der dritten Eskadron schwenkten ihn noch einmal und schrien Hurra. Dann wurde Rostow in einen Schlitten gelegt, und die Kameraden gaben ihm bis zur ersten Station das Geleit.
Bis zur Hälfte des Weges, von Krementschug bis Kiew, waren, wie das immer so geht, alle Gedanken Rostows noch bei den Verhältnissen, von denen er herkam, bei seiner Eskadron; aber als er über die Hälfte hinaus war, vergaß er allmählich das rehbraune Dreigespann und seinen Wachtmeister Doschoiweika und machte sich unruhige Gedanken darüber, was für eine Situation er wohl in Otradnoje vorfinden werde. Je näher er seiner Heimat kam, um so mehr nahmen diese Gedanken an Stärke zu, gerade wie wenn die seelische Empfindung demselben Gesetz wie die Fallgeschwindigkeit der Körper, nach den Quadraten der Entfernungen, unterworfen wäre; auf der letzten Station vor Otradnoje gab er dem Postillion drei Rubel Trinkgeld, und als er endlich angekommen war, lief er wie ein Knabe atemlos die Stufen vor der Tür seines Vaterhauses hinan.
Nachdem der Jubel der ersten Begrüßung vorbei war und Nikolai ein seltsames Gefühl der Enttäuschung über die Wirklichkeit im Vergleich mit dem Erwarteten überwunden hatte (»sie sind ja alle, wie sie immer waren; wozu habe ich mich so beeilt?«), fing er an, sich wieder in seine alten heimatlichen Verhältnisse einzuleben. Der Vater und die Mutter waren unverändert; nur waren sie ein wenig gealtert. Neu war ihm an ihnen eine gewisse Unruhe und eine manchmal hervortretende Uneinigkeit; das war früher nicht der Fall gewesen und war, wie Nikolai bald merkte, eine Folge der üblen pekuniären Lage. Sonja war schon neunzehn Jahre alt. Sie hatte schon aufgehört schöner zu werden und verhieß für die Zukunft nicht mehr, als was sie bereits besaß; aber auch dies war vollauf genügend. Ihr ganzes Wesen atmete seit Nikolais Ankunft Glückseligkeit und Liebe, und die treue unerschütterliche Liebe dieses Mädchens erfüllte ihn mit Freude. Petja und Natascha setzten Nikolai am allermeisten in Erstaunen. Petja war schon ein großer, dreizehnjähriger, hübscher, kluger, lustiger, ausgelassener Junge, dessen Stimme sich schon veränderte. Über Natascha kam Nikolai zuerst lange Zeit nicht aus der Verwunderung heraus und mußte immer lachen, wenn er sie ansah.
»Du bist ganz, ganz anders als früher«, sagte er.
»Wieso? Bin ich häßlicher geworden?«
»Im Gegenteil! Aber was für eine Würde!« antwortete er. »Eine Fürstin!« flüsterte er ihr zu.
»Ja, ja, ja!« erwiderte Natascha erfreut.
Sie erzählte ihm ihren ganzen Roman mit dem Fürsten Andrei, wie er zuerst nach Otradnoje gekommen sei, und zeigte ihm seinen letzten Brief.
»Nun? Freust du dich mit mir?« fragte Natascha. »Ich bin jetzt ganz ruhig und glücklich.«
»Ich freue mich sehr«, antwortete Nikolai. »Er ist ein vortrefflicher Mensch. Nun? Bist du denn sehr verliebt?«
»Wie soll ich mich ausdrücken?« erwiderte Natascha. »Verliebt war ich in Boris, in meinen Gesanglehrer, in Denisow; aber die jetzige Empfindung ist von ganz anderer Art. Ich habe ein Gefühl der Ruhe und der Sicherheit. Ich weiß, daß es keinen besseren Menschen als ihn auf der Welt gibt, und fühle mich jetzt so wohl, so zuversichtlich. Ganz anders als früher …«
Nikolai sprach ihr sein Mißvergnügen darüber aus, daß die Hochzeit ein Jahr aufgeschoben war; aber Natascha schalt ihn ärgerlich aus und setzte ihm auseinander, daß es nicht anders gehe; es wäre eine schlechte Handlungsweise, wenn sie gegen den Willen des Vaters in die Familie einträte, und sie habe es selbst so gewünscht.
»Du verstehst davon nichts, gar nichts verstehst du davon!« rief sie.
Nikolai machte keine weiteren Entgegnungen, sondern stimmte ihr bei.
Der Bruder wunderte sich oft, wenn er sie betrachtete. Sie sah gar nicht aus wie eine liebende, von ihrem Bräutigam getrennte Braut. Sie zeigte sich in gleichmäßiger Weise ruhig und heiter, ganz wie früher. Nikolai war darüber erstaunt und gelangte infolgedessen sogar dazu, die Verlobung mit Bolkonski mit einem gewissen Mißtrauen anzusehen. Er glaubte nicht daran, daß Nataschas Lebensschicksal bereits entschieden sei, und diese Auffassung war bei ihm um so eher möglich, da er den Fürsten Andrei nie mit ihr zusammen gesehen hatte. Es wollte ihm immer scheinen, als ob bei dieser in Aussicht genommenen Heirat etwas nicht seine Richtigkeit hätte.
»Wozu denn dieser Aufschub? Und warum ist die Verlobung nicht veröffentlicht?« dachte er. Als er einmal mit seiner Mutter über Natascha sprach, fand er zu seinem Erstaunen und teilweise auch zu seiner Genugtuung, daß die Mutter genau ebenso in der Tiefe ihres Herzens sich mit Bezug auf diese Heirat manchmal eines leisen Mißtrauens nicht erwehren konnte.
»Da schreibt er nun«, sagte sie mit jenem geheimen mißgünstigen Gefühl, das eine Mutter stets gegen das künftige Eheglück ihrer Tochter empfindet, und zeigte dabei ihrem Sohn einen Brief des Fürsten Andrei, »da schreibt er nun, er werde nicht vor dem Dezember kommen. Was kann denn das für ein Grund sein, der ihn zurückhält? Wahrscheinlich doch Kränklichkeit! Er hat eine sehr schwache Gesundheit. Aber sage so etwas nicht zu Natascha. Laß dich dadurch nicht täuschen, daß sie heiter ist; das kommt nur daher, daß sie jetzt noch ihre letzte Mädchenzeit auskosten möchte; aber ich weiß, wie ihr jedesmal zumute ist, wenn wir Briefe von ihm bekommen. Indessen, so Gott will, wird ja alles noch gut werden; er ist ein vortrefflicher Mensch.« So schloß die Gräfin übrigens jedesmal, wenn sie sich über den Fürsten Andrei aussprach.
II
In der ersten Zeit nach seiner Ankunft war Nikolai ernst und sogar verdrießlich. Ihn quälte die bevorstehende Notwendigkeit, sich mit diesen dummen Wirtschaftssachen abzugeben, um derentwillen ihn die Mutter hergerufen hatte. Um so schnell wie möglich diese Last vom Herzen loszuwerden, begab er sich am dritten Tag nach seiner Ankunft mit zornig zusammengezogenen Brauen, ohne auf die Frage, wohin er gehe, zu antworten, in das Nebengebäude zum Geschäftsführer Dmitri und forderte von ihm »die Abrechnungen über alles«. Was eigentlich mit diesen »Abrechnungen über alles« gemeint war, daß wußte Nikolai noch weniger als der bestürzte, erschrockene Dmitri. Das Gespräch und Dmitris Rechnungslegung dauerten nicht lange. Der Dorfschulze, sein Gehilfe und der Gemeindeschreiber, die im Vorzimmer des Nebengebäudes warteten, hörten zuerst mit Angst und Schadenfreude, wie die Stimme des jungen Grafen, immer stärker anschwellend, wetterte und donnerte, und wie Schelt- und Drohworte einander überstürzten.
»Du Räuber! Undankbare Kanaille! Tot schlage ich dich, du Hund! Ich bin nicht so wie mein guter Papa … Bestohlen hast du uns …« usw.
Und dann sahen diese Leute mit nicht geringerer Schadenfreude und Angst, wie der junge Graf mit kirschrotem Gesicht und blutunterlaufenen Augen den Geschäftsführer Dmitri, den er am Kragen gepackt hatte, aus dem Zimmer schleppte, ihm mit dem Fuß und dem Knie zu passender Zeit zwischen seinen Schimpfworten mit großer Gewandtheit Stöße gegen die Hinterseite versetzte und ihm zuschrie: »Hinaus! Daß du dich hier nie wieder blicken läßt, du Schurke!«
Dmitri flog kopfüber die sechs Stufen vor der Haustür hinab und lief in das Boskett. Dieses Boskett war ein bekannter Zufluchtsort für die Verbrecher in Otradnoje. Dmitri selbst versteckte sich oft in diesem Boskett, wenn er betrunken aus der Stadt kam, und viele Bewohner von Otradnoje, die ihrerseits Anlaß hatten sich vor Dmitri zu verstecken, kannten ebenfalls die rettende Macht dieses Bosketts.
Dmitris Frau und seine Schwägerinnen steckten mit erschrockenen Gesichtern die Köpfe aus der Tür eines anderen Zimmers nach dem Flur hinaus; durch die Tür sah man, daß drinnen ein sauberer Samowar siedete und ein hohes Bett mit einer aus kleinen Tuchstücken zusammengesetzten Steppdecke stand.
Ohne die Frauen zu beachten, ging der junge Graf ganz außer Atem mit festen Schritten an ihnen vorbei und begab sich wieder nach dem herrschaftlichen Haus.
Die Gräfin, die durch die Stubenmädchen sogleich erfahren hatte, was im Nebengebäude vorgefallen war, fühlte einerseits eine gewisse Befriedigung, insofern sie meinte, nun müßten sich ihre Vermögensverhältnisse wieder bessern, andrerseits aber beunruhigte sie sich darüber, wie ihrem Sohn diese Aufregung bekommen werde. Mehrere Male ging sie auf den Zehen an seine Tür und horchte, wie er eine Pfeife nach der andern rauchte.
Am andern Tag rief der alte Graf seinen Sohn beiseite und sagte zu ihm mit schüchternem Lächeln:
»Weißt du, liebster Sohn, du hast dich ganz ohne Grund aufgeregt. Dmitri hat mir alles auseinandergesetzt.«
»Das wußte ich ja«, dachte Nikolai, »daß ich hier in dieser verrückten Welt nie für etwas Verständnis haben werde.«
»Du bist zornig geworden, weil er die siebenhundert Rubel nicht eingetragen hatte. Aber sie sind ja in seinem Buch als Transport angeschrieben, und du hast die andere Seite nicht angesehen.«
»Lieber Papa, er ist ein Schurke und Dieb, das weiß ich. Und was ich getan habe, das habe ich getan. Aber wenn Sie es nicht wollen, werde ich ihm nie wieder etwas sagen.«
»Nicht doch, liebster Sohn« (der Graf war ebenfalls verlegen; er war sich bewußt, daß er das Gut seiner Frau schlecht verwaltet und seinen Kindern gegenüber eine Schuld auf sich geladen hatte, und wußte nicht, wie er das wieder zurechtbiegen könnte), »nicht doch! Ich bitte dich vielmehr, dich der Geschäfte anzunehmen; ich bin ein alter Mann, ich …«
»Nein, lieber Papa; verzeihen Sie mir, wenn ich etwas getan habe, was Ihnen unangenehm ist; ich verstehe von diesen Dingen weniger als Sie.«
»Hol das alles der Teufel: diese Bauern und diese Geldgeschichten und diese Transporte auf der Seite«, dachte er. »Mit Paroli und andern Kunstausdrücken beim Pharao habe ich früher einmal Bescheid gewußt; aber Transport auf der Seite, davon verstehe ich nichts.« Seitdem mischte er sich in die Geschäfte nicht mehr ein. Nur einmal rief die Gräfin ihren Sohn zu sich auf ihr Zimmer, teilte ihm mit, daß sie einen Wechsel von Anna Michailowna über zweitausend Rubel besäße, und fragte ihn, wie er damit zu verfahren gedenke; sie überlasse es ganz ihm.
»Das will ich Ihnen sofort zeigen«, antwortete Nikolai. »Sie haben gesagt, daß es von mir abhängt. Nun, ich kann Anna Michailowna nicht leiden und ihren Boris ebensowenig; aber sie waren mit uns befreundet und sind arm. Also sehen Sie her: so!« Er zerriß den Wechsel; die alte Gräfin aber war über diese Handlungsweise so gerührt, daß sie vor Freude schluchzte. Nach Erledigung dieser Angelegenheit kümmerte sich der junge Rostow um die Geschäftssachen gar nicht mehr, sondern widmete sich mit leidenschaftlichem Interesse dem ihm noch neuen Vergnügen der Hetzjagd, die bei dem alten Grafen in großem Maßstab betrieben wurde.
III
Der Winter rückte schon heran; die Morgenfröste schlugen die vom Herbstregen durchweichte Erde in Bande; schon hatte sich die Wintersaat verfilzt und hob sich hellgrün ab von den Streifen der braun gewordenen, vom Vieh zertretenen Winterstoppel und der hellgelben Sommerstoppel und den roten Streifen von Buchweizen. Die einzelnen Baumwipfel und die Parzellen von Laubholz, die Ende August noch grüne Inseln zwischen den schwarzen Wintersaatfeldern und den Stoppelfeldern bildeten, lagen jetzt als goldige und hellrote Inseln mitten unter den hellgrünen Feldern mit Wintersaat. Der graue Hase hatte schon zur Hälfte neues Haar bekommen; die Fuchsfamilien begannen sich zu zerstreuen, und die jungen Wölfe waren größer als Hunde. Es war die beste Jagdzeit. Die Hunde des eifrigen jungen Jägers Rostow waren nicht nur in guter Form zur Jagd gelangt, sondern zeigten auch schon einen solchen Jagdeifer, daß in einer gemeinsamen Beratung der Jäger beschlossen wurde, den Hunden noch drei Tage Ruhe zu lassen und am 16. September eine Jagd zu veranstalten; und zwar sollte mit einem dichten Eichenwald begonnen werden, wo sich eine noch ungestörte Wolfsfamilie befand.
Auf diesem Punkt befanden sich die Dinge am 14. September.
Diesen ganzen Tag über blieb die Jagdgesellschaft zu Hause; es war ein scharfer Frost; aber gegen Abend ließ die Kälte nach, und es fing an zu tauen. Als am 15. September der junge Rostow in der Frühe, noch im Schlafrock, aus dem Fenster blickte, sah er einen Morgen, wie man sich einen schöneren zur Jagd gar nicht denken konnte: es war, als ob der Himmel sich in Tau auflöste und bei völliger Windstille sich auf die Erde hinabsenkte. Die einzige Bewegung, die in der Luft vorging, war das leise Niedersinken der mikroskopisch kleinen Dunst- und Nebeltröpfchen. An den kahl gewordenen Zweigen der Bäume im Garten hingen durchsichtige Tropfen und fielen auf die erst kürzlich abgefallenen Blätter herunter. Die Erde im Gemüsegarten hatte einen feuchten, schwarzen Glanz wie Ölsamen und verschwamm in geringer Entfernung mit dem trüben, nassen Nebelschleier. Nikolai trat vor die Haustür auf die feuchte Freitreppe hinaus, auf welche die Stiefel der von draußen Kommenden nicht wenig Schmutz zusammengetragen hatten: es roch nach welkem Laub und nach Hunden. Die Hündin Milka, schwarzgescheckt, mit breitem Hinterteil und mit großen, schwarzen, vorstehenden Augen, stand, als sie ihn erblickte, auf, streckte sich mit den Hinterbeinen und legte sich wie ein Hase nieder; dann sprang sie plötzlich auf und leckte ihn gerade auf die Nase und den Schnurrbart. Ein anderer Windhund kam, sobald er Nikolai sah, von einem Steig im Blumengarten mit gebogenem Rücken eilig zur Freitreppe gelaufen und rieb sich, die Rute erhebend, an Nikolais Beinen.
»O hoi!« erscholl in diesem Augenblick jener mit Buchstaben nicht wiederzugebende Jägerruf, der den tiefsten Baß und den höchsten Tenor in sich vereinigt, und um die Ecke kam der Hundeaufseher und Oberpikör Daniil, ein schon ergrauter Jäger, mit runzligem Gesicht, das Haar nach ukrainischer Art gleichmäßig rund geschnitten, die zusammengebogene Hetzpeitsche in der Hand und mit jenem Ausdruck von Selbstbewußtsein und von Geringschätzung gegen alles übrige in der Welt, wie man ihn nur bei Jägern findet. Er nahm seine Tscherkessenmütze vor dem Herrn ab und blickte ihn geringschätzig an. Aber der Herr fühlte sich durch diese Geringschätzung nicht gekränkt: Nikolai wußte ja, daß dieser Daniil, der alles verachtete und sich hoch über allem dünkte, doch sein Knecht und sein Jäger war.
»Daniil!« sagte schüchtern Nikolai, welcher merkte, daß ihn beim Anblick dieses Jagdwetters, dieser Hunde und dieses Jägers schon jene unwiderstehliche Jagdlust ergriff, bei der der Mensch alle seine früheren Vorsätze vergißt, wie ein Verliebter in Gegenwart seiner Geliebten.
»Was befehlen Sie, Euer Erlaucht?« fragte Daniil mit seiner Baßstimme, die einem Protodiakonus Ehre gemacht hätte, wenn sie nicht von dem vielen Schreien beim Hetzen so heiser geworfen wäre, und zwei schwarze, glänzende Augen blickten unter der gesenkten Stirn hervor nach dem Herrn, der so plötzlich verstummt war. »Na, kannst es wohl nicht mehr aushalten?« schienen diese beiden Augen zu sagen.
»Ein schöner Tag, was? Wie wär’s heute mit einer Hetzjagd, mit einem flotten Ritt?« fragte Nikolai den Jäger und kraulte dabei Milka hinter den Ohren.
Daniil antwortete nicht und zwinkerte mit den Augen.
»Ich habe bei Tagesanbruch Uwarka ausgeschickt, um sie zu verhören«, sagte er nach einem Stillschweigen, das wohl eine Minute gedauert hatte. »Er sagte, sie hätte nach der Remise von Otradnoje gewechselt; da hätten sie geheult.« Das bedeutete: die Wölfin, die sie beide im Sinn hatten, sei mit ihren Jungen in einen kleinen, rings von Feldern umgebenen Wald bei Otradnoje, zwei Werst von dem Gutshaus entfernt, gelaufen.
»Ich meine, da müßten wir hinreiten!« sagte Nikolai. »Komm doch mal mit Uwarka zu mir.«
»Wie Sie befehlen.«
»Warte also noch mit der Fütterung der Hunde.«
»Sehr wohl.«
Nach fünf Minuten standen Daniil und Uwarka in Nikolais großem Zimmer. Obgleich Daniil nicht von großer Statur war, hatte man doch, wenn man ihn im Zimmer sah, den Eindruck, als sähe man ein Pferd oder einen Bären auf dem gedielten Fußboden zwischen den Möbeln und sonstigen menschlichen Einrichtungsgegenständen. Auch Daniil selbst hatte diese Empfindung und blieb wie gewöhnlich dicht an der Tür stehen; auch gab er sich Mühe, möglichst leise zu sprechen und sich nicht zu bewegen, um in den Zimmern der Herrschaft nichts zu zerbrechen; und ferner suchte er alles das, was er zu sagen hatte, möglichst schnell von sich zu geben, damit er nur ja bald wieder ins Freie käme und nicht mehr die Zimmerdecke, sondern den Himmel über sich hätte.
Nachdem Nikolai sich nach allem erkundigt und dem Oberpikör die Erklärung entlockt hatte, daß von seiten der Hunde nichts im Weg stehe (Daniil hatte selbst Lust zu reiten), befahl er zu satteln. Aber als Daniil gerade hinausgehen wollte, kam schnellen Schrittes Natascha ins Zimmer, noch nicht frisiert und noch nicht angezogen, in ein großes, der Kinderfrau gehöriges Umschlagetuch eingehüllt. Mit ihr zusammen kam auch Petja hereingelaufen.
»Du reitest auf die Jagd?« fragte Natascha. »Das habe ich doch gewußt! Sonja sagte, ihr würdet nicht reiten. Aber ich wußte, daß heute ein so schöner Tag ist, daß man ihn nicht unbenutzt lassen kann.«
»Ja, wir reiten«, antwortete Nikolai widerwillig, der heute, wo er eine ernste Jagd zu veranstalten beabsichtigte, keine Lust hatte, Natascha und Petja mitzunehmen. »Wir reiten, aber nur auf Wolfsjagd; das würde dir langweilig sein.«
»Du weißt doch, daß das für mich das größte Vergnügen ist«, erwiderte Natascha. »Das ist schlecht von dir. Er selbst will reiten und läßt satteln, und uns sagt er nichts davon.«
»Für einen echten Russen gibt es keine Hindernisse!« rief Petja. »Wir reiten mit.«
»Aber du darfst ja gar nicht«, sagte Nikolai, zu Natascha gewendet. »Mama hat gesagt, du solltest es nicht tun.«
»Ich reite doch mit; unter allen Umständen reite ich mit«, sagte Natascha in entschiedenem Ton. »Daniil«, wandte sie sich an den Oberpikör, »laß Pferde für uns satteln und sage zu Michail, er soll mit meiner Koppel reiten.«
Daniil fühlte sich sowieso schon im Zimmer unbehaglich und bedrückt; aber nun gar mit dem gnädigen Fräulein zu tun zu haben, das schien ihm geradezu ein Ding der Unmöglichkeit. Er schlug die Augen nieder und hatte es, wie wenn ihn die Sache nichts anginge, eilig hinauszukommen, wobei er sich sehr in acht nahm, dem gnädigen Fräulein nicht etwa unversehens irgendwie Schaden zu tun.
IV
Der alte Graf, der von jeher eine große Jagd unterhalten, jetzt aber dieses ganze Ressort der Leitung seines Sohnes unterstellt hatte, war an diesem Tag, dem 15. September, infolge des schönen Wetters in sehr vergnügter Stimmung und machte sich ebenfalls fertig, um mitzureiten.
Nach einer Stunde stand die ganze Jagdgesellschaft vor der Haustür bereit. Nikolai ging mit ernster, strenger Miene, die besagte, daß er jetzt keine Zeit habe, sich mit Kindereien abzugeben, an Natascha und Petja vorüber, die ihm etwas sagen wollten. Er revidierte alle Teile der Jagdexpedition, schickte mehrere Koppeln und Jäger voraus, die einen Bogen um die Waldremise beschreiben sollten, setzte sich auf seinen Fuchs Donez, pfiff die Hunde seiner Koppel heran und ritt über die Dreschtenne auf das Feld, das nach der Waldremise zu lag. Das Pferd des alten Grafen, ein fuchsfarbener Wallach mit weißlicher Mähne und weißlichem Schwanz, namens Wiflanka, wurde von dem gräflichen Leibjäger dorthin geführt; der alte Graf selbst sollte in einem leichten Jagdwagen bis zu dem ihm angewiesenen Stand fahren.
Die Zahl der Hetzhunde, die ausgeführt wurden, betrug vierundfünfzig, unter sechs berittenen Pikören und Hundewärtern. An der Jagd nahmen außer der Herrschaft noch acht Jäger teil, welche mehr als vierzig Windhunde mit sich hatten, so daß einschließlich der Koppeln der Herrschaft etwa hundertdreißig Hunde und zwanzig Berittene aufs Feld hinauszogen.
Jeder Hund kannte seinen Herrn und seinen Namen. Jeder Jäger kannte das Jagdhandwerk, seinen Platz und seine Aufgabe. Sowie sie aus dem Gehöft herausgekommen waren, zogen alle ohne Lärm und Gespräch ruhig und gleichmäßig in breitem Schwarm auf dem Weg und über das Feld in Richtung nach dem Wald dahin.
Wie auf einem weichen Teppich schritten die Pferde über das Feld; mitunter, wenn sie Wege kreuzten, platschten sie durch Pfützen. Der Nebel senkte sich immer noch unmerklich und gleichmäßig vom Himmel auf die Erde herab. Die Luft war windstill, warm und lautlos. Nur ab und zu hörte man bald den Pfiff eines Jägers, bald das Schnauben eines Pferdes, bald einen Schlag mit der Hetzpeitsche und das Winseln eines Hundes, der nicht an seinem richtigen Platz gelaufen war.
Nachdem sie etwa eine Werst weit geritten waren, tauchten, dem Rostowschen Jagdzug entgegenkommend, aus dem Nebel fünf Reiter mit Hunden auf. Voran ritt ein frischer, hübscher alter Mann mit großem, grauem Schnurrbart.
»Guten Tag, Onkelchen!« sagte Nikolai, als der Alte ihm näher gekommen war.
»Klar und selbstverständlich! Das hatte ich mir doch gedacht«, begann der Onkel (er war ein entfernter Verwandter und nicht gerade wohlhabender Nachbar der Familie Rostow), »das hatte ich mir doch gedacht, daß du es bei dem Wetter nicht zu Hause aushalten würdest; sehr recht von dir, daß du reitest. Klar und selbstverständlich!« (Dies war eine Lieblingsredensart des Onkels.) »Mach dich nur sofort an die Remise; denn mein Gritschik hat mir gemeldet, daß die Ilagins mit Jägern und Hunden in Korniki sind. Die werden dir, klar und selbstverständlich, die Wolfsfamilie vor der Nase wegnehmen.«
»Ich bin eben auf dem Weg dahin. Aber wie ist’s? Wollen wir unsere Meuten zusammentun?« fragte Nikolai.
Die Hetzhunde wurden zu einer Meute vereinigt, und der Onkel und Nikolai ritten nun nebeneinander. Natascha, in Tücher eingehüllt, aus denen ihr lustiges Gesicht mit den glänzenden Augen herausschaute, kam zu ihnen herangaloppiert, gefolgt von ihren unzertrennlichen Begleitern, ihrem Bruder Petja und dem Jäger und Reitknecht Michail, der ihr heute sozusagen als Kinderfrau beigegeben war. Petja lachte über irgend etwas und schlug und riß sein Pferd. Natascha saß geschickt und voll Selbstvertrauen auf ihrem Rappen Arabtschik und parierte das Tier mit sicherer Hand, ohne jede Anstrengung.
Der Onkel blickte mißbilligend auf Petja und Natascha. Er liebte es nicht, eine so ernste Sache wie die Jagd mit Possen zu verquicken.
»Guten Tag, Onkelchen! Wir reiten auch mit!« rief Petja.
»Guten Tag, guten Tag! Aber tretet nur nicht die Hunde«, erwiderte der Onkel in strengem Ton.
»Nikolai, was ist doch mein Trunila für ein reizendes Wesen! Er hat mich wiedererkannt«, sagte Natascha mit Bezug auf ihren Lieblingshund.
»Erstens ist Trunila kein Wesen, sondern ein Jagdrüde«, dachte Nikolai und warf seiner Schwester einen strengen Blick zu, um ihr den Abstand fühlbar zu machen, der sie beide in diesem Augenblick naturgemäß voneinander trennte. Natascha verstand den Sinn dieses Blickes.
»Glauben Sie nur nicht, Onkelchen«, sagte sie, »daß wir jemandem in die Quere kommen werden. Wir werden uns auf unsern Platz stellen und uns nicht rühren.«
»Das ist recht von Ihnen, liebe Komtesse«, erwiderte der Onkel. »Nehmen Sie sich nur in acht, daß Sie nicht vom Pferd fallen«, fügte er hinzu. »Denn, klar und selbstverständlich, festgebunden ist man nicht darauf.«
Nun wurde die Waldremise in einer Entfernung von dreihundert bis vierhundert Schritten sichtbar, und die Piköre näherten sich ihr. Nachdem Rostow mit dem Onkel endgültig darüber Beschluß gefaßt hatte, von wo die Hetzhunde losgelassen werden sollten, wies er seiner Schwester Natascha einen Platz an, wo in keiner Weise zu erwarten war, daß etwas vorbeilaufen werde, und schickte sich dann an, im Bogen oberhalb einer Schlucht herumzureiten.
»Nun, lieber Neffe, du wirst es mit einem starken Wolf zu tun haben«, sagte der Onkel. »Paß nur auf, daß du ihn nicht durchkommen läßt.«
»Wir wollen unser möglichstes tun«, antwortete Rostow. »Karai, füit!« rief er, und dieser Anruf war eine Art von Antwort auf die Worte des Onkels. Karai war ein alter, häßlicher Hund mit zottiger Schnauze, von dem aber bekannt war, daß er es allein mit einem starken Wolf aufnahm. Alle nahmen ihre Plätze ein.
Der alte Graf, der den brennenden Jagdeifer seines Sohnes kannte, hatte sich beeilt, um nicht zu spät zu kommen, und wirklich waren die Piköre noch nicht an Ort und Stelle gelangt, als Ilja Andrejewitsch, vergnügt, mit gerötetem Gesicht und zitternden Wangen, auf seinem von zwei Rappen gezogenen Jagdwagen über die Wintersaat zu dem ihm angewiesenen Platz herbeigefahren kam; nachdem er seinen Pelz zurechtgeschoben und seine Jagdausrüstung angelegt hatte, stieg er auf seinen glatten, wohlgenährten, frommen, braven Wiflanka, der auch schon, wie er selbst, grau geworden war. Wagen und Pferde wurden beiseite geschickt. Graf Ilja Andrejewitsch, der zwar kein passionierter Jäger war, aber doch die Jagdgebräuche genau kannte, ritt in den Saum des Buschwerks hinein, wo er seinen Stand hatte, brachte die Zügel in Ordnung, setzte sich auf dem Sattel zurecht, und als er sich nun bewußt war, fix und fertig zu sein, blickte er lächelnd um sich.
Neben ihm hielt sein Kammerdiener und Leibjäger Semjon Tschekmar, ein altbewährter, aber jetzt unbehilflich gewordener Reiter. Tschekmar hielt drei Wolfshunde an der Koppel, grimmige Tiere, die aber gleichermaßen wie der Gutsherr und dessen Pferd fett geworden waren. Zwei andere, verständige, alte Hunde hatten sich ohne Koppel hingelegt. Etwa hundert Schritte weiter hielt im Saum des Gehölzes ein anderer Leibjäger des Grafen, Mitka, ein tollkühner Reiter und leidenschaftlicher Jäger. Der Graf leerte nach alter Gewohnheit vor der Jagd einen silbernen Becher voll Jagdlikör, aß einen Bissen hinterher und trank dann eine halbe Flasche von seinem Lieblingsbordeaux.
Ilja Andrejewitsch war von der Fahrt und vom Wein etwas rot geworden, und seine von Feuchtigkeit überzogenen Augen hatten einen besonderen Glanz angenommen; wie er so, in seinen Pelz eingewickelt, im Sattel saß, sah er aus wie ein Kind, das man zum Spaziergang zurechtgemacht hat.
Sobald der hagere, hohlwangige Tschekmar seine eigene Jagdausrüstung in Ordnung gebracht hatte, blickte er zu seinem Herrn hin, mit dem er nun schon dreißig Jahre lang wie ein Herz und eine Seele gelebt hatte, und da er dessen vergnügte Stimmung wahrnahm, so erwartete er ein angenehmes Gespräch.
Noch eine dritte Person kam vorsichtig (augenscheinlich hatte ihr dies schon jemand eingeschärft) um eine Waldecke herangeritten und hielt hinter dem Grafen an. Es war dies ein alter Mann mit grauem Bart, in einem Frauenmantel und mit einer hohen Zipfelmütze, ein Narr, der mit einem Frauennamen Nastasja Iwanowna genannt wurde.
»Nun, Nastasja Iwanowna«, flüsterte ihm der Graf, mit den Augen zwinkernd, zu, »scheuche du nur durch das Stampfen deines Pferdes den Wolf zurück; dann wird es dir Daniil gehörig geben.«
»Ich bin selbst … ein Mann, der sich zu wehren weiß …«, erwiderte Nastasja Iwanowna.
»Pssst!« zischte der Graf und wandte sich dann zu Semjon.
»Hast du Natalja Iljinitschna gesehen?« fragte er ihn. »Wo ist sie?«
»Die Komtesse ist mit Peter Iljitsch auf der Seite nach der Scharowaja-Steppe zu«, antwortete Semjon lächelnd. »Eine Dame, und hat so großen Jagdeifer!«
»Wunderst du dich nicht auch, wie sie reitet, Semjon? He?« fragte der Graf. »Das würde einem Mann Ehre machen.«
»Gewiß wundere ich mich! So kühn und gewandt!«
»Und wo ist Nikolai? Wohl auf dem Ljadowski-Hügel, wie?« fragte der Graf weiter, immer im Flüsterton.
»Jawohl. Der junge Herr weiß schon, wo er sich hinstellen muß. Und reiten kann er so fein, daß Daniil und ich uns manchmal gar nicht genug wundern können«, sagte Semjon, der recht gut wußte, wie man dem Herrn etwas Angenehmes sagen konnte.
»Er reitet gut, was? Und wie er sich zu Pferde ausnimmt, nicht wahr?«
»Reinweg ein Bild zum Malen! Neulich wurde ein Fuchs aus der Sawarsinskaja-Steppe losgelassen, und der junge Herr holte ihn aus ganz weiter Entfernung ein; staunenswert! Das Pferd ist tausend Rubel wert, und der Reiter ist über alles Lob erhaben. Ja, so einen schneidigen jungen Mann, den kann man lange suchen!«
»Lange suchen …«, wiederholte der Graf, der es offenbar bedauerte, daß Semjons Lobeserhebungen so schnell zu Ende waren. »Lange suchen«, sagte er, schlug die Schöße seines Pelzes auseinander und holte die Tabaksdose heraus.
»Neulich, als der junge Herr in seiner vollen militärischen Gala aus der Messe kam, da sagte Michail Sidorowitsch …« Aber Semjon sprach seinen Satz nicht zu Ende; denn man hörte deutlich durch die stille Luft das heulende Gebell von nicht mehr als zwei oder drei jagenden Hunden. Er neigte den Kopf, horchte und machte schweigend dem Herrn ein warnendes Zeichen. »Sie sind auf das Lager gestoßen …«, flüsterte er, »gerade nach dem Ljadowski-Hügel treiben sie ihn hin.«
Der Graf, welcher ganz vergessen hatte, das Lächeln wieder von seinem Gesicht verschwinden zu lassen, blickte gerade vor sich hin eine Schneise entlang in die Ferne und hielt die Tabaksdose, ohne zu schnupfen, in der Hand. Gleich nach dem Gebell der Hunde ertönte von Daniils tiefklingendem Jagdhorn das Signal: »Wolf gefunden!« Die ganze Meute vereinigte sich mit den drei ersten Hunden, und man konnte hören, wie die Hetzhunde in jener besonderen Art hell aufheulten, die als Zeichen dafür dient, daß sie hinter einem Wolf her sind. Die Piköre hetzten nicht mehr mit Geschrei und Peitschenknallen, sondern sie schrien »Uljulju!«, und aus allen Stimmen klang die Stimme Daniils hervor, bald in tiefem Baß, bald in gellend hohen Tönen. Diese Stimme schien den ganzen Wald anzufüllen, über seine Ränder hinauszudringen und noch fernhin über die Felder zu erklingen.
Nachdem der Graf und sein Leibjäger ein paar Sekunden lang schweigend gelauscht hatten, kamen sie beide zu der Überzeugung, daß die Hunde sich in zwei Meuten geteilt hatten: die eine, größere, welche mit besonderer Heftigkeit heulte, begann sich zu entfernen; die andere lief im Wald in einiger Entfernung an dem Standort des Grafen vorbei, und bei diesem Teil der Meute war Daniils Uljulju zu hören. Die Töne beider Jagden flossen dann zusammen und verschmolzen miteinander; aber beide entfernten sich.
Semjon seufzte und bückte sich, um einen Koppelriemen in Ordnung zu bringen, in den sich ein junger Hund verwickelt hatte; der Graf seufzte ebenfalls, und da er die Tabaksdose in seiner Hand bemerkte, öffnete er sie und nahm eine Prise. »Zurück!« schrie in diesem Augenblick Semjon einen Hund an, der über den Waldrand hinaustrat. Der Graf schrak zusammen und ließ die Dose fallen. Nastasja Iwanowna stieg vom Pferd und hob sie auf. Der Graf und Semjon sahen ihm dabei zu.
Plötzlich, wie das häufig vorkommt, näherte sich der Lärm der Jagd in überraschender Weise wieder dermaßen, als ob jeden Augenblick die bellenden Hundemäuler und der Uljulju schreiende Daniil unmittelbar vor ihnen auftauchen würden.
Der Graf schaute um sich und erblickte rechts von sich Mitka, der ihn mit hervorquellenden Augen ansah und, die Mütze abnehmend, mit der Hand vor sich hin, nach der andern Seite zu, zeigte.
»Aufpassen!« schrie er in einem Ton, dem man es anmerkte, daß dieses Wort schon lange qualvoll gesucht hatte aus seinem Mund herauszukommen; dann ließ er die Hunde los und sprengte im Galopp auf den Grafen zu.
Der Graf und Semjon ritten schleunigst aus dem Waldsaum heraus und erblickten links von sich einen Wolf, der in weich schaukelnden, ruhigen Sätzen nach einer weiter links von ihnen gelegenen Stelle eben des Waldsaumes hinsprang, an dem sie hielten. Die Hunde heulten wütend auf, rissen sich von der Koppel los und stürmten an den Beinen der Pferde vorbei auf den Wolf los.
Der Wolf hemmte seinen Lauf einen Augenblick, wendete ungeschickt wie jemand, der an Halsbräune leidet, seinen breitstirnigen Kopf den Hunden zu, machte dann in derselben weich schaukelnden Art noch ein paar Sätze und verschwand, den Schweif hin und her schlenkernd, im Waldrand. In demselben Augenblick brach aus dem gegenüberliegenden Waldrand mit einem Geheul, das wie Weinen klang, anscheinend ratlos erst ein, dann ein zweiter, ein dritter Hund heraus, und nun rannte die ganze Meute über das Feld nach eben der Stelle hin, wo der Wolf in den Wald hineingelaufen war. Hinter den Hunden teilten sich die Haselnußsträucher, und es erschien Daniils Brauner, der von Schweiß ganz schwarz geworden war. Auf seinem langen Rücken saß zu einem Klumpen zusammengeballt, ganz nach vorn gebeugt, Daniil, ohne Mütze, mit rotem, schweißbedecktem Gesicht unter den grauen, zerzausten Haaren.
»Uljuljulju, uljulju!« schrie er. Als er den Grafen erblickte, schossen seine Augen Blitze.
»Schande!« schrie er und drohte mit der aufgehobenen Peitsche nach dem Grafen hin. »Haben den Wolf durchgelassen! Das sind mal Jäger!« Und wie wenn er den verlegenen, erschrockenen Grafen keines weiteren Wortes würdigte, schlug er mit all dem Ingrimm, der eigentlich dem Grafen galt, auf die feuchten Weichen seines braunen Wallachs los und sprengte den Hunden nach. Der Graf stand wie ein bestrafter Schüler da, blickte sich um und suchte durch ein Lächeln bei Semjon Mitleid mit seiner Lage zu erwecken. Aber Semjon war nicht mehr da: er sprengte im Bogen durch die Büsche und suchte den Wolf von dem dichteren Teil des Waldes abzuschneiden. Dasselbe versuchten von zwei Seiten her auch die Piköre. Aber der Wolf nahm seinen Weg durch die Büsche, ohne daß ihn ein Jäger hätte aufhalten können.
V
Unterdessen hielt Nikolai Rostow an seinem Platz und wartete auf einen Wolf. An dem Näherkommen oder Zurückweichen des Jagdlärms, an dem Ton des Gebells der ihm bekannten Hunde, sowie daran, daß die Stimmen der Piköre lauter oder schwächer klangen, erkannte er, was in der Waldremise vorging. Er wußte, daß sich in dieser Waldremise junge und alte Wölfe befanden; er wußte, daß die Hunde sich in zwei Meuten geteilt hatten, daß sie irgendwo hinter einem Wolf her waren, und daß sich irgend etwas Unerwünschtes zugetragen hatte. Jeden Augenblick erwartete er, daß der Wolf nach seiner Seite kommen werde. Er überlegte sich tausend verschiedene Möglichkeiten, wie und von welcher Seite der Wolf werde angelaufen kommen, und wie er ihn dann hetzen werde. In seiner Seele wechselte Hoffnung mit Verzweiflung ab. Ab und zu wandte er sich an Gott mit der Bitte, doch den Wolf nach seiner Seite herauskommen zu lassen. Er betete in der leidenschaftlichen, aber verschämten Art, in welcher Menschen in Augenblicken einer starken, aber aus nichtiger Ursache hervorgegangenen Erregung zu beten pflegen. »Nun, was kostet es dich«, sagte er zu Gott, »mir diese Liebe zu tun! Ich weiß, daß du groß bist, und daß es Sünde ist, dich um so etwas zu bitten; aber doch bitte ich dich inständig: gib, daß ein alter Wolf nach meiner Seite herauskommt, und daß Karai vor den Augen des Onkels, der von seinem Stand aus immer hierherblickt, das Tier an der Kehle packt und totbeißt.« Tausendmal in dieser halben Stunde ließ Rostow mit hartnäckiger Ausdauer seinen gespannten, unruhigen Blick über den Waldsaum mit den zwei dünnbelaubten, das Espengebüsch überragenden Eichen hingleiten und über die Schlucht mit dem ausgewaschenen Rand und über die Mütze des Onkels, von dem hinter einem Strauch rechts nur ganz wenig zu sehen war.
»Nein«, dachte Rostow, »dieses Glück wird mir nicht zuteil werden, und es wäre doch für Gott eine Kleinigkeit! Aber es wird mir nicht zuteil werden! Immer habe ich Unglück, beim Kartenspiel und im Krieg und in allem.« Austerlitz und Dolochow tauchten mit großer Deutlichkeit, aber schnell einander ablösend, vor seinem geistigen Blick auf. »Nur einmal in meinem Leben möchte ich einen alten Wolf tothetzen; weiter habe ich keinen Wunsch!« dachte er und strengte Gesicht und Gehör an, indem er nach links und wieder nach rechts blickte und auf die geringsten Veränderungen des Jagdlärmes lauschte.
Wieder einmal blickte er nach rechts und sah, daß über das freie Feld etwas auf ihn zu gelaufen kam. »Nein, es ist wohl nicht möglich!« dachte Rostow schwer aufatmend, wie man aufzuatmen pflegt, wenn etwas längst Erwartetes Wirklichkeit wird. Das größte Glück war gekommen, und in so schlichter Art, ohne Lärm und Glanz und Vorboten. Rostow traute seinen Augen nicht, und dieser Zweifel dauerte länger als eine Sekunde. Der Wolf setzte seinen Lauf fort und sprang schwerfällig über einen Wasserriß, der in seinem Weg lag. Es war ein altes Tier mit grauem Rücken und vollgefressenem, rötlichem Bauch. Der Wolf lief ohne übermäßige Eile, da er offenbar meinte, es sähe ihn niemand. Rostow sah sich, den Atem anhaltend, nach den Hunden um. Sie lagen und standen da, ohne den Wolf zu sehen und ohne irgend etwas zu wittern. Der alte Karai hatte den Kopf zurückgedreht, fletschte, ärgerlich einen Floh suchend, die gelben Zähne und schnappte mit ihnen knackend an den Hinterschenkeln herum.
»Uljuljulju!« flüsterte Rostow mit breitgezogenen Lippen. Die Hunde sprangen, mit den Eisen klirrend, auf und spitzten die Ohren. Karai fuhr schnell noch ein paarmal mit den Zähnen durch das Haar am Hinterschenkel und stand dann gleichfalls auf, spitzte die Ohren und bewegte leise die Rute hin und her, an welcher verfilzte Haarbüschel hingen.
»Loslassen oder nicht loslassen?« sagte Nikolai zu sich selbst in dem Augenblick, als der sich ihm nähernde Wolf nach allen Seiten ziemlich weit vom Wald entfernt war. Plötzlich änderte sich die ganze Physiognomie des Wolfes: er schrak zusammen, da er die Augen eines Menschen, die er wahrscheinlich noch nie vorher erblickt hatte, auf sich gerichtet sah, und blieb, den Kopf ein wenig nach dem Jäger hinwendend, stehen. »Vorwärts oder rückwärts? Ach was, es ist ganz gleich, vorwärts!« schien er zu sich selbst zu sagen und setzte, ohne sich weiter umzusehen, mit weichen, mäßig schnellen und mäßig großen, aber entschlossenen Sprüngen seinen Lauf fort.
»Uljulju!« schrie Nikolai mit fremdartig klingender Stimme, und sein braves Pferd rannte aus eigenem Antrieb Hals über Kopf bergab, die vom Wasser gerissenen Vertiefungen überspringend, quer zu der Richtung des Wolfes; und noch schneller, das Pferd überholend, stürmten die Hunde dahin. Nikolai hörte seinen eigenen Schrei nicht, fühlte nicht, daß er dahingaloppierte, sah weder die Hunde noch das Terrain, auf dem er ritt; er sah nur den Wolf, der, sein Tempo beschleunigend, ohne die Richtung zu verändern, in einer Bodenrinne lief. Der erste Hund, der sich in der Nähe des Wolfes zeigte, war die schwarzgescheckte Milka mit dem breiten Hinterteil; der Zwischenraum zwischen ihr und dem Verfolgten wurde immer geringer. Näher, immer näher kam sie heran … jetzt war sie schon dicht bei ihm. Aber der Wolf schielte nur ein wenig nach ihr hin, und statt zuzupacken, wie sie es sonst immer tat, hob Milka auf einmal den Schwanz in die Höhe und stemmte sich auf die Vorderbeine.
»Uljuljuljulju!« schrie Nikolai.
Der fuchsrote Ljubim sprang hinter Milka hervor, stürzte sich eifrig auf den Wolf und packte ihn an einer Lende, sprang aber im gleichen Augenblick erschrocken nach der andern Seite hinüber. Der Wolf hatte sich hingesetzt und mit den Zähnen geklappt; nun erhob er sich wieder und lief weiter, von allen Hunden in einer Entfernung von einem Schritt verfolgt, ohne daß sie gewagt hätten, ihm näherzukommen.
»Er entkommt! Nein, das ist doch nicht möglich!« dachte Nikolai, der mit heiserer Stimme fortfuhr zu schreien.
»Karai! Uljulju …!« schrie er und suchte mit den Augen den alten Hund, der jetzt seine einzige Hoffnung bildete. Karai streckte sich aus allen Kräften, soviel er bei seinem Alter nur konnte, und lief, immer nach dem Wolf hinblickend, schwerfällig seitwärts, um ihm den Weg abzuschneiden. Aber wenn man die Schnelligkeit des Wolfes und die Langsamkeit des Hundes zusammenhielt, so war klar, daß Karais Rechnung nicht stimmte. Nikolai erblickte schon ziemlich nahe vor sich diejenige Partie des Waldes, in der der Wolf aller Wahrscheinlichkeit nach Rettung fand, wenn er sie erreichte. Da tauchten plötzlich Hunde und ein Jäger auf, der dem Wolf beinahe gerade entgegen galoppierte. Nun war noch Hoffnung vorhanden. Ein Hund, den Nikolai nicht kannte, ein dunkelgewellter, langgestreckter, junger Rüde von einer fremden Koppel, stürmte hitzig von vorn gegen den Wolf an und hätte ihn beinahe umgerannt. Aber mit einer Schnelligkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte, hob sich der Wolf in die Höhe, stürzte sich auf seinen Gegner, schnappte mit den Zähnen zu, und blutend, mit klaffender Flanke, schlug der Hund laut aufwinselnd mit dem Kopf auf die Erde.
»Karai, lieber, guter, alter Karai!« bat Nikolai fast weinend.
Der alte Hund mit den verfilzten Haarklümpchen am Schwanz und an den Schenkeln war, dank dem entstandenen Aufenthalt, bei seinem Versuch dem Wolf den Weg abzuschneiden, diesem schon auf fünf Schritte nahe gekommen. Wie wenn er die Gefahr spürte, schielte der Wolf nach Karai hin, zog den Schwanz noch mehr zwischen die Beine und steigerte die Geschwindigkeit seines Laufes. Aber nun befand sich Karai (Nikolai hatte nur gesehen, daß irgend etwas mit dem Hund vorging) plötzlich auf dem Wolf und rollte mit ihm zusammen über Hals und Kopf in eine vom Wasser ausgewaschene Vertiefung, die sie vor sich hatten.
Der Augenblick, als Nikolai in der Vertiefung die auf dem Wolf sich herumwälzenden Hunde erblickte und zwischen ihnen das graue Fell des Wolfes und sein ausgestrecktes eines Hinterbein und seinen Kopf mit dem angstvollen Ausdruck, den angedrückten Ohren und dem nach Luft schnappenden Maul (Karai hielt ihn an der Kehle gepackt), der Augenblick, als Nikolai das sah, war der glücklichste seines Lebens. Er faßte schon nach dem Sattelbogen, um abzusteigen und dem Wolf den Fangstoß zu geben, als sich auf einmal aus diesem Knäuel von Hunden der Kopf des Wolfes nach oben hindurcharbeitete und dann die Vorderbeine auf den Rand der Vertiefung traten. Der Wolf schnappte mit den Zähnen um sich (Karai hielt ihn nicht mehr an der Kehle), sprang mit den Hinterbeinen aus dem Loch heraus und lief, der Hunde wieder ledig geworden, mit eingeklemmtem Schwanz weiter. Karai kroch mit gesträubtem Haar, wahrscheinlich verwundet oder gequetscht, mühsam aus der Vertiefung heraus.
»Mein Gott! Womit habe ich das verdient?« rief Nikolai in heller Verzweiflung.
Der Jäger des Onkels kam von der andern Seite herangesprengt, um dem Wolf den Weg abzuschneiden, und seine Hunde brachten das Tier wieder zum Stehen, das nun von neuem umringt wurde.
Nikolai, sein Leibjäger, der Onkel und der Jäger des Onkels umschwärmten den Wolf, schrien Uljulju und schickten sich jedesmal an abzusteigen, sobald der Wolf sich auf die Hinterbeine niedersetzte, ritten aber jedesmal weiter, wenn der Wolf die Hunde abschüttelte und nach dem Dickicht zulief, wo er sich Rettung erhoffte.
Gleich zu Anfang dieser Hetze war Daniil, als er das Uljulju-Geschrei hörte, eilig aus dem Wald bis an den Rand geritten. Er hatte gesehen, wie Karai den Wolf packte, und sein Pferd angehalten, in der Meinung, daß die Sache nun beendet sei. Aber als die Jäger nicht abstiegen, der Wolf die Hunde immer wieder abschüttelte und weiterflüchtete, da setzte Daniil seinen Braunen wieder in Bewegung, nicht in der Richtung nach dem Wolf zu, sondern geradewegs nach dem Dickicht hin, um, in derselben Weise wie vorher Karai, dem Wolf den Weg abzuschneiden. Infolge dieses Manövers gelangte er zu dem Wolf in dem Augenblick, als die Hunde des Onkels den Wolf wieder einmal anhielten.
Daniil kam schweigend, den bloßen Dolch in der Linken haltend, herangesprengt und schlug mit der Hetzpeitsche wie mit einem Dreschflegel auf die eingefallenen Flanken seines Braunen los.
Nikolai hatte ihn nicht eher gesehen und gehört, als bis der Braune dicht neben ihm schweratmend vorbeikeuchte; darauf hörte er das Geräusch von dem Fall eines Körpers und sah, daß Daniil bereits mitten unter den Hunden auf dem Hinterteil des Wolfes lag und sich bemühte, ihn an den Ohren zu packen. Allen Beteiligten, den Hunden, den Jägern und dem Wolf, war klar, daß jetzt die Sache zu Ende ging. Der Wolf versuchte, angstvoll die Ohren an den Kopf drückend, sich zu erheben; aber die Hunde hingen von allen Seiten an ihm fest. Daniil richtete sich ein wenig auf und ließ sich dann mit seinem ganzen Gewicht, wie wenn er sich zur Ruhe legen wollte, wieder auf den Wolf niederfallen, wobei er ihn an den Ohren faßte. Nikolai wollte dem Wolf den Fangstoß geben; aber Daniil flüsterte ihm zu: »Nicht doch! Wir wollen ihn knebeln!«, und seine Stellung ändernd, trat er mit dem Fuß auf den Hals des Wolfes. Dem Wolf wurde ein Stock in den Rachen geschoben und mit einem Koppelriemen nach Art eines Zaumes festgebunden; dann wurden ihm auch die Füße zusammengebunden, und Daniil drehte den Wolf ein paarmal von einer Seite auf die andere.
Die Jäger, auf deren Gesichtern sich ihre Ermüdung und zugleich ihre hohe Freude ausprägte, legten den alten Wolf in diesem Zustand lebend auf ein scheuendes, schnaubendes Pferd und brachten ihn, von den ihn umwinselnden Hunden begleitet, nach dem Platz, wo sich alle wieder zusammenfinden sollten. Alle kamen herbeigeritten und herbeigelaufen, um den Wolf zu besehen, der seinen breitstirnigen Kopf mit dem zaumartig im Maul befestigten Stock herabhängen ließ und mit seinen großen, glasigen Augen auf diese ganze Menge von Hunden und Menschen blickte, die ihn umringte. Wenn man ihn berührte, zuckte er mit den zusammengebundenen Beinen und sah alle wild und zugleich einfältig an. Auch Graf Ilja Andrejewitsch kam herbeigeritten und faßte den Wolf an.
»Oh, was für ein gewaltiges Tier!« sagte er. »Ein gewaltiges Tier, nicht wahr?« fragte er den neben ihm stehenden Daniil.
»Jawohl, Euer Erlaucht«, antwortete Daniil und nahm eilig die Mütze ab.
Der Graf dachte daran, wie er den Wolf hatte durchkommen lassen, und was er dabei für ein Rekontre mit Daniil gehabt hatte.
»Aber hör mal, lieber Freund, was kannst du ärgerlich werden!« bemerkte der Graf.
Daniil antwortete nicht und verzog nur verlegen den Mund zu einem kindlich-sanften, freundlichen Lächeln.
VI
Der alte Graf fuhr nach Hause; Natascha und Petja versprachen, ebenfalls bald heimzukehren. Die Jagd wurde fortgesetzt, da es noch früh war. Gegen Mittag wurden die Hetzhunde in eine mit dichtem, jungem Gehölz bewachsene Schlucht hineingeschickt. Nikolai, der auf einem Stoppelfeld hielt, konnte alle seine Jäger übersehen.
Ihm gegenüber lag ein Feld mit Wintersaat, und dort hielt ein Jäger Nikolais für sich allein, in einer Grube hinter einem daraus hervorragenden Haselnußstrauch. Sobald die Hunde in die Schlucht hineingelassen waren, hörte Nikolai das vereinzelte Jagdgebell eines ihm wohlbekannten Hundes, Woltorn; dann schlossen die andern Hunde sich ihm an, indem sie abwechselnd bald sich still verhielten, bald laut jagten. Eine Minute darauf ertönte aus dem ringsum von Feldern umgebenen Buschwald das Signal: »Fuchs gefunden!«, und die ganze Meute jagte in dichtem Schwarm den Abhang hinauf nach dem Wintersaatfeld zu, von Nikolai weg.
Er sah die Hundewärter mit ihren roten Mützen, wie sie an den Rändern der buschigen Schlucht dahinsprengten; er sah sogar die Hunde und erwartete jeden Augenblick, daß der Fuchs auf jener Seite, auf dem Wintersaatfeld, ihm werde sichtbar werden.
Nun setzte sich der Jäger, der in der Grube hielt, in Bewegung und ließ seine Hunde los, und Nikolai erblickte einen Rotfuchs, der eigentümlich niedrig aussah und mit gesträubtem Schwanz eilig über das Wintersaatfeld lief. Die Hunde stürmten zu ihm hin. Nun waren sie ihm nahe, und der Fuchs begann zwischen ihnen kunstvolle Kreise zu beschreiben, immer schneller und schneller, und mit dem buschigen Schweif um sich zu schlagen. Da warf sich ein weißer Hund, welchen Nikolai nicht kannte, auf ihn und nach diesem ein schwarzer, und alles mischte sich durcheinander, und dann standen die Hunde sternförmig, mit den Hinterteilen nach außen, da, fast ohne sich zu rühren. Zu den Hunden sprengten zwei Jäger hin: der eine mit roter Mütze, der andere, ein fremder, in einem langschößigen, grünen Rock.
»Was ist da los?« dachte Nikolai. »Wo kommt dieser Jäger her? Zum Onkel gehört er nicht.«
Die Jäger nahmen den Hunden den Fuchs ab und standen längere Zeit zu Fuß da, ohne ihn an den Sattelriemen zu binden. Neben ihnen standen, an den Zügeln gehalten, die Pferde mit ihren hohen Sattelbögen; die Hunde hatten sich hingelegt. Die Jäger machten heftige Bewegungen mit den Armen und nahmen mit dem Fuchs irgend etwas vor. Da erscholl von dort ein Ton des Jagdhorns, das übliche Signal einer Rauferei.
»Da hat ein Jäger des Herrn Ilagin einen Streit mit unserm Iwan«, sagte Nikolais Leibjäger.
Nikolai schickte den Leibjäger ab, um die Schwester und Petja herbeizurufen, und ritt im Schritt nach dem Platz hin, wo die Piköre die Hunde sammelten. Einige der Jäger sprengten nach dem Ort hin, wo die Schlägerei stattfand.
Nikolai stieg vom Pferd und blieb mit Natascha und Petja, die auch herbeigeritten kamen, bei den Hunden stehen, um auf Nachrichten zu warten, welchen Ausgang die Sache dort nehme. Hinter dem Waldsaum hervor erschien zu Pferd der Jäger, der an der Schlägerei beteiligt gewesen war; den Fuchs hatte er am Sattelriemen hängen; er ritt auf den jungen Herrn zu. Schon von weitem nahm er die Mütze ab und versuchte, respektvoll etwas zu sagen; aber er war blaß und außer Atem, und sein Gesicht hatte einen grimmigen Ausdruck. Das eine Auge war ihm blaugeschlagen; aber das wußte er wahrscheinlich gar nicht.
»Was habt ihr denn da gehabt?« fragte Nikolai.
»Na, so was! Er wird da unsern Hunden ihre Beute wegnehmen! Und gerade meine mausgraue Hündin hatte den Fuchs gegriffen. Komm an, wenn du Streit suchst! Er greift nach dem Fuchs. Ich schlage ihn dem Fuchs um die Ohren. Da hängt er am Sattelriemen. Aber den hier willst du wohl nicht kosten …?« sagte der Jäger, indem er auf seinen Dolch wies; er hatte offenbar die Vorstellung, daß er immer noch mit seinem Feind spräche.
Ohne sich in ein weiteres Gespräch mit dem Jäger einzulassen, bat Nikolai seine Schwester und Petja, hier auf ihn zu warten, und ritt nach der Gegend hin, wo sich diese feindlichen Ilaginsche Jagdgesellschaft befand.
Der Sieger in der Schlägerei ritt in den Schwarm der übrigen Jäger hinein und erzählte diesen, die ihn voll Interesse und Neugier umringten, seine Heldentat.
Die Sache war die, daß Herr Ilagin, mit welchem Rostows eine Menge Streitigkeiten und Prozesse hatten, an Orten jagte, die nach alter Tradition der Familie Rostow gehörten, und jetzt, anscheinend absichtlich, seine Leute nach dem freiliegenden Buschwald hatte reiten lassen, wo Rostows jagten, und seinem Jäger erlaubt hatte, unter widerrechtlicher Mitbenutzung fremder Hunde zu hetzen.
Nikolai hatte Herrn Ilagin nie gesehen; aber da er es überhaupt nicht verstand, in seinen Ansichten und Gefühlen den Mittelweg innezuhalten, so haßte er ihn aufgrund der Gerüchte von seiner Frechheit und Eigenmächtigkeit von ganzer Seele und betrachtete ihn als seinen ärgsten Feind. In zorniger Erregung ritt er jetzt zu ihm hin, die Hand fest um den Griff der Hetzpeitsche pressend und völlig bereit, gegen seinen Feind in der energischsten Weise vorzugehen.
Kaum war er um einen vorspringenden Teil des Waldes herumgeritten, als er einen wohlbeleibten Herrn erblickte, der ihm entgegengeritten kam; er trug eine Bibermütze, saß auf einem schönen Rappen und war von zwei Leibjägern begleitet.
Statt eines Feindes fand Nikolai in Herrn Ilagin einen stattlichen, höflichen Herrn, der den lebhaften Wunsch hegte, die Bekanntschaft des jungen Grafen zu machen. Zu Rostow heranreitend lüftete Ilagin seine Bibermütze und sagte, er bedauere das Vorgefallene außerordentlich; er werde Befehl geben, den Jäger zu bestrafen, der sich erlaubt habe, sich in eine fremde Hetzjagd hineinzumischen; er bitte den Grafen um seine Bekanntschaft und biete ihm sein eigenes Terrain zur Jagd an.
Natascha, welche fürchtete, ihr Bruder könne irgend etwas Schreckliches anrichten, war ihm in großer Aufregung in einiger Entfernung nachgeritten. Als sie nun sah, daß die beiden Feinde sich freundlich begrüßten, ritt sie zu ihnen heran. Ilagin hob vor Natascha seine Bibermütze noch mehr in die Höhe und bemerkte mit einem angenehmen Lächeln, die Komtesse gleiche der Göttin Diana sowohl hinsichtlich ihrer Leidenschaft für die Jagd als auch hinsichtlich ihrer Schönheit, von der er schon viel gehört habe.
Um das Verschulden seines Jägers wiedergutzumachen, bat Ilagin seinen neuen Bekannten dringend, doch nach seinem eigenen, eine Werst entfernten Gehege mitzukommen, das er für seinen persönlichen Gebrauch reserviert habe, und in dem es seiner Versicherung zufolge von Hasen wimmelte. Nikolai nahm diese Einladung an, und die nun auf das Doppelte angewachsene Jagdgesellschaft zog weiter.
Um nach dem Ilaginschen Gehege zu gelangen, mußten sie über die Felder reiten.
Die Jäger verteilten sich in gleichmäßigen Abständen, die Herrschaften jedoch ritten zusammen. Der Onkel, Rostow und Ilagin musterten die fremden Hunde, aber nur verstohlen, damit es die andern nicht merkten, und suchten voll Unruhe aus diesen Hunden diejenigen herauszufinden, die sich als Rivalen ihrer eigenen Hunde entpuppen würden.
Rostow war besonders von der Schönheit einer kleinen rotgescheckten Hündin in Ilagins Koppel überrascht. Es war dies ein Tier von reiner Rasse, schmal gebaut, aber mit stählernen Muskeln, mit feiner Schnauze und vorstehenden, schwarzen Augen. Er hatte von dem feurigen Temperament der Ilaginschen Hunde gehört und sah in dieser schönen Hündin eine Rivalin seiner Milka.
Mitten in einem soliden Gespräch über die diesjährige Ernte, welches Ilagin angeknüpft hatte, zeigte Nikolai auf die rotgescheckte Hündin.
»Da haben Sie eine schöne Hündin!« warf er lässig hin. »Ist sie schneidig?«
»Die? O ja, das ist ein braves Tier, fängt gut«, antwortete Ilagin in gleichgültigem Ton mit Bezug auf seine rotgescheckte Jorsa, für die er im vorigen Jahr seinem Nachbar drei Familien Leibeigene gegeben hatte. »Also bei Ihnen, Graf, ist der Erdrusch auch nicht zu rühmen?« fuhr er in dem begonnenen Gespräch fort. Da er es aber für ein Gebot der Höflichkeit hielt, dem jungen Grafen mit gleicher Münze zu zahlen, so musterte Ilagin dessen Hunde und wählte Milka aus, die ihm durch ihren breiten Körperbau in die Augen fiel.
»Eine schöne schwarzgescheckte haben Sie da; vortrefflich gebaut!« sagte er.
»O ja, es geht, sie jagt ganz gut«, antwortete Nikolai. Und im stillen dachte er: »Es sollte nur hier auf dem Feld ein tüchtiger Hase laufen, dann würde ich dir schon zeigen, was das für ein Hund ist!« Und sich zu dem Leibjäger umwendend, sagte er, er werde demjenigen einen Rubel geben, der einen liegenden Hasen auffinde.
»Es ist mir unbegreiflich«, fuhr Ilagin fort, »wie manche Jäger einander um das Wild oder um ihre Hunde beneiden können. Ich will Ihnen sagen, Graf, wie es in dieser Hinsicht mit mir selbst steht. Sehen Sie, mir macht es schon Vergnügen, nur so einen Ritt zu machen; da trifft man dann solche angenehme Gesellschaft … was kann man sich Schöneres denken?« (Er nahm wieder vor Natascha seine Bibermütze ab.) »Aber daß ich die Felle zählen sollte, die ich nach Hause bringe, nein, das ist mir völlig gleichgültig!«
»Ja, gewiß.«
»Oder daß ich mich gekränkt fühlen sollte, wenn ein fremder Hund das Wild greift, und nicht meiner … Ich will mich ja doch nur an dem Anblick der Hetze erfreuen; nicht wahr, Graf? Darum bin ich der Ansicht …«
»Faß ihn!« erscholl in diesem Augenblick der langgezogene Ruf eines Hundeaufsehers, der stehengeblieben war. Er stand auf dem halben Abhang eines Stoppelfeldes, hielt die Hetzpeitsche in die Höhe und wiederholte noch einmal gedehnt: »Fa-aß ih-ihn!« Dieser Ruf und die aufgehobene Hetzpeitsche bedeuteten, daß er einen liegenden Hasen vor sich sah.
»Ah, es scheint, er hat einen Hasen aufgefunden«, sagte Ilagin lässig. »Nun schön, dann lassen Sie uns hetzen, Graf!«
»Ja, wir wollen hinreiten … Was meinen Sie, wollen wir zusammen hetzen?« antwortete Nikolai und warf einen Blick auf Jorsa und auf des Onkels roten Rugai, zwei Rivalen, mit denen er noch nie Gelegenheit gehabt hatte seine Hunde konkurrieren zu lassen. »Aber wenn sie nun meiner Milka eine böse Niederlage bereiten?« dachte er, als er jetzt neben dem Onkel und Ilagin nach der Stelle hinritt, wo der Hase lag.
»Ob es auch wohl ein tüchtiger Hase ist?« fragte Ilagin, während sie auf den Jäger zuritten, der den Hasen aufgefunden hatte, blickte sich unruhig nach seiner Jorsa um und pfiff ihr.
»Nun, und Sie, Michail Nikanorowitsch?« wandte er sich an den Onkel.
Der Onkel ritt mit mürrischem Gesicht neben den beiden andern.
»Wozu soll ich mich da hineinmischen! Eure Hunde haben ja, klar und selbstverständlich, jeder ein ganzes Dorf gekostet; das sind Tausendrubel-Hunde. Laßt eure miteinander wettkämpfen; ich werde zusehen!«
»Rugai! Hierher, hierher!« schrie er. »Rugajuschka!« fügte er hinzu und brachte unwillkürlich durch dieses Diminutiv seine Zärtlichkeit und die Hoffnung, die er auf diesen roten Hund setzte, zum Ausdruck. Natascha sah und spürte die Aufregung, welche diese beiden alten Männer und ihr Bruder zu verbergen suchten, und wurde selbst ganz aufgeregt.
Der Jäger auf der halben Höhe des Berges stand immer noch mit erhobener Hetzpeitsche da; die Herrschaften ritten im Schritt zu ihm heran; die Hetzhunde, die man fern am oberen Rand des Berges gegen den Himmel sah, zogen in einer von dem Hasen abgewandten Richtung; auch die Jäger, mit Ausnahme der Herrschaften, entfernten sich von ihm. Alles bewegte sich ruhig und langsam.
»Wohin liegt er mit dem Kopf?« fragte Nikolai, als sie sich dem Jäger, der den Hasen entdeckt hatte, auf etwa hundert Schritte genähert hatten.
Aber der Jäger hatte noch nicht Zeit gefunden zu antworten, als der Hase, dem die Sache unheimlich wurde, das Stilliegen aufgab und aufsprang. Die Meute der Hetzhunde, noch an den Koppelriemen, stürmte mit Gebell bergab auf den Hasen los; von allen Seiten eilten die Windhunde, die nicht angekoppelt waren, zu den Hetzhunden und zu dem Hasen hin. Alle diese Jäger, die sich noch soeben nur langsam bewegt hatten, jagten nun über das Feld: die einen suchten mit dem Ruf: »Halt!« ihre Hunde von einer falschen Richtung abzubringen, die andern mit dem Ruf: »Faß ihn!« den ihrigen die Richtung zu geben und sie anzufeuern. Der ruhige Ilagin, Nikolai, Natascha und der Onkel flogen dahin, ohne selbst zu wissen, wohin und wie; sie sahen nur die Hunde und den Hasen und fürchteten weiter nichts, als auch nur einen Augenblick lang den Gang der Hetzjagd aus den Augen zu verlieren. Der Hase erwies sich als ein großes, kräftiges Tier. Nachdem er aufgesprungen war, lief er nicht sogleich los, sondern bewegte die Ohren und horchte auf das Geschrei und Pferdegetrappel, das auf einmal von allen Seiten ertönte. Dann machte er nicht besonders schnell etwa zehn Sprünge, während deren die Hunde ihm näher kamen, und nun endlich, nachdem er die Gefahr begriffen und die Richtung gewählt hatte, legte er die Ohren an und lief aus Leibeskräften. Er hatte auf dem Stoppelfeld gelegen; aber vor ihm befand sich ein Wintersaatfeld, dessen Boden aufgeweicht war. Die beiden Hunde des Jägers, der den Hasen entdeckt hatte, waren, da sie ihm von allen am nächsten gewesen waren, auch die ersten, die ihn erblickten und sich an die Verfolgung machten; aber sie waren noch weit davon entfernt, ihn einzuholen, als von hintenher an ihnen vorbei Ilagins rotgescheckte Jorsa hervorschoß, sich dem Hasen auf eine Hundelänge näherte, nun ihre Geschwindigkeit ganz gewaltig steigerte, nach dem Schwanz des Hasen schnappte und, in der irrigen Meinung, ihn gefaßt zu haben, Hals über Kopf herumrollte. Der Hase bog den Rücken krumm und lief mit noch größerer Schnelligkeit weiter. An Jorsa vorbei stürmte nun die schwarzgescheckte Milka mit dem breiten Hinterteil vorwärts und begann schnell gegen den Hasen aufzurücken.
»Milka, mein braves Tier!« hörte man Nikolai triumphierend schreien. Es schien, daß Milka im nächsten Augenblick zupacken und den Hasen greifen werde; aber als sie ihn eingeholt hatte, schoß sie an ihm vorbei: der Hase hatte sich seitwärts geduckt. Nun setzte ihm wieder die schöne Jorsa zu und hing dicht über dem Schwanz des Hasen; um sich nicht wieder zu irren, beabsichtigte sie, wie es schien, nach dem einen Hinterlauf zu fassen.
»Liebste Jorsa! Mein Schätzchen!« rief Ilagin mit weinerlicher, fremdartig klingender Stimme. Jorsa hatte keine Zeit, auf sein Flehen zu achten. Aber gerade in dem Augenblick, wo man erwarten mußte, daß sie den Hasen packen werde, machte er einen Seitensprung auf den Grenzrain zwischen dem Wintersaatfeld und dem Stoppelfeld. Wieder liefen Jorsa und Milka Kopf an Kopf wie ein Zweigespann nebeneinander hinter dem Hasen her; aber auf dem Grenzrain wurde dem Hasen das Laufen leichter, und die Hunde kamen ihm nur ganz allmählich näher.
»Rugai, lieber Rugai! Klar und selbstverständlich!« schrie in diesem Augenblick eine neue Stimme, und Rugai, der rote, bucklige Hund des Onkels, holte, sich abwechselnd streckend und den Rücken krümmend, die beiden ersten Hunde ein, überholte sie, steigerte mit furchtbarer Selbstaufopferung schon dicht bei dem Hasen sein Tempo noch weiter, drängte ihn von dem Grenzrain auf die Wintersaat, unternahm auf dem schmutzigen Wintersaatfeld, wo er bis an die Knie einsank, einen zweiten, noch grimmigeren Ansturm, und nun war nur zu sehen, daß er, den Rücken mit Schmutz besudelt, sich mit dem Hasen zusammen herumkugelte. Ein Stern von Hunden umringte ihn. Eine Minute darauf hielten alle Jäger um die dichtgedrängten Hunde. Nur der glückselige Onkel stieg vom Pferd und schnitt dem Hasen den einen Hinterlauf ab. Er schüttelte den Hasen, damit das Blut abliefe, blickte dann erregt mit umherirrenden Augen um sich, ohne zu wissen, wo er mit seinen Händen und Füßen bleiben sollte, und redete, er wußte selbst nicht mit wem und was. »Das war ein schönes Stückchen … das ist mal ein Hund … alle hat er sie geschlagen, die, welche tausend Rubel, und die, welche einen Rubel gekostet haben. Klar und selbstverständlich«, sagte er ganz außer Atem und blickte grimmig um sich, als ob er jemanden ausschelte, und als ob die Umstehenden sämtlich seine Feinde wären und ihn sämtlich beleidigt hätten und es ihm erst jetzt endlich gelungen wäre, sich zu rechtfertigen. »Da seht ihr, was eure Tausendrubel-Hunde leisten! Klar und selbstverständlich …!«
»Rugai, da hast du einen Lauf!« sagte er und warf dem Hund den abgeschnittenen Hinterlauf des Hasen mit der daranklebenden Erde hin. »Hast es redlich verdient! Klar und selbstverständlich!«
»Sie war übermüdet; dreimal hatte sie ihn allein eingeholt«, sagte Nikolai, ebenfalls ohne zu hören, was ein anderer sagte, und ohne sich darum zu kümmern, ob man ihm zuhörte oder nicht.
»Was ist das für ein Ruhm, von der Seite!« bemerkte Ilagins Leibjäger.
»Ja, wenn einem guten Hund ein Mißgeschick widerfahren ist, dann kann den müde gehetzten Hasen jeder Hofhund greifen«, sagte gleichzeitig Ilagin, der von dem schnellen Ritt und der Erregung ganz rot aussah und fast keine Luft hatte. Und in demselben Augenblick kreischte Natascha vor Freude und Entzücken, ohne dazwischen Atem zu holen, so durchdringend auf, daß den Hörern die Ohren gellten. Sie drückte mit diesem Kreischen dasselbe aus, was die andern Jäger gleichzeitig durch ihr Gespräch zum Ausdruck brachten. Und dieses Kreischen war so sonderbar, daß sie selbst sich dieser wilden Gefühlsäußerung hätte schämen müssen und alle sich darüber höchlichst gewundert haben würden, wenn dies sich zu anderer Zeit zugetragen hätte. Der Onkel band selbst den Hasen an den Sattelriemen, warf ihn mit einer geschickten, energischen Bewegung über das Hinterteil des Pferdes, als ob er durch diesen Schwung beim Hinüberwerfen allen einen Vorwurf machen wollte, setzte sich mit einer Miene, wie wenn er mit niemand weiter reden möge, auf seinen Hellbraunen und ritt für sich allein. Die übrigen, sämtlich verdrossen und sich gekränkt fühlend, brachen gleichfalls auf und waren erst lange nachher imstande, sich wieder zu dem früheren gleichmütigen Wesen zu zwingen. Lange noch blickten sie von Zeit zu Zeit nach dem roten Rugai, der, den buckligen Rücken mit Schmutz bedeckt und mit dem Koppeleisen klirrend, mit der ruhigen Miene des Siegers hinter dem Pferd des Onkels herging.
Nikolai hatte die Empfindung, als besagte die Miene dieses Hundes: »Freilich, ich sehe aus wie jeder andere Hund, solange keine Hetzjagd in Frage steht; aber wenn das der Fall ist, dann nehmt euch zusammen!«
Als eine ziemliche Weile nachher der Onkel zu Nikolai heranritt und ein Gespräch mit ihm anknüpfte, da fühlte sich Nikolai dadurch geschmeichelt, daß der Onkel nach allem Vorgefallenen sich herbeiließ mit ihm zu reden.
VII
Als sich am Abend Ilagin von Rostow verabschiedet hatte, befand sich Nikolai so weit von zu Hause entfernt, daß er den Vorschlag des Onkels annahm, die Hunde und Jäger bei ihm auf seinem kleinen Gut Michailowka übernachten zu lassen.
»Und das beste wäre schon, wenn auch ihr auf eine Weile zu mir herankämt, klar und selbstverständlich«, sagte der Onkel. »Seht mal, es ist feuchtes Wetter; da könntet ihr euch ein bißchen erholen, und die Komtesse könnte dann in einem Wagen nach Hause fahren.«
Auch dieser Vorschlag des Onkels wurde angenommen; es wurde ein Jäger nach Otradnoje geschickt, um einen Wagen zu holen, und Nikolai, Natascha und Petja ritten zum Onkel.
Etwa fünf Leibeigene, Männer und Knaben, kamen auf die vordere Freitreppe herausgelaufen, um ihren Herrn zu empfangen. Dutzende von weiblichen Wesen, alten und jungen, drängten sich von dem hinteren Ausgang her hinzu, um die heranreitenden Jäger zu sehen. Der Anblick Nataschas, einer Dame, eines Fräuleins zu Pferd, steigerte die Neugierde der Gutsleute des Onkels dermaßen, daß viele, ohne sich vor ihr zu scheuen, zu ihr herantraten, ihr in die Augen sahen und laut vor ihren Ohren ihre Bemerkungen über sie machten, als ob sie ein zur Schau gestelltes Wundertier wäre, das kein Mensch ist und nicht hören und verstehen kann, was man von ihm sagt.
»Arinka, sieh nur, sie sitzt auf der Seite! Ganz von allein sitzt sie, und das Kleid baumelt herunter … Sieh nur, auch ein kleines Jagdhorn hat sie!«
»All ihr lieben Heiligen, auch ein kleines Jagdmesser …«
»Die reine Tatarin!«
»Wie machst du das bloß, daß du nicht herunterpurzelst?« sagte die dreisteste, sich geradezu an Natascha wendend.
Der Onkel stieg an der Freitreppe seines hölzernen, von einem Garten umgebenen Häuschens vom Pferd, und als er seine Hausleute sah, rief er ihnen gebieterisch zu, wer hier nichts zu tun habe, solle machen, daß er davonkäme, und es solle alles, was zur Aufnahme der Gäste und des Jagdgefolges nötig sei, getan werden.
Alle liefen auseinander. Der Onkel hob Natascha vom Pferd und führte sie an seinem Arm die wackligen Bretterstufen der Freitreppe hinauf. Im Haus zeigten die Balkenwände keinen Kalkbewurf; auch war es nicht sonderlich sauber: man sah, daß den Bewohnern nicht daran lag, jeden Fleck zu verhüten; aber es war keine gröbere Vernachlässigung wahrnehmbar. Im Flur roch es nach frischen Äpfeln, und es hingen dort Wolfs- und Fuchsfelle.
Durch ein Vorzimmer führte der Onkel seine Gäste in einen kleinen Saal mit einem Klapptisch und roten Stühlen, dann in einen Salon mit einem runden Tisch von Birkenholz und einem Sofa, dann in sein eigenes Zimmer mit einem zerrissenen Sofa, einem abgenutzten Teppich und mit Porträts, welche den Feldmarschall Suworow, den Vater und die Mutter des Hausherrn und ihn selbst in Militäruniform darstellten. In diesem Zimmer machte sich ein starker Geruch nach Tabak und Hunden spürbar. Hier bat der Onkel seine Gäste Platz zu nehmen und zu tun, als ob sie zu Hause wären; er selbst ging hinaus. Rugai mit seinem unsauberen Rücken kam ins Zimmer, legte sich auf das Sofa und begann sich mit Zunge und Zähnen zu reinigen. Aus diesem Zimmer führte ein Korridor weiter, in dem ein Wandschirm mit zerrissenem Bezug sichtbar war. Hinter dem Wandschirm hervor ließ sich Lachen und Flüstern weiblicher Personen vernehmen. Natascha, Nikolai und Petja nahmen, sich in den vorhandenen Raum teilend, auf dem Sofa Platz. Petja stützte sich mit dem Ellbogen auf und war sofort eingeschlafen; Natascha und Nikolai saßen schweigend da. Ihre Gesichter brannten; sie waren sehr hungrig und sehr lustig. Sie sahen einander an (nach der Jagd, hier im Zimmer, hielt Nikolai es nicht mehr für nötig, seiner Schwester gegenüber seine männliche Überlegenheit zu betonen); Natascha blinzelte dem Bruder zu, und nun konnten sich beide nicht mehr lange beherrschen, sondern lachten laut los, ohne daß sie sich noch über einen Grund für dieses Lachen klargeworden wären.
Nach einer kleinen Weile kam der Onkel wieder zurück, jetzt in einem kurzen Rock, blauen Hosen und niedrigen Stiefeln. Und Natascha hatte die Empfindung, daß dieses selbe Kostüm, das ihr wunderlich und komisch erschienen war, wenn der Onkel es in Otradnoje trug, eine ganz vernünftige Tracht sei und in keiner Hinsicht schlechter als ein Oberrock oder ein Frack. Der Onkel war ebenfalls vergnügt; er fühlte sich, als Bruder und Schwester wieder lachten, nicht im geringsten beleidigt (es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß sie über seine Lebensweise lachen könnten), sondern stimmte selbst in ihr grundloses Gelächter ein.
»Ja, das ist einmal eine junge Komtesse!« sagte er. »Klar und selbstverständlich, so eine habe ich noch nie gesehen.« Dabei reichte er Nikolai eine lange Pfeife; er selbst nahm mit geübtem Griff eine kurze zwischen drei Finger. »Den ganzen Tag hat sie im Sattel gesessen; einem Manne würde es Ehre machen; und dabei ist sie so munter, als wäre gar nichts gewesen!«
Der Onkel war noch nicht lange wieder da, als die Tür von neuem geöffnet wurde, und zwar, wie sich aus dem Geräusch der Schritte erkennen ließ, offenbar von einer barfuß gehenden Frauensperson. Ein großes, reichbesetztes Präsentierbrett in den Händen haltend, trat ein korpulentes, rotwangiges, hübsches Weib von etwa vierzig Jahren, mit einem Doppelkinn und vollen roten Lippen, ins Zimmer. Aus den Blicken, mit denen sie die Gäste ansah, und aus jeder Bewegung ihrer stattlichen Gestalt sprach liebenswürdige Gastfreundschaft, und mit freundlichem Lächeln verbeugte sie sich respektvoll vor ihnen. Trotz ihrer beträchtlichen Körperfülle, die sie zwang, Brust und Leib nach vorn zu stellen und den Kopf nach hinten zu halten, hatte diese Frau, die Wirtschafterin des Onkels, doch einen sehr leichten Gang. Sie trat an den Tisch, stellte das Präsentierbrett darauf, nahm mit ihren weißen, fleischigen Händen geschickt Flaschen, Speisen und sonstiges Zubehör herunter und ordnete alles auf dem Tisch. Als sie damit fertig war, trat sie zurück und stellte sich lächelnd an die Tür. Ihre ganze Erscheinung sagte gleichsam zu Nikolai: »Siehst du wohl, da bin auch ich! Verstehst du jetzt deinen Onkel?« Und wie hätte er ihn nicht verstehen sollen? Ja, nicht nur Nikolai, sondern auch Natascha verstand den Onkel und die Bedeutung seiner zusammengezogenen Brauen und des glücklichen, zufriedenen Lächelns, das in dem Augenblick, als Anisja Fedorowna eintrat, ganz leise um seine Lippen spielte.
Auf dem Präsentierbrett standen: Kräuterbranntwein, Fruchtliköre, eingemachte Pilze, Pfannkuchen aus Roggenmehl mit Buttermilch, Scheibenhonig, moussierender Met, Äpfel, frische und geröstete Nüsse und Nüsse in Honig. Dann brachte Anisja Fedorowna noch Eingemachtes in Honig und Zucker, sowie Schinken und ein frischgebratenes Huhn.
Alles dies stammte aus Anisja Fedorownas Wirtschaft und war von ihren kunstfertigen Händen hergestellt. Alles roch und schmeckte sozusagen nach Anisja Fedorowna und erinnerte an sie durch sein Aussehen. In allem glaubte man eine Widerspiegelung ihrer Fülle, ihrer Sauberkeit, ihrer weißen Haut und ihres angenehmen Lächelns zu sehen.
»Essen Sie doch, gnädiges Fräulein«, sagte sie immer wieder und reichte Natascha bald dieses, bald jenes.
Natascha aß von allem, und es schien ihr, solche Pfannkuchen mit Buttermilch und so aromatisches Eingemachtes und solche Nüsse in Honig und ein solches Huhn habe sie noch nie und nirgends gesehen und gegessen. Anisja Fedorowna ging wieder hinaus.
Rostow und der Onkel tranken nach dem Abendessen ein Gläschen Kirschlikör und unterhielten sich über die heute abgehaltene und über die nächste Jagd, über Rugai und über Ilagins Hunde. Natascha saß mit glänzenden Augen aufrecht auf dem Sofa und hörte ihnen zu. Einige Male machte sie den Versuch, Petja zu wecken, damit er etwas äße; aber er redete nur ein paar unverständliche Worte, offenbar ohne wach zu werden. Natascha fühlte sich so vergnügt und wohl in dieser ihr neuen Umgebung, daß ihre einzige Besorgnis war, der Wagen könne gar zu früh kommen, um sie abzuholen. Nach einem zufällig eingetretenen Stillschweigen, wie das fast immer vorkommt, wenn man Bekannte zum erstenmal als Gäste in seinem Haus hat, sagte der Onkel, wie wenn er damit auf einen Gedanken seiner Gäste antwortete:
»Ja, ja, so verbringe ich hier meinen Lebensrest. Wenn man stirbt, klar und selbstverständlich, kann man doch nichts mitnehmen. Wozu also um des Erwerbs willen sündigen!«
Das Gesicht des Onkels war sehr ernst und sogar schön, während er das sagte. Unwillkürlich erinnerte sich Nikolai dabei an all das, was er von seinem Vater und den Nachbarn Gutes über den Onkel gehört hatte. Der Onkel stand im Gouvernement ringsumher in dem Ruf eines ehrenhaften, uneigennützigen Sonderlings. Man zog ihn hinzu, wo Familienstreitigkeiten zu erledigen waren, machte ihn zum Testamentsvollstrecker, vertraute ihm Geheimnisse an und wählte ihn zum Friedensrichter und zu anderen Vertrauensposten; aber ein wirkliches Amt anzunehmen weigerte er sich hartnäckig; im Herbst und im Frühling ritt er auf seinem hellbraunen Wallach auf den Feldern umher, im Winter saß er zu Hause, im Sommer lag er in seinem schattigen Garten.
»Warum mögen Sie denn nicht ein Amt bekleiden oder beim Militär dienen, lieber Onkel?«
»Das habe ich früher getan; aber ich habe es aufgegeben. Ich tauge nicht dazu, klar und selbstverständlich; ich finde mich dabei nicht zurecht. Das ist euer Geschäft; mein Verstand reicht dazu nicht aus. Ja, mit der Jagd ist das eine andre Sache, klar und selbstverständlich. Macht doch die Tür auf!« rief er. »Warum habt ihr die Tür zugemacht?«
Am Ende des Korridors (den der Onkel »Kolidor« nannte) führte eine Tür in das »leere Jägerzimmer«; so hieß die Stube für die zu den Dienstleuten gehörigen Jäger.
Nackte Füße gingen klatschend schnell über die Dielen, und eine unsichtbare Hand öffnete die Tür zum Jägerzimmer. Nun wurden aus dem Korridor die Töne einer Balalaika deutlich hörbar, die offenbar von einem Meister in dieser Kunst gespielt wurde. Natascha, die schon lange nach diesen Klängen hingehorcht hatte, ging jetzt auf den Korridor hinaus, um sie deutlicher zu hören.
»Das ist mein Kutscher Mitka. Ich habe ihm eine gute Balalaika gekauft; es macht mir Vergnügen«, sagte der Onkel.
Der Onkel hatte ein für allemal die Anordnung getroffen, daß, wenn er von der Jagd zurückkehrte, Mitka in der Jägerstube auf der Balalaika spielte. Der Onkel hörte diese Musik sehr gern.
»Schön, wirklich sehr gut«, bemerkte Nikolai, unwillkürlich in einem etwas lässigen Ton, wie wenn er sich schämte einzugestehen, daß ihm diese Klänge sehr gefielen.
»›Sehr gut‹ sagst du?« entgegnete vorwurfsvoll Natascha, der der Ton, dessen ihr Bruder sich bedient hatte, nicht entgangen war. »Das ist nicht sehr gut, sondern geradezu entzückend!«
Wie ihr die Pilze, der Honig und die Fruchtliköre des Onkels als die besten in der Welt erschienen waren, so erschien es ihr jetzt auch als der höchste Gipfel musikalischen Genusses, dieses Balalaikaspiel anzuhören.
»Noch mehr, bitte, noch mehr!« rief sie durch die Tür, als die Balalaika schwieg. Mitka stimmte das Instrument und ließ dann von neuem flott die Saiten klirrend ertönen: er spielte »Die Herrin«1 mit kunstvollen Läufen und Akkorden. Der Onkel saß da, den Kopf auf die Seite geneigt, und hörte mit leisem Lächeln zu. Die Melodie der »Herrin« wiederholte sich unzählige Male. Ab und zu wurde dazwischen die Balalaika gestimmt, und dann klirrten von neuem dieselben Töne, und die Zuhörer wurden dessen nicht überdrüssig, sondern hatten nur den einen Wunsch, dem Spiel immer noch länger zuzuhören. Anisja Fedorowna trat herein und lehnte sich mit ihrem behäbigen Körper an den Türpfosten.
»Sie haben die Güte zuzuhören?« sagte sie zu Natascha mit einem Lächeln, das mit dem Lächeln des Onkels eine außerordentliche Ähnlichkeit hatte. »Ja, wir haben da einen wahren Virtuosen im Haus«, fügte sie hinzu.
»Da! An dieser Stelle macht er es nicht richtig«, bemerkte auf einmal der Onkel mit einer energischen Handbewegung. »Hier dürfen keine Verschleifungen sein, klar und selbstverständlich; keine Verschleifungen …«
»Verstehen Sie sich auch darauf?« fragte Natascha.
Der Onkel antwortete nicht, sondern lächelte nur.
»Sieh doch mal nach, liebe Anisja, ob die Saiten an der Gitarre ganz sind. Ich habe sie lange nicht in der Hand gehabt, klar und selbstverständlich; ich habe es so gut wie ganz aufgegeben.«
Anisja Fedorowna ging willig mit ihrem leichten Gang hinaus, um den Auftrag ihres Herrn zu erfüllen, und brachte die Gitarre.
Der Onkel blies, ohne jemand anzusehen, den Staub davon ab, klopfte mit seinen knochigen Fingern auf den Boden der Gitarre, stimmte sie und setzte sich auf seinem Stuhl zurecht. Er ergriff mit einer etwas theatralischen Gebärde, indem er den linken Ellbogen vom Körper abspreizte, die Gitarre oben am Hals und zwinkerte der Wirtschafterin mit den Augen zu. Aber er spielte nicht die »Herrin«, sondern griff einen volltönenden, reinen Akkord und begann dann in sehr ruhigem, gemessenem Tempo, aber fest und sicher das bekannte Lied: »Auf der Straße abends spät eine Maid nach Wasser geht.« Und gleichzeitig hallte in demselben Takt, mit derselben maßvollen Heiterkeit (eben jener Heiterkeit, welche Anisja Fedorownas ganzes Wesen atmete) die Melodie des Liedes in Nikolais und Nataschas Herzen wider. Anisja Fedorowna errötete, lachte, hielt sich ihr Kopftuch vor das Gesicht und verließ das Zimmer. Der Onkel spielte die Melodie mit reinem, akkuratem, kräftigem Vortrag weiter und blickte dabei mit ganz veränderter, entzückter Miene nach der Stelle, von der Anisja Fedorowna soeben weggegangen war. Ein ganz, ganz leises Lachen war auf der einen Seite seines Gesichtes unter dem grauen Schnurrbart wahrzunehmen, namentlich dann, wenn die Melodie einen besonderen Schwung annahm, das Tempo schneller wurde und auf einen kunstvollen Lauf der Schlußakkord folgte.
»Prachtvoll, prachtvoll, Onkelchen; noch mal, noch mal!« rief Natascha, sobald er geendet hatte. Sie sprang von ihrem Platz auf, umarmte den Onkel und küßte ihn. »Nikolai, Nikolai!« rief sie, indem sie sich nach ihrem Bruder umblickte und diesen gleichsam fragte, ob das nicht etwas ganz Wunderbares sei.
Auch diesem gefiel das Spiel des Onkels außerordentlich gut. Der Onkel spielte das Lied zum zweitenmal. Anisja Fedorownas lächelndes Gesicht erschien wieder in der Tür, und hinter ihr wurden noch andere Köpfe sichtbar. »Und der Bursch am Brunnen spricht: ›Schönes Mädchen, eile nicht!‹« spielte der Onkel, vollführte wieder einen geschickten Lauf mit Schlußakkord und machte ein paar rhythmische Bewegungen mit den Schultern.
»Ach ja, ach ja, liebstes, bestes Onkelchen!« bat Natascha in so innig flehendem Ton, als ob ihr Leben davon abhinge.
Der Onkel stand auf, und nun war es, als ob zwei verschiedene Menschen in ihm steckten: der eine von ihnen, der ernsthafte, lächelte leise über den andern, den lustigen, und der lustige machte in einer naiv gewissenhaften Weise einige einleitende Tanzbewegungen.
»Nun also, liebe Nichte!« rief der Onkel und schwenkte die Hand, mit der er soeben den letzten Akkord gegriffen hatte, nach Natascha zu.
Natascha warf das Umschlagtuch ab, in das sie sich eingehüllt hatte, lief zum Onkel, stellte sich vor ihn hin, stemmte die Hände in die Seiten, machte Bewegungen mit den Schultern und stand dann still.
Wo, wie und wann hatte diese von einer französischen Emigrantin erzogene kleine Komtesse aus der russischen Luft, die sie atmete, diesen Geist eingesogen? Wo nahm sie diese Tanzschritte her, von denen zu erwarten gewesen wäre, daß der pas de châle sie längst verdrängt hatte? Aber dieser Geist und diese Tanzschritte waren eben jene nicht nachzuahmende, nicht zu erlernende russische Eigenart, die der Onkel denn auch von ihr erwartete. Sobald sie sich hingestellt hatte und feierlich-stolz und zugleich listig-vergnügt lächelte, war die Besorgnis, die sich Nikolais und aller Anwesenden zuerst hatte bemächtigen wollen, die Besorgnis, daß sie die Sache nicht richtig machen würde, verschwunden, und alle blickten auf sie mit neugieriger Bewunderung.
Sie machte alles, wie es sich gehörte, so richtig, so vollkommen richtig, daß Anisja Fedorowna, die ihr sofort das für diesen Tanz erforderliche Tuch gereicht hatte, zugleich lachen und weinen mußte beim Anblick dieser schlanken, anmutigen, ihr so fremden, in Samt und Seide aufgewachsenen Komtesse, die doch ganz ebenso zu empfinden verstand wie Anisja und Anisjas Vater und Tante und Mutter und wie jeder Russe.
»Na, meine liebe Komtesse, klar und selbstverständlich«, sagte vergnügt lachend der Onkel, sobald der Tanz zu Ende war. »So eine Nichte lob ich mir! Da müßte man dir bald einen netten, jungen Mann aussuchen, klar und selbstverständlich!«
»Ist schon ausgesucht«, warf Nikolai lächelnd dazwischen.
»Oh!« machte der Onkel verwundert und sah Natascha fragend an. Natascha nickte bejahend mit einem glückseligen Lächeln.
»Und was für einer!« sagte sie. Aber sowie sie das gesagt hatte, tauchte in ihrer Seele eine andere, neue Reihe von Gedanken und Empfindungen auf: »Was bedeutete Nikolais Lächeln, als er sagte: ›Ist schon ausgesucht‹? Freut er sich darüber oder nicht? Er scheint zu denken, daß mein Bolkonski für dieses Vergnügen, das wir uns hier machen, kein Verständnis haben und es nicht billigen würde. Nicht doch, er würde für alles Verständnis haben. Wo mag er jetzt sein?« dachte Natascha, und ihr Gesicht wurde auf einmal ernsthaft. Aber das dauerte nur eine Sekunde. »Ich will nicht daran denken, darf nicht daran denken«, sagte sie zu sich, setzte sich lächelnd wieder zum Onkel hin und bat ihn, noch etwas zu spielen.
Der Onkel spielte noch ein Lied und einen Walzer; dann machte er eine kleine Pause, räusperte sich und stimmte ein Jagdlied an, das er besonders gern mochte:
»Ein Spurschnee ist gefallen,
Das freut mein Jägerherz …«
Der Onkel sang so, wie das Volk singt: mit der naiven, festen Überzeugung, daß der eigentliche Wert eines Liedes in den Worten liegt, daß die Melodie sich ganz von selbst dazufindet, und daß eine Melodie ganz ohne Text überhaupt nicht existiert, sondern die Melodie nur so um des besseren Klanges willen da ist. Ebendeshalb wirkte dieses unbewußte Singen des Onkels überaus angenehm, ähnlich wie das Singen eines Vogels. Natascha war von dem Gesang des Onkels ganz entzückt. Sie nahm sich vor, nicht mehr Harfe zu lernen, sondern nur noch Gitarre zu spielen. Sie bat den Onkel um seine Gitarre und suchte sogleich Begleitakkorde für das Lied.
Gegen zehn Uhr trafen, um Natascha und Petja heimzuholen, ein Jagdwagen, ein Kabriolett und drei Reiter ein. Der als Bote hingeschickte Jäger berichtete, der Graf und die Gräfin hätten gar nicht gewußt, wo sie wohl geblieben sein könnten, und sich sehr beunruhigt.
Petja wurde hinausgetragen und wie ein Toter in das Kabriolett gelegt; Natascha und Nikolai setzten sich in den Jagdwagen.
Der Onkel hüllte Natascha sorgsam ein und nahm von ihr mit einer ganz neuen Art von Zärtlichkeit Abschied. Er gab ihnen zu Fuß das Geleit bis zu einer Brücke, neben der man durch eine Furt fahren mußte, und ordnete an, daß einige Jäger mit Laternen voranritten.
»Lebe wohl, liebe Nichte«, rief ihr eine Stimme aus der Dunkelheit nach, nicht die Stimme, welche Natascha früher gekannt hatte, sondern die, welche gesungen hatte: »Ein Spurschnee ist gefallen.«
In dem Dorf, durch das sie hindurchfuhren, schimmerte rötlicher Lichtschein durch die Fenster, und es roch angenehm nach Rauch.
»Was ist doch Onkelchen für ein prächtiger Mensch!« sagte Natascha, als sie auf die große Landstraße hinauskamen.
»Ja«, antwortete Nikolai. »Ist dir auch nicht kalt?«
»Nein, ich befinde mich ganz ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet. Mir ist sehr wohl«, erwiderte Natascha ganz erstaunt.
Lange Zeit schwiegen sie. Die Nacht war dunkel und feucht. Die Pferde waren nicht zu sehen; man hörte nur, wie sie durch den unsichtbaren Schmutz patschten.
Was mochte in dieser kindlichen, empfänglichen Seele vorgehen, die so begierig nach all den mannigfaltigen Eindrücken des Lebens haschte und sie sich zu eigen machte? Wie mochte sich das alles in ihr zurechtlegen? Aber jedenfalls war sie sehr glücklich. Sie näherten sich schon ihrem Haus, da begann sie auf einmal die Melodie des Liedes: »Ein Spurschnee ist gefallen« zu singen, auf die sie sich während der ganzen Fahrt besonnen hatte, und die wiederzufinden ihr nun endlich geglückt war.
»Hast du es herausbekommen?« sagte Nikolai.
»Aber du, woran hast du jetzt gedacht, Nikolai?« fragte Natascha.
Sie fragten einander gern so nach ihren Gedanken.
»Ich?« antwortete Nikolai, sich besinnend. »Ja, jetzt hab ich’s; siehst du, zuerst dachte ich, daß Rugai, der rote Hund, doch eigentlich eine große Ähnlichkeit mit dem Onkel hat, und daß, wenn er ein Mensch wäre, er den Onkel immer bei sich behalten würde, und wenn er es nicht wegen seines guten Reitens tun würde, so doch wegen der schönen Einheitlichkeit und Harmonie seines ganzen Wesens. Denn das kann man doch vom Onkel sagen, nicht wahr? Nun, und du?«
»Ich? Warte mal, warte mal. Ja, ich dachte zuerst: da fahren wir nun und denken, wir werden nach Hause kommen, und dabei fahren wir in Wirklichkeit Gott weiß wohin in dieser Dunkelheit, und auf einmal kommen wir an und sehen, daß wir nicht in Otradnoje sind, sondern in einem Zauberreich. Und dann dachte ich noch … Nein, weiter nichts.«
»Ich weiß schon; gewiß hast du noch an ihn gedacht«, sagte Nikolai lächelnd, was Natascha an dem Ton seiner Stimme erkannte.
»Nein«, antwortete Natascha, wiewohl sie tatsächlich zugleich auch an den Fürsten Andrei gedacht hatte und daran, wie ihm wohl der Onkel gefallen würde. »Aber dann stellte ich mir noch vor, während der ganzen Fahrt stellte ich mir vor, wie hübsch das aussah, als Anisja ins Zimmer trat, wie hübsch …« Nikolai hörte, wie sie ohne eigentlichen Grund hell und glückselig lachte. »Aber weißt du«, setzte sie plötzlich hinzu, »ich weiß, daß ich nie wieder so glücklich und ruhig sein werde wie jetzt.«
»Unsinn, Torheit, dummes Zeug!« erwiderte Nikolai; aber er dachte dabei: »Was für ein prächtiges Mädchen ist doch meine Natascha! Eine zweite solche Freundin habe ich nicht und werde ich nie haben. Wozu muß sie sich verheiraten? Wir beide sollten immerzu so miteinander fahren!«
»Ein prächtiger Mensch ist doch dieser Nikolai«, dachte Natascha.
»Ach, sieh nur! Es ist noch Licht im Salon«, sagte sie und zeigte auf die Fenster des Hauses, die freundlich durch das feuchte, samtige Dunkel der Nacht glänzten.
Fußnoten
1 Ein bei dem einfachen russischen Volk beliebtes Tanzlied.
Anmerkung des Übersetzers.
VIII
Graf Ilja Andrejewitsch hatte sein Amt als Adelsmarschall niedergelegt, weil es mit allzu großen Ausgaben verknüpft war. Aber seine pekuniäre Lage war darum doch nicht besser geworden. Häufig sahen Natascha und Nikolai, daß die Eltern geheime, aufgeregte Unterredungen miteinander hatten, und hörten Äußerungen über einen Verkauf des großen Rostowschen Familienhauses und des bei Moskau gelegenen Landhauses. Der Graf brauchte jetzt, wo er nicht mehr Adelsmarschall war, keinen so großen Verkehr mehr zu unterhalten wie vorher, und das Leben in Otradnoje verlief stiller als in früheren Jahren; aber doch waren das gewaltige Haus und die Nebengebäude noch immer ebenso voll von allerlei Leuten, und am Tisch saßen auch jetzt noch mehr als zwanzig Personen. Es waren dies teils Leute, die zum Haus gehörten und schon lange im Haus lebten und beinah als Familienmitglieder betrachtet wurden, teils solche, bei denen es wenigstens dem Grafen und der Gräfin absolut notwendig schien, sie im Haus wohnen zu lassen. Dazu gehörten der Musiker Dümmler mit seiner Frau, der Tanzlehrer Vogel mit seiner Familie, ein altes Fräulein Bjelowa, und noch viele andere: die Lehrer Petjas, zwei ehemalige Gouvernanten der Töchter, und manche Leute, die es einfach für angenehmer oder für vorteilhafter hielten, bei dem Grafen zu leben als in einer eigenen Wohnung. Es kam nicht mehr ganz soviel Besuch von auswärts wie früher; aber der ganze Zuschnitt der Lebensführung war unverändert geblieben – in andrer Weise konnten sich der Graf und die Gräfin ihr Leben eben gar nicht vorstellen. Es bestand noch derselbe, von Nikolai sogar noch vergrößerte Jagdapparat an Hunden und Jägern; es standen immer noch in den Ställen fünfzig Pferde, zu denen fünfzehn Kutscher gehörten; zu den Namenstagen wurden wie früher teure Geschenke gemacht und großartige Diners gegeben, zu denen die Adligen des ganzen Kreises eingeladen wurden; unverändert geblieben waren auch des Grafen Whist- und Bostonpartien, bei denen er es den Mitspielern, meist Gutsnachbarn, sehr bequem machte, ihm in die Karten zu sehen, und an jedem Spielabend Hunderte von Rubeln verlor, so daß das Recht, mit dem Grafen Ilja Andrejewitsch Karten zu spielen, allgemein als eine sehr vorteilhafte Leibrente angesehen wurde.
Der Graf steckte in seinen Geldnöten wie in einem großen Jägergarn; er wollte nicht glauben, daß er sich darin verstrickt habe, und verstrickte sich doch mit jedem Schritt mehr und mehr, und fühlte sich weder imstande, das Netz, das ihn umschloß, zu zerreißen, noch es vorsichtig und geduldig zu lösen. Der Gräfin mit ihrem liebenden Herzen entging es nicht, daß das Vermögen ihrer Kinder dahinschwand; sie sagte sich jedoch, der Graf trage keine Schuld; er könne nicht anders sein, als wie ihn die Natur gemacht habe, und leide selbst, obwohl er es verberge, unter dem Bewußtsein, daß ihm und seinen Kindern der Ruin drohe. So suchte sie denn Mittel, dem Notstand abzuhelfen. Von ihrem Frauenstandpunkt aus bot sich ihr nur ein einziges Mittel dar: eine Heirat Nikolais mit einem reichen Mädchen. Sie fühlte, daß dies die letzte Möglichkeit war, und daß, wenn Nikolai die Partie ausschlage, die sie für ihn gefunden hatte, sie von der Hoffnung, ihre Lage zu verbessern, auf immer Abschied nehmen müßten. Diese Partie war Julja Karagina, die Tochter trefflicher, hochachtbarer Eltern, die seit ihrer Kindheit in der Familie Rostow verkehrte und jetzt durch den Tod ihres letzten Bruders sehr reich geworden war.
Die Gräfin schrieb direkt an Frau Karagina nach Moskau, brachte eine Heirat der beiden Kinder in Anregung und erhielt von ihr eine freundliche Antwort. Frau Karagina erwiderte, sie ihrerseits sei einverstanden; es werde davon abhängen, ob ihre Tochter dazu geneigt sei. Frau Karagina sprach den Wunsch aus, Nikolai möchte doch nach Moskau kommen.
Nunmehr äußerte sich die Gräfin ihrem Sohn gegenüber mehrmals mit Tränen in den Augen dahin, jetzt, wo ihre beiden Töchter versorgt seien, habe sie nur noch den einen Wunsch, ihn verheiratet zu sehen. Sie sagte, wenn das geschehen wäre, würde sie sich beruhigt ins Grab legen. Und im Anschluß daran teilte sie ihm mit, daß sie ein vortreffliches Mädchen für ihn ins Auge gefaßt habe, und suchte herauszubekommen, wie er über eine Verheiratung denke.
Bei anderen Gelegenheiten lobte sie Julja und redete ihrem Sohn zu, für die Feiertage nach Moskau zu fahren und sich dort zu amüsieren. Nikolai merkte, worauf solche Reden seiner Mutter hinzielten, und forderte sie einmal bei einem derartigen Gespräch auf, ganz offen zu sein. Da sagte sie ihm unverhohlen, daß alle Hoffnung auf eine Besserung der Verhältnisse jetzt lediglich auf seiner Heirat mit Fräulein Karagina beruhe.
»Aber wenn ich nun ein Mädchen ohne Vermögen liebte, würden Sie dann wirklich von mir verlangen, Mama, daß ich meine Neigung und meine Ehre um des Geldes willen zum Opfer brächte?« fragte er seine Mutter. Für die Grausamkeit, die in dieser Frage lag, hatte er keine Empfindung; ihm lag nur daran, seine edle Gesinnung ins rechte Licht zu stellen.
»Nein, du hast mich nicht richtig verstanden«, erwiderte die Mutter, die nicht recht wußte, wie sie sich herausreden sollte. »Du hast mich nicht richtig verstanden, lieber Nikolai. Ich wünsche nur dein Glück«, fügte sie hinzu, fühlte aber dabei selbst, daß sie die Unwahrheit sagte und sich verwickelte. Sie fing an zu weinen.
»Liebe Mama, weinen Sie nicht, sondern sagen Sie mir nur, daß Sie das wünschen, und Sie wissen, daß ich mein ganzes Leben und alles, was ich habe, hingeben werde, damit Sie ruhig sein können«, sagte Nikolai. »Ich werde alles um Ihretwillen zum Opfer bringen, sogar meine Neigung.«
Aber so wollte die Gräfin die Sache nicht aufgefaßt sehen; ein Opfer von seiten ihres Sohnes wünschte sie nicht; vielmehr hätte sie ihm gern selbst Opfer gebracht.
»Nein, du hast mich nicht richtig verstanden; wir wollen nicht weiter davon reden«, sagte sie und trocknete ihre Tränen.
»Ja, vielleicht liebe ich wirklich ein armes Mädchen«, sagte Nikolai zu sich selbst. »Nun wohl: soll ich dann meine Neigung und meine Ehre um des Geldes willen zum Opfer bringen? Ich wundere mich, daß Mama mir das hat zumuten können. Darf ich deswegen, weil Sonja arm ist, sie nicht lieben, ihre treue, hingebende Liebe nicht erwidern? Und doch werde ich sicherlich mit ihr glücklicher sein als mit irgendeiner Puppe wie diese Julja. Für das Wohl meiner Angehörigen meine Neigung zum Opfer zu bringen, das werde ich stets vermögen«, sagte er zu sich selbst; »aber ihr befehlen, das kann ich nicht. Wenn ich Sonja liebe, so ist meine Neigung stärker als alles andre und steht mir höher als alles andre.«
Nikolai reiste nicht nach Moskau; die Gräfin sprach nicht wieder mit ihm von der Heirat und nahm mit Betrübnis und mitunter sogar mit einer gewissen Erbitterung deutliche Anzeichen einer immer größer werdenden Annäherung zwischen ihrem Sohn und der vermögenslosen Sonja wahr. Sie machte sich deswegen selbst Vorwürfe, konnte sich aber doch nicht enthalten, Sonja mürrisch und zänkisch zu behandeln; oft schnitt sie ihr ohne Ursache das Wort ab und nannte sie »Sie« und »meine Liebe«. Am meisten ärgerte sich die gute Gräfin über Sonja deswegen, weil diese arme, schwarzäugige Nichte so sanft, so gut, ihren Wohltätern so dankbar ergeben war und an Nikolai mit so treuer, unwandelbarer, aufopfernder Liebe hing, daß es nicht möglich war, ihr irgendwelche Vorwürfe zu machen.
Nikolai verlebte seinen ganzen Urlaub bei seinen Angehörigen. Von dem Bräutigam, dem Fürsten Andrei, traf ein vierter Brief ein, aus Rom, in welchem er schrieb, er würde schon längst auf dem Wege nach Rußland sein, wenn nicht in dem warmen Klima unerwarteterweise seine Wunde wieder aufgebrochen wäre, was ihn zwinge, seine Abreise bis zum Anfang des nächsten Jahres zu verschieben. Natascha war noch ebenso verliebt in ihren Bräutigam, fühlte sich in dieser Liebe noch ebenso ruhig und sicher und war noch ebenso empfänglich für alle Freuden des Lebens; aber gegen Ende des vierten Monats ihrer Trennung von ihrem Bräutigam stellte sich bei ihr doch zuzeiten eine Traurigkeit ein, gegen die sie vergebens ankämpfte. Sie tat sich selbst leid; es tat ihr leid, daß sie diese ganze Zeit so unnütz, ohne daß jemand etwas davon gehabt hätte, dahinleben mußte, diese Zeit, in der sie sich doch so fähig fühlte, zu lieben und geliebt zu werden.
Es herrschte im Rostowschen Hause keine vergnügte Stimmung.
IX
Das Weihnachtsfest kam heran; aber außer einem besonders feierlichen Meßgottesdienst und den förmlichen, langweiligen Gratulationen der Nachbarn und der Gutsleute, außer den neuen Kleidern, welche alle anhatten, gab es nichts Besonderes, wodurch sich diese Tage von anderen unterschieden hätten; und doch machte sich bei einer windstillen Kälte von zwanzig Grad, bei dem hellen, blendenden Sonnenschein am Tag und dem winterlichen Sternenglanz in der Nacht das Bedürfnis fühlbar, in dieser Zeit irgend etwas Besonderes zu unternehmen.
Am dritten Festtag hatten sich nach dem Mittagessen die einzelnen Hausgenossen in ihre Zimmer zurückgezogen. Es war dies die allerlangweiligste Zeit des Tages. Nikolai, der am Vormittag zu einigen Nachbarn gefahren war, um ihnen Besuche abzustatten, schlief im Sofazimmer. Der alte Graf ruhte sich in seiner eigenen Stube aus. Im Salon saß Sonja am runden Tisch und zeichnete und malte ein Stickmuster ab. Die Gräfin legte sich Karten. Der Narr Nastasja Iwanowna saß mit zwei alten Frauen am Fenster und machte ein betrübtes Gesicht. Natascha kam in den Salon herein, trat zu Sonja und sah zu, was sie machte; dann ging sie zu ihrer Mutter und stellte sich schweigend neben sie.
»Warum läufst du so herum, als ob du gar nicht wüßtest, wo du bleiben sollst?« sagte die Mutter zu ihr. »Was fehlt dir denn?«
»Er fehlt mir … Sofort, diesen Augenblick will ich ihn hierhaben«, antwortete Natascha mit blitzenden Augen, ohne zu lächeln.
Die Gräfin hob den Kopf in die Höhe und blickte ihre Tochter aufmerksam an.
»Sehen Sie mich nicht so an, Mama, sehen Sie mich nicht so an; sonst muß ich gleich losweinen.«
»Setz dich her und bleibe ein Weilchen bei mir«, sagte die Gräfin.
»Mama, er fehlt mir. Warum muß ich mich so hinquälen, Mama …?«
Die Stimme versagte ihr, die Tränen stürzten ihr aus den Augen, und um sie zu verbergen, wandte sie sich schnell ab und verließ das Zimmer.
Sie ging ins Nebenzimmer, stand dort eine Zeitlang, mit ihren Gedanken beschäftigt, und begab sich dann in die Mädchenstube. Dort schalt eine alte Kammerfrau auf ein junges Mädchen, das soeben, ganz außer Atem vor Kälte, vom Wirtschaftshof hereingerannt gekommen war.
»Du könntest nun wohl genug herumgetollt haben«, sagte die Alte. »Alles hat seine Zeit.«
»Laß sie doch, Kondratjewna«, sagte Natascha. »Geh nur, Mawruscha, geh nur.«
Nachdem sie so Mawruscha freigemacht hatte, begab sich Natascha durch den Saal ins Vorzimmer. Dort spielten ein alter und zwei junge Diener Karten. Beim Eintritt des gnädigen Fräuleins unterbrachen sie ihr Spiel und standen auf.
»Was könnte ich wohl mit denen anfangen?« dachte Natascha.
»Ach, Nikita, bitte, geh doch hin …« (»Wohin könnte ich ihn nur schicken?« dachte sie.) »Ja, geh doch auf den Wirtschaftshof und hol mir, bitte, einen Hahn; und du, Michail, bring mir etwas Hafer.«
»Ein bißchen Hafer befehlen Sie?« fragte Michail vergnügt und dienstfertig.
»So geh doch, mach schnell«, trieb ihn der Alte an.
»Und du, Fjodor, besorge mir etwas Kreide.«
Als sie am Büfettzimmer vorbeikam, gab sie Befehl, den Samowar hereinzubringen, obwohl dazu gar nicht die richtige Zeit war.
Der Büfettdiener Foka war der ärgste Kribbelkopf im ganzen Haus. Natascha fand ein besonderes Vergnügen darin, zu erproben, wieviel Macht sie über ihn hätte. Er traute ihrem Befehl wegen des Samowars nicht und ging erst fragen, ob es damit auch seine Richtigkeit habe.
»Nein, so ein Fräulein!« sagte Foka vor sich hin und machte, sich verstellend, ein finsteres Gesicht über Natascha.
Niemand im ganzen Haus schickte die Leute so viel hin und her und machte ihnen so viel Arbeit wie Natascha. Sie brachte es nicht fertig, die Leute zu sehen, ohne sie irgendwohin zu schicken. Sie schien probieren zu wollen, ob nicht einer von ihnen über sie ärgerlich werden und den Mund ziehen werde; aber niemandes Befehle führten die Dienstboten so gern und willig aus wie Nataschas. »Was soll ich nur anfangen? Wohin soll ich nur gehen?« dachte Natascha, während sie langsam den Korridor entlangging.
»Nastasja Iwanowna, was werde ich für Kinder bekommen?« fragte sie den Narren, der ihr in seiner Weiberjacke entgegenkam.
»Du wirst Flöhe, Wasserjungfern und Grashüpfer zur Welt bringen«, antwortete der Narr.
»Mein Gott, mein Gott, immer ein und dasselbe! Ach, wo soll ich nur bleiben? Was soll ich nur mit mir anfangen?« Schnell lief sie, mit den Füßen trappsend, die Treppe hinauf zu Herrn Vogel, der mit seiner Frau dort wohnte.
Bei Vogels saßen die beiden Gouvernanten; auf dem Tisch standen Teller mit Rosinen, Mandeln und Walnüssen. Die Gouvernanten unterhielten sich darüber, wo man billiger leben könne, in Moskau oder in Odessa. Natascha setzte sich zu ihnen, hörte ihrem Gespräch mit ernstem, nachdenklichem Gesicht eine Weile zu und stand dann wieder auf.
»Die Insel Madagaskar«, sagte sie vor sich hin. »Ma-da-gas-kar«, wiederholte sie, indem sie jede Silbe deutlich aussprach, und ohne auf die Frage der Madame Schoß, was sie damit sagen wolle, zu antworten, ging sie aus dem Zimmer.
Ihr Bruder Petja war ebenfalls oben: er fertigte mit dem Diener, der ihm persönlich zugewiesen war, ein Feuerwerk an, das er am Abend abzubrennen beabsichtigte.
»Petja! Petja!« rief sie ihm zu. »Laß mich herunterreiten!«
Petja kam zu ihr hingelaufen und bot ihr seinen Rücken dar. Sie sprang hinauf, umfaßte den Hals des Bruders mit den Armen, und er lief unter kleinen Sprüngen mit ihr davon.
»Nein, ich mag nicht … Madagaskar«, sagte sie, sprang von Petjas Rücken herunter und ging nach unten.
Nachdem sie so gleichsam ihr Reich durchwandert, ihre Macht erprobt und sich überzeugt hatte, daß alle ihr gebührendermaßen gehorchten, das Leben aber trotzdem langweilig war, ging Natascha in den Saal, nahm die Gitarre, setzte sich damit in eine dunkle Ecke hinter einem Schränkchen und griff mit den Fingern an den Baßsaiten umher, um eine Melodie herauszubekommen, an die sie sich aus einer Oper erinnerte, welche sie in Petersburg mit dem Fürsten Andrei zusammen gehört hatte.
Fremde Zuhörer würden gemeint haben, daß die Gitarre dabei nur ein sinnloses Getön von sich gebe; aber in Nataschas Phantasie erstand aus diesen Tönen eine ganze Reihe von Erinnerungen. Sie saß hinter dem Schränkchen und richtete die Blicke auf einen Lichtstreif, der durch die offenstehende Tür des Büfettzimmers fiel, horchte auf ihr eigenes Spiel und überließ sich ihren Erinnerungen. Sie befand sich sozusagen in einem Zustand des Erinnerungslebens.
Sonja ging mit einem Glas in der Hand durch den Saal in der Richtung nach dem Büfettzimmer. Natascha blickte nach ihr und nach der Spalte in der Tür des Büfettzimmers hin und glaubte genau den gleichen Vorgang in ihrer Erinnerung vorzufinden: daß das Licht durch eine Spalte in der Tür des Büfettzimmers fiel und Sonja mit einem Glas in der Hand vorbeiging. »Ja, das hat sich schon früher einmal genauso zugetragen«, dachte Natascha.
»Sonja, was ist das?« rief Natascha und griff wieder mit den Fingern an der untersten Saite umher.
»Ach, du bist hier!« sagte Sonja zusammenfahrend, trat heran und horchte. »Das kenne ich nicht. Soll es einen Sturm vorstellen?« fügte sie schüchtern hinzu, in Furcht, mit ihrer Deutung fehlzugreifen.
»Na, da haben wir’s«, dachte Natascha. »Genau ebenso ist sie schon früher einmal zusammengefahren, genauso ist sie damals herangetreten und hat schüchtern gelächelt, damals, als sich das schon früher zutrug, und genau ebenso sagte ich mir damals, daß in ihrem ganzen Wesen etwas fehlt.«
»Nein, es ist der Chor aus dem ›Wasserträger‹; hörst du es nicht?« Natascha sang die Melodie des Chorliedes zu Ende, um Sonja zum Verständnis zu verhelfen. »Wo wolltest du denn hin?« fragte Natascha.
»Ich wollte mir andres Wasser in das Glas gießen. Ich bin mit dem Austuschen des Stickmusters gleich fertig.«
»Du beschäftigst dich fortwährend, und ich verstehe das so ganz und gar nicht«, erwiderte Natascha. »Wo ist denn Nikolai?«
»Ich glaube er schläft.«
»Geh doch hin, Sonja, und wecke ihn«, sagte Natascha. »Sage ihm, ich ließe ihn rufen; er solle mit mir singen.«
Sie saß noch eine Zeitlang da und dachte darüber nach, wie das zusammenhinge, daß das alles sich schon einmal zugetragen habe; aber ohne über diese Frage zur Klarheit gekommen zu sein, und ohne sich über diese Unklarheit weiter zu grämen, versetzte sie sich in ihrer Phantasie wieder in jene Zeit zurück, als sie mit ihm zusammen war und er sie mit Augen voller Liebe anblickte.
»Ach, wenn er doch recht bald käme. Ich habe solche Angst, daß es nie geschehen wird! Und was die Hauptsache ist: ich werde alt; das ist’s! Was jetzt an Empfindungen in mir lebt, wird dann nicht mehr vorhanden sein. Aber vielleicht kommt er heute, kommt vielleicht im nächsten Augenblick. Vielleicht ist er schon gekommen und sitzt dort im Salon. Vielleicht ist er gestern schon gekommen, und ich habe es nur vergessen.« Sie stand auf, legte die Gitarre hin und ging in den Salon.
Alle Familienmitglieder, die Lehrer, die Gouvernanten und die Gäste saßen schon am Teetisch. Die aufwartenden Diener standen um den Tisch herum; aber Fürst Andrei war nicht da. Alles sah genau so aus wie bisher.
»Ah, da ist sie ja!« rief Ilja Andrejewitsch, als er die eintretende Natascha bemerkte. »Nun, dann setz dich hier zu mir.« Aber Natascha blieb neben der Mutter stehen und blickte sich ringsum, als ob sie etwas suchte.
»Mama!« murmelte sie. »Geben Sie ihn mir wieder; geben Sie ihn mir recht, recht schnell wieder, Mama!« Sie hielt wieder nur mit Mühe ein Schluchzen zurück.
Sie setzte sich an den Tisch und hörte den Gesprächen der älteren Leute und Nikolais zu, der ebenfalls zum Tisch gekommen war. »Mein Gott, mein Gott, dieselben Gesichter, dieselben Gespräche, und Papa hält seine Tasse genau so wie immer und bläst genau so wie immer darauf!« dachte Natascha und wurde sich mit Schrecken bewußt, daß in ihrer Seele ein Widerwille gegen alle ihre Angehörigen heranwuchs, dadurch veranlaßt, daß sie immer dieselben blieben.
Nach dem Tee begaben sich Nikolai, Sonja und Natascha in das Sofazimmer, in ihr Lieblingseckchen, wo sie immer ihre allervertraulichsten Gespräche führten.
X
»Geht dir das auch manchmal so«, sagte Natascha zu ihrem Bruder, als sie sich im Sofazimmer hingesetzt hatten, »geht dir das auch manchmal so: man hat die Vorstellung, es werde nichts mehr geschehen, gar nichts, und alles Gute sei vergangen und vorbei, und es ist einem nicht sowohl langweilig als vielmehr traurig zumute?«
»Und ob mir das so geht!« erwiderte er. »Es ist mir schon vorgekommen, daß alles in schönster Ordnung war und alle Leute vergnügt waren und ich dann auf einmal denken mußte, das sei doch alles furchtbar öde und das beste wäre, wenn alle stürben. Ich war, als ich beim Regiment war, einmal nicht auf die Promenade gegangen, wo die Musik spielte, und da überkam mich plötzlich ein solcher Widerwille …«