Weder der Beamte noch seine Frau befanden sich mehr an der früheren Stelle. Pierre ging mit schnellen Schritten durch die Menge und musterte die verschiedenen Gesichter, die ihm vorkamen. Unwillkürlich erregte eine grusinische oder armenische Familie seine Aufmerksamkeit; diese Familie bestand aus einem schönen, sehr alten Mann von orientalischem Gesichtstypus, der einen neu überzogenen Schafspelz und neue Stiefel trug, einer alten Frau von demselben Typus und einer jungen Frau. Diese noch sehr junge Person erschien Pierre als ein Ideal orientalischer Schönheit, mit ihren scharfen, bogenförmigen, schwarzen Brauen und dem länglichen, schönen Gesicht von außerordentlich zarter Hautfarbe, wiewohl ohne jeden Ausdruck. Mitten unter dem unordentlich umherliegenden Hausrat und zwischen der Volksmenge auf dem Platz erinnerte sie in ihrer kostbaren Atlaspelerine und dem lila Tuch, das sie um den Kopf geschlungen hatte, an eine zarte Treibhauspflanze, die auf den Schnee hinausgeworfen ist. Sie saß auf einem Kleiderbündel etwas hinter der Alten und blickte mit den regungslosen, großen, schwarzen, länglichen, langbewimperten Augen auf die Erde. Offenbar kannte sie ihre Schönheit und war um deswillen in Besorgnis. Dieses Gesicht machte auf Pierre einen starken Eindruck, und trotz seiner Eile sah er sich, während er an dem Zaun entlangging, mehrmals nach ihr um. Als er an das Ende des Zaunes gelangt war und doch die Gesuchten nicht gefunden hatte, blieb er stehen und blickte sich um.
Pierres Gestalt war jetzt, wo er das Kind auf dem Arm trug, noch auffälliger als vorher, und es sammelten sich mehrere Russen um ihn, Männer und Frauen.
»Hast du jemand verloren, lieber Mann?« – »Sie sind wohl einer von den Vornehmen, wie?« – »Wessen Kind ist denn das?« so wurde er von Verschiedenen gefragt.
Pierre antwortete, das Kind gehöre einer Frau in einer schwarzen Pelerine, die mit ihren Kindern an dieser Stelle gesessen habe, und fragte, ob sie keiner kenne und wisse, wohin sie gegangen sei.
»Das wird gewiß ein Kind von Frau Anferowa sein«, sagte ein alter Diakonus, zu einem pockennarbigen Weib gewendet. »Herr, erbarme dich, Herr, erbarme dich«, fügte er wie in der Kirche in seinen gewohnten Baßtönen hinzu.
»Ach, wo wird es Frau Anferowa ihres sein!« erwiderte das Weib. »Die Anferows sind schon am Morgen weggefahren. Es gehört entweder Marja Nikolajewna oder der Frau Iwanowa.«
»Er sagt: ›Eine Frau‹, und Marja Nikolajewna ist doch eine Dame«, wendete ein Gutsknecht ein.
»Ihr werdet sie wohl kennen: sie hat lange Zähne und ist mager«, sagte Pierre.
»Das ist Marja Nikolajewna. Die sind in den Garten gegangen, als sich diese Wölfe hier einfanden«, sagte die Alte, auf die französischen Soldaten weisend.
»Herr, erbarme dich«, fügte der Diakonus wieder hinzu.
»Gehen Sie nur da hindurch; da sind sie. Ja, die ist es. Sie hat die ganze Zeit gejammert und geweint«, sagte wieder die Alte. »Ja, die ist es. Sehen Sie, dorthin müssen Sie gehen!«
Aber Pierre hörte nicht auf das Weib hin. Er beobachtete schon seit einigen Sekunden mit unverwandten Augen das, was einige Schritte von ihm entfernt vorging. Seine Blicke waren auf die armenische Familie und auf zwei französische Soldaten gerichtet, die sich den Armeniern näherten. Einer von diesen Soldaten, ein kleiner, beweglicher Kerl, trug einen blauen Mantel, der mit einem Strick umgürtet war; auf dem Kopf hatte er eine Schlafmütze, und seine Füße waren nackt. Der andere, der Pierres Aufmerksamkeit ganz besonders erregte, war ein langer, gebückt gehender, blonder, hagerer Mensch mit langsamen Bewegungen und einem idiotischen Gesichtsausdruck. Dieser trug einen Kapottmantel von Fries, blaue Hosen und große, zerrissene Reiterstiefel. Der kleinere Franzose, der mit dem blauen Mantel und ohne Stiefel, sagte, sobald er an den Armenier herangekommen war, ein paar Worte und griff dabei sofort nach den Beinen des alten Mannes; dieser begann unverzüglich, sich eilig die Stiefel auszuziehen. Der andere, der im Kapottmantel, blieb vor der schönen Armenierin stehen und blickte sie, die Hände in den Taschen, ohne ein Wort zu sagen und ohne sich zu regen, an.
»Nimm hin, nimm das Kind!« sagte Pierre gebieterisch und hastig zu dem Weib und hielt ihr das Kind hin. »Gib es ihnen, gib es ihnen!« rief er überlaut, setzte das aufschreiende Mädchen auf die Erde und blickte wieder nach den Franzosen und der armenischen Familie hin.
Der alte Mann saß schon barfuß da. Der kleinere Franzose hatte ihm bereits den zweiten Stiefel ausgezogen und schlug nun mit einem Stiefel an den andern. Der Alte sagte schluchzend etwas; aber Pierre sah dies nur mit flüchtigem Blick; seine ganze Aufmerksamkeit war auf den Franzosen im Kapottmantel gerichtet, der in diesem Augenblick mit langsamem, schaukelndem Gang auf die junge Frau zutrat, die Hände aus den Taschen zog und nach ihrem Hals griff.
Die schöne Armenierin hatte noch immer in derselben Haltung dagesessen, ohne sich zu regen, die langen Wimpern niedergeschlagen, und schien nicht gesehen und gemerkt zu haben, was der Soldat mit ihr vorhatte.
Während Pierre laufend die wenigen Schritte zurücklegte, die ihn von den beiden Franzosen trennten, hatte der lange Marodeur im Kapottmantel der Armenierin schon das Geschmeide, das sie am Hals trug, weggerissen, und die junge Frau griff mit den Händen nach ihrem Hals und stieß einen gellenden Schrei aus.
»Laß die Frau in Ruhe!« schrie Pierre mit heiserer, wütender Stimme, packte den langen, krummrückigen Soldaten an den Schultern und schleuderte ihn zur Seite.
Der Soldat fiel zu Boden, erhob sich wieder und lief davon. Aber sein Kamerad warf die Stiefel hin, schickte sich an, sein Seitengewehr zu ziehen, und ging in drohender Haltung auf Pierre los.
»Hoho! Keine Dummheiten!« rief er.
Pierre befand sich in einem jener Wutanfälle, in denen er keine Überlegung mehr kannte und seine Kräfte sich verzehnfachten. Er stürzte sich auf den barfüßigen Franzosen, und ehe dieser noch Zeit gehabt hatte, sein Seitengewehr zu ziehen, hatte er ihn bereits niedergeworfen und schlug mit den Fäusten auf ihn los. Die umstehende Menge ließ beifällige Rufe vernehmen; in demselben Augenblick aber erschien um die Ecke herum eine reitende Patrouille französischer Ulanen. Die Ulanen ritten im Trab zu Pierre und dem Franzosen hin und umringten sie. Von dem, was nun weiter geschah, hatte Pierre nachher so gut wie keine Erinnerung mehr. Er erinnerte sich nur, daß er jemanden geschlagen hatte, daß er geschlagen worden war, und daß er zuletzt das Gefühl gehabt hatte, als ob ihm die Hände zusammengebunden wurden und eine Anzahl französischer Soldaten um ihn herum stand und ihm die Kleider durchsucht wurden.
»Er hat einen Dolch, Leutnant«, das waren die ersten Worte, die Pierre wieder verstand.
»Ah, eine Waffe«, sagte der Offizier und wandte sich an den barfüßigen Soldaten, der mit Pierre zusammen festgenommen war. »Es ist gut; das kannst du alles dem Kriegsgericht auseinandersetzen«, sagte der Offizier. Dann wandte er sich an Pierre mit der Frage: »Sie da, sprechen Sie französisch?«
Pierre blickte mit blutunterlaufenen Augen um sich, ohne zu antworten. Sein Gesicht mußte wohl einen schrecklichen Anblick bieten; denn der Offizier gab flüsternd einen Befehl, und es sonderten sich noch vier Ulanen von dem Trupp ab und nahmen zu beiden Seiten Pierres Stellung.
»Sprechen Sie französisch?« wiederholte der Offizier seine Frage, hielt sich aber in einiger Entfernung von ihm. »Ruft den Dolmetscher her.«
Aus der Truppe kam ein kleines Männchen in russischer Zivilkleidung hervorgeritten. Am Anzug und an der Sprache erkannte Pierre ihn sofort als einen Franzosen aus einem Moskauer Ladengeschäft.
»Er sieht nicht aus wie ein Mann aus dem Volk«, sagte der Dolmetscher zu dem Offizier, nachdem er Pierre gemustert hatte.
»Mir macht er ganz den Eindruck, als ob er einer der Brandstifter wäre«, antwortete der Offizier. »Fragen Sie ihn doch, was er ist«, fügte er hinzu.
»Wer seid du?« fragte der Dolmetscher in sehr schlechtem Russisch. »Du muß antworten dem Obrigkeit.«
»Ich werde euch nicht sagen, wer ich bin. Ich bin euer Gefangener. Führt mich weg«, sagte Pierre auf einmal auf französisch.
»Ah, ah!« sagte der Offizier und machte ein finsteres Gesicht. »Nun also weiter, marsch!«
Um die Ulanen hatte sich ein Haufe Menschen geschart. Am nächsten bei Pierre stand die pockennarbige Frau mit dem kleinen Mädchen; als die Patrouille sich wieder in Bewegung setzte, ging sie nebenher.
»Wohin bringen sie dich denn, lieber Mann?« sagte sie. »Und wo soll ich denn das kleine Mädchen lassen, wenn es denen nicht gehört?«
»Was will diese Frau?« fragte der Offizier.
Pierre war wie betrunken. Dieser verzückte Zustand steigerte sich noch beim Anblick des kleinen Mädchens, das er gerettet hatte.
»Was sie will?« antwortete er. »Sie bringt mir meine Tochter, die ich soeben aus den Flammen gerettet habe … Adieu!« Und ohne selbst zu wissen, wie er dazu gekommen war, diese zwecklose Lüge auszusprechen, schritt er mit entschlossenem, feierlichem Gang zwischen den Franzosen einher.
Diese französische Patrouille war eine von denen, die auf Durosnels Anordnung durch verschiedene Straßen Moskaus geschickt waren, um dem Plündern Einhalt zu tun, und namentlich um die Brandstifter abzufassen, die nach einer an diesem Tag bei den höheren französischen Kommandostellen allgemein aufgekommenen Meinung die Urheber der Feuersbrünste waren. Bei ihrem weiteren Ritt durch einige Straßen nahm die Patrouille noch fünf verdächtige Russen fest, einen Ladenbesitzer, zwei Seminaristen, einen Bauern und einen herrschaftlichen Diener, und ferner mehrere Plünderer. Aber von allen Verdächtigen erschien als der Verdächtigste Pierre. Als sie alle für die Nacht nach einem großen Haus am Subowski-Wall transportiert waren, in dem die Hauptwache eingerichtet war, wurde Pierre unter strenger Bewachung in einem gesonderten Raum untergebracht.
Zwölfter Teil
I
In Petersburg führten damals in den höchsten Kreisen die Parteien ihre verwickelten Kämpfe untereinander mit noch größerer Hitze und Heftigkeit als sonst je: die Partei Rumjanzews, die der Franzosen, die der Kaiserin-Mutter Maria Feodorowna, die des Großfürsten-Thronfolgers und andere; und übertönt wurden diese Kämpfe noch, wie immer, durch das Blasen der höfischen Drohnen. Aber das ruhige, üppige, nur mit blassen Schattenbildern des wirklichen Lebens beschäftigte Petersburger Leben ging dabei seinen altgewohnten Gang, und wer in diesem Leben steckte, für den bedurfte es großer Anstrengungen, um sich der Gefahr und der schwierigen Lage bewußt zu werden, in der sich das russische Volk befand. Da waren dieselben Courempfänge und Bälle, dasselbe französische Theater, dieselben Interessen der einzelnen Hofhaltungen, dieselben Interessen des Dienstes, dieselben Intrigen. Nur in den allerhöchsten Kreisen gab man sich Mühe, der Schwierigkeit der gegenwärtigen Lage eingedenk zu sein. Geflüsterte Erzählungen gingen von Mund zu Mund, wie grundverschieden voneinander die beiden Kaiserinnen unter diesen so schwierigen Umständen sich benahmen. Die Kaiserin-Mutter Maria Feodorowna hatte in ihrer Besorgnis für das Wohl der unter ihrem Patronat stehenden Wohltätigkeits und Erziehungsanstalten Anordnungen über die Verlegung aller dieser Institute nach Kasan getroffen, und die Sachen derselben waren bereits gepackt. Die Kaiserin Jelisaweta Alexejewna dagegen hatte auf die Frage, welche Anordnungen sie zu treffen geruhe, mit dem ihr eigenen russischen Patriotismus erwidert, über Staatsanstalten könne sie nichts anordnen, da dies nur dem Kaiser zustehe; und auf die Frage, was sie persönlich zu tun gedenke, hatte sie geantwortet, sie werde die letzte sein, die Petersburg verließe.
Bei Anna Pawlowna fand am 26. August, gerade am Tag der Schlacht bei Borodino, eine Abendgesellschaft statt, deren Glanzpunkt die Vorlesung eines Briefes sein sollte, den der hochwürdigste Metropolit bei Übersendung des Bildes des heiligen Sergius an den Kaiser geschrieben hatte. Dieser Brief galt als ein Muster patriotischer geistlicher Beredsamkeit. Vorlesen sollte ihn kein Geringerer als Fürst Wasili, der als vorzüglicher Vorleser berühmt war und auch der Kaiserin des öfteren vorlas. Die vollendete Kunst fand man bei seinem Vorlesen darin, daß er laut und halb singend sprach und die Worte bald in kläglich heulendem, bald in zärtlich murrendem Ton herausbrachte, ohne jede Rücksicht auf ihren Sinn, so daß, ganz wie es der Zufall wollte, auf das eine Wort das Heulen und auf das andere das Murren traf. Diese Vorlesung hatte, wie alle Abendgesellschaften bei Anna Pawlowna, eine politische Bedeutung. Es wurden an diesem Abend einige wichtige Persönlichkeiten erwartet, die wegen ihres fortgesetzten Besuches des französischen Theaters zu einem Gefühl der Scham gebracht und zu patriotischer Gesinnung angeregt werden sollten. Es waren schon recht viele Gäste versammelt; aber Anna Pawlowna sah in ihrem Salon gerade diejenigen noch nicht, auf die es ihr ankam, und darum verschob sie die Vorlesung noch und brachte Gespräche allgemeinen Inhalts in Gang.
Die Tagesneuigkeit war in Petersburg augenblicklich die Krankheit der Gräfin Besuchowa. Die Gräfin war vor einigen Tagen plötzlich erkrankt, hatte mehrere Gesellschaften, deren Zierde sie sonst zu sein pflegte, nicht besucht, und es verlautete, sie empfange niemanden und habe sich diesmal nicht den Petersburger medizinischen Zelebritäten, von denen sie sich sonst behandeln ließ, sondern einem italienischen Arzt anvertraut, der sie unter Anwendung eines neuen, ungewöhnlichen Mittels behandle.
Jedermann wußte sehr wohl, daß die Krankheit der reizenden Gräfin von der Schwierigkeit herkam, zwei Männer zugleich zu heiraten, und daß die von dem Italiener eingeleitete Behandlung in der Beseitigung dieser Schwierigkeit bestand; aber in Anna Pawlownas Gegenwart wagte niemand dergleichen anzudeuten, ja, es schien überhaupt niemand etwas davon zu wissen.
»Es heißt, die arme Gräfin befinde sich sehr schlecht. Der Arzt sagt, es sei Bräune.«
»Bräune? Oh, das ist eine schreckliche Krankheit!«
»Man sagt, die beiden Nebenbuhler hätten sich aus Anlaß dieser Bräune miteinander versöhnt …«
Das Wort »Bräune« wurde mit großem Genuß immer wieder gebraucht.
»Der alte Graf soll sich ja ganz rührend benehmen. Er hat wie ein Kind geweint, als ihm der Arzt sagte, daß die Krankheit gefährlich sei.«
»Oh, das würde ein schrecklicher Verlust sein. Sie ist eine so entzückende Frau.«
»Sie sprechen von der armen Gräfin?« sagte Anna Pawlowna, die zu dieser Gruppe hinzutrat. »Ich habe zu ihr geschickt und mich erkundigen lassen; es wurde mir geantwortet, es ginge ihr ein wenig besser. Oh, sie ist ohne Zweifel die reizendste Frau von der Welt«, fuhr Anna Pawlowna fort und lächelte dabei über ihre eigene Schwärmerei. »Wir gehören ja verschiedenen Parteien an; aber das hindert mich nicht, sie zu achten, wie sie es verdient. Sie ist sehr unglücklich«, fügte Anna Pawlowna hinzu.
Ein unvorsichtiger junger Mann, welcher glaubte, Anna Pawlowna lüfte mit diesen Worten ein ganz klein wenig den Schleier des Geheimnisses, der über der Krankheit der Gräfin liege, erlaubte sich seine Verwunderung darüber auszusprechen, daß sich die Gräfin, statt renommierte Ärzte zu Rate zu ziehen, von einem Scharlatan behandeln lasse, der ihr womöglich gefährliche Mittel gebe.
»Ihre Nachrichten mögen besser sein als die meinigen«, fiel Anna Pawlowna schnell in giftigem Ton über den unerfahrenen jungen Mann her. »Aber ich weiß aus guter Quelle, daß dieser Arzt ein sehr gelehrter, sehr geschickter Mann ist. Er ist der Leibarzt der Königin von Spanien.«
Nachdem Anna Pawlowna auf diese Weise den jungen Mann abgetrumpft hatte, wandte sie sich an Bilibin, der in einer anderen Gruppe über die Österreicher sprach. Er hatte die Stirnhaut in Falten gelegt und war anscheinend gerade dabei, sie wieder glattzuziehen, um etwas Geistreiches zu sagen.
»Ich finde, daß das allerliebst ist«, sagte er mit Bezug auf das diplomatische Schriftstück, mit welchem die von Wittgenstein, dem »Helden von Petersburg« (wie man ihn in dieser Stadt nannte), erbeuteten Fahnen nach Wien geschickt worden waren.
»Was denn? Was meinen Sie?« wandte sich Anna Pawlowna zu ihm und stellte so das erforderliche Stillschweigen her, damit der geistreiche Ausspruch, den sie bereits kannte, das gebührende Gehör finde.
Und Bilibin zitierte wörtlich folgende Stelle aus der von ihm selbst redigierten diplomatischen Depesche:
»Der Kaiser sendet die österreichischen Fahnen zurück, befreundete und verirrte Fahnen, die er abseits vom richtigen Weg gefunden hat.« Als Bilibin zu Ende gesprochen hatte, zog er seine Stirn wieder glatt.
»Allerliebst, allerliebst!« äußerte Fürst Wasili.
»Das heißt vielleicht: auf dem Weg nach Warschau«, bemerkte plötzlich Fürst Ippolit laut.
Alle blickten ihn an, ohne zu verstehen, was er damit sagen wollte. Auch Fürst Ippolit selbst sah mit heiterer Verwunderung umher. Er verstand ebensowenig wie die anderen, was die von ihm gesprochenen Worte bedeuteten. Er hatte während seiner diplomatischen Karriere zu wiederholten Malen die Beobachtung gemacht, daß ein paar in dieser Manier plötzlich hingeworfene Worte für sehr geistreich angesehen wurden, und so hatte er denn aufs Geratewohl diese Worte gesprochen, die ihm gerade in den Mund gekommen waren. »Vielleicht kommt es sehr geistreich heraus«, dachte er; »und wenn nicht, so werden die andern da schon wissen, es sich zurechtzulegen.« Gerade in dem Augenblick aber, als ein unbehagliches Stillschweigen herrschte, trat jene nicht patriotisch genug gesinnte Persönlichkeit ein, auf welche Anna Pawlowna zum Zweck eines Bekehrungsversuches wartete; Anna Pawlowna drohte dem Fürsten Ippolit lächelnd mit dem Finger, lud den Fürsten Wasili ein, an den Tisch zu kommen, stellte ihm zwei Kerzen zurecht, legte ihm ein beschriebenes Blatt hin und bat ihn anzufangen. Alles wurde still.
»Allergnädigster Kaiser und Herr!« las Fürst Wasili in strengem Ton und warf einen Blick auf sein Publikum, wie wenn er fragen wollte, ob jemand etwas hiergegen zu bemerken habe. Aber es bemerkte niemand etwas hiergegen. »Die erste Residenzstadt Moskau, das neue Jerusalem, wird ihren Gesalbten empfangen« (er legte auf einmal einen starken Ton auf das Wort »ihren«), »wie eine Mutter ihre treuen Söhne in ihre Arme schließt, und durch die hereingebrochene Finsternis den glänzenden Ruhm deiner Herrschaft vorherschauend, singt sie voll Entzücken: Hosianna, gelobt sei, der da kommt!«
Fürst Wasili sprach diese letzten Worte in weinerlichem Ton.
Bilibin betrachtete aufmerksam seine Nägel, und viele der Zuhörer zeigten eine ängstliche Verlegenheit, wie wenn sie fragen wollten, was sie denn eigentlich begangen hätten. Anna Pawlowna flüsterte schon im voraus, wie ein altes Weib beim Abendmahlsgebet, die darauffolgenden Worte: »Mag auch der übermütige, freche Goliath …«
Fürst Wasili fuhr fort:
»Mag auch der übermütige, freche Goliath die Schrecken des Todes von Frankreichs Grenzen nach den Gauen Rußlands tragen: der demütige Glaube, diese Schleuder des russischen David, wird unversehens seinem blutdürstigen Stolz das Haupt zerschmettern. Dieses Bild des heiligen Sergius, der von alters her das Wohl unseres Vaterlandes behütet hat, bringen wir Eurer Kaiserlichen Majestät dar. Es ist mir ein tiefer Schmerz, daß meine ermattenden Kräfte es mir unmöglich machen, mich an dem Anblick Dero huldvollsten Antlitzes zu erquicken. Heiße Gebete sende ich zum Himmel, daß der Allmächtige den Stamm der Gerechten erhöhen und Euer Majestät Wünsche zum Heile erfüllen möge.«
»Welch eine Kraft! Welch ein Stil!« riefen die Zuhörer; das Lob galt dem Verfasser und dem Vorleser.
Von diesem Schreiben begeistert, redeten Anna Pawlownas Gäste noch lange von der Lage des Vaterlandes und stellten allerlei Vermutungen über den Ausgang der Schlacht auf, die in diesen Tagen geliefert werden mußte.
»Sie werden sehen«, sagte Anna Pawlowna, »daß wir morgen, am Geburtstag des Kaisers, Nachricht erhalten. Ich habe eine gute Ahnung.«
II
Anna Pawlownas Ahnung ging wirklich in Erfüllung. Am folgenden Tag, während des Gottesdienstes, der anläßlich des Geburtstages des Kaisers im Palais stattfand, wurde Fürst Wolkonski aus der Kirche herausgerufen und ihm ein Brief des Fürsten Kutusow übergeben. Es war der Bericht, den Kutusow am Tag der Schlacht in Tatarinowa geschrieben hatte. Kutusow meldete, die Russen seien keinen Schritt zurückgewichen; die Franzosen hätten weit größere Verluste gehabt als wir; er berichte dies in Eile vom Schlachtfeld, noch ehe er die letzten Nachrichten habe sammeln können. Somit war es ein Sieg. Und sogleich, noch vor dem Verlassen des heiligen Raumes, wurde dem Schöpfer für seine Hilfe und für den Sieg Dank gesagt.
Anna Pawlownas Ahnung war in Erfüllung gegangen, und in der Stadt herrschte den ganzen Vormittag über eine frohe Feststimmung. Alle betrachteten den Sieg als feststehende Tatsache, und manche redeten sogar schon von der Gefangennahme des Kaisers Napoleon selbst, von seiner Absetzung und der Wahl eines neuen Oberhauptes für Frankreich.
Fern vom Kriegsschauplatz und in dem ganzen Milieu des Hoflebens können die Ereignisse nicht leicht mit ihrer gesamten Wucht und Kraft wirken. Unwillkürlich gruppieren die Ereignisse von allgemeiner Bedeutung sich um irgendeine zufällige Einzelheit. So bildete jetzt die Hauptfreude der Hofgesellschaft in gleichem Maße unser Sieg und der Umstand, daß die Nachricht von diesem Sieg gerade am Geburtstag des Kaisers eingetroffen war. Das war gewissermaßen eine wohlgelungene Geburtstagsüberraschung. In Kutusows Bericht war auch von den russischen Verlusten die Rede, und es waren darunter Tutschkow, Bagration und Kutaisow genannt. Und auch die traurige Seite des großen Ereignisses gruppierte sich in den Kreisen der Petersburger Gesellschaft unwillkürlich um ein einzelnes Ereignis: den Tod Kutaisows. Alle hatten ihn gekannt, der Kaiser hatte ihn gern gemocht, er war ein junger, interessanter Mann gewesen. Wenn sich zwei an diesem Tag trafen, so lautete die ersten Worte stets:
»Welch ein wunderbares Zusammentreffen! Gerade während des Gottesdienstes! Und welch ein Verlust, der Tod Kutaisows! Ach, wie schade!«
»Was habe ich Ihnen über Kutusow gesagt?« sagte Fürst Wasili jetzt mit dem Stolz eines Propheten. »Ich habe immer gesagt: er ist der einzige, der Napoleon zu besiegen vermag.«
Aber am folgenden Tag gingen keine Nachrichten von der Armee ein, und die allgemeine Stimmung wurde unruhig. Die Hofleute litten daran, daß der Kaiser unter der Ungewißheit litt, in der er sich befand.
»Der Kaiser befindet sich in rechter Sorge!« sagten die Hofleute und priesen Kutusow nicht mehr, wie sie das kurz vorher getan hatten, sondern schalten auf ihn, weil er an der Unruhe des Kaisers schuld war. Fürst Wasili lobte an diesem Tag seinen Schützling Kutusow nicht mehr, sondern beobachtete mit Stillschweigen, wenn man in seiner Gegenwart von dem Oberkommandierenden sprach. Außerdem kam am Abend dieses Tages noch eine furchtbare Neuigkeit hinzu, wie wenn sich alles vereinigte, um die Einwohner von Petersburg in Aufregung und Unruhe zu versetzen: die Gräfin Besuchowa war plötzlich an jener schrecklichen Krankheit gestorben, deren Namen man mit solchem Behagen ausgesprochen hatte. Offiziell hieß es in den höheren Gesellschaftskreisen allgemein, die Gräfin Besuchowa sei an einem furchtbaren Bräuneanfall gestorben; aber in intimeren Kreisen erzählte man sich Einzelheiten von folgender Art: der Leibarzt der Königin von Spanien habe der Gräfin kleine Dosen eines Medikaments zur Herbeiführung einer bestimmten Wirkung verschrieben; Helene aber habe aus Kummer darüber, daß der alte Graf einen Verdacht gegen sie hegte, und darüber, daß ihr Mann, dieser unglückliche, ausschweifende Pierre, ihr nicht geantwortet hatte, eine gewaltige Dosis des ihr verschriebenen Medikaments auf einmal genommen und sei, ehe man ihr habe Hilfe bringen können, unter Qualen gestorben. Weiter wurde erzählt, Fürst Wasili und der alte Graf hätten den Italiener zur Verantwortung ziehen wollen; aber dieser habe solche Zuschriften vorgelegt, die die unglückliche Verstorbene an ihn gerichtet hatte, daß die beiden sofort von ihm abgelassen hätten.
Das allgemeine Gespräch drehte sich ausschließlich um drei traurige Ereignisse: die peinliche Ungewißheit des Kaisers, den Tod Kutaisows und den Tod Helenes.
Drei Tage nach Kutusows Bericht kam nach Petersburg ein Gutsbesitzer aus Moskau, und nun verbreitete sich durch die ganze Stadt die Nachricht von der Übergabe Moskaus an die Franzosen. Das war furchtbar! In welcher peinlichen Lage befand sich der Kaiser! Kutusow war ein Verräter, und Fürst Wasili äußerte bei den Kondolenzbesuchen, die ihm anläßlich des Todes seiner Tochter gemacht wurden, über den früher von ihm gepriesenen Kutusow (es war bei der Trauer sehr verzeihlich, daß er vergaß, was er früher gesagt hatte): etwas anderes habe man von diesem blinden, ausschweifenden Greis auch nicht erwarten können.
»Ich wundere mich nur, wie man einem solchen Mann das Schicksal Rußlands hat anvertrauen mögen«, sagte er.
Solange diese Nachricht noch nicht offiziell war, konnte man noch an ihr zweifeln; aber am nächsten Tag ging vom Grafen Rastoptschin folgende Meldung ein:
»Ein Adjutant des Fürsten Kutusow hat mir einen Brief überbracht, in welchem er von mir Polizeioffiziere verlangt, um die Armee auf die Straße nach Rjasan zu führen. Er sagt, er müsse zu seinem Schmerz Moskau dem Feind überlassen. Majestät! Dieser Schritt Kutusows entscheidet das Schicksal der Hauptstadt und Ihres Reiches. Rußland wird erschaudern, wenn es die Preisgabe der Stadt erfahrt, in der sich die majestätische Größe Rußlands verkörpert und die die Asche Ihrer Ahnherren birgt. Ich folge der Armee. Ich habe alles fortschaffen lassen; mir bleibt nichts übrig, als über das Schicksal meines Vaterlandes zu weinen.«
Als der Kaiser diesen Bericht empfangen hatte, schickte er den Fürsten Wolkonski mit folgendem Schreiben an Kutusow:
»Fürst Michail Ilarionowitsch! Seit dem 29. August habe ich von Ihnen keine Nachrichten. Inzwischen habe ich vom 1. September über Jaroslawl von dem Oberkommandierenden von Moskau die traurige Mitteilung erhalten, daß Sie den Entschluß gefaßt haben, mit der Armee Moskau zu verlassen. Sie werden sich selbst vorstellen können, welchen Eindruck diese Nachricht auf mich gemacht hat, und mein Erstaunen wird durch Ihr Schweigen noch gesteigert. Ich sende den Generaladjutanten Fürsten Wolkonski mit diesem Schreiben zu Ihnen, um von Ihnen Näheres über den Zustand der Armee und über die Ursachen, die Sie zu einem so betrübenden Entschluß gebracht haben, zu erfahren.«
III
Neun Tage nach der Preisgabe Moskaus kam ein Abgesandter Kutusows mit der offiziellen Meldung dieses Ereignisses nach Petersburg. Dieser Abgesandte war der Franzose Michaud, der kein Russisch konnte, aber, wie er selbst von sich sagte, trotz seiner fremden Abstammung von ganzem Herzen und von ganzer Seele Russe war.
Der Kaiser empfing den Abgesandten sofort in seinem Arbeitszimmer, im Palais auf Kamenny Ostrow. Michaud, der Moskau vor dem Feldzug nie gesehen hatte, fühlte sich doch tief ergriffen, als er »vor unserm allergnädigsten Souverän« (wie er später geschrieben hat) mit der Nachricht von dem Brand Moskaus erschien, »dessen Flammen seinen Weg beleuchtet hatten«.
Obgleich der Kummer des Herrn Michaud wohl aus einer andern Quelle floß als der der Russen, hatte Michaud doch, als er in das Arbeitszimmer des Kaisers hereingeführt wurde, eine so traurige Miene, daß der Kaiser ihn sogleich fragte:
»Bringen Sie mir trübe Nachrichten, Oberst?«
»Sehr trübe, Sire«, antwortete Michaud und schlug seufzend die Augen nieder, »die Nachricht von der Räumung Moskaus.«
»Ist meine alte Hauptstadt wirklich dem Feind ohne Kampf überlassen worden?« fragte der Kaiser schnell, und eine plötzliche Röte überzog sein Gesicht.
Michaud berichtete ehrerbietig, was ihm Kutusow zu berichten aufgetragen hatte, nämlich daß es unmöglich gewesen sei, bei Moskau eine Schlacht zu liefern, und daß, da nur die Wahl geblieben sei zwischen dem Verlust der Armee und Moskaus oder dem Verlust von Moskau allein, der Feldmarschall sich für das letztere habe entscheiden müssen.
Der Kaiser hörte schweigend zu, ohne Michaud anzusehen.
»Ist der Feind in die Stadt eingezogen?« fragte er.
»Ja, Sire, und die Stadt liegt augenblicklich in Asche. Als ich sie verließ, stand sie vollständig in Flammen«, antwortete Michaud in festem Ton; aber als er den Kaiser anblickte, erschrak er über das, was er getan hatte.
Der Kaiser atmete schwer und schnell; seine Unterlippe zitterte, und seine schönen, blauen Augen wurden auf einmal feucht von Tränen.
Aber dies dauerte nur einen Augenblick. Dann machte der Kaiser ein finsteres Gesicht, als schelte er sich selbst wegen seiner Schwäche, und wandte sich, den Kopf erhebend, mit fester Stimme zu Michaud:
»Aus allem, was uns widerfährt, Oberst, sehe ich«, sagte er, »daß die Vorsehung große Opfer von uns fordert … Ich bin bereit, mich in allen Stücken dem Willen Gottes zu unterwerfen. Aber sagen Sie mir, Michaud, in welchem Zustand haben Sie die Armee verlassen, die ohne Kampf meine alte Hauptstadt aufgegeben hat? Haben Sie an ihr keine Entmutigung wahrgenommen?«
Als Michaud sah, daß sich sein allergnädigster Souverän beruhigt hatte, beruhigte er sich gleichfalls; aber auf die bestimmte, sachliche Frage des Kaisers, die eine bestimmte Antwort verlangte, konnte er in der Geschwindigkeit keine Antwort zurechtlegen.
»Sire, wollen Sie mir erlauben, Ihnen als redlicher Soldat alles frei heraus zu sagen?« erwiderte er, um Zeit zu gewinnen.
»Das verlange ich stets, Oberst«, antwortete der Kaiser. »Verbergen Sie mir nichts; ich will unbedingt die volle Wahrheit wissen.«
»Sire!« sagte Michaud mit einem feinen, kaum bemerkbaren Lächeln um die Lippen, da er inzwischen damit fertiggeworden war, seiner Antwort die Form eines harmlosen, ehrerbietigen Wortspieles zu geben. »Sire! Als ich die Armee verließ, war sie in allen ihren Gliedern, von den Führern herab bis zum letzten Soldaten, ohne Ausnahme von einer großen, gewaltigen Furcht und Besorgnis erfüllt …«
»Was sagen Sie?« unterbrach ihn der Kaiser und runzelte finster die Stirn. »Meine Russen sollten sich durch das Unglück niederbeugen lassen …? Niemals!«
Darauf hatte Michaud nur gewartet, um sein Wortspiel anzubringen.
»Sire«, sagte er, in ehrerbietigem Ton mit den Ausdrücken spielend, »was sie fürchten ist nur dies: Euer Majestät könnten in der Güte Ihres Herzens sich überreden lassen, Frieden zu schließen. Sie brennen vor Kampflust«, sagte dieser Bevollmächtigte des russischen Volkes, »und vor Begier, Euer Majestät durch Hingabe ihres Lebens ihre Ergebenheit zu beweisen …«
»Ah«, sagte der Kaiser beruhigt und klopfte mit freundlich glänzenden Augen Michaud auf die Schulter. »Sie beruhigen mich, Oberst.«
Der Kaiser senkte den Kopf und schwieg eine kleine Weile.
»Nun wohl, kehren Sie zur Armee zurück«, fuhr er dann fort, indem er sich in seiner ganzen Größe aufrichtete und sich mit einer freundlichen, majestätischen Handbewegung zu Michaud wandte, »und sagen Sie unseren tapferen Truppen, sagen Sie allen meinen guten Untertanen, überall, wo Sie durchkommen, daß, wenn ich keinen Soldaten mehr haben sollte, ich mich selbst an die Spitze meiner lieben Edelleute, meiner braven Bauern stellen und so alle Hilfsquellen meines Reiches bis auf die letzten zur Verwendung bringen werde. Mein Reich bietet mir deren noch viele, mehr als meine Feinde denken«, sagte der Kaiser, der in immer größere Begeisterung geriet. »Sollte es aber wirklich im Buch der göttlichen Vorsehung geschrieben stehen«, fuhr er fort, indem er seine schönen, sanften, in echter Empfindung leuchtenden Augen gen Himmel richtete, »daß meine Dynastie aufhören soll auf dem Thron meiner Ahnen zu herrschen, dann will ich nach Erschöpfung aller Hilfsmittel, die zu meiner Verfügung stehen, mir lieber den Bart so lang wachsen lassen« (der Kaiser zeigte mit der Hand auf die Mitte der Brust) »und mit dem Geringsten meiner Bauern Kartoffeln essen, als daß ich die Schande meines Vaterlandes und meines teuren Volkes, dessen Opfermut ich zu schätzen weiß, durch meine Unterschrift bestätigen sollte …«
Nachdem der Kaiser diese Worte mit erregter Stimme gesprochen hatte, wandte er sich um, wie wenn er Michaud die Tränen verbergen wollte, die ihm in die Augen getreten waren, und ging in die Tiefe seines Zimmers, wo er einige Augenblicke stehenblieb. Dann kehrte er mit großen Schritten zu Michaud zurück und drückte ihm mit einem kräftigen Griff den Arm unterhalb des Ellbogens. Das schöne, sanfte Antlitz des Kaisers rötete sich, und aus seinen Augen leuchteten Entschlossenheit und Zorn.
»Oberst Michaud, vergessen Sie nicht, was ich Ihnen hier sage; vielleicht werden wir uns eines Tages mit Vergnügen daran erinnern … Entweder Napoleon oder ich«, sagte der Kaiser, indem er seine Brust berührte. »Wir können nicht mehr nebeneinander herrschen. Ich habe ihn kennengelernt; er wird mich nicht mehr täuschen.«
Der Kaiser runzelte die Stirn und schwieg. Als Michaud diese Worte hörte und den Ausdruck fester Entschlossenheit in den Augen des Kaisers wahrnahm, da fühlte er, »der trotz seiner fremden Abstammung von ganzem Herzen und von ganzer Seele Russe war«, sich in diesem feierlichen Augenblick enthusiasmiert von allem, was er vernommen hatte (wie er später sagte), und gab sowohl seinen eigenen Empfindungen als auch den Empfindungen des russischen Volkes, als dessen Bevollmächtigten er sich betrachtete, mit folgenden Worten Ausdruck:
»Sire! Euer Majestät ratifizieren in diesem Augenblick den Ruhm der Nation und das Heil Europas.«
Der Kaiser entließ Michaud mit einem Neigen des Kopfes.
IV
Wir, die wir nicht damals gelebt haben, als halb Rußland erobert war und die Bewohner Moskaus nach fernen Gouvernements flüchteten und ein Landwehraufgebot nach dem andern sich zur Verteidigung des Vaterlandes erhob, wir stellen uns unwillkürlich vor, alle Russen, jung und alt, wären zu jener Zeit mit nichts anderem beschäftigt gewesen als damit, sich aufzuopfern, das Vaterland zu retten oder über sein Unglück zu weinen. Die Erzählungen und Schilderungen aus jener Zeit reden alle ohne Ausnahme nur von der Opferwilligkeit, der Vaterlandsliebe, der Verzweiflung, dem Gram und der Heldenhaftigkeit der Russen. In Wirklichkeit aber verhielt sich das anders. Jene Vorstellung haben wir nur deswegen, weil wir von der Vergangenheit nur die allgemeinen welthistorischen Bestrebungen jener Zeit sehen und nicht alle die persönlichen, menschlichen Interessen, welche die Leute hatten. Und doch wird in Wirklichkeit das allgemeine Streben durch die persönlichen Interessen der Gegenwart in solchem Maß an Bedeutung übertroffen, daß es sich durch diese hindurch niemals fühlbar macht und überhaupt nicht zu bemerken ist. Der größte Teil der damals lebenden Menschen wandte dem allgemeinen Gang der Dinge gar keine Aufmerksamkeit zu, sondern ließ sich nur durch die persönlichen Interessen der Gegenwart leiten. Und die Tätigkeit gerade dieser Menschen war in jener Zeit das nützlichste.
Diejenigen dagegen, die den allgemeinen Gang der Dinge zu verstehen suchten und mit Selbstaufopferung und Heldenhaftigkeit dabei mitwirken wollten, waren die nutzlosesten Mitglieder der Gesellschaft; sie sahen alles verkehrt, und alles, was sie taten, um zu nützen, stellte sich als nutzloser Unsinn heraus, wie Pierres und Mamonows Regimenter, die die russischen Dörfer ausplünderten, und die Scharpie, welche die Damen zupften und die nie bis zu den Verwundeten gelangte, usw. Sogar wo Leute in dem Wunsch, ihr Licht leuchten zu lassen und ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen, über die derzeitige Lage Rußlands redeten, trugen ihre Reden entweder den Charakter der Heuchelei und Lüge oder den Charakter nutzloser Krittelei und Bosheit gegen andere, denen sie Dinge zur Last legten, an denen niemand schuld sein konnte. Bei historischen Ereignissen zeigt sich klarer als sonstwo, wie richtig das Verbot ist, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Nur die unbewußte Tätigkeit bringt Früchte, und diejenigen Menschen, die bei einem historischen Ereignis eine Rolle spielen, verstehen niemals dessen Bedeutung. Wenn sie sie zu begreifen versuchen, wird ihre Tätigkeit unfruchtbar.
Die Bedeutung des Ereignisses, das sich damals in Rußland vollzog, kam den Leuten um so weniger zum Bewußtsein, je näher sie daran beteiligt waren. In Petersburg und in den von Moskau weit entfernt liegenden Gouvernements beweinten Männer in Landwehruniform und vornehme Damen Rußland und die Hauptstadt und sprachen von Selbstaufopferung usw.; aber in der Armee, die sich hinter Moskau zurückzog, redete und dachte man fast gar nicht an Moskau, und niemand schwur beim Anblick des Brandes von Moskau den Franzosen Rache; sondern man dachte an die demnächst fällige Rate der Löhnung, an das nächste Quartier, an die Marketenderin Matroschka und ähnliche Dinge.
Ohne daß er die Absicht gehabt hätte sich aufzuopfern, sondern rein zufällig, weil der Krieg gerade ausgebrochen war, während er im Dienst stand, beteiligte sich Nikolai Rostow aus größter Nähe und andauernd an der Verteidigung des Vaterlandes und blickte daher ohne Verzweiflung und ohne finstere Grübeleien auf das hin, was damals in Rußland vorging. Wenn man ihn gefragt hätte, wie er über die derzeitige Lage Rußlands denke, so würde er geantwortet haben, daran zu denken sei nicht seine Sache; dazu seien Kutusow und andere Leute da; er für seine Person habe nur gehört, daß die Regimenter komplettiert werden würden, und daß die Kämpfe wohl noch recht lange dauern würden, und daß es unter den jetzigen Verhältnissen kein Wunder sein werde, wenn er in ein paar Jahren ein Regiment bekäme.
Bei dieser seiner Auffassung der Dinge nahm er die Nachricht, daß er nach Woronesch abkommandiert werden sollte, um Remonten für die Division zu holen, nicht nur ohne Bekümmernis darüber auf, daß er der Beteiligung an dem nächsten Kampf verlustig gehe, sondern sogar mit dem größten Vergnügen, das er nicht verhehlte und für welches seine Kameraden das vollste Verständnis besaßen.
Einige Tage vor der Schlacht bei Borodino erhielt Nikolai die nötigen Gelder und Papiere und fuhr, nachdem er seine Husaren vorausgeschickt hatte, mit der Post nach Woronesch.
Nur wer so etwas persönlich durchgemacht hat, d.h. mehrere Monate ohne Unterbrechung in der Atmosphäre des militärischen, kriegerischen Lebens verbracht hat, nur der kann das Wonnegefühl begreifen, das Nikolai durchströmte, als er allmählich aus dem Umkreis hinausgelangte, bis zu welchem die Truppen mit ihren Furagerequisitionen, ihren Proviantfuhren und ihren Lazaretten reichten. Als er in Gegenden kam, wo es keine Soldaten, keine Trainwagen, keine schmutzigen Spuren von Feldlagern gab, und die Dörfer mit den Bauern und Bauernfrauen sah und die Gutshäuser und die Felder mit weidendem Vieh und die Stationshäuser mit den verschlafenen Posthaltern, da empfand er eine solche Freude, wie wenn er dies alles zum erstenmal sähe. Worüber er sich aber besonders lange wunderte und freute, das waren die Frauen, junge, gesunde Frauen, die nicht eine jede ein Dutzend courschneidender Offiziere um sich hatten, sondern sich freuten und sich geschmeichelt fühlten, wenn der durchreisende Offizier mit ihnen scherzte.
In heiterster Gemütsstimmung langte Nikolai bei Nacht in einem Gasthof in Woronesch an und bestellte sich allerlei, was er bei der Armee lange hatte entbehren müssen. Am andern Tag rasierte er sich hübsch sauber, zog die Paradeuniform an, die er seit geraumer Zeit nicht getragen hatte, und fuhr zu den Behörden, um sich zu melden.
Der Landwehrkommandeur war ein Zivilbeamter mit Generalsrang, ein alter Herr, der offenbar an seiner jetzigen militärischen Stellung und Tätigkeit sein Vergnügen hatte. Er empfing Nikolai ärgerlich, da er der Ansicht war, hierin bestehe das militärische Wesen, und richtete mit großer Wichtigtuerei eine Menge Fragen an ihn, als ob er ein Recht dazu besäße und als stände es ihm zu, billigend und tadelnd den gesamten Gang der Kriegführung zu kritisieren. Aber Nikolai war so heiter und vergnügt, daß er sich darüber nur amüsierte.
Vom Landwehrkommandeur fuhr er zum Gouverneur. Der Gouverneur war ein kleiner, lebhafter Mann, sehr freundlich und von schlichtem, einfachem Wesen. Er bezeichnete Nikolai die Gestüte, in denen er Pferde bekommen konnte, empfahl ihm einen Pferdehändler in der Stadt sowie einen Gutsbesitzer zwanzig Werst von der Stadt entfernt, bei denen gute Pferde zu finden seien, und erklärte sich zu jeder Hilfe bereit.
»Sind Sie ein Sohn des Grafen Ilja Andrejewitsch? Meine Frau war mit Ihrer Frau Mutter sehr befreundet. Donnerstags pflegen wir Gäste bei uns zu sehen; heute ist gerade Donnerstag; bitte, besuchen Sie uns doch ganz ohne Umstände«, sagte der Gouverneur, als Nikolai sich empfahl.
Sofort nachdem er vom Gouverneur zurück war, nahm Nikolai sich einen Postwagen, setzte sich mit seinem Wachtmeister hinein und fuhr zwanzig Werst weit nach dem Gestüt zu dem Gutsbesitzer. In dieser ersten Zeit seines Aufenthaltes in Woronesch erschien ihm alles leicht ausführbar und vergnüglich, und es ging auch, wie das so zu sein pflegt, wenn man selbst guter Laune ist, alles gut und glücklich vonstatten.
Der Gutsbesitzer, zu welchem Nikolai fuhr, war ein alter Junggeselle, früherer Kavallerist, Pferdekenner, Jäger, Besitzer wundervoller Pferde, einer Teppichfabrik und eines hübschen Vorrates von hundertjährigem Gewürzbranntwein und altem Ungarwein.
Nach ganz kurzer Verhandlung kaufte Nikolai für sechstausend Rubel siebzehn auserlesene Hengste, als Renommierstücke seiner Remonte, wie er sich ausdrückte. Nachdem er dort zu Mittag gespeist und ein bißchen viel von dem Ungarwein getrunken hatte, küßte er sich herzlich mit dem Gutsbesitzer, mit dem er schon auf du und du stand, und fuhr auf dem schauderhaften Weg in vergnügtester Stimmung zurück, wobei er den Postknecht fortwährend zu schnellem Fahren antrieb, um zu der Abendgesellschaft beim Gouverneur noch zur rechten Zeit zu kommen.
Nachdem er sich kaltes Wasser über den Kopf gegossen, sich umgekleidet und sich parfümiert hatte, erschien er beim Gouverneur zwar etwas spät, aber mit der üblichen Redensart: »Besser spät als gar nicht.«
Es war kein Ball, und es war auch nicht vorher angekündigt, daß getanzt werden würde; aber alle wußten, daß Katerina Petrowna auf dem Klavier Ekossaisen und Walzer spielen und man danach tanzen werde, und alle waren, da sie darauf gerechnet hatten, in Balltoilette erschienen.
Das Leben in dieser Provinzstadt war im Jahre 1812 genau das gleiche wie sonst immer, nur mit dem Unterschied, daß es infolge der Anwesenheit vieler reicher Familien aus Moskau reger und munterer war und daß, wie in allem, was damals in Rußland vorging, sich auch hierin eine eigene Art von flottem Schwung bemerkbar machte, eine Neigung, alles auf die leichte Schulter zu nehmen, und dann noch mit dem Unterschied, daß die alltäglichen Gespräche, die zu führen den Menschen ein Bedürfnis ist und die sich früher um das Wetter und um gemeinsame Bekannte gedreht hatten, jetzt von Moskau, dem Heer und Napoleon handelten.
Die Gesellschaft, die sich bei dem Gouverneur zusammengefunden hatte, war die feinste von Woronesch.
Es waren viele Damen da, auch einige, die Nikolai von Moskau her kannte; an Männern war aber niemand anwesend, der mit dem Ritter des Georgskreuzes, mit dem Remonte-Husarenoffizier und zugleich mit jenem gutherzigen, wohlerzogenen Grafen Rostow irgendwie hätte konkurrieren können. Unter den Männern befand sich ein gefangener italienischer Offizier der französischen Armee; und Nikolai hatte die Empfindung, daß die Anwesenheit dieses Gefangenen seine eigene Bedeutung als russischer Held noch mehr erhöhte. Dieser Italiener war gewissermaßen eine Siegestrophäe. Und Nikolai hatte nicht nur selbst diese Empfindung, sondern es schien ihm auch, daß alle andern den Italiener mit gleichen Gedanken ansahen. Nikolai benahm sich gegen diesen Offizier freundlich, jedoch mit Würde und Zurückhaltung.
Sobald Nikolai in seiner Husarenuniform eingetreten war, einen Geruch nach Parfüm und Wein verbreitet und die Redensart »Besser spät als gar nicht« mehrmals selbst gebraucht und mehrmals von andern gehört hatte, umringte man ihn von allen Seiten, alle Blicke richteten sich auf ihn, und er hatte gleich von vornherein das Gefühl, daß er die Stellung des allgemeinen Lieblings einnahm, eine Stellung, die ihm ja in einer Provinzstadt gebührte und die ihm stets erwünscht war, jetzt aber nach der langen Entbehrung geradezu einen berauschenden Genuß gewährte. Nicht nur auf den Stationen, in den Herbergen und in der Teppichfabrik des Gutsbesitzers hatte es weibliche Wesen in dienender Stellung gegeben, die sich durch seine Aufmerksamkeiten geschmeichelt fühlten, sondern auch hier auf der Abendgesellschaft des Gouverneurs war, wie es Nikolai vorkam, eine große, große Menge jugendlicher Frauen und hübscher Mädchen anwesend, die mit Ungeduld nur darauf warteten, daß Nikolai ihnen seine Beachtung zuwende. Die Frauen und Mädchen kokettierten mit ihm, und die alten Herrschaften beschäftigten sich gleich von diesem ersten Tag an mit Überlegungen, wie sie diesen flotten Schlingel von Husar mit einer Frau versorgen und zu einem gesetzten Mann machen könnten. Zu diesen letzteren gehörte die Frau des Gouverneurs selbst, welche den jungen Rostow wie einen nahen Verwandten empfing und ihn mit »Nikolai« und »du« anredete.
Katerina Petrowna begann wirklich Ekossaisen und Walzer zu spielen, und man fing an zu tanzen. Hierbei versetzte Nikolai die gesamte Gesellschaft dieser Provinzler durch seine Gewandtheit in noch größeres Entzücken. Er erregte sogar das Erstaunen aller durch seine eigenartig lässige Manier zu tanzen. Nikolai war selbst einigermaßen verwundert über die Art, in der er an diesem Abend tanzte. In Moskau hatte er nie so getanzt und würde eine so übermäßig lässige Manier zu tanzen sogar für unpassend und unfein gehalten haben; hier aber fühlte er das Bedürfnis, alle Anwesenden durch etwas Ungewöhnliches in Erstaunen zu versetzen, was sie für den üblichen Brauch der Residenzen halten sollten, der ihnen in der Provinz noch unbekannt geblieben sei.
Den ganzen Abend über wandte Nikolai seine Aufmerksamkeit am meisten einer blauäugigen, üppigen, anmutigen Blondine zu, der Frau eines Beamten der Gouvernementsverwaltung. Mit jener naiven Überzeugung lebenslustiger junger Männer, daß fremde Frauen für sie geschaffen seien, wich Rostow nicht von der Seite dieser Dame und benahm sich, wie infolge einer Art von Verschwörung mit ihr, freundschaftlich gegen ihren Mann, als wüßten sie, ohne miteinander darüber gesprochen zu haben, ganz genau, wie vorzüglich sie zueinander paßten, d.h. er, Nikolai, und die Frau dieses Mannes. Der Mann dagegen schien diese Überzeugung nicht zu teilen und suchte gegen Rostow einen verdrossenen Ton anzuschlagen. Aber Nikolais gutherzige Naivität war so grenzenlos, daß der Mann manchmal unwillkürlich in Nikolais Heiterkeit einstimmte. Gegen das Ende der Gesellschaft jedoch wurde, je mehr sich das Gesicht der Frau rötete und belebte, das Gesicht ihres Mannes um so trüber und ernster; es sah aus, als hätten sie beide zusammen nur ein bestimmtes Quantum von Lebhaftigkeit und als nähme diese in demselben Maße bei dem Mann ab, in welchem sie bei der Frau wüchse.
V
Nikolai saß mit einem vergnügten Lächeln, das nicht von seinem Gesicht wich, etwas zusammengekrümmt auf seinem Sessel, beugte sich nahe zu der schönen Blondine hin und machte ihr Komplimente, die er aus der Mythologie entnahm.
Während er in forscher Manier die Lage seiner in eng anliegenden Reithosen steckenden Beine wechselte, einen Parfümduft verbreitete und wohlgefällig seine Dame und seine eigene Gestalt und namentlich die schönen Formen seiner Füße in den knappen Stiefeln betrachtete, sagte er zu der Blondine, er beabsichtige hier in Woronesch eine junge Frau zu entführen.
»Darf man fragen, wen?«
»Ein reizendes, göttliches Wesen. Die Augen« (Nikolai sah die Dame an, mit der er sprach) »himmelblau, ein Mündchen wie Korallen, ein schneeweißer Teint« (er blickte nach ihren Schultern), »die Gestalt einer Diana …«
Der Gatte trat zu ihnen und fragte verstimmt seine Frau, worüber sie sprächen.
»Ah! Nikita Iwanowitsch!« sagte Nikolai und stand höflich auf.
Und wie wenn er wünschte, daß auch Nikita Iwanowitsch an seinen Späßen teilnehmen möchte, machte er auch ihm von seiner Absicht, eine Blondine zu entführen, Mitteilung.
Der Gatte lächelte grimmig, die Gattin vergnügt. Die gute Frau Gouverneur näherte sich ihnen mit mißbilligender Miene.
»Anna Ignatjewna möchte mit dir sprechen, Nikolai«, sagte sie und sprach dabei die Worte »Anna Ignatjewna« mit einem solchen Ton, daß Rostow sofort merkte, Anna Ignatjewna müsse eine sehr angesehene Dame sein. »Komm, Nikolai. Du gestattest doch, daß ich dich so nenne?«
»Aber natürlich, liebe Tante. Wer ist denn das?«
»Anna Ignatjewna Malwinzewa. Sie hat von ihrer Nichte gehört, daß du sie gerettet hast … Rätst du es nun?«
»Ach, wie viele habe ich nicht schon da im Krieg gerettet!« erwiderte Nikolai.
»Ihre Nichte ist die Prinzessin Bolkonskaja. Sie hält sich hier in Woronesch bei ihrer Tante auf. Oho, wie rot du geworden bist! Solltest du etwa …?«
»Bewahre! Fällt mir nicht ein, liebe Tante.«
»Nun, schön, schön … Oh, du bist der Richtige!«
Die Frau Gouverneur führte ihn zu einer großen, sehr korpulenten alten Dame mit einer blauen Toque, die soeben ihre Kartenpartie mit den höchstgestellten Persönlichkeiten der Stadt beendet hatte. Dies war Frau Malwinzewa, die Tante der Prinzessin Marja mütterlicherseits, eine reiche, kinderlose Witwe, die in Woronesch ihren ständigen Wohnsitz hatte. Sie stand und berechnete das Ergebnis des Spieles, als Rostow zu ihr trat. Mit ernster, würdevoller Miene kniff sie die Augen zusammen und sah ihn an, fuhr aber fort, den General auszuschelten, der ihr ihr Geld abgewonnen hatte.
»Ich freue mich sehr, mein Lieber«, sagte sie dann und streckte ihm die Hand hin. »Bitte, besuchen Sie mich in meinem Haus.«
Sie sprach noch einige Worte über Prinzessin Marja und deren verstorbenen Vater, den Frau Malwinzewa offenbar nicht hatte leiden können, erkundigte sich, was Nikolai von dem Fürsten Andrei wisse, der sich augenscheinlich gleichfalls nicht ihrer Gunst erfreute, und darauf entließ ihn die würdige Dame, indem sie ihn noch einmal zu einem Besuch einlud.
Nikolai sagte zu und errötete wieder, als er ihr seine Schlußverbeugung machte. Bei der Erwähnung der Prinzessin Marja hatte Rostow ein ihm selbst unverständliches Gefühl der Verlegenheit, ja der Angst empfunden.
Als er von Frau Malwinzewa zurückgetreten war, wollte er wieder zum Tanz zurückkehren; aber die kleine Frau Gouverneur legte ihr rundliches Händchen auf seinen Ärmel, sagte, sie müsse ein paar Worte mit ihm sprechen, und führte ihn in das Sofazimmer, das die darin Anwesenden sofort verließen, um die Frau Gouverneur nicht zu stören.
»Weißt du, mein Lieber«, sagte die Frau Gouverneur mit einem ernsten Ausdruck in ihrem kleinen, gutmütigen Gesicht, »das wäre eine passende Partie für dich. Ist es dir recht, daß ich für dich werbe?«
»Wen meinen Sie denn, liebe Tante?« fragte Nikolai.
»Die Prinzessin Marja meine ich. Katerina Petrowna sagt allerdings, du solltest Lilli nehmen; aber das ist meines Erachtens nicht das Richtige. Die Prinzessin. Ist es dir recht? Ich bin überzeugt, deine Mama wird es mir Dank wissen. Wahrhaftig, was ist das für ein entzückendes Mädchen! Und sie ist gar nicht so häßlich.«
»Durchaus nicht«, erwiderte Nikolai, wie wenn er sich beleidigt fühlte. »Ich, liebe Tante, mache es, wie es sich für einen Soldaten schickt: lange bitten tue ich um nichts, und was ich kriegen kann, nehme ich«, sagte er, ehe er noch recht überlegt hatte, was er sprach.
»Also verstehe wohl: es ist kein Scherz.«
»Gewiß nicht, gewiß nicht.«
»Ja, ja«, sagte die Frau Gouverneur vor sich hin. »Und noch eins, mein Lieber, unter uns. Du bist zu sehr um die andere herum, die Blonde. Ihr Mann ist schon ganz verdrießlich, kannst du glauben …«
»Aber nein doch, ich bin ja mit ihm gut Freund«, erwiderte Nikolai in der Einfalt seines Herzens. Er konnte sich gar nicht denken, daß etwas, was für ihn selbst ein so vergnüglicher Zeitvertreib war, einem andern mißfallen könnte.
Beim Abendessen jedoch fiel ihm plötzlich ein: »Was habe ich aber da zu der Frau Gouverneur für eine Dummheit gesagt! Sie wird wirklich die Werbung ins Werk setzen, und Sonja …?« Und als er sich am Schluß bei der Frau Gouverneur empfahl und diese lächelnd noch einmal zu ihm sagte: »Also, vergiß es nicht!«, da führte er sie beiseite.
»Hören Sie … um Ihnen die Wahrheit zu sagen, liebe Tante …«
»Was gibt es denn, was gibt es denn, lieber Freund? Komm, wir wollen uns da hinsetzen.«
Nikolai empfand plötzlich den Wunsch und das Bedürfnis, alle seine intimsten Gedanken, Gedanken, die er weder seiner Mutter, noch seiner Schwester, noch einem Freund mitgeteilt haben würde, dieser ihm fast fremden Frau auszusprechen. Wenn Nikolai sich in späterer Zeit an diesen Anfall unmotivierter, unerklärlicher Offenherzigkeit erinnerte, so kam es ihm vor (wie einem das immer so vorkommt), als hätte ihn da nur so eine dumme Laune angewandelt, und doch hatte dieser Anfall von Offenherzigkeit, im Verein mit anderen, kleinen Ereignissen, für ihn und für seine ganze Familie die bedeutsamsten Folgen.
»Sehen Sie, liebe Tante, Mama hatte schon lange den Wunsch, ich möchte ein reiches Mädchen heiraten; aber mir widersteht schon dieser bloße Gedanke: eine Geldheirat.«
»Jawohl, das kann ich verstehen«, sagte die Frau Gouverneur.
»Aber freilich, die Prinzessin Bolkonskaja, das ist eine andere Sache. Erstens (ich will Ihnen die Wahrheit sagen) gefällt sie mir sehr; sie ist so recht nach meinem Herzen; und dann, nachdem ich ihr in solcher Lage, in so sonderbarer Weise begegnet war, da kam mir oft der Gedanke: das ist höhere Fügung. Bedenken Sie nur: Mama hatte schon längst gerade hieran gedacht; aber es hatte sich früher nie so getroffen, daß ich mit ihr zusammengekommen wäre; wie das ja oft so geht: wir trafen uns eben nicht. Und solange meine Schwester Natascha mit ihrem Bruder verlobt war, da konnte ich ja natürlich nicht daran denken, sie zu heiraten. Und nun mußte ich ihr gerade zu der Zeit begegnen, wo Nataschas Verlobung gelöst war; ja, und seitdem habe ich immer … Ja, also das ist es. Ich habe mit niemand davon gesprochen und werde es auch nie tun; Sie sind der einzige Mensch, dem ich es sage.«
Die Frau Gouverneur drückte ihm dankbar den Arm.
»Aber kennen Sie meine Kusine Sonja? Ich liebe sie; ich habe ihr versprochen, sie zu heiraten, und werde sie heiraten … Also sehen Sie, daß von jener andern Sache nicht die Rede sein kann«, sagte Nikolai stockend und errötend.
»Mein Lieber, mein Lieber, was sind das für Gedanken! Sonja hat ja doch nichts, und du hast selbst gesagt, daß die Vermögensverhältnisse deines Vaters in üblem Zustand sind. Und deine Mama? Das würde ihr Tod sein. Das ist das eine; und zweitens Sonja selbst: wenn sie wirklich ein Mädchen ist, das ein gutes Herz hat, was würde denn das für sie für ein Leben sein? Die Mutter in Verzweiflung, die materielle Lage hoffnungslos … Nein, mein Lieber, das müßt ihr beide einsehen, du und Sonja.«
Nikolai schwieg. Er hörte diese Gründe nicht ungern.
»Aber trotz alledem kann nichts daraus werden, liebe Tante«, sagte er nach kurzem Stillschweigen mit einem Seufzer. »Und ob auch die Prinzessin mich nehmen wird? Sie hat ja jetzt auch Trauer. Da ist wohl nicht daran zu denken!«
»Aber meinst du denn, daß ich deine Heirat für die allernächste Zeit in Aussicht genommen habe? Es muß alles seine Art haben«, sagte die Frau Gouverneur.
»Was sind Sie für eine eifrige Ehestifterin, liebe Tante«, sagte Nikolai und küßte ihr das rundliche Händchen.
VI
Als Prinzessin Marja nach ihrer Begegnung mit Rostow nach Moskau gekommen war, hatte sie dort ihren Neffen mit seinem Erzieher und einen Brief vom Fürsten Andrei vorgefunden, der ihnen empfahl, nach Woronesch zur Tante Malwinzewa zu ziehen. Die Sorgen wegen des Umzuges, die Unruhe über den Bruder, die Gestaltung ihres Lebens in dem neuen Wohnsitz, die neuen Gesichter, die sie um sich sah, die Erziehung ihres Neffen, alles dies übertäubte in der Seele der Prinzessin Marja jenes ihr als Versuchung erscheinende Gefühl, von dem sie während der Krankheit ihres Vaters und nach dessen Tod und ganz besonders nach der Begegnung mit Rostow gepeinigt worden war. Sie war traurig: der Schmerz, den der Verlust ihres Vaters in ihrer Seele hervorgerufen hatte und zu dem sich noch der Kummer über das Unglück Rußlands gesellte, machte sich jetzt, wo sie seitdem einen Monat in ruhigen Lebensverhältnissen verbracht hatte, immer stärker bei ihr fühlbar. Sie war in Angst: der Gedanke an die Gefahren, denen ihr Bruder ausgesetzt war, der einzige ihr nahestehende Mensch, der ihr noch geblieben war, quälte sie beständig. Sie sorgte und mühte sich mit der Erziehung ihres Neffen, für die es ihr nach ihrer sich stets erneuernden Überzeugung an der nötigen Befähigung mangelte. Aber im tiefsten Grunde ihres Herzens hatte sie doch ein Gefühl des Friedens mit sich selbst, ein Gefühl, das aus dem Bewußtsein entsprang, daß sie jene persönlichen, mit Rostows Erscheinen verknüpften Träumereien und Hoffnungen erstickt hatte, die sich in ihrem Innern hatten erheben wollen.
Am Tage nach ihrer Abendgesellschaft machte die Frau Gouverneur bei Frau Malwinzewa einen Besuch und besprach ihre Pläne mit der Tante, indem sie hinzufügte, an eine formelle Verlobung sei ja zwar unter den jetzigen Verhältnissen nicht zu denken; immerhin könne man jedoch die jungen Leute zusammenführen und ihnen Gelegenheit geben, einander näher kennenzulernen. Und als sie die Zustimmung der Tante erlangt hatte, brachte sie in Gegenwart der Prinzessin Marja das Gespräch auf Rostow, lobte ihn und erzählte, wie er bei Erwähnung der Prinzessin ganz rot geworden sei. Prinzessin Marja hatte hierbei nicht sowohl eine freudige als vielmehr eine schmerzliche Empfindung: mit ihrem inneren Frieden war es aus, und wieder regten sich Wünsche, Zweifel, Selbstvorwürfe und Hoffnungen.
In den zwei Tagen, die von dieser Mitteilung bis zu Rostows Besuch vergingen, dachte Prinzessin Marja unaufhörlich darüber nach, wie sie sich Rostow gegenüber verhalten solle. Bald entschied sie sich dafür, wenn er der Tante seinen Besuch machen würde, nicht in den Salon zu gehen, weil es bei ihrer tiefen Trauer für sie nicht passend sei, Besuch zu empfangen; bald wieder dachte sie, dies könnte doch nach allem, was er für sie getan hatte, unartig erscheinen. Dann kam ihr der Gedanke, ihre Tante und die Frau Gouverneur hätten wohl gewisse Absichten in bezug auf sie und Rostow, wie ihr denn die Blicke und Worte der beiden Damen mitunter diese Vermutung zu bestätigen schienen; und dann wieder meinte sie, daß nur sie in ihrer Schlechtigkeit so etwas von den beiden denken könne: sie müßten sich ja notwendig sagen, daß in ihrer Lage, wo sie die Trauerpleureusen noch nicht abgelegt habe, eine solche Werbung sowohl für sie als auch für das Andenken ihres Vaters beleidigend sei. Indem sie den Fall setzte, daß sie zu ihm in den Salon gehen werde, überlegte sie die Worte, die er ihr und sie ihm sagen werde; und bald erschienen ihr diese Worte zu kalt im Hinblick auf ihr beiderseitiges Verhältnis, bald gar zu vielsagend. Eines aber fürchtete sie bei dem Wiedersehen am allermeisten: nämlich daß sie, sobald sie ihn erblicken würde, verlegen werden und dadurch ihre Gefühle verraten werde.
Aber als am Sonntag nach der Messe der Diener im Salon meldete, Graf Rostow sei gekommen, war der Prinzessin keine Verlegenheit anzumerken; nur eine leichte Röte trat auf ihre Wangen, und ihre Augen leuchteten in einem neuen, hellen Glanz.
»Sie haben ihn schon gesehen, liebe Tante?« fragte Prinzessin Marja in ruhigem Ton und wußte selbst nicht, wie sie es fertigbrachte, äußerlich so ruhig und ungezwungen zu sein.
Als Rostow ins Zimmer trat, senkte die Prinzessin für einen Augenblick den Kopf, als wollte sie dem Gast Zeit lassen, die Tante zu begrüßen; dann hob sie gerade in dem Augenblick, als Rostow sich zu ihr wandte, den Kopf wieder in die Höhe und begegnete mit leuchtenden Augen seinem Blick. Mit einer ebenso würdevollen wie anmutigen Bewegung erhob sie sich freudig lächelnd ein wenig von ihrem Platz, streckte ihm ihre schmale, zarte Hand entgegen und sagte einige Worte mit einer Stimme, in der zum erstenmal neue, frauenhafte, aus dem Innern kommende Töne erklangen. Mademoiselle Bourienne, die im Salon anwesend war, sah die Prinzessin Marja mit verständnislosem Staunen an. Obwohl sie die geschickteste Kokette war, hätte selbst sie bei der Begegnung mit einem Mann, dem sie hätte gefallen wollen, nichts besser machen können.
»Entweder steht Schwarz ihr besonders gut, oder sie ist wirklich, ohne daß ich es bemerkt habe, soviel hübscher geworden. Und was die Hauptsache ist: dieser Takt und diese Anmut«, dachte Mademoiselle Bourienne.
Wäre Prinzessin Marja in diesem Augenblick imstande gewesen zu denken, so hätte sie sich noch mehr als Mademoiselle Bourienne über die Veränderung gewundert, die mit ihr vorgegangen war.
In dem Augenblick, wo sie dieses angenehme, geliebte Gesicht wieder erblickt hatte, war eine Art von neuer Lebenskraft in ihr erwachsen und trieb sie, ohne daß ihr eigener Wille dabei in Frage gekommen wäre, zu reden und zu handeln. Ihr Gesicht war von dem Moment an, wo Rostow eingetreten war, auf einmal wie verwandelt. Wie an den gravierten, buntbemalten Seitenflächen einer Laterne die komplizierte, feine, kunstvolle Arbeit, die vorher grob, dunkel und sinnlos erschien, plötzlich in ungeahnter, überraschender Schönheit sichtbar wird, sobald man innen das Licht anzündet: so verwandelte sich auf einmal das Gesicht der Prinzessin Marja. Zum erstenmal machte sich all jene rein geistige, innerliche Arbeit, mit der sie bisher ihr Leben ausgefüllt hatte, nach außen hin bemerkbar. All ihre innerliche, sich selbst nie genügende Arbeit, ihre Leiden, ihr Streben nach dem Guten, ihre Demut, ihre Liebe, ihre Selbstaufopferung, alles dies leuchtete jetzt in diesen glänzenden Augen, in diesem leisen Lächeln, in jedem Zug ihres zarten Gesichtes.
Rostow sah alles dies mit solcher Klarheit und Deutlichkeit, als ob er ihr ganzes Leben kannte. Er fühlte, daß das Wesen, das er da vor sich sah, ein ganz andersartiges, besseres war als alle die, denen er bisher begegnet war, und vor allen Dingen besser als er selbst.
Das Gespräch hatte den einfachsten, unbedeutendsten Inhalt. Sie redeten vom Krieg, wobei sie unwillkürlich, wie alle Leute, ihren Kummer über dieses Ereignis übertrieben; sie redeten von ihrer letzten Begegnung (jedoch suchte Nikolai hier das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu bringen); sie redeten von der guten Frau Gouverneur, von Nikolais Angehörigen und von den Angehörigen der Prinzessin Marja.
Prinzessin Marja sprach nicht von ihrem Bruder und lenkte das Gespräch auf eine andere Bahn, sooft die Tante von Andrei zu reden begann. Über das Unglück Rußlands konnte sie offenbar in gekünstelten Wendungen reden; aber ihr Bruder stand ihrem Herzen zu nahe, als daß sie in einem oberflächlichen Gespräch von ihm hätte reden mögen oder reden können. Nikolai bemerkte dies, wie er denn überhaupt mit einer ihm sonst nicht innewohnenden scharfsinnigen Beobachtungsgabe all die feinen Charakterzüge der Prinzessin Marja bemerkte; und durch die Wahrnehmung dieser Charakterzüge wurde er in seiner Überzeugung, daß sie ein ganz besonderes, außerordentliches Wesen sei, nur noch mehr bestärkt. Es ging ihm ganz ebenso wie der Prinzessin Marja: wenn jemand zu ihm von Prinzessin Marja sprach, und sogar wenn er nur an sie dachte, wurde er rot und verlegen; aber in ihrer Gegenwart fühlte er sich vollkommen frei und redete dann ganz und gar nicht das, was er sich vorher zurechtgelegt hatte, sondern das, was ihm im Augenblick, und immer durchaus passend, in den Sinn kam.
Bei diesem kurzen Besuch nahm Nikolai, wie man das so zu machen pflegt, wo Kinder sind, in einem Augenblick des Stillschweigens seine Zuflucht zu dem kleinen Sohn des Fürsten Andrei; er liebkoste ihn und fragte ihn, ob er Husar werden wolle. Er nahm den Knaben auf den Arm, schwenkte ihn lustig umher und blickte dabei Prinzessin Marja an. Diese verfolgte mit gerührtem, glücklichem, ängstlichem Blick ihren geliebten Knaben in den Händen des geliebten Mannes. Auch diesen Blick bemerkte Nikolai, und wie wenn er dessen Bedeutung verstände, errötete er vor Vergnügen und küßte den Kleinen gutherzig und fröhlich.
Prinzessin Marja machte wegen ihrer Trauer keine Besuche, Nikolai aber hielt es nicht für passend, bei ihr und ihrer Tante häufiger zu erscheinen; aber die Frau Gouverneur setzte ihre Tätigkeit als Vermittlerin dennoch fort: sie machte Nikolai Mitteilung, wenn Prinzessin Marja etwas Schmeichelhaftes über ihn gesagt hatte, und umgekehrt, und drängte schließlich darauf, Nikolai möchte sich der Prinzessin erklären. Zum Zweck dieser Erklärung veranstaltete sie ein Zusammentreffen der beiden jungen Leute beim Bischof vor der Messe.
Rostow sagte der Frau Gouverneur zwar, er werde der Prinzessin Marja keine Erklärung machen, versprach aber doch hinzukommen.
Wie Rostow in Tilsit sich nicht erlaubt hatte, daran zu zweifeln, daß das, was von allen als gut betrachtet wurde, auch wirklich gut war, so machte er es auch jetzt: nach einem kurzen, aber ernstgemeinten Kampf mit sich selbst, ob er sein Leben nach seinem eigenen Urteil einrichten oder sich den Verhältnissen fügsam unterwerfen solle, wählte er das letztere und überließ sich jener Macht, von der er sich unwiderstehlich fortgezogen fühlte, ohne zu wissen wohin. Er wußte: wenn er der Prinzessin Marja seine Gefühle entdeckte, trotzdem er Sonja ein Versprechen gegeben hatte, so war das eine Handlungsweise, wie er sie als Gemeinheit zu bezeichnen pflegte; und er wußte, daß er eine Gemeinheit nie begehen werde. Aber er wußte auch (oder wenn er es nicht wußte, so fühlte er es wenigstens in tiefster Seele), daß, wenn er sich jetzt der Macht der Verhältnisse und der Menschen, die ihn leiteten, überließ, er damit nichts Schlechtes tat, wohl aber etwas höchst Bedeutungsvolles, etwas so Bedeutungsvolles, wie er es noch nie in seinem Leben getan hatte.
Nach seiner Wiederbegegnung mit Prinzessin Marja war zwar seine äußere Lebensweise dieselbe geblieben, aber alles, was ihm früher Vergnügen gemacht hatte, hatte nun für ihn seinen Reiz verloren, und er dachte häufig an Prinzessin Marja; aber nie dachte er an sie in derselben Weise, wie er an alle anderen jungen Damen, mit denen er im gesellschaftlichen Verkehr bekannt geworden war, ohne Ausnahme gedacht hatte, auch nicht in der Weise, wie er es lange Zeit, und in einer gewissen Periode mit schwärmerischem Entzücken, in bezug auf Sonja getan hatte. Eine jede dieser jungen Damen hatte er, wenn er an sie dachte, sich als seine künftige Frau vorgestellt, wie das ja fast jeder ehrenhafte junge Mann tut, und hatte ihr in seinen Gedanken gleichsam alle Stücke des Ehelebens anprobiert: das weiße Morgenkleid, die Frau beim Samowar, den Wagen der gnädigen Frau, die Kinderchen, Mama und Papa, das Verhältnis der Kinder zu ihr, usw., usw., und dieses Ausmalen der Zukunft hatte ihm Vergnügen gemacht; aber wenn er an Prinzessin Marja dachte, die man zu seiner Frau machen wollte, so konnte er sich in keiner Hinsicht eine Vorstellung von seinem künftigen Eheleben machen. Und mochte er es noch so sehr versuchen, so kam doch stets ein unharmonisches, unnatürliches Bild heraus. Es wurde ihm dabei nur beklommen ums Herz.
VII
Die schreckliche Kunde von der Schlacht bei Borodino, von unseren Verlusten an Toten und Verwundeten, und die noch schrecklichere Kunde von dem Verlust Moskaus gelangten nach Woronesch Mitte September. Prinzessin Marja, die von der Verwundung ihres Bruders nur aus den Zeitungen wußte und keine bestimmten Nachrichten über ihn hatte, beabsichtigte, wie Nikolai hörte (selbst hatte er sie nicht gesehen), wegzureisen und den Fürsten Andrei zu suchen.
Bei der Nachricht von der Schlacht bei Borodino und der Preisgabe Moskaus wurde Rostow nicht etwa von Verzweiflung, Ingrimm, Rachlust und ähnlichen Gefühlen ergriffen, wohl aber wurde ihm auf einmal alles in Woronesch langweilig und widerwärtig, und er fühlte sich bedrückt und unbehaglich. Alle Gespräche, die er zu hören bekam, schienen ihm verstellt; er wußte nicht, welche Anschauung er über alles Vorgegangene haben solle, und fühlte, daß erst beim Regiment ihm alles wieder klar werden würde. Er beschleunigte den Abschluß der Pferdekäufe und geriet seinem Burschen und dem Wachtmeister gegenüber oft in Zorn, ohne daß diese ihm dazu Veranlassung gegeben hätten.
Einige Tage vor Rostows Abreise sollte im Dom ein Dankgottesdienst anläßlich des von den russischen Truppen errungenen Sieges abgehalten werden, und auch Nikolai nahm an dieser Feierlichkeit teil. Er stand nicht weit hinter dem Gouverneur und beobachtete während des Gottesdienstes eine gemessene, dienstliche Haltung, dachte aber an die verschiedenartigsten Dinge. Als die kirchliche Handlung beendet war, rief die Frau Gouverneur ihn zu sich heran.
»Hast du die Prinzessin gesehen?« sagte sie und wies mit dem Kopf auf eine Dame in Schwarz, die an der Chorestrade stand.
Nikolai erkannte Prinzessin Marja sofort, nicht sowohl an ihrem Profil, von dem unter dem Hut ein Teil sichtbar war, als an dem Gefühl von zarter Rücksicht, banger Teilnahme und herzlichem Mitleid, das ihn sogleich überkam. Prinzessin Marja, augenscheinlich ganz in ihre Gedanken versunken, war gerade dabei, vor dem Verlassen der Kirche die letzten Bekreuzungen auszuführen.
Erstaunt betrachtete Nikolai ihr Gesicht. Es war dasselbe Gesicht, das er früher gesehen hatte, und es zeigte denselben allgemeinen Ausdruck feinsinniger, innerlicher, geistiger Arbeit; aber jetzt lag darauf eine ganz andere Beleuchtung. Ein rührender Ausdruck von Trauer, Andacht und Hoffnung war über dieses Gesicht gebreitet. Wie Nikolai es auch sonst in ihrer Gegenwart zu machen pflegte, folgte er seiner Eingebung: ohne abzuwarten, ob die Frau Gouverneur ihm raten würde, zu ihr hinzugehen, und ohne sich selbst zu fragen, ob es gut und passend sei, wenn er sie hier in der Kirche anrede, trat er an sie heran und sagte, er habe von ihrem Kummer gehört und nehme von ganzer Seele an ihm teil. Kaum hatte sie seine Stimme vernommen, als plötzlich eine helle Röte ihr Gesicht überzog, auf dem sich nun gleichzeitig Trauer und Freude malte.
»Ich wollte Ihnen nur eines sagen, Prinzessin«, sagte Rostow, »nämlich daß, wenn Fürst Andrei nicht mehr am Leben wäre, dies sicher sofort in den Zeitungen gestanden hätte, da er ja Regimentskommandeur ist.«
Die Prinzessin sah ihn an, ohne seine Worte zu verstehen, aber erfreut über den Ausdruck mitleidsvoller Teilnahme, der auf seinem Gesicht lag.
»Und ich kenne so viele Beispiele davon, daß eine von einem Granatsplitter herrührende Wunde« (diese Art der Verwundung war in den Zeitungen angegeben worden) »entweder sofort tödlich oder im Gegenteil sehr leicht ist«, sagte Nikolai. »Man muß hoffen, daß der günstige Fall vorliegt, und ich bin überzeugt …«
Prinzessin Marja unterbrach ihn:
»Oh, das wäre ja auch furcht …«, begann sie, konnte aber vor Aufregung nicht zu Ende sprechen; mit einer anmutigen Bewegung (anmutig wie alles, was sie in seiner Anwesenheit tat) neigte sie den Kopf, blickte ihn dankbar an und ging ihrer Tante nach.
Am Abend dieses Tages ging Nikolai nicht in Gesellschaft, sondern blieb zu Hause, um einige Abrechnungen mit Pferdeverkäufern zum Abschluß zu bringen. Als er mit diesen geschäftlichen Angelegenheiten fertig war, war es schon zu spät, um noch irgendwohin zu gehen, und noch zu früh, um sich schlafen zu legen, und so ging denn Nikolai lange allein in seinem Zimmer auf und ab und überdachte sein Leben, was bei ihm nur selten vorkam.
Prinzessin Marja hatte ihm bei Smolensk einen angenehmen Eindruck gemacht. Daß er sie damals in so eigenartiger Lage gefunden hatte und daß er gerade auf sie früher einmal von seiner Mutter als auf eine reiche Partie hingewiesen worden war, diese beiden Umstände hatten ihn veranlaßt, ihr besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. In Woronesch war dieser Eindruck während seines Aufenthaltes nicht nur ein angenehmer, sondern auch ein sehr starker gewesen. Nikolai war überrascht gewesen von jener eigenartigen seelischen Schönheit, die er diesesmal an ihr wahrnahm. Indessen hatte er doch Anstalten getroffen, um abzureisen, und es war ihm nicht in den Sinn gekommen, es zu bedauern, daß er durch die Abreise aus Woronesch der Möglichkeit, die Prinzessin zu sehen, verlustig ging. Aber das heutige Zusammentreffen mit Prinzessin Marja in der Kirche hatte (das fühlte Nikolai) sein Herz doch tiefer ergriffen, als er es für möglich gehalten hätte, und tiefer, als er es um seiner Ruhe willen hätte wünschen mögen. Dieses blasse, feine, traurige Gesicht, dieser leuchtende Blick, diese ruhigen, anmutigen Bewegungen und ganz besonders die tiefe, rührende Trauer, die in allen ihren Zügen zum Ausdruck kam, dies alles versetzte ihn in seelische Erregung und erweckte seine Teilnahme. Bei Männern konnte Rostow es nicht leiden, wenn das Gesicht auf ein höheres geistiges Leben schließen ließ (deshalb mochte er auch den Fürsten Andrei nicht gern); er nannte das geringschätzig Philosophie und Träumerei; aber Prinzessin Marja übte gerade in dieser Trauer, aus der die ganze Tiefe dieses ihm fremden Geisteslebens ersichtlich wurde, auf ihn eine unwiderstehliche Anziehung aus.
»Ein wunderbares Mädchen muß sie sein! Geradezu ein Engel!« sagte er zu sich selbst. »Warum bin ich nicht frei? Warum habe ich mich mit Sonja übereilt?« Und unwillkürlich verglich er in Gedanken beide miteinander: bei der einen ein Mangel und bei der andern ein Reichtum an den Geistesgaben, die er selbst nicht besaß und eben darum so hochschätzte. Er versuchte, sich vorzustellen, was geschehen würde, wenn er frei wäre. Auf welche Weise würde er ihr dann einen Antrag machen und sie seine Frau werden? Nein, er konnte sich das nicht vorstellen. Es wurde ihm seltsam ums Herz, und er konnte sich davon kein klares Bild machen. Von dem Leben mit Sonja zusammen hatte er sich schon längst ein Zukunftsbild entworfen, und alles war dabei einfach und klar, namentlich deswegen, weil er Sonjas ganzes Inneres kannte und sich danach alles in Gedanken zurechtgelegt hatte; aber ein künftiges Zusammenleben mit Prinzessin Marja vermochte er sich nicht vorzustellen, weil er sie nicht verstand, sondern sie nur liebte.
Die Zukunftsträumereien über Sonja hatten etwas Heiteres, es war wie ein Spiel mit Spielzeug. Aber an Prinzessin Marja zu denken, das war immer etwas Schweres.
»Wie sie betete!« dachte er, sich erinnernd. »Man sah, daß ihre ganze Seele mit dem Gebet beschäftigt war. Ja, das ist jenes Gebet, das Berge versetzt, und ich bin überzeugt, daß ihr Gebet Erhörung finden wird. Warum bete ich denn nicht um das, was ich wünsche?« fiel ihm ein. »Was wünsche ich denn? Die Freiheit, die Loslösung von Sonja. Ja, sie hat recht«, dachte er in Erinnerung an das, was die Frau Gouverneur zu ihm gesagt hatte; »wenn ich sie heirate, so führt das nur zum Ruin. Zerrüttung der Verhältnisse, Mamas Gram … Ruin, furchtbarer Ruin. Und ich liebe sie auch nicht, liebe sie nicht so, wie es nötig wäre. Mein Gott! Rette mich aus dieser furchtbaren Lage, aus der ich keinen Ausweg sehe!« begann er auf einmal zu beten. »Ja, das Gebet versetzt Berge; aber man muß glauben und darf auch nicht so beten, wie wir, Natascha und ich, als Kinder beteten, der Schnee möchte zu Zucker werden, worauf wir dann auf den Hof liefen, um zu probieren, ob der Schnee auch wirklich zu Zucker geworden war. Nein, das war Torheit; aber jetzt bete ich nicht um Possen«, sagte er, stellte die Pfeife in die Ecke und trat mit gefalteten Händen vor das Heiligenbild. Und durch die Erinnerung an Prinzessin Marja in Rührung versetzt, begann er so zu beten, wie er lange nicht gebetet hatte. Die Tränen traten ihm in die Kehle und in die Augen; da öffnete sich die Tür, und Lawrenti trat mit irgendwelchen Sachen aus Papier ein.
»Esel! Warum kommst du, wenn du nicht gerufen wirst!« sagte Nikolai und änderte schnell seine Haltung.
»Vom Gouverneur«, sagte Lawrenti mit schläfriger Stimme. »Ein Kurier ist angekommen; da sind Briefe für Sie.«
»Na, gut, danke; du kannst gehen!«
Nikolai nahm die beiden Briefe. Der eine war von seiner Mutter, der andere von Sonja. Er erkannte die Absenderinnen an der Handschrift und erbrach zuerst Sonjas Brief. Aber kaum hatte er einige Zeilen gelesen, als sein Gesicht blaß wurde und seine Augen sich vor Schreck und Freude weit öffneten.
»Nein, es ist nicht möglich!« sprach er laut vor sich hin.
Unfähig, auf einem Fleck stillzusitzen, begann er, mit dem Brief in der Hand, im Zimmer auf und ab zu gehen und ihn dabei zu lesen. Er überflog den Brief mit den Augen, las ihn dann einmal und noch einmal und blieb, die Schultern in die Höhe ziehend und die Arme auseinanderbreitend, mitten im Zimmer mit offenem Mund und starren Augen stehen. Um was er soeben gebetet hatte in der Überzeugung, daß Gott sein Gebet erhören werde, das war in Erfüllung gegangen; aber Nikolai war darüber so erstaunt, als ob dies etwas ganz Außerordentliches wäre, und als ob er es nie erwartet hätte, und als ob gerade die schnelle Erfüllung seines Wunsches ein Beweis dafür wäre, daß dies nicht von Gott herrühre, zu dem er gebetet hatte, sondern von einem gewöhnlichen Zufall.
Der Knoten, welcher Rostows Freiheit fesselte und ihm unlösbar erschienen war, der war durch diesen Brief Sonjas gelöst worden, durch diesen Brief, der nach Nikolais Ansicht durch keinen besonderen Anlaß hervorgerufen worden und in keiner Weise zu erwarten gewesen war. Sie schrieb, die letzten traurigen Ereignisse, namentlich daß Rostows in Moskau fast ihr gesamtes Vermögen verloren hätten, und der wiederholt ausgesprochene Wunsch der Gräfin, Nikolai möchte die Prinzessin Bolkonskaja heiraten, und sein langes Stillschweigen und sein kühles Benehmen in der letzten Zeit, dies alles zusammen habe sie zu dem Entschluß gebracht, ihn von seinem Versprechen zu entbinden und ihm seine völlige Freiheit wiederzugeben.
»Es wäre mir ein gar zu schmerzlicher Gedanke«, schrieb sie, »daß ich die Ursache des Kummers oder der Zwietracht in einer Familie sein sollte, von der ich so viele Wohltaten genossen habe, und meine Liebe kennt kein anderes Ziel als zu dem Glück der Menschen, die ich liebe, beizutragen. Darum bitte ich Sie inständig, Nikolai, sich für frei anzusehen und überzeugt zu sein, daß Sie trotz alledem niemand stärker und aufrichtiger lieben kann als Ihre Sonja.«
Beide Briefe waren aus Troiza. Der andere Brief war von der Gräfin. Sie schilderte darin die letzten Tage in Moskau, die Abreise, die Feuersbrunst und den Verlust der ganzen Habe. In diesem Brief schrieb die Gräfin unter anderm auch, daß unter den Verwundeten, die mit ihnen gefahren seien, sich auch Fürst Andrei befinde. Sein Zustand sei sehr gefährlich gewesen; aber jetzt sage der Arzt, es sei etwas mehr Hoffnung. Sonja und Natascha seien seine Pflegerinnen und gäben darin keiner Krankenwärterin etwas nach.
Mit diesem Brief begab sich Nikolai am andern Tag zu Prinzessin Marja. Weder Nikolai noch Prinzessin Marja sagten auch nur ein Wort darüber, welche Bedeutung wohl der Ausdruck »Natascha ist seine Pflegerin« haben könne; aber dank diesem Brief war Nikolai der Prinzessin Marja auf einmal viel nähergerückt und gewissermaßen in ein verwandtschaftliches Verhältnis zu ihr getreten.
Am andern Tag gab Rostow der Prinzessin Marja, die nach Jaroslawl reiste, eine Strecke weit das Geleit und reiste einige Tage darauf selbst zu seinem Regiment ab.
VIII
Sonjas Brief an Nikolai, der ihm die Erfüllung seines Gebetes brachte, war in Troiza geschrieben. Die Veranlassung dazu war folgende. Der Gedanke, daß Nikolai ein reiches Mädchen heiraten müsse, beschäftigte die alte Gräfin immer mehr und mehr. Sie wußte, daß Sonja das Haupthindernis für diesen Plan war. Und so war denn Sonjas Leben im Haus der Gräfin in der letzten Zeit, namentlich nach jenem Brief Nikolais, in welchem er seine Begegnung mit Prinzessin Marja in Bogutscharowo geschildert hatte, immer schwerer und schwerer geworden. Die Gräfin ließ keine Gelegenheit unbenutzt, Anspielungen zu machen, die für Sonja kränkend und verletzend waren.
Aber einige Tage vor der Abreise aus Moskau hatte die Gräfin, durch alles Vorgefallene aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht und in Aufregung versetzt, Sonja zu sich gerufen und diesmal, statt ihr Vorwürfe zu machen und Forderungen zu stellen, sie unter Tränen gebeten, sie möchte doch ein Opfer bringen und alles, was für sie getan sei, dadurch vergelten, daß sie ihr Verhältnis zu Nikolai löse.
»Ich werde nicht eher Ruhe haben, ehe du mir das nicht versprochen hast«, sagte sie.
Sonja brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus und antwortete unter strömenden Tränen, sie werde alles tun und sei zu allem bereit; aber ein bestimmtes Versprechen gab sie nicht und konnte sich in ihrem Herzen nicht entschließen, das zu tun, was von ihr verlangt wurde. Daß es ihre Pflicht war, Opfer zu bringen für das Glück der Familie, von der sie Unterhalt und Erziehung erhalten hatte, das wußte sie. Für das Glück anderer Menschen Opfer zu bringen, daran war Sonja gewöhnt. Ihre Stellung in diesem Haus war eine derartige, daß sie nur durch Opfer, die sie brachte, zeigen konnte, was an ihr Gutes war, und so hatte sie sich denn daran gewöhnt, Opfer zu bringen, und tat es gern. Aber bisher war sie stets, wenn sie Opfer brachte, sich mit freudiger Genugtuung bewußt gewesen, daß sie eben durch diese Handlungsweise ihren Wert in ihren eigenen Augen und in den Augen anderer Menschen erhöhte und Nikolais würdiger wurde, den sie über alles in der Welt liebte; jetzt jedoch sollte ihr Opfer gerade darin bestehen, daß sie auf das verzichtete, was für sie den ganzen Lohn der gebrachten Opfer, den gesamten Inhalt ihres Lebens bildete. Und zum erstenmal in ihrem Leben empfand sie ein bitteres Gefühl gegen diese Menschen, die ihr nur darum so viel Wohltaten erwiesen hatten, um sie nun um so grausamer zu peinigen; zum erstenmal empfand sie Neid gegen Natascha, die nie etwas Ähnliches durchzumachen hatte, nie Opfer zu bringen brauchte, sondern immer nur andere Menschen um ihretwillen Opfer bringen ließ und doch von allen geliebt wurde. Und zum erstenmal fühlte Sonja, wie aus ihrer stillen, reinen Liebe zu Nikolai plötzlich eine leidenschaftliche Empfindung heranwuchs, eine Empfindung, welche mächtiger wurde als alle Grundsätze und alle Tugend und alle Religiosität; und unter der Einwirkung dieser Empfindung antwortete Sonja, die durch ihre abhängige Lebensstellung unwillkürlich sich ein verstecktes Wesen zu eigen gemacht hatte, der Gräfin in allgemeinen, unbestimmten Ausdrücken, ging in der nächsten Zeit Gesprächen mit ihr aus dem Weg und entschied sich dafür, ein Wiedersehen mit Nikolai abzuwarten, um ihn bei diesem Wiedersehen nicht etwa freizugeben, sondern ihn im Gegenteil für immer an sich zu ketten.
Die Sorgen und Schrecken der letzten Tage des Aufenthalts der Familie Rostow in Moskau hatten in Sonjas Seele die traurigen Gedanken, die sie bedrückten, übertäubt. Sie hatte sich gefreut, daß sie sich durch praktische Tätigkeit vor ihnen retten konnte. Als sie aber von der Anwesenheit des Fürsten Andrei in ihrem Haus erfuhr, da überkam sie trotz alles aufrichtigen Mitleides, das sie für ihn und für Natascha empfand, doch ein freudiges Gefühl bei dem abergläubischen Gedanken, Gott wolle nicht, daß sie von Nikolai getrennt werde. Sie wußte, daß Natascha nur den Fürsten Andrei geliebt hatte und ihn noch immer liebte. Sie wußte, daß diese beiden jetzt, wo das Schicksal sie unter so furchtbaren Verhältnissen wieder zusammengeführt hatte, einander wieder von neuem liebgewinnen würden, und daß dann Nikolai die Prinzessin Marja wegen der Verwandtschaft, die dann zwischen ihnen bestehen werde, nicht werde heiraten können. Trotz alles Schreckens über die Ereignisse der letzten Tage in Moskau und der ersten Reisetage machte dieses Gefühl, dieses Bewußtsein, daß die Vorsehung in ihre persönlichen Angelegenheiten eingriff, Sonja froh und heiter.
Im Troiza-Kloster machten Rostows auf ihrer Reise den ersten Rasttag.
In dem Hospiz des Klosters waren ihnen drei große Zimmer angewiesen, von denen eines Fürst Andrei innehatte. Es ging dem Verwundeten an diesem Tag bedeutend besser. Natascha saß bei ihm. In dem anstoßenden Zimmer saßen der Graf und die Gräfin und unterhielten sich respektvoll mit dem Prior, der ihnen als seinen alten Bekannten und als freigebigen Gönnern des Klosters einen Besuch machte. Auch Sonja saß in diesem Zimmer, und es quälte sie die Neugier, was wohl Fürst Andrei und Natascha miteinander reden mochten. Sie hörte durch die Tür ihre Stimmen. Da öffnete sich die Tür zu dem Zimmer des Fürsten Andrei. Natascha kam mit erregter Miene von dort herein; ohne den Mönch zu bemerken, der sich zu ihrer Begrüßung erhob und den weiten Ärmel an seinem rechten Arm zurückschlug, um ihr den Segen zu erteilen, trat sie auf Sonja zu und ergriff sie bei der Hand.
»Was hast du, Natascha? Komm her«, sagte die Gräfin.
Natascha trat herzu, um den Segen zu empfangen, und der Prior ermahnte sie, sich im Gebet um Hilfe an Gott und den Schutzheiligen des Klosters zu wenden.
Sowie der Prior hinausgegangen war, faßte Natascha ihre Freundin bei der Hand und ging mit ihr in das leere Zimmer.
»Sonja, ja? Wird er am Leben bleiben?« sagte sie. »Sonja, wie glücklich ich bin! Und wie unglücklich ich bin! Sonja, mein Täubchen, es ist alles wieder wie ehemals. Wenn er nur am Leben bliebe! Aber er kann nicht am Leben bleiben … weil … weil …« Natascha brach in Tränen aus.
»Ja, ja, das habe ich gewußt! Gott sei Dank!« rief Sonja. »Er wird am Leben bleiben!«
Sonja war in nicht geringerer Aufregung als Natascha, sowohl wegen der Angst und des Kummers der Freundin als auch wegen ihrer eigenen Gedanken, die sie zu niemandem aussprach. Sie schluchzte und küßte Natascha und redete ihr tröstend zu. »Wenn er nur am Leben bliebe!« dachte sie. Nachdem die beiden Freundinnen eine Weile geweint, miteinander geredet und sich die Tränen abgewischt hatten, gingen sie an die Tür des Fürsten Andrei. Natascha öffnete behutsam die Tür und sah ins Zimmer hinein. Sonja stand neben ihr bei der halbgeöffneten Tür.
Fürst Andrei lag mit hochgerichtetem Oberkörper auf drei Kissen. Sein blasses Gesicht war ruhig, die Augen geschlossen, und man sah, daß er gleichmäßig atmete.
»Ach, Natascha!« sagte Sonja auf einmal, kaum einen Schrei unterdrückend, ergriff ihre Kusine bei der Hand und trat von der Tür zurück.
»Was ist? Was ist?« fragte Natascha.
»Das ist ganz das … ganz das … sieh nur …«, sagte Sonja mit blassem Gesicht und zitternden Lippen.
Natascha machte leise die Tür wieder zu und trat mit Sonja an das Fenster. Sie verstand noch nicht, was diese meinte.
»Erinnerst du dich wohl«, sagte Sonja mit tiefernster, ängstlicher Miene, »erinnerst du dich wohl, wie ich für dich in den Spiegel sah … in Otradnoje, in den Weihnachtstagen … erinnerst du dich noch, was ich da sah …?«
»Ja, ja«, erwiderte Natascha mit weitgeöffneten Augen; sie erinnerte sich dunkel, daß Sonja damals etwas vom Fürsten Andrei gesagt hatte, den sie hatte daliegen sehen.
»Erinnerst du dich?« fuhr Sonja fort. »Ich habe es damals gesehen und zu allen gesagt, zu dir und zu Dunjascha. Ich sah, wie er auf einem Bett lag«, sagte sie und machte bei jeder Einzelheit eine Armbewegung mit aufgehobenem Finger, »und wie er die Augen geschlossen hielt, und wie er mit einer Decke, gerade mit einer rosa Decke, zugedeckt war, und wie er die Hände gefaltet hatte.« Und in dem Maße, wie sie die von ihr jetzt eben gesehenen Einzelheiten beschrieb, wurde sie immer fester in der Überzeugung, daß sie dieselben Einzelheiten auch damals gesehen habe.
In Wirklichkeit hatte sie damals überhaupt nichts gesehen, sondern von dem, was ihr in den Sinn kam, erzählt, daß sie es gesehen habe; aber das, was sie sich damals ausgedacht hatte, erschien ihr jetzt als ebenso tatsächlich wie jedes andere Ereignis, an das sie sich erinnerte. Und nicht etwa, daß sie sich nur an das erinnert hätte, was sie damals gesagt hatte, nämlich daß er sich nach ihr umgesehen und gelächelt habe und mit etwas Rotem zugedeckt gewesen sei; vielmehr war sie fest überzeugt, daß sie schon damals gesehen und gesagt habe, er habe unter einer rosa Decke, gerade unter einer rosa Decke, gelegen, und seine Augen seien geschlossen gewesen.
»Ja, ja, gerade eine rosa Decke war es«, sagte Natascha, die sich jetzt gleichfalls zu erinnern glaubte, daß damals eine rosa Decke erwähnt worden war, und erblickte gerade darin ein besonders auffälliges, geheimnisvolles Moment der Prophezeiung.
»Aber was mag das denn zu bedeuten haben?« sagte Natascha nachdenklich.
»Ach, ich weiß es nicht; wie seltsam und außerordentlich das alles doch ist!« sagte Sonja und griff sich an den Kopf.
Einige Minuten darauf klingelte Fürst Andrei, und Natascha ging zu ihm hinein; Sonja aber, die eine Erregung und Rührung empfand, wie sie bei ihr nur selten vorkam, blieb am Fenster stehen und dachte über die Seltsamkeit dieser Vorgänge nach.
An diesem Tag bot sich eine Gelegenheit, Briefe zur Armee zu schicken, und die Gräfin schrieb an ihren Sohn.
»Sonja«, sagte die Gräfin und hob den Kopf von ihrem Brief auf, als ihre Nichte an ihr vorbeiging. »Sonja«, fuhr sie mit leiser, zitternder Stimme fort, »willst du nicht an Nikolai schreiben?«
Und in dem Blick ihrer müden, durch die Brille schauenden Augen las Sonja alles, was die Gräfin mit diesen Worten meinte. Es lag in diesem Blick eine flehende Bitte, und Furcht vor einer abschlägigen Antwort, und ein Gefühl der Scham darüber, daß sie bitten mußte, und die Absicht, im Fall der Weigerung zu einem unversöhnlichen Haß überzugehen.
Sonja trat zur Gräfin hin, kniete vor ihr nieder und küßte ihr die Hand.
»Ja, ich werde an ihn schreiben, Mama«, sagte sie.
Sonja war durch alles an diesem Tag Geschehene weich gestimmt, erregt und gerührt, namentlich durch die geheimnisvolle Erfüllung des Spiegelorakels, die sie soeben mit Augen gesehen hatte. Jetzt, wo sie wußte, daß infolge der Erneuerung des Verhältnisses zwischen Natascha und dem Fürsten Andrei Nikolai die Prinzessin Marja nicht heiraten konnte, fühlte sie mit Freude, daß jene Stimmung der Selbstaufopferung, die ihr eine liebe Gewohnheit war, wieder von ihrer Seele Besitz ergriff. Und mit Tränen in den Augen und mit dem freudigen Bewußtsein, daß sie eine Handlung des Edelmutes ausführe, schrieb sie, einige Male von Tränen unterbrochen, die ihre samtenen, schwarzen Augen wie mit einem Nebel überzogen, jenen rührenden Brief, bei dessen Empfang Nikolai so überrascht gewesen war.
IX
Auf der Hauptwache, wohin Pierre gebracht worden war, behandelten ihn der Offizier und die Soldaten, die ihn arretiert hatten, feindselig, aber zugleich mit einem gewissen Respekt. Man konnte aus ihrem Benehmen gegen ihn noch ihre Ungewißheit darüber herausmerken, was er wohl für einer sein möchte, ob vielleicht eine hochgestellte Persönlichkeit, sowie eine Feindseligkeit infolge ihres noch frischen persönlichen Kampfes mit ihm.
Aber als am Morgen des nächsten Tages die Ablösung kam, da merkte Pierre, daß er für die neue Wachmannschaft, den Offizier und die Soldaten, nicht mehr die Bedeutung besaß, die er für diejenigen besessen hatte, von denen er festgenommen worden war. Und wirklich sah die Wachmannschaft des nächsten Tages in diesem großen, dicken Menschen mit dem gewöhnlichen Kaftan nicht mehr das eigenartige Individuum, das sich so grimmig mit den Plünderern und den Soldaten von der Patrouille herumgeschlagen und die hochtrabende Redensart von der Rettung eines Kindes geäußert hatte, sondern lediglich Nummer siebzehn derjenigen Russen, die für irgend etwas, was sie begangen hatten, gemäß höherem Befehl festgenommen waren und in Gewahrsam gehalten wurden. Und wenn ihnen wirklich etwas an Pierre auffiel, so war es nur seine feste, ernstnachdenkliche Miene und sein Französisch; denn darüber wunderten sich die Franzosen allerdings, daß er sich so gut auf französisch ausdrückte.
Trotzdem wurde Pierre noch an demselben Tag mit den andern als verdächtig Arretierten zusammengebracht, da man das besondere Zimmer, das er zunächst innegehabt hatte, für einen Offizier benötigte.
Die Russen, die mit Pierre zusammen gefangengehalten wurden, gehörten sämtlich der niedrigsten Bevölkerungsschicht an. Und alle hielten sie sich, da sie in Pierre einen vornehmen Herrn erkannten, von ihm fern, um so mehr, da er französisch sprach. Mit einer schmerzlichen Empfindung hörte Pierre, daß sie sich über ihn lustig machten.
Am nächsten Tag gegen Abend erfuhr Pierre, daß alle diese Arrestanten, und mit ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach auch er, wegen Brandstiftung vor Gericht gestellt werden sollten. Am dritten Tag wurde Pierre mit den andern in ein Haus transportiert, wo ein französischer General mit weißem Schnurrbart, zwei Obersten und noch einige andere Franzosen mit Binden am Arme saßen. Mit jener scheinbar über alle menschliche Schwäche erhabenen Peinlichkeit und Akkuratesse, mit welcher Angeklagte gewöhnlich behandelt werden, wurden an Pierre, ebenso wie an die andern, allerlei Fragen gerichtet: wer er sei, wo er gewesen sei, was er beabsichtigt habe, usw.
Diese Fragen, die das wahre Wesen der Sache unberührt ließen und zur Klarstellung desselben nicht das geringste beitrugen, hatten, wie alle Fragen, die in Gerichtsverhandlungen gestellt werden, nur den Zweck, gleichsam die Rinne aufzustellen, in der nach dem Wunsch der Richter die Antworten des Angeklagten fließen sollten, damit er zu dem von ihnen gewünschten Ziel, d.h. zur Verurteilung, hingeleitet werde. Sobald er anfing etwas zu sagen, was für dieses Ziel nicht taugte, wurde die Rinne weggenommen, und nun mochte das Wasser fließen, wohin es wollte. Außerdem hatte Pierre dasselbe Gefühl, das der Angeklagte in allen Gerichtsverhandlungen hat: ein Gefühl der Verwunderung, weshalb ihm alle diese Fragen gestellt wurden. Es kam ihm so vor, als bediene man sich dieses Manövers mit der untergestellten Rinne nur aus Herablassung oder aus einer Art von Höflichkeit. Er wußte, daß er sich in der Gewalt dieser Menschen befand, daß nur die Gewalt ihn hierhergebracht hatte, daß nur die Gewalt ihnen ein Recht gab, Antworten auf ihre Fragen zu verlangen, daß der einzige Zweck, zu dem dieses Richterkollegium gebildet war, darin bestand, ihn schuldig zu finden. Da also die Gewalt da war und der Wunsch, ihn schuldig zu finden, da war, so bedurfte es gar nicht erst des Manövers mit den Fragen und mit der Gerichtsverhandlung. Es war offensichtlich, daß alle Antworten dazu dienen sollten, ihn schuldig erscheinen zu lassen. Auf die Frage, was er getan habe, als er festgenommen wurde, antwortete Pierre in etwas pathetischer Weise, er habe ein Kind, das er aus den Flammen gerettet habe, zu den Eltern gebracht. Warum er auf die Plünderer losgeschlagen habe? Pierre antwortete, er habe ein Weib verteidigt; ein angegriffenes Weib zu verteidigen, sei die Pflicht eines jeden Mannes, und … Hier unterbrach man ihn: das gehöre nicht zur Sache. Warum er sich auf dem Hof des brennenden Hauses aufgehalten habe, wo ihn die Zeugen gesehen hätten? Er erwiderte, er sei ausgegangen, um zu sehen, was in Moskau vorginge. Wieder unterbrach man ihn: er sei nicht gefragt worden, wozu er ausgegangen sei, sondern warum er sich in der Nähe des Brandes aufgehalten habe. Wer er sei? Dies war eine Wiederholung der ersten Frage, auf die er erwidert hatte, er könne diese Frage nicht beantworten. Er antwortete auch diesmal, das könne er nicht sagen.
»Schreiben Sie das nieder«, sagte der General mit dem weißen Schnurrbart und der gesunden, roten Hautfarbe zu dem Protokollführer. Und zu Pierre gewendet, fügte er in strengem Ton hinzu: »Schlimm, sehr schlimm.«
Am vierten Tag brachen Feuersbrünste am Subowski-Wall aus.
Pierre wurde mit dreizehn anderen nach der Krimfurt in die Wagenremise eines Kaufmannshauses gebracht. Auf dem Weg durch die Straßen konnte Pierre kaum atmen in dem Rauch, der, wie es schien, über der ganzen Stadt lagerte. Auf verschiedenen Seiten waren Brände zu sehen. Pierre verstand damals noch nicht, welche Bedeutung der Brand von Moskau hatte, und blickte mit Schrecken auf alle diese Feuersbrünste.
In der Wagenremise dieses Hauses an der Krimfurt verbrachte Pierre noch vier Tage und erfuhr im Laufe dieser Zeit aus den Gesprächen der französischen Soldaten, daß alle hier Inhaftierten täglich die Entscheidung des Marschalls zu erwarten hätten. Welchen Marschalls, das konnte Pierre aus den Äußerungen der Soldaten nicht entnehmen. Den Soldaten erschien der Marschall offenbar als ein sehr hohes und einigermaßen geheimnisvolles Mitglied der Obergewalt.
Diese ersten Tage bis zum 8. September, an welchem Tag die Gefangenen zum zweiten Verhör geführt wurden, waren für Pierre am schwersten zu ertragen.
X
Am 8. September kam in die Remise zu den Gefangenen ein Offizier, und zwar von sehr hohem Rang, nach dem Respekt zu urteilen, den ihm die Wachmannschaft erwies. Dieser Offizier, wahrscheinlich einer vom Stab, rief, mit einem Verzeichnis in der Hand, alle Russen bei Namen auf, wobei er Pierre so bezeichnete: »Der, der seinen Namen nicht angibt.« Gleichgültig und lässig ließ er seinen Blick über die Gefangenen hinschweifen und befahl dem Wachoffizier, dafür zu sorgen, daß sie gewaschen, gekämmt und ordentlich gekleidet seien, wenn sie zum Marschall geführt würden. Eine Stunde darauf erschien eine Kompanie Soldaten, und Pierre wurde mit den andern dreizehn auf das Jungfernfeld gebracht. Es war, nachdem es vorher geregnet hatte, ein klarer, sonniger Tag geworden, und die Luft war ungewöhnlich rein. Der Rauch breitete sich nicht unten aus, wie an dem Tag, als Pierre von der Hauptwache am Subowski-Wall weggeführt wurde, sondern stieg in der klaren Luft säulenförmig in die Höhe. Feuer von Bränden war nirgends sichtbar; aber Rauchsäulen erhoben sich auf allen Seiten, und ganz Moskau, alles, was Pierre nur sehen konnte, war eine einzige Brandstätte. Ringsum sah man leere Hausstellen mit Öfen und Schornsteinen und an einzelnen Orten die ausgebrannten Mauern steinerner Häuser. Pierre blickte nach den Brandstätten hin und erkannte die ihm so wohlbekannten Stadtteile nicht wieder. Hier und da standen Kirchen, die verschont geblieben waren. Der Kreml war nicht zerstört; seine Türme leuchteten aus der Ferne weiß herüber, darunter der mächtige Glockenturm Iwan Weliki. In der Nähe glänzte fröhlich die Kuppel des Nowodjewitschi-Klosters, und das Geläut erklang von dorther an diesem Tag besonders hell. Bei diesem Geläut erinnerte sich Pierre daran, daß Sonntag war und Mariä Geburt. Aber niemand schien dieses Fest feiern zu wollen: überall sah man nur die Verwüstung des Brandes, und von der russischen Bevölkerung zeigten sich nur hier und da zerlumpte, ängstliche Gestalten, die sich beim Anblick der Franzosen versteckten.
Rußlands Mutterstadt war augenscheinlich zerstört und vernichtet; aber es drängte sich Pierre die Wahrnehmung auf, daß nach Vernichtung der russischen Lebensordnung in dieser zerstörten Mutterstadt sich eine eigenartige, ganz andere Ordnung, die feste französische Ordnung, etabliert hatte. Er merkte das beim Anblick dieser flott und munter in regelmäßigen Reihen marschierenden Soldaten, die ihn nebst den anderen Arrestanten eskortierten; er merkte es beim Anblick eines höheren französischen Beamten, der ihnen in einer zweispännigen, von einem Soldaten gelenkten Kalesche begegnete. Er merkte es an den lustigen Klängen einer Regimentsmusik, die von der linken Seite des Feldes herübertönte, und namentlich war es ihm durch jene Liste zum Gefühl und zum Verständnis gekommen, nach welcher der an diesem Morgen erschienene französische Offizier die Gefangenen aufgerufen hatte. Pierre war nur durch eine Patrouille arretiert und dann mit soundsoviel anderen Menschen zuerst nach dem einen, dann nach einem anderen Ort transportiert worden; man hätte meinen mögen, daß er vergessen oder mit andern verwechselt werden konnte. Aber nein: seine Antworten, die er beim Verhör gegeben hatte, hatte man ihm unter der Bezeichnung: »Der, der seinen Namen nicht angibt«, angeschrieben. Und unter dieser Bezeichnung, die ihm fürchterlich war, transportierten ihn jetzt die Soldaten irgendwohin, mit der auf ihren Gesichtern zu lesenden zweifellosen Überzeugung, daß er und die übrigen Gefangenen die richtigen Personen seien und nach dem richtigen Ort geführt würden. Pierre kam sich wie ein winziges Spänchen vor, das in die Räder einer ihm unbekannten, aber regelrecht arbeitenden Maschine hineingeraten war.
Pierre wurde mit den anderen Arrestanten nach der rechten Seite des Jungfernfeldes gebracht, nicht weit vom Kloster, nach einem großen, weißen Haus mit einem gewaltigen Garten. Es war das Haus des Fürsten Schtscherbatow, in welchem Pierre früher gesellschaftlich viel verkehrt hatte und wo jetzt, wie er aus dem Gespräch der Soldaten erfuhr, der Marschall Herzog von Eggmühl wohnte.
Sie wurden zur Haustür geführt und einzeln in das Haus hineingeleitet. Pierre kam dabei als sechster an die Reihe. Durch eine Glasgalerie, einen Flur und ein Vorzimmer, lauter Räumlichkeiten, die Pierre wohl kannte, wurde er in ein langes, niedriges Arbeitszimmer geführt, an dessen Tür ein Adjutant stand.
Davout saß am Ende des Zimmers an einem Tisch; er trug eine Brille. Pierre trat nahe an ihn heran. Davout hob die Augen nicht in die Höhe: er war offenbar damit beschäftigt, sich aus einem vor ihm liegenden Aktenstück zu informieren. Mit leiser Stimme fragte er: »Wer sind Sie?«
Pierre schwieg, weil er nicht imstande war, ein Wort herauszubringen. Davout war für Pierre nicht einfach nur ein französischer General, sondern ein durch seine Grausamkeit berüchtigter Mensch. Pierre blickte in das kalte Gesicht Davouts, der, wie ein strenger Lehrer, sich dazu verstand, eine Weile Geduld zu haben und auf die Antwort zu warten, und sagte sich, daß jeder Augenblick des Zögerns ihm das Leben kosten könne; aber er wußte nicht, was er sagen sollte. Dasselbe zu sagen, was er bei dem ersten Verhör gesagt hatte, dazu konnte er sich nicht entschließen; aber seinen Namen und Stand anzugeben schien ihm gefährlich und beschämend. Pierre schwieg. Aber ehe er noch zu einem Entschluß gekommen war, hob Davout den Kopf in die Höhe, schob die Brille auf die Stirn, kniff die Augen zusammen und blickte Pierre forschend an.
»Ich kenne diesen Menschen«, sagte er in gemessenem, kaltem Ton, der offenbar darauf berechnet war, Pierre in Angst zu versetzen.
Der kalte Schauer, der vorher Pierre den Rücken entlanggelaufen war, erfaßte jetzt seinen Kopf, und Pierre hatte ein Gefühl, als würde ihm dieser in einem Schraubstock zusammengepreßt.
»Sie können mich nicht kennen, General«, sagte er, »ich habe Sie noch nie gesehen …«
»Es ist ein russischer Spion«, unterbrach ihn Davout, zu einem andern General gewendet, der im Zimmer anwesend war, den aber Pierre bisher nicht bemerkt hatte.
Davout wendete sich von ihm ab. Mit unerwartet lauter, erregter Stimme sagte Pierre auf einmal schnell: »Nein, Monseigneur« (es war ihm plötzlich eingefallen, daß Davout Herzog war), »nein, Monseigneur, Sie können mich nicht kennen. Ich bin Landwehroffizier und habe Moskau nicht verlassen.«
»Ihr Name?« fragte Davout wieder.
»Besuchow.«
»Was beweist mir, daß Sie nicht lügen?«
»Monseigneur!« rief Pierre nicht in beleidigtem, sondern in bittendem Ton.
Davout hob die Augen in die Höhe und richtete einen prüfenden Blick auf Pierre. Einige Sekunden lang sahen sie einander an, und dieser Blick war Pierres Rettung. Durch diesen Blick bildeten sich, ohne alle Rücksicht auf Krieg und Gericht, zwischen diesen beiden Menschen menschliche Beziehungen. Beide machten in dieser kurzen Spanne Zeit eine unzählige Menge von Empfindungen durch, ohne sich derselben eigentlich klar bewußt zu werden, und kamen zu der Erkenntnis, daß sie beide Kinder der Menschheit, daß sie Brüder seien.
Vorhin, als Davout nur den Kopf von seiner Liste erhoben hatte, in der die Handlungen von Menschen und das Leben von Menschen mit Nummern bezeichnet waren, da war Pierre für ihn beim ersten Blick nur ein Gegenstand gewesen, und er hätte ihn können erschießen lassen, ohne sich aus dieser Untat ein Gewissen zu machen; aber jetzt erblickte er in ihm schon einen Menschen. Er überlegte einen Augenblick lang.
»Wie können Sie mir die Wahrheit dessen, was Sie mir sagen, Beweisen?« fragte er kalt.
Pierre dachte an Ramballe und nannte dessen Regiment und Namen sowie die Straße, in der das betreffende Haus lag.
»Sie sind nicht das, wofür Sie sich ausgeben«, sagte Davout wieder.
Pierre begann mit zitternder, stockender Stimme Beweise für die Richtigkeit seiner Angabe vorzubringen.
Aber in diesem Augenblick trat ein Adjutant ein und meldete dem Marschall etwas.
Davouts Gesicht strahlte bei der Nachricht, die ihm der Adjutant überbrachte, plötzlich auf, und er knöpfte sich die Uniform zu. Offenbar hatte er Pierre vollständig vergessen.
Als der Adjutant ihn an den Gefangenen erinnerte, machte er ein finsteres Gesicht und sagte, indem er mit dem Kopf nach Pierre hindeutete, man solle ihn abführen. Aber wohin er abgeführt werden sollte, das wußte Pierre nicht: ob in die Remise zurück oder nach dem bereits zurechtgemachten Richtplatz, den ihm seine Schicksalsgefährten, als sie über das Jungfernfeld gingen, gezeigt hatten.
Er drehte den Kopf zurück und sah, daß der Adjutant den Marschall noch nach etwas fragte.
»Jawohl, selbstverständlich!« antwortete Davout; aber was mit dem »Jawohl« gemeint war, das wußte Pierre nicht.
Pierre hatte kein Bewußtsein, wie und wie lange und wohin er ging. In einem Zustand völliger Stumpfheit und Benommenheit, ohne etwas um sich herum zu sehen, bewegte er mit den andern zusammen die Füße, bis alle stillstanden, und stand dann gleichfalls still. Diese ganze Zeit über hatte er nur einen einzigen Gedanken im Kopf: wer, wer war es denn nun eigentlich, der ihn zum Tod verurteilt hatte? Nicht jene Männer, die ihn in der Kommission verhört hatten; von denen hatte keiner es gewollt und auch augenscheinlich keiner die Berechtigung dazu gehabt. Auch nicht Davout, der ihn so menschlich angeblickt hatte. Noch eine Minute, und Davout hätte eingesehen, daß sie unrecht taten; aber diese Minute hatte der eintretende Adjutant unterbrochen. Auch dieser Adjutant hatte offenbar nichts Böses beabsichtigt; aber warum war er gerade jetzt hereingekommen? Wer war es also eigentlich, der ihn hinrichtete, tötete, des Lebens beraubte, ihn, Pierre, mit allen seinen Erinnerungen, Bestrebungen, Hoffnungen und Ideen? Wer tat das? Pierre sagte sich, daß es niemand tat.
Es war der Gang der Dinge, das Zusammentreffen der Umstände.
Der Gang der Dinge tötete ihn, ihn, Pierre, und raubte ihm das Leben und alles und vernichtete ihn.
XI
Von dem Hause des Fürsten Schtscherbatow wurden die Gefangenen geradewegs das Jungfernfeld hinuntergeführt, links vom Nowodjewitschi-Kloster, nach einem umzäunten Gemüsegarten, in dem ein Pfahl stand. Hinter dem Pfahl befand sich eine große Grube mit frisch ausgegrabener Erde, und um die Grube und den Pfahl herum stand im Halbkreis eine große Menge Menschen. Diese Menge bestand aus einigen wenigen Russen und einer großen Anzahl napoleonischer Soldaten, die sich außerdienstlich eingefunden hatten: Deutsche, Italiener und Franzosen in mannigfaltigen Uniformen. Rechts und links von dem Pfahl standen in Reih und Glied französische Truppen, in blauen Uniformen, mit roten Epauletten, mit Stiefeletten und Tschakos.
Die Gefangenen wurden in derselben Ordnung aufgestellt, in der sie in der Liste aufgeführt waren (Pierre stand als sechster), und in die Nähe des Pfahles geführt. Plötzlich wurden auf beiden Seiten mehrere Trommeln geschlagen, und Pierre hatte das Gefühl, als ob ihm mit diesem Ton ein Stück seiner Seele weggerissen werde. Er verlor die Fähigkeit, Gedanken und Vorstellungen zu bilden; er konnte nur noch sehen und hören. Und nur einen Wunsch hatte er: daß das Schreckliche, das geschehen mußte, recht bald geschehen möchte. Er sah nach seinen Leidensgefährten hin und betrachtete sie.
Die beiden Männer am Anfang der Reihe waren Zuchthäusler mit rasiertem Kopf, der eine groß und hager, der andere muskulös, mit plattgedrückter Nase und schwarzem, struppigem Bart. Der dritte war ein herrschaftlicher Diener, ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, mit ergrauendem Haar und wohlgenährtem, fleischigem Körper. Der vierte war ein Bauer, ein sehr schöner Mann mit breitem, dunkelblondem Bart und schwarzen Augen. Der fünfte war ein Fabrikarbeiter, der einen Kittel trug, ein magerer, etwa achtzehnjähriger Bursche mit gelblichem Teint.
Pierre hörte die Franzosen sich darüber beraten, wie sie die Verurteilten erschießen sollten, ob jedesmal einen oder jedesmal zwei. »Jedesmal zwei«, entschied der oberste Offizier kalt und ruhig. In den Reihen der Soldaten entstand eine Bewegung, und es war zu merken, daß sich alle beeilten; und zwar beeilten sie sich nicht so, wie man sich beeilt, eine allen verständliche Aufgabe auszuführen, sondern so, wie man sich beeilt, eine nicht zu umgehende, aber unangenehme und unbegreifliche Aufgabe zu erledigen.
Ein französischer Beamter mit einer Schärpe trat an den rechten Flügel der in einer Reihe aufgestellten Verbrecher und verlas das Urteil in russischer und in französischer Sprache.
Dann traten zwei Paar Franzosen zu den Verbrechern hin und nahmen auf Befehl des Offiziers die beiden Zuchthäusler, die am Anfang der Reihe standen. Die Zuchthäusler gingen zu dem Pfahl hin, blieben dort stehen und blickten, während die Säcke gebracht wurden, schweigend um sich, so wie ein angeschossenes Wild den herannahenden Jäger anblickt. Der eine bekreuzte sich fortwährend; der andere kratzte sich den Rücken und machte mit den Lippen eine Bewegung, die wie ein Lächeln aussah. Die Soldaten banden ihnen eilig die Augen zu, zogen ihnen die Säcke über den Kopf und banden sie an den Pfahl.
Zwölf Schützen mit Gewehren traten in gleichmäßigem, festem Schritt aus den Reihen heraus und stellten sich acht Schritte von dem Pfahl entfernt auf. Pierre wandte sich ab, um das, was nun kommen sollte, nicht zu sehen. Plötzlich erscholl ein Knattern und Krachen, das ihm lauter als der furchtbarste Donner vorkam, und er sah sich um. Er erblickte eine Rauchwolke und sah, wie die Franzosen mit blassen Gesichtern und zitternden Händen bei der Grube etwas taten. Dann wurden zwei andere hingeführt. Ganz ebenso, mit denselben Augen blickten auch diese beiden bei allen umher und flehten vergeblich nur mit den Blicken schweigend um Schutz; offenbar begriffen sie nicht, was ihnen bevorstand, und glaubten es nicht. Sie konnten es nicht glauben, weil sie allein wußten, welchen Wert das Leben für sie hatte, und daher nicht begriffen und nicht glaubten, daß man es ihnen nehmen könnte.
Pierre wollte es nicht sehen und wandte sich wieder ab; aber wieder schlug ein Schall wie eine furchtbare Explosion an sein Ohr, und gleich nach diesem Schall sah er Rauch und Blut und die blassen, verstörten Gesichter der Franzosen, die wieder bei dem Pfahl irgend etwas vornahmen, wobei sie mit zitternden Händen einander stießen. Schweratmend blickte Pierre um sich, als ob er fragen wollte: »Was bedeutet nur das alles?« Und dieselbe Frage lag auch in all den Blicken, die dem seinigen begegneten.
Auf den Gesichtern aller Russen und aller französischen Soldaten und Offiziere, auf allen Gesichtern ohne Ausnahme las er dieselbe Angst, dasselbe Entsetzen und denselben Kampf, die sein Herz erfüllten. »Aber wer tut denn das nun eigentlich? Sie leiden doch alle darunter ebenso wie ich. Wer tut es denn? Ja, wer?« Diese Frage blitzte eine Sekunde lang in seinem Geist auf.
»Die Schützen vom sechsundachtzigsten Regiment, vortreten!« rief jemand. Es wurde der fünfte, der neben Pierre stand, geholt, er allein. Pierre begriff nicht, daß er gerettet war, daß er und alle übrigen nur hierhergeführt waren, um der Hinrichtung beizuwohnen. Mit immer wachsendem Grauen, ohne etwas von Freude oder Beruhigung zu verspüren, blickte er auf das, was da vorging, hin. Der fünfte war der Fabrikarbeiter im Kittel. Sowie die Soldaten ihn anrührten, sprang er voll Entsetzen zurück und klammerte sich an Pierre. Pierre fuhr zusammen und riß sich von ihm los. Der Fabrikarbeiter war nicht imstande zu gehen. Die Soldaten faßten ihn unter die Arme und schleppten ihn, wobei er etwas Unverständliches schrie. Als sie ihn zum Pfahl hingebracht hatten, verstummte er plötzlich. Er schien auf einmal etwas eingesehen zu haben. Ob er nun eingesehen hatte, daß sein Schreien nutzlos sei, oder ob er einzusehen glaubte, daß diese Menschen doch unmöglich vorhaben könnten, ihn zu töten, jedenfalls stand er am Pfahl, wartete darauf, daß ihm wie den andern die Augen verbunden würden, und blickte wie ein angeschossenes Wild mit glänzenden Augen um sich.
Pierre brachte es diesmal nicht mehr fertig, sich wegzuwenden und die Augen zu schließen. Seine Neugier und seine Aufregung hatten bei diesem fünften Mord den höchsten Grad erreicht, und dasselbe war augenscheinlich bei der ganzen Zuschauermenge der Fall. Ebenso wie die andern schien auch dieser fünfte ruhig: er schlug die Schöße seines Arbeitskittels übereinander und scheuerte sich mit dem einen nackten Bein am andern.
Als ihm die Augen verbunden wurden, schob er selbst den Knoten am Hinterkopf zurecht, weil er ihn drückte; als man ihn dann gegen den blutigen Pfahl lehnen wollte, ließ er sich gegen ihn zurückfallen, und da ihm diese Stellung unbequem war, verbesserte er sie, stellte die Füße gleichmäßig nebeneinander und lehnte sich ruhig an. Pierre verwandte kein Auge von ihm, so daß ihm auch nicht die kleinste Bewegung entging.
Jedenfalls ertönte jetzt das Kommando, und jedenfalls krachten nach dem Kommando die Schüsse aus acht Gewehren. Aber so sehr sich Pierre nachher auch daran zu erinnern suchte, er hatte nicht den leisesten Ton von den Schüssen vernommen. Er hatte nur gesehen, wie aus irgendeinem Grund der Fabrikarbeiter plötzlich in den Stricken zusammensank, wie sich an zwei Stellen Blut zeigte, wie sich die Stricke unter der Last des in ihnen hängenden Körpers lockerten, wie der Arbeiter in unnatürlicher Weise den Kopf sinken ließ, das eine Bein unterschob und in eine sitzende Stellung zusammenknickte. Pierre lief nach dem Pfahl hin, ohne daß ihn jemand zurückgehalten hätte. Um den Arbeiter waren Menschen mit verstörten, bleichen Gesichtern beschäftigt, etwas zu tun. Einem alten, schnurrbärtigen Franzosen zitterte der Unterkiefer, als er die Stricke losband. Der Körper sank zu Boden. Die Soldaten schleppten ihn unbeholfen und eilig hinter den Pfahl und stießen ihn in die Grube.
Offenbar waren alle, ohne irgendwie daran zu zweifeln, sich dessen bewußt, daß sie Verbrecher waren, die die Spuren ihres Verbrechens so schnell wie möglich beseitigen mußten.
Pierre blickte in die Grube und sah den Fabrikarbeiter darin liegen: die Knie waren nach oben gebogen, bis nahe an den Kopf heran, die eine Schulter höher hinaufgezogen als die andere. Und diese Schulter hob und senkte sich krampfhaft und gleichmäßig. Aber schon warfen die Spaten Erde in Menge über den ganzen Körper. Einer der Soldaten schrie in einem Ton, in dem sich Zorn, Grimm und Schmerz mischten, Pierre an, er solle zurückgehen. Aber Pierre verstand ihn gar nicht; er blieb an der Grube stehen, und niemand trieb ihn von dort weg.
Als die Grube dann zugeschüttet war, ertönte ein Kommando. Pierre wurde wieder auf seinen Platz geführt; die französischen Truppen, die auf beiden Seiten des Pfahls mit der Front nach diesem hin gestanden hatten, machten eine halbe Schwenkung und begannen in gleichmäßigem Schritt an dem Pfahl vorbeizumarschieren. Die Schützen, die bei der Exekution geschossen hatten und innerhalb des Kreises standen, begaben sich, während ihre Kompanien an ihnen vorbeimarschierten, im Laufschritt an ihre Plätze.
Gedankenlos blickte Pierre jetzt nach diesen Schützen hin, die paarweise aus dem Kreis herausliefen. Alle außer einem waren wieder in ihre Kompanien eingetreten. Nur ein junger Soldat stand immer noch mit leichenblassem Gesicht der Grube gegenüber auf dem Fleck, von dem aus er geschossen hatte; der Tschako war ihm weit nach hinten gerutscht, das Gewehr hielt er gesenkt. Er taumelte wie ein Betrunkener und machte bald ein paar Schritte vorwärts, bald rückwärts, um seinem Körper, der zu fallen drohte, eine Stütze zu geben. Ein alter Soldat, ein Unteroffizier, lief aus Reih und Glied zu ihm, faßte den jungen Soldaten an der Schulter und zog ihn in die Kompanie herein. Der Haufe der zuschauenden Russen und Franzosen begann sich zu verteilen. Alle gingen schweigend mit gesenkten Köpfen.
»Nun wird ihnen die Lust zu Brandstiftungen schon vergehen!« sagte einer der Franzosen.
Pierre wandte sich nach dem Sprecher um und sah, daß es ein Soldat war, der sich, so gut es ging, über das Geschehene trösten wollte, es aber doch nicht vermochte. Ohne noch etwas hinzuzufügen, machte er eine Handbewegung, als würfe er etwas hinter sich, und ging weiter.
XII
Nach der Exekution wurde Pierre von den andern Inhaftierten abgesondert und allein in einer kleinen verwüsteten und beschmutzten Kirche untergebracht.
Gegen Abend kam ein Unteroffizier von der Wache mit zwei Soldaten in die Kirche und kündigte Pierre an, er sei begnadigt und komme jetzt in die Baracken der Kriegsgefangenen. Ohne zu verstehen, was zu ihm gesagt wurde, stand Pierre auf und ging mit den Soldaten mit. Er wurde nach den Baracken gebracht, die oberhalb des Feldes aus angebrannten Dielen, Balken und Brettern errichtet waren, und in eine derselben hineingeführt. In der fast völligen Dunkelheit umringten ihn etwa zwanzig Menschen. Er sah sie an, ohne zu begreifen, was das für Menschen waren, warum sie da waren und was sie von ihm wollten. Er hörte die Worte, die sie zu ihm sagten; aber er konnte nichts daraus entnehmen und folgern, da er ihren Sinn nicht ordentlich verstand. Er antwortete zwar auf das, wonach er gefragt wurde; aber er machte sich kein Bild von demjenigen, der seine Antwort hörte, und dachte gar nicht daran, wie seine Antwort aufgenommen werden mochte. Er blickte die Gesichter und Gestalten an, und alle erschienen ihm in gleicher Weise unverständlich.
Von dem Augenblick an, wo Pierre diese furchtbaren Mordtaten mit angesehen hatte, die von Menschen ausgeführt wurden, die das gar nicht nach eigenem Willen taten, war gleichsam aus seiner Seele die Triebfeder herausgerissen, die alles zusammenhielt und dem ganzen Leben verlieh, und nun war alles zu einem Haufen wertlosen Gerümpels zusammengefallen. In seinem Innern war, obgleich er sich darüber keine Rechenschaft gab, der Glaube an eine vernünftige Einrichtung der Welt und an die menschliche Seele und an seine eigene Seele und an Gott vernichtet. Diesen Zustand hatte Pierre schon früher durchgemacht, aber nie in solcher Stärke wie jetzt. Wenn ihn früher solche Zweifel befallen hatten, so war die Quelle dieser Zweifel ein eigenes Verschulden seinerseits gewesen. Und Pierre hatte dann in tiefster Seele die Empfindung gehabt, daß er die Möglichkeit einer Rettung aus dieser Verzweiflung und diesen Zweifeln in sich selbst besaß. Aber jetzt fühlte er, daß nicht ein eigenes Verschulden die Ursache davon war, daß die Welt vor seinen Augen zusammengestürzt und nur wertlose Trümmer übriggeblieben waren. Er fühlte, daß es nicht in seiner Macht lag, zum Glauben an das Leben zurückzukehren.
Um ihn herum standen im Dunkeln Menschen; es mußte sie wohl etwas an ihm sehr interessieren. Sie erzählten ihm etwas, fragten ihn nach etwas und führten ihn dann irgendwohin, und er befand sich endlich in einer Ecke der Baracke neben einer Anzahl von Menschen, die herüber und hinüber miteinander redeten und lachten.
»Und nun seht mal, liebe Brüder: derselbe Prinz, welcher …«, sagte ein Märchenerzähler in der gegenüberliegenden Ecke der Baracke; auf das Wort »welcher« legte er einen ganz besonderen Nachdruck.
Schweigend und ohne sich zu rühren saß Pierre an der Wand auf dem Stroh und hielt die Augen bald geöffnet, bald geschlossen. Aber sowie er die Augen schloß, sah er vor sich das entsetzliche, gerade durch seinen einfältigen Ausdruck besonders entsetzliche Gesicht des Fabrikarbeiters und die in ihrer Unruhe noch entsetzlicheren Gesichter der unfreiwilligen Mörder. Und er öffnete die Augen wieder und blickte gedankenlos in der Dunkelheit um sich.
Neben ihm saß zusammengekrümmt ein kleiner Mensch, dessen Anwesenheit Pierre zuerst an dem starken Schweißgeruch wahrnahm, der von ihm bei jeder Bewegung ausging. Dieser Mensch nahm in der Dunkelheit irgend etwas mit seinen Füßen vor, und obwohl Pierre sein Gesicht nicht sah, hatte er doch das Gefühl, daß dieser Mensch ihn unverwandt anblickte. Genauer in der Dunkelheit hinsehend, erkannte Pierre, daß der Mensch sich das Schuhzeug auszog. Und die Art, in der er das tat, erweckte Pierres Interesse.
Nachdem er die Schnüre abgewickelt hatte, mit denen das eine Bein umwunden war, legte er sie sorgsam zusammen und nahm sogleich das andere Bein in Angriff, hielt aber dabei seinen Blick auf Pierre gerichtet. Während dann die eine Hand jene Schnüre anhängte, war die andere schon dabei, das andere Bein aufzuwickeln. Nachdem der Mann auf diese Weise sorgfältig mit geschickten, zweckmäßigen, ohne Zögern aufeinanderfolgenden Bewegungen sich seines Schuhzeugs entledigt hatte, hängte er es an Pflöcke, die über seinem Kopf an der Wand angebracht waren, holte ein Messerchen hervor, schnitt irgend etwas ab, klappte das Messerchen wieder zusammen und schob es unter das Kopfkissen; dann setzte er sich bequemer hin, umfaßte seine hochgezogenen Knie mit beiden Händen und blickte Pierre gerade an. Pierre hatte ein angenehmes Gefühl der Beruhigung und Befriedigung bei diesen zweckmäßigen Bewegungen, bei dieser wohleingerichteten Wirtschaft in der Ecke, sogar bei dem Geruch dieses Menschen, und sah ihn auch seinerseits mit unverwandten Augen an.
»Sie haben auch wohl schon viel Schlimmes erlebt, gnädiger Herr? Wie?« fragte der kleine Mensch auf einmal.
In dem singenden Ton des Menschen lag soviel schlichte Freundlichkeit, daß Pierre ihm schon antworten wollte; aber der Unterkiefer begann ihm zu zittern, und er fühlte, daß ihm die Tränen kamen. Der kleine Mensch jedoch fuhr gleich in demselben Augenblick, ohne ihm Zeit dazu zu lassen, seine Gemütsbewegung zu zeigen, in demselben angenehmen Ton fort.
»Ei was, mein lieber Falke, laß den Kopf nicht hängen«, sagte er in jener zärtlich singenden, freundlichen Art, in der die alten Frauen in Rußland zu reden pflegen. »Laß den Kopf nicht hängen, lieber Freund; das Leben ist lang, und das Leid währt nur ein Stündchen. Ja gewiß, so ist das, mein Lieber. Und hier, wo wir jetzt sind, geschieht uns ja, Gott sei Dank, nichts Böses. Es gibt auch bei den Franzosen gute und schlechte Menschen.« Während er noch so sprach, bog er sich mit einer geschmeidigen Bewegung nach vorn, so daß er kniete, stand dann auf und ging hüstelnd weg; wohin, konnte Pierre nicht sehen.
»Ei sieh mal, du Schelm, bist du gekommen?« hörte Pierre vom andern Ende der Baracke her dieselbe freundliche Stimme sagen. »Bist du gekommen, du Schelm? Hast du an mich gedacht? Na, na, nun laß nur gut sein!«
Der Soldat wehrte ein Hündchen ab, das an ihm in die Höhe sprang, kehrte zu seinem Platz zurück und setzte sich wieder hin. In der Hand hatte er etwas, was in einen Lappen gewickelt war.
»Hier, essen Sie, gnädiger Herr!« sagte er, indem er wieder zu dem früheren respektvollen Ton zurückkehrte; er schlug den Lappen auseinander und reichte Pierre einige gebratene Kartoffeln hin. »Zum Mittagessen haben wir Suppe gehabt. Aber die Kartoffeln sind ausgezeichnet!«
Pierre hatte den ganzen Tag über noch nichts gegessen, und die Kartoffeln rochen ihm höchst angenehm. Er dankte dem Soldaten und begann zu essen.
»Aber so ißt du?« sagte der Soldat lächelnd und nahm eine von den Kartoffeln. »Sieh mal, so mußt du es machen!«
Er holte das Taschenmesser wieder hervor, zerschnitt die Kartoffel auf seiner flachen Hand in zwei gleiche Teile, bestreute sie mit Salz aus dem Lappen und hielt sie Pierre hin.
»Die Kartoffeln sind ausgezeichnet«, sagte er noch einmal. »Iß sie nur so!«
Es kam Pierre vor, als habe er noch nie ein wohlschmeckenderes Gericht als dieses genossen.
»Nein, mir ist nichts besonders Schlimmes widerfahren«, sagte Pierre. »Aber warum haben sie diese Unglücklichen erschossen …! Der letzte war erst gegen zwanzig Jahre alt.«
»Sst … sst …«, machte der kleine Mensch. »So etwas darf man hier nicht sagen …«, fügte er schnell hinzu, und wie wenn die Worte in seinem Munde immer fertig und bereit wären und ohne sein Zutun herausflatterten, fuhr er fort: »Wie hängt denn das zusammen, gnädiger Herr? Sind Sie so ohne Grund in Moskau geblieben?«
»Ich dachte nicht, daß sie so schnell kommen würden. Ich bin aus Versehen dageblieben«, antwortete Pierre.
»Aber wie haben sie dich denn gefangengenommen, mein lieber Falke? Aus deinem Haus heraus?«
»Nein, ich war gegangen, um mir die Feuersbrunst anzusehen, und da haben sie mich gegriffen und wegen Brandstiftung über mich Gericht gehalten.«
»Menschliches Gericht weiß von Wahrheit nicht«, schaltete der kleine Mensch ein.
»Und du, bist du schon lange hier?« fragte Pierre, während er die letzte Kartoffel kaute.
»Ich? Am vorigen Sonntag nahmen sie mich im Hospital in Moskau gefangen und brachten mich hierher.«
»Was bist du denn, Soldat?«
»Ja, vom Apscheroner Regiment. Ich war schwerkrank am Fieber. Kein Mensch hatte uns gesagt, wie es draußen stand. Wir lagen unser zwanzig Mann da. Wir wußten von nichts und ahnten nichts.«
»Sag mal, ist es dir ein Schmerz, hier zu sein?« sagte Pierre.
»Wie sollte es mir nicht ein Schmerz sein, lieber Falke? Ich heiße Platon, mit dem Familiennamen Karatajew«, fügte er hinzu, offenbar in der Absicht, wenn Pierre ihn anreden wollte, es ihm zu erleichtern. »Im Dienst hatten sie mir den Beinamen ›Falke‹ gegeben. Wie sollte es mir nicht ein Schmerz sein, lieber Falke? Moskau, das ist die Mutter aller unserer Städte. Wie sollte es einem nicht ein Schmerz sein, das zu sehen? Aber der Wurm nagt am Kohl und kommt doch selbst früher um als der; so pflegten die alten Leute zu sagen«, fügte er schnell hinzu.
»Wie war das? Was sagtest du da?« fragte Pierre.
»Ich?« erwiderte Karatajew. »Ich sagte: ›Der Mensch denkt, Gott lenkt.‹« Er glaubte wirklich, er habe das gesagt und wiederholte das Gesagte; dann fuhr er sogleich fort: »Haben Sie auch ein Erbgut, gnädiger Herr? Und ein Haus? Gewiß alles im Überfluß! Und auch eine Frau? Und sind Ihre alten Eltern noch am Leben?« fragte er.
Und obgleich Pierre es in der Dunkelheit nicht sehen konnte, so merkte er doch, daß die Lippen des Soldaten sich bei diesen Fragen zu einem leisen, freundlichen Lächeln verzogen. Und dann war es diesem offenbar ein Schmerz, zu hören, daß Pierre keine Eltern und besonders keine Mutter mehr habe.
»Man sagt wohl: mit der Frau in bester Eintracht, mit der Schwiegermutter auf freundlichem Fuß. Alles schön und gut; aber niemand ist doch liebevoller als die eigene Mutter!« sagte er. »Nun, und haben Sie Kinderchen?« fragte er weiter.
Pierres verneinende Antwort betrübte ihn offenbar wieder, und er bemerkte eilig:
»Nun, Sie und Ihre Frau sind ja noch jung; so Gott will, werden Sie schon noch welche bekommen. Nur hübsch einträchtig zusammenleben!«
»Ach, jetzt ist ja doch alles gleich«, sagte Pierre unwillkürlich.
»Ja, ja, mein Bester«, erwiderte Platon, »vor Armut und Gefängnis ist kein Mensch sicher.«
Er setzte sich bequemer zurecht, räusperte sich und schickte sich offenbar zu einer längeren Erzählung an.
»Ja, also, mein lieber Freund, ich wohnte damals noch bei uns zu Hause«, begann er. »Wir hatten ein schönes Erbgut, viel Land, die Bauern leben nicht schlecht, und es war unser eigenes Haus, Gott sei Dank. Mit sechs Mann ging der Vater zum Mähen. Wir hatten ein schönes Leben und hielten uns als rechte Christen. Da begab es sich …«
Und nun erzählte Platon Karatajew eine lange Geschichte, wie er einmal in einen fremden Wald gefahren sei, um Holz zu holen, und wie ihn der Waldaufseher dabei betroffen habe, und wie er durchgeprügelt und vor Gericht gestellt und unter die Soldaten gesteckt worden sei.
»Aber siehst du, mein lieber Falke«, fuhr er fort, und zwar in verändertem Ton, da er lächelte, »sie gedachten es böse mit mir zu machen, und es wurde doch gut. Mein Bruder hätte Soldat werden müssen, wenn ich es nicht für meine Sünde geworden wäre. Und mein jüngerer Bruder hatte schon fünf Kinderchen, während ich, siehst du wohl, nur eine Frau zurückließ, als ich Soldat wurde. Wir hatten ein kleines Mädchen gehabt; aber das hatte Gott noch vor meiner Soldatenzeit wieder zu sich genommen. Da kam ich nun einmal nach Hause, auf Urlaub, weißt du. Und da sah ich: sie lebten noch besser als früher. Der Hof voll Vieh, im Haus die Weiber, zwei Brüder standen auswärts in Arbeit. Nur Michail, der jüngste, war zu Hause. Und da sagte der Vater: ›Mir sind alle meine Kinder gleich lieb; jeder Finger, den man sich abhackt, tut gleich weh. Wenn sie Platon damals nicht zu den Soldaten genommen hätten, dann hätte Michail gehen müssen.‹ Und dann, kannst du das glauben? rief er uns alle zusammen und stellte uns vor die Heiligenbilder hin. ›Michail‹, sagte er, ›komm her und verneige dich tief vor deinem Bruder, und du, Weib, verneige dich auch, und ihr auch, ihr Enkelkinder. Versteht ihr wohl, warum?‹ sagte er. Ja, ja, so ist das, mein lieber Freund. Das Schicksal sucht sich immer den Richtigen. Aber wir räsonieren beständig: das ist nicht gut, und das ist nicht recht. Unser Glück, lieber Freund, ist wie ein Zugnetz im Wasser: wenn man’s schleppt, bauscht es sich auf, daß man sich Wunder was für Hoffnungen macht, und zieht man’s dann heraus, so ist nichts drin. Ja, so ist das.«
Platon setzte sich auf seinem Stroh anders zurecht.
Nachdem er ein Weilchen geschwiegen hatte, stand er auf.
»Nun, ich denke mir, du möchtest schlafen«, sagte er und begann sich schnell zu bekreuzen, wobei er sprach:
»Herr Jesus Christus, heiliger Nikola, Frola und Lawra! Herr Jesus Christus, heiliger Nikola, Frola und Lawra! Herr Jesus Christus, erbarme dich unser und rette uns!« schloß er, verbeugte sich bis zur Erde, seufzte und setzte sich wieder auf das Stroh. »Ja, so ist das. Gott, laß mich schlafen wie ein Stein und morgen frisch wie ‘n Kuchen sein«, sagte er, legte sich hin und zog den Mantel über sich.
»Was hast du denn da für ein Gebet gesprochen?« fragte Pierre.
»Was?« erwiderte Platon, der schon im Begriff war einzuschlafen. »Was ich gesprochen habe? Ich habe gebetet. Betest du denn nicht?«
»Doch, ich bete auch«, antwortete Pierre. »Aber was hast du da gesagt: Frola und Lawra?«
»Aber natürlich!« erwiderte Platon schnell. »Es ist doch ein Pferde-Festtag. Man muß sich auch des Viehes erbarmen … Ei sieh mal, du Schelm, hat er sich da zusammengerollt! Hat sich gewärmt, der Racker!« fuhr er fort, da er den Hund an seinen Füßen fühlte. Darauf drehte er sich wieder um und schlief sofort ein. Draußen ertönte irgendwo in der Ferne Jammern und Schreien, und durch die Ritzen der Baracke konnte man den Feuerschein sehen; aber in der Baracke war es still und dunkel.
Pierre konnte lange Zeit nicht einschlafen, sondern lag mit offenen Augen in der Dunkelheit auf seinem Platz da, horchte auf das gleichmäßige Schnarchen des neben ihm liegenden Platon und fühlte, daß in seiner Seele die vorhin zertrümmerte Welt jetzt in neuer Schönheit auf neuer, unerschütterlicher Grundlage sich wieder erhob.
XIII
In der Baracke, in die Pierre gebracht worden war und in der er dann vier Wochen verlebte, befanden sich als Gefangene drei Offiziere, dreiundzwanzig Gemeine und zwei Beamte.
Sie alle standen, wenn Pierre später an diese Zeit zurückdachte, ihm nur wie in einem Nebel vor Augen; Platon Karatajew jedoch blieb ihm für immer die lebhafteste und teuerste Erinnerung, eine Verkörperung alles Guten, harmonisch Abgestimmten und Tüchtigen, was im Wesen des russischen Volkes liegt. Als Pierre am andern Tag beim Morgengrauen seinen Nachbar erblickte, fand er seinen ersten Eindruck der Tüchtigkeit und Harmonie voll bestätigt. Und zwar trug dazu in eigentümlicher Weise das Vorherrschen der rundlichen Formen in Platons äußerer Erscheinung bei: seine ganze Figur, in dem mit einem Strick umgürteten französischen Mantel, der Uniformmütze und den Bastschuhen, hatte etwas Rundliches. Sein Kopf war vollkommen rund, der Rücken, die Brust, die Schultern waren rundlich, sogar die Arme, die er immer so hielt, als ob er jeden Augenblick etwas umfassen wollte; auch sein angenehmes Lächeln und seine großen, braunen, zärtlich blickenden Augen waren rundlich.
Platon Karatajew mußte über fünfzig Jahre alt sein, nach seinen Erzählungen von den Feldzügen zu urteilen, die er vor langer Zeit als Soldat mitgemacht hatte. Er selbst wußte nicht, wie alt er war, und vermochte schlechterdings nicht, es genauer anzugeben. Aber seine leuchtend weißen, kräftigen Zähne, die sämtlich als zwei Halbkreise sichtbar wurden, sobald er lachte (was er oft tat), waren noch alle gut und heil; in seinem Bart und auf seinem Kopf fand sich noch kein einziges graues Haar, und sein ganzer Körper machte den Eindruck der Biegsamkeit und ganz besonders der Festigkeit und Ausdauer.
Sein Gesicht trug trotz der kleinen, rundlichen Runzeln das Gepräge der Harmlosigkeit und Jugendlichkeit; seine Stimme war angenehm und hatte etwas Singendes. Die Haupteigentümlichkeit seiner Redeweise aber bestand in einer frischen Natürlichkeit und in den gesunden Gedanken. Offenbar dachte er nie an das, was er gesagt hatte und noch sagen wollte, und daher lag in der Schnelligkeit und Treuherzigkeit, mit der er sprach, eine ganz besondere unwiderstehliche Überzeugungskraft.
Seine physischen Kräfte und seine Gelenkigkeit waren in der ersten Zeit seiner Gefangenschaft so erstaunlich, daß es schien, als wisse er gar nicht, was Müdigkeit und Krankheit seien. An jedem Tag sagte er abends, wenn er sich hinlegte: »Gott, laß mich schlafen wie ein Stein und morgen frisch wie ‘n Kuchen sein«; und wenn er morgens aufstand, so zog er immer in gleicher Weise mit den Schultern und sagte: »Legte mich ermüdet nieder, neugestärkt erwach ich wieder, reck und strecke meine Glieder.« Und in der Tat brauchte er sich abends nur hinzulegen, um sofort wie ein Stein zu schlafen, und morgens sich nur ein wenig zu recken, um sogleich, ohne eine Sekunde Zeitverlust, sich an irgendeine Arbeit machen zu können, wie Kinder sofort nach dem Aufstehen ihr Spielzeug zur Hand nehmen. Er verstand alles zu machen, zwar nicht sehr gut, aber auch nicht schlecht. Er buk, kochte, nähte, hobelte und flickte Stiefel. Er war immer beschäftigt, und nur am späten Abend gestattete er es sich, Gespräche zu führen, was er sehr liebte, und Lieder zu singen. Er sang seine Lieder nicht so, wie es Sänger tun, die wissen, daß man ihnen zuhört; sondern er sang, wie die Vögel singen, offenbar weil es ihm ebensosehr Bedürfnis war, diese Töne ausströmen zu lassen, wie man manchmal das Bedürfnis verspürt, sich zu recken oder umherzugehen. Und diese Töne waren stets von einer beinahe weiblichen Feinheit und Zartheit und hatten etwas Wehmütiges; und sein Gesicht nahm dabei immer einen sehr ernsten Ausdruck an.
Seitdem er in Gefangenschaft geraten war und sich wieder den Bart wachsen ließ, hatte er offenbar alles Fremde, Soldatische, das ihm angelernt worden war, wieder von sich geworfen und war unvermerkt zu seinem früheren ländlichen, bäuerlichen Wesen zurückgekehrt.
»Wenn der Soldat auf Urlaub nach Haus kommt, trägt er das Hemd wieder über den Hosen«, sagte er.
Von seiner Soldatenzeit sprach er nicht gern, obwohl er sich nicht beklagte und oft hervorhob, daß er in seiner ganzen Dienstzeit kein einziges Mal körperlich bestraft worden sei. Wenn er erzählte, so trug er vorzugsweise seine alten und ihm augenscheinlich besonders teuren Erinnerungen aus seinem Bauernleben vor. Die sprichwörtlichen Redensarten, mit denen er seine Rede ausstaffierte, waren nicht jene größtenteils unanständigen, kecken Wendungen, deren sich die Soldaten gern bedienen, sondern es waren dies Aussprüche, wie sie im Volk umgehen, Aussprüche, die, außer allem Zusammenhang betrachtet, recht unbedeutend erscheinen, aber plötzlich den Wert einer tiefen Weisheit bekommen, wenn sie an der richtigen Stelle angeführt werden.
Nicht selten sagte er etwas, das dem, was er vorher gesagt hatte, völlig entgegengesetzt war, und doch war das eine sowohl wie das andere richtig. Er sprach gern und sprach gut und schmückte seine Rede mit Koseworten und Sinnsprüchen, die er, wie Pierre meinte, sich selbst ersann; aber der Hauptreiz seiner Erzählungen lag darin, daß bei seiner Darstellung die einfachsten Ereignisse, manchmal dieselben Ereignisse, die auch Pierre, ohne sie weiter zu beachten, mitangesehen hatte, den Charakter einer würdevollen Schönheit erhielten. Gern hörte er zu, wenn einer der Soldaten abends Märchen erzählte (es waren immer ein und dieselben); aber am liebsten hörte er Erzählungen aus dem wirklichen Leben. Wenn er solche Erzählungen anhörte, lächelte er fröhlich, schaltete Bemerkungen ein und stellte Fragen, mit denen er darauf abzielte, sich die Schönheit dessen, was erzählt wurde, recht klarzumachen. Neigungen, Freundschaft und Liebe in dem Sinne, wie Pierre diese Empfindungen auffaßte, kannte Karatajew gar nicht; aber er liebte alles, womit ihn das Leben zusammenführte, und benahm sich liebevoll gegen alles, besonders gegen die Menschen, nicht gegen irgendwelche bestimmten Menschen, sondern gegen diejenigen Menschen, die er gerade vor sich hatte. Er liebte seinen Hund, er liebte seine Kameraden und die Franzosen, er liebte Pierre, der sein nächster Nachbar war; aber Pierre fühlte, daß Karatajew trotz all seiner freundlichen Zärtlichkeit gegen ihn (durch die er unwillkürlich dem höheren geistigen Leben Pierres den schuldigen Tribut abstattete) sich auch nicht einen Augenblick über die Trennung von ihm grämen würde. Und Pierre begann Karatajew gegenüber dasselbe Gefühl zu hegen.
Platon Karatajew war für alle übrigen Gefangenen ein ganz gewöhnlicher Soldat; sie nannten ihn »Falke« oder Platoscha, foppten ihn gutmütig und schickten ihn zu Besorgungen aus. Aber für Pierre blieb er allezeit das, als was er ihm am ersten Abend erschienen war: die ideale, harmonisch abgerundete, ewige Verkörperung des Geistes der Einfalt und Wahrheit.
Platon Karatajew wußte nichts auswendig als sein Gebet. Wenn er seine Reden führte, so schien er am Anfang derselben nicht zu wissen, was er am Schluß sagen werde.
Wenn Pierre manchmal, überrascht durch den Inhalt seiner Rede, ihn bat, das Gesagte zu wiederholen, so war Platon nicht imstande, sich an das zu erinnern, was er einen Augenblick vorher gesagt hatte, ebensowenig wie er es vermochte, Pierre aus seinem Lieblingslied einzelne Stellen zu rezitieren. In diesem Lied kam vor: »Heimat« und »Birkenwäldchen« und »mir ist weh«; aber wenn er nur solche Worte anführen sollte, so kam nichts Vernünftiges heraus. Er verstand die Bedeutung der Worte nicht, sobald sie aus dem Zusammenhang herausgerissen waren, und konnte sie auch nicht verstehen. Jedes seiner Worte und jede seiner Handlungen war das Produkt einer ihm unbekannten wirkenden Kraft, und diese Kraft war sein Leben. Sein Leben aber hatte (und das war seine eigene Anschauung) als Sonderleben keinen Sinn und Wert. Sinn und Wert hatte es nur als Teil eines Ganzen, jenes Ganzen, das er beständig als solches fühlte. Seine Worte und Handlungen entströmten seinem innern Wesen ebenso gleichmäßig, notwendig und selbsttätig, wie der Duft sich von einer Blume loslöst. Er konnte weder den Wert noch die Bedeutung einer Handlung oder eines Wortes begreifen, wenn man sie aus ihrem Zusammenhang herausnahm.
XIV
Sobald Prinzessin Marja von Nikolai die Nachricht erhalten hatte, daß ihr Bruder sich mit Rostows in Jaroslawl befinde, beschloß sie sofort, trotz alles Abredens von seiten der Tante, hinzufahren, und sogar mit ihrem Neffen. Ob dies schwer oder leicht, möglich oder unmöglich war, danach fragte sie nicht und wollte es gar nicht wissen: sie sagte sich, es sei ihre Pflicht, nicht nur selbst bei ihrem vielleicht sterbenden Bruder zu sein, sondern auch alles mögliche zu tun, um ihm seinen Sohn zuzuführen; und so traf sie denn die nötigen Vorbereitungen. Wenn Fürst Andrei ihr nicht selbst eine Nachricht hatte zugehen lassen, so erklärte Prinzessin Marja sich dies damit, daß er wohl zu schwach sei, um zu schreiben, oder damit, daß er vielleicht meine, diese lange Reise sei für sie und seinen Sohn zu beschwerlich und zu gefährlich.
Nach Verlauf einiger Tage machte sich Prinzessin Marja auf den Weg. Ihre Beförderungsmittel bestanden aus der gewaltigen fürstlichen Kutsche, in welcher sie nach Woronesch gefahren war, einer Britschke und einem Bagagewagen. Mit ihr fuhren Mademoiselle Bourienne, Nikolenka mit seinem Erzieher, die alte Kinderfrau, drei Dienstmädchen, Tichon, ein junger Lakai und ein Heiduck, den ihr die Tante mitgegeben hatte.
Auf dem gewöhnlichen Weg über Moskau zu fahren, daran war gar nicht zu denker, und so mußte denn Prinzessin Marja den sehr langen Umweg über Lipezk, Rjasan, Wladimir und Schuja einschlagen, und dieser Weg war, weil es überall an Postpferden mangelte, sehr schwierig und in der Gegend von Rjasan, wo sich (wie es hieß) Franzosen gezeigt hatten, sogar gefährlich.
Während dieser schwierigen Reise waren Mademoiselle Bourienne, Dessalles und die Dienerschaft erstaunt über die Energie und seelische Festigkeit der Prinzessin Marja. Sie legte sich später als alle andern schlafen, stand früher als alle andern auf, und keinerlei Schwierigkeiten vermochten sie aufzuhalten. Dank ihrer Tatkraft und Energie, die auch auf ihre Gefährten anregend wirkte, näherten sie sich gegen Ende der zweiten Woche Jaroslawl.
In der letzten Zeit ihres Aufenthalts in Woronesch hatte Prinzessin Marja das schönste Glücksgefühl ihres Lebens empfunden. Ihre Liebe zu Rostow quälte und beunruhigte sie nicht mehr. Diese Liebe erfüllte ihre ganze Seele und war ein untrennbarer Teil ihres eigenen Selbst geworden, und sie kämpfte nicht mehr gegen diese Liebe an. In der letzten Zeit hatte Prinzessin Marja, obgleich sie es sich nie mit klaren, bestimmten Worten sagte, die Überzeugung gewonnen, daß sie geliebt wurde und liebte. Davon hatte sie sich bei ihrer letzten Begegnung mit Nikolai überzeugt, als dieser zu ihr gekommen war, um ihr mitzuteilen, daß ihr Bruder bei Rostows sei. Nikolai hatte mit keinem Wort darauf hingedeutet, daß jetzt (im Fall der Genesung des Fürsten Andrei) die früheren Beziehungen zwischen diesem und Natascha vielleicht wiederhergestellt werden würden; aber Prinzessin Marja hatte an seinem Gesicht gesehen, daß er dies dachte und glaubte. Und trotzdem war sein rücksichtsvolles, zartes, liebenswürdiges Benehmen ihr gegenüber unverändert geblieben; ja noch mehr: er schien sich sogar darüber zu freuen, daß nun das Verwandtschaftsverhältnis, in das er mit Prinzessin Marja treten werde, ihm erlaubte, seiner freundschaftlichen Liebe zu ihr (wie Prinzessin Marja manchmal dachte) einen freieren Ausdruck zu geben. Prinzessin Marja wußte, daß sie zum ersten- und letztenmal in ihrem Leben liebte, und war überzeugt, daß sie geliebt wurde, und fühlte sich glücklich und ruhig in diesem wechselseitigen Verhältnis.
Aber dieses Glück der einen Seite ihres Seelenlebens hinderte sie nicht, den Kummer um ihren Bruder in seiner vollen Gewalt zu empfinden; ja im Gegenteil, die geistige Ruhe, die sie nach dieser einen Richtung hin empfand, ermöglichte es ihr noch mehr, sich völlig ihrem Gefühl für ihren Bruder hinzugeben. Dieses Gefühl war im Augenblick ihrer Abreise von Woronesch so stark, daß ihre Reisegenossen beim Anblick ihres abgematteten, verzweifelten Gesichts überzeugt waren, sie werde sicher unterwegs krank werden; aber gerade die Schwierigkeiten und Sorgen der Reise, denen sich Prinzessin Marja mit solcher Energie widmete, retteten sie für einige Zeit vor ihrem Kummer und verliehen ihr Kraft.
Wie das während einer Reise immer so zu gehen pflegt, dachte Prinzessin Marja nur an die Reise selbst und vergaß darüber den Zweck der Reise. Aber als sie sich Jaroslawl näherten und sich ihr wieder der Gedanke an das aufdrängte, was ihr möglicherweise bevorstand, und nicht erst in einigen Tagen, sondern am Abend dieses selben Tages, da stieg die Aufregung der Prinzessin Marja auf den höchsten Grad. Der Heiduck war vorausgeschickt worden, um in Jaroslawl Erkundigungen einzuziehen, wo Rostows Quartier genommen hätten und in welchem Zustand sich Fürst Andrei befinde; und als er nun am Schlagbaum die große einfahrende Kutsche empfing, da erschrak er beim Anblick des entsetzlich blassen Gesichtes der Prinzessin, die sich aus dem Wagenfenster zu ihm hinauslehnte.
»Ich habe alles in Erfahrung gebracht, Euer Durchlaucht: Rostows wohnen am Markt, im Haus des Kaufmanns Bronnikow. Es ist nicht weit von hier, ganz dicht an der Wolga«, sagte der Heiduck.
Prinzessin Marja blickte ängstlich fragend nach seinem Gesicht und begriff nicht, warum er nicht auf die Hauptfrage antwortete: wie es ihrem Bruder gehe. Mademoiselle Bourienne stellte diese Frage für die Prinzessin.
»Was macht der Fürst?« fragte sie.
»Seine Durchlaucht wohnen mit ihnen in demselben Haus.«
»Also ist er doch am Leben«, dachte die Prinzessin und fragte lese: »Und wie geht es ihm?«
»Die Leute sagen: er befindet sich immer noch in demselben Zustand.«
Was das bedeutete: »immer noch in demselben Zustand«, danach wollte die Prinzessin nicht fragen; sie warf nur einen kurzen, unauffälligen Blick nach dem siebenjährigen Nikolenka hin, der vor ihr saß und sich über die fremde Stadt freute; dann ließ sie den Kopf sinken und hob ihn nicht eher wieder in die Höhe, als bis die schwere Kutsche polternd, schütternd und schaukelnd noch eine Strecke weitergefahren war und dann hielt. Rasselnd wurde der Wagentritt heruntergeschlagen.
Der Wagenschlag wurde geöffnet. Links war Wasser, ein großer Fluß, rechts eine Haustür mit Stufen davor; auf den Stufen standen Leute von der Dienerschaft und ein rotwangiges junges Mädchen mit einem großen schwarzen Zopf, das, wie es der Prinzessin Marja vorkam, in einer unangenehm gezwungenen Manier lächelte (es war Sonja). Die Prinzessin lief im Haus die Treppe hinauf, das junge Mädchen mit dem gezwungenen Lächeln sagte: »Hier, hier!«, und die Prinzessin befand sich im Vorzimmer einer alten Dame vom orientalischen Typus gegenüber, die ihr mit einem gerührten Gesichtsausdruck schnell entgegenkam. Es war die alte Gräfin. Sie umarmte Prinzessin Marja und küßte sie.
»Mein liebes Kind!« sagte sie. »Ich kenne und liebe Sie schon lange.«
Trotz all ihrer Aufregung merkte Prinzessin Marja doch, daß dies die Gräfin war, und fühlte, daß sie ihr etwas erwidern mußte. Ohne selbst zu wissen, wie sie es fertigbrachte, sagte sie zu ihr einige höfliche französische Worte in demselben Ton, in dem sie angeredet worden war, und fragte dann: »Wie geht es ihm?«
»Der Arzt sagt, es sei keine Gefahr vorhanden«, antwortete die Gräfin; aber während sie das sagte, richtete sie gleichzeitig die Augen nach oben, und in dieser Gebärde lag ein Ausdruck, der ihren Worten widersprach.
»Wo ist er? Kann ich ihn sehen? Ja?« fragte die Prinzessin.
»Sogleich, Prinzessin, sogleich, meine Liebe! Und das ist sein Sohn?« sagte die Gräfin, sich zu Nikolenka wendend, der soeben mit Dessalles eintrat. »Wir haben hier alle Platz; das Haus ist geräumig. Ach, was für ein allerliebster Knabe!«
Die Gräfin führte die Prinzessin in den Salon. Sonja war in einem Gespräch mit Mademoiselle Bourienne begriffen. Die Gräfin liebkoste den Knaben. Der alte Graf trat ins Zimmer und begrüßte die Prinzessin. Der alte Graf hatte sich außerordentlich verändert, seit die Prinzessin ihn zum letztenmal gesehen hatte. Damals war er ein frischer, heiterer, selbstbewußter alter Herr gewesen; jetzt machte er den Eindruck eines bemitleidenswerten, innerlich gebrochenen Menschen. Während er mit der Prinzessin sprach, blickte er beständig um sich, wie wenn er alle fragen wollte, ob er sich auch richtig benehme. Nach der Zerstörung Moskaus und dem Verlust seines Vermögens hatte er, aus seinem gewohnten Geleis herausgeworfen, offenbar das Bewußtsein seiner Position verloren und fühlte, daß er keine rechte Stelle mehr im Leben hatte.
Trotzdem Prinzessin Marja nur den einen Wunsch hatte, recht schnell ihren Bruder zu sehen, und es als peinlich empfand, daß Rostows in einem solchen Augenblick mit ihr ein Gespräch führten und heuchlerischerweise ihren Neffen lobten, bemerkte sie doch alles, was um sie herum geschah, und fühlte die Notwendigkeit, sich zunächst der neuen Ordnung des Hauses, in das sie eingetreten war, zu fügen. Sie wußte, daß all dies nun einmal nicht zu umgehen war, und es war ihr lästig; aber sie zürnte den Rostows deswegen nicht.
»Dies ist meine Nichte«, sagte der Graf, indem er Sonja vorstellte. »Sie kennen sie wohl noch nicht, Prinzessin?«
Die Prinzessin wandte sich zu ihr, suchte das feindliche Gefühl, das in ihrem Herzen gegen dieses Mädchen aufstieg, zu unterdrücken und küßte sie. Aber sie fühlte sich beklommen, weil die Stimmung all der Menschen, die sie umgaben, so sehr weit von den Empfindungen ablag, die ihre eigene Seele erfüllten.
»Wo ist er?« fragte sie noch einmal, sich an alle zugleich wendend.
»Er ist unten; Natascha ist bei ihm«, antwortete Sonja und errötete dabei. »Es ist schon jemand hingeschickt, um zu fragen, ob Sie zu ihm können. Aber ich meine, Sie werden müde sein von der Reise, Prinzessin?«
Der Prinzessin traten vor Verdruß die Tränen in die Augen. Sie wandte sich ab und wollte eben die Gräfin wieder fragen, wo es zu ihm hinginge, als in der Tür leichte, eilige, sozusagen fröhliche Schritte sich hören ließen. Die Prinzessin sah sich um und erblickte Natascha, die beinahe laufend hereinkam, jene Natascha, die ihr bei der nun schon weit zurückliegenden Begegnung in Moskau so wenig gefallen hatte.
Aber sowie die Prinzessin dieser Natascha ins Gesicht blickte, erkannte sie auch, daß dies eine aufrichtige Teilnehmerin an ihrem Kummer und darum ihre Freundin war. Sie eilte ihr entgegen, umarmte sie und weinte an ihrer Schulter.
Natascha hatte beim Fürsten Andrei am Kopfende seines Lagers gesessen, war, sobald sie von der Ankunft der Prinzessin Marja gehört hatte, leise mit jenen schnellen und, wie es der Prinzessin Marja vorkam, gewissermaßen fröhlichen Schritten aus seinem Zimmer gegangen und zu ihr geeilt.
Als sie ins Zimmer hereingelaufen kam, trug ihr aufgeregtes Gesicht nur einen Ausdruck, den Ausdruck der Liebe, der grenzenlosen Liebe zu ihm, zu der Prinzessin Marja, zu jedem, der dem geliebten Mann nahestand, den Ausdruck des Schmerzes und der Teilnahme für andere und des leidenschaftlichen Wunsches, sich selbst aufzuopfern, um ihnen zu helfen. Es war offensichtlich, daß Natascha in diesem Augenblick keinen Gedanken an sich und an ihr Verhältnis zu ihm in ihrer Seele hatte.
Die feinfühlige Prinzessin hatte dies alles beim ersten Blick in Nataschas Gesicht erkannt und weinte nun mit schmerzlichem Genuß an ihrer Schulter.
»Kommen Sie, Marja, wir wollen zu ihm hingehen«, sagte Natascha und führte sie in ein anderes Zimmer.
Prinzessin Marja hob ihr Gesicht in die Höhe, trocknete sich die Augen und wandte sich zu Natascha. Sie fühlte, daß sie von dieser alles erfahren und so alles verstehen werde.
»Wie …«, begann sie ihre Frage, hielt aber plötzlich inne.
Sie sagte sich, daß hier nicht mit Worten gefragt und geantwortet werden könne, sondern Nataschas Gesicht und Augen alles deutlicher und mit mehr Empfindung sagen würden.
Natascha sah sie an, schien aber in Angst und Zweifel zu sein, ob sie ihr alles, was sie wußte, sagen sollte oder nicht; sie hatte die Empfindung, als könne sie diesen leuchtenden Augen gegenüber, die bis in den tiefsten Grund des Herzens drangen, nicht umhin, die ganze Wahrheit, so wie sie sie kannte, auszusprechen. Nataschas Lippen fingen auf einmal an zu zucken, häßliche Falten bildeten sich um ihren Mund, und aufschluchzend verbarg sie ihr Gesicht in den Händen.
Prinzessin Marja verstand das alles.
Aber sie hoffte doch immer noch und fragte mit Worten, an die sie selbst nicht glaubte: »Aber wie steht es mit seiner Wunde? Und in welchem Zustand befindet er sich überhaupt?«
»Sie … Sie werden es sehen«, antwortete Natascha, außerstande noch etwas hinzuzufügen.
Sie saßen beide eine Zeitlang unten in einem Zimmer neben dem Krankenzimmer, um mit dem Weinen aufzuhören und dann mit ruhigen Gesichtern zu ihm hineinzugehen.
»Welchen Gang hat denn die Krankheit genommen? Ist es schon länger her, daß es mit ihm so schlecht steht? Wann ist das eingetreten?« fragte Prinzessin Marja.
Natascha erzählte, in der ersten Zeit habe infolge des fieberhaften, leidenden Zustandes Gefahr bestanden; aber im Troiza-Kloster sei dies vorübergegangen, und der Arzt habe nur noch vor dem Eintreten des kalten Brandes Besorgnis gehabt. Aber auch diese Gefahr sei geschwunden. Als sie nach Jaroslawl gekommen wären, habe die Wunde zu eitern begonnen (Natascha wußte mit Eiterung und dergleichen sehr gut Bescheid), und der Arzt habe gesagt, die Eiterung werde wohl einen normalen Verlauf nehmen. Dann habe sich Fieber eingestellt. Der Arzt habe gesagt, dieses Fieber sei nicht besonders gefährlich.
»Aber vor zwei Tagen«, berichtete Natascha weiter, »trat auf einmal das ein …« (Sie hielt mit Anstrengung das Schluchzen zurück.) »Ich weiß nicht, woher es gekommen ist; aber Sie werden sehen, in welchen Zustand er geraten ist.«
»Ist er schwach geworden? Abgemagert?« fragte die Prinzessin.
»Nein, das nicht, aber schlimmer. Sie werden ja sehen. Ach, Marja, er ist zu gut, zu gut; er kann nicht, kann nicht am Leben bleiben, weil …«
XV
Als Natascha mit einem geschickten, ihr bereits geläufig gewordenen Griff die Tür zum Zimmer des Fürsten Andrei öffnete und die Prinzessin vor sich eintreten ließ, da fühlte Prinzessin Marja schon, wie ihr das Schluchzen in die Kehle steigen wollte. Soviel sie sich auch vorbereitet und sich zu beruhigen versucht hatte, so war sie doch überzeugt, daß sie nicht imstande sein werde, bei dem Wiedersehen mit ihm die Tränen zurückzuhalten.
Prinzessin Marja glaubte verstanden zu haben, was Natascha mit den Worten: »Vor zwei Tagen trat auf einmal das ein«, hatte sagen wollen. Sie meinte, daß dies bedeuten sollte, er sei auf einmal weich geworden, und diese Weichheit und Rührung sei ein Anzeichen des nahen Todes. Als sie sich der Tür näherte, hatte sie schon im Geist Andreis Gesicht vor sich zu sehen geglaubt, so wie sie es in der Kindheit gekannt hatte, zärtlich, sanft, voll Rührung, wie sie es aber in späterer Zeit nur selten an ihm gesehen hatte, wo es dann eben deshalb immer besonders stark auf sie gewirkt hatte. Sie war überzeugt gewesen, daß er leise, zärtliche Worte zu ihr sprechen werde, so wie es der Vater vor seinem Tod getan hatte, und daß sie das nicht werde ertragen können, sondern an seinem Lager in Schluchzen ausbrechen werde. Aber ob früher oder später, es mußte sein, und sie trat ins Zimmer. Das Schluchzen rückte ihr immer näher an die Kehle, während sie mit ihren kurzsichtigen Augen immer deutlicher seine Gestalt unterschied und seine Züge zu erkennen suchte; und da sah sie auf einmal sein Gesicht, und ihre Blicke trafen einander.
Er lag auf einem Sofa, von Kissen umgeben, in einem mit Eichhornpelz gefütterten Schlafrock. Er war mager und blaß. In der einen seiner mageren, durchsichtig weißen Hände hielt er ein Taschentuch, mit der anderen berührte er, leise die Finger bewegend, den schmalen Schnurrbart, der ihm jetzt ohne Pflege lang gewachsen war. Seine Augen blickten nach den Eintretenden hin.
Als Prinzessin Marja sein Gesicht sah und ihre Blicke einander begegneten, mäßigte sie die Schnelligkeit ihres Ganges und fühlte, daß ihre Tränen auf einmal versiegten und ihr Schluchzen abbrach. Nachdem sie den Ausdruck seines Gesichtes und Blickes erfaßt hatte, wurde sie auf einmal befangen und fühlte sich schuldig.
»Aber inwiefern habe ich mich denn schuldig gemacht?« fragte sie sich.
»Deine Schuld besteht darin, daß du lebst und an einen Lebenden denkst, während ich …«, antwortete sein kalter, strenger Blick. In diesem tiefen Blick, mit welchem Fürst Andrei nicht aus sich heraus, sondern in sich hinein sah, lag beinahe etwas Feindseliges, als Fürst Andrei ihn langsam auf seine Schwester und auf Natascha richtete.
Die Geschwister küßten sich, indem sie einander zugleich die Hand drückten, wie sie das zu tun pflegten.
»Guten Abend, Marja, wie kommst du denn hierher?« sagte er mit einer Stimme, die so gleichmütig und fremdartig war wie sein Blick.
Hätte er voller Verzweiflung geschrien und gewinselt, so wäre Prinzessin Marja darüber weniger erschrocken gewesen als über den Klang dieser Stimme.
»Und auch Nikolenka hast du mitgebracht?« fuhr er ebenso gleichmütig und langsam fort; es kostete ihn augenscheinlich eine Anstrengung, sich zu erinnern.
»Wie steht es denn jetzt mit deinem Befinden?« fragte Prinzessin Marja; sie war selbst erstaunt darüber, daß sie redete.
»Danach mußt du den Arzt fragen, meine Liebe«, erwiderte er. Dann machte er offenbar wieder eine neue Anstrengung, um freundlich zu sein, und sagte auf französisch, nur mit dem Mund (es war klar, daß er das, was er sagte, überhaupt nicht dachte):
»Ich danke dir, meine Liebe, daß du hergekommen bist.«
Prinzessin Marja drückte ihm die Hand. Er runzelte bei ihrem Händedruck leise die Stirn. Er schwieg, und sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie verstand nun, was mit ihm vor zwei Tagen geschehen war. In seinen Worten, in seinem Ton und namentlich in diesem Blick, diesem kalten, beinahe feindseligen Blick, machte sich eine bei einem noch lebenden Menschen entsetzliche Abkehr von allem Irdischen fühlbar. Alles, was mit dem Leben zusammenhing, verstand er offenbar nur mit Mühe; aber dabei merkte man, daß ihm das Verständnis hierfür nicht deshalb mangelte, weil er der Fähigkeit zu verstehen beraubt gewesen wäre, sondern weil er etwas anderes verstand, etwas, was die Lebenden nicht verstanden und nicht verstehen konnten, und was ihn jetzt vollständig in Anspruch nahm.
»Ja, sieh, wie seltsam uns das Schicksal wieder zusammengeführt hat!« sagte er, das Stillschweigen unterbrechend, und wies dabei auf Natascha. »Sie pflegt mich immer.«
Prinzessin Marja hörte ihn, hatte aber kein Verständnis für das, was er sagte. Er, der zartfühlende, rücksichtsvolle Fürst Andrei, wie konnte er das in Gegenwart des Mädchens, das er liebte und das ihn liebte, sagen! Wenn er dächte, daß er am Leben bleiben werde, so hätte er das nicht in einem solchen kalten, kränkenden Ton gesagt. Wenn er nicht den Tod mit Sicherheit vor Augen sähe, so hätte er doch Mitleid mit ihr haben müssen und hätte das nicht in ihrer Gegenwart gesagt. Für sein Verhalten gab es nur eine Erklärung: daß ihm alles dies gleichgültig war, gleichgültig deswegen, weil sich ihm etwas anderes, Höheres erschlossen hatte.
Das Gespräch war kühl und unzusammenhängend und kam alle Augenblicke ins Stocken.
»Marja ist über Rjasan gefahren«, sagte Natascha.
Fürst Andrei beachtete es nicht, daß sie seine Schwester mit dem Vornamen nannte. Natascha aber, die es in seiner Gegenwart zum erstenmal getan hatte, wurde sich dessen bewußt.
»Nun, was ist dabei?« sagte er.
»Es war ihr erzählt worden, daß ganz Moskau niedergebrannt sei, vollständig eingeäschert, und daß …«
Natascha hielt inne: sie durfte nicht weiterreden; er machte offenbar alle Anstrengungen, um zuzuhören, brachte es aber nicht zustande.
»Ja, es ist niedergebrannt, wie man sagt«, erwiderte er. »Das ist sehr traurig.« Er blickte vor sich hin und strich gedankenlos mit den Fingern seinen Schnurrbart zurecht.
»Und du, Marja, bist mit dem Grafen Nikolai zusammengetroffen?« sagte er auf einmal, sichtlich mit dem Wunsch, den beiden etwas Angenehmes zu sagen. »Er hat hierher geschrieben, er habe dich sehr liebgewonnen«, fuhr er in ruhigem, harmlosem Ton fort, offenbar unfähig, die Bedeutung, welche seine Worte für Lebende hatten, in ihrem ganzen Umfang zu ermessen. »Wenn du ihn ebenfalls liebgewännest, so wäre es sehr gut; dann solltet ihr euch heiraten«, fügte er etwas schneller hinzu, als wenn er nach diesen Worten lange gesucht hätte und sich nun freute, sie endlich gefunden zu haben.
Prinzessin Marja hörte seine Worte; aber sie hatten für sie keine andere Bedeutung, als daß sie ihr bewiesen, wie furchtbar fern er jetzt allem stand, was mit dem Leben zusammenhing.
»Wozu sollen wir von mir sprechen!« erwiderte sie ruhig und blickte zu Natascha hin.
Natascha fühlte ihren Blick auf sich gerichtet, sah sie aber nicht an. Wieder schwiegen sie alle.
»Andrei, willst …«, sagte Prinzessin Marja auf einmal mit bebender Stimme, »willst du Nikolenka sehen? Er hat die ganze Zeit her von dir gesprochen.«
Fürst Andrei lächelte zum erstenmal ganz leise; aber Prinzessin Marja, die sein Gesicht so gut kannte, merkte zu ihrem Schrecken, daß dies nicht ein Lächeln der Freude, der Zärtlichkeit für seinen Sohn war, sondern ein Lächeln stillen, milden Spottes darüber, daß Prinzessin Marja das ihrer Meinung nach letzte Mittel anwandte, um ihn aus seiner Teilnahmslosigkeit aufzurütteln.
»Ja, ich werde mich sehr freuen, ihn zu sehen. Ist er gesund?«
Nikolenka sah, als man ihn zu seinem Vater brachte, diesen erschrocken an, weinte aber nicht, weil keiner der andern weinte. Fürst Andrei küßte ihn und wußte augenscheinlich nicht, was er mit ihm reden sollte.
Als Nikolenka wieder hinausgeführt war, trat Prinzessin Marja noch einmal zu ihrem Bruder heran, küßte ihn und brach, da sie sich nicht mehr beherrschen konnte, in Tränen aus.
Er blickte sie starr an.
»Weinst du um Nikolenka?« fragte er.
Unter Tränen nickte Prinzessin Marja bestätigend mit dem Kopf.
»Marja, du kennst doch das Evang …« Aber er brach plötzlich ab.
»Was sagst du?«
»Nichts, nichts. Zum Weinen ist hier kein Anlaß«, sagte er, indem er sie mit demselben kalten Blick ansah.
Als Prinzessin Marja in Tränen ausgebrochen war, hatte er recht wohl verstanden, daß ihre Tränen dem Knaben galten, der als Waise zurückbleiben werde. Sich Gewalt antuend hatte er versucht, zu den Interessen des Lebens zurückzukehren und sich auf den Standpunkt der beiden Mädchen zu versetzen.
»Ja, ihnen muß das traurig vorkommen«, hatte er gedacht. »Und wie einfach ist es doch!«
»Die Vögel unter dem Himmel säen nicht und ernten nicht; aber euer Vater nähret sie doch«, hatte er zu sich selbst gesagt und dasselbe auch zur Prinzessin sagen wollen. »Aber nein«, hatte er dann gedacht, »sie würden es auf ihre Art verstehen, sie würden es nicht verstehen! Das können sie nicht verstehen, daß alle diese Gefühle, auf die sie einen solchen Wert legen, alle diese unsere Gedanken, die uns so wichtig scheinen, hohl und nichtig sind. Wir können einander nicht verstehen!« Und so hatte er geschwiegen.
Der kleine Sohn des Fürsten Andrei war jetzt sieben Jahre alt; er konnte kaum lesen und wußte überhaupt noch nichts. Nach diesem Tag machte er in seinem Leben gar vieles durch, erwarb Kenntnisse, Beobachtungsfähigkeit und Erfahrung. Aber wenn er damals schon alle diese nachher erworbenen Fähigkeiten besessen hätte, so hätte er doch die ganze Bedeutung der Szene, die er zwischen seinem Vater, der Prinzessin Marja und Natascha sich abspielen sah, nicht besser und tiefer verstehen können, als er sie jetzt verstand. Er hatte alles verstanden, ging ohne zu weinen aus dem Zimmer, trat schweigend zu Natascha heran, die hinter ihm her das Zimmer verlassen hatte, und blickte sie schüchtern mit seinen nachdenklichen, schönen Augen an; seine hinaufgezogene rote Oberlippe zuckte, er schmiegte sich mit dem Kopf an sie und brach in Tränen aus.
Seit diesem Tag vermied er seinen Erzieher Dessalles, vermied er die Gräfin, die ihn immer liebkoste, und saß entweder still für sich allein, oder er trat schüchtern an Prinzessin Marja und Natascha heran, welche letztere er, wie es schien, noch mehr liebgewonnen hatte als seine Tante, und liebkoste sie leise und verlegen.
Als Prinzessin Marja von dem Fürsten Andrei herauskam, hatte sie alles das, was Nataschas Gesicht ihr gesagt hatte, völlig verstanden. Sie sprach mit Natascha nicht mehr von der Hoffnung auf Rettung seines Lebens. Sie löste sich mit ihr auf dem Platz an seinem Sofa ab und weinte nicht mehr; aber sie betete unablässig, indem sie ihre Seele zu Gott dem Ewigen, Unbegreiflichen hinwandte, der jetzt (das fühlte sie) über dem Haupt eines sterbenden Menschen gegenwärtig war.
XVI
Fürst Andrei wußte nicht nur, daß er sterben werde, sondern er fühlte auch, daß er jetzt schon im Sterben begriffen und bereits halb gestorben war. Er war sich bewußt, allem Irdischen entfremdet zu sein, und fühlte eine seltsame freudige Leichtigkeit des Daseins. Ohne Ungeduld und Unruhe erwartete er das, was ihm bevorstand. Jenes Drohende, Ewige, Unbekannte und Ferne, dessen Gegenwart er während seines ganzen Lebens fortwährend empfunden hatte, war ihm jetzt nahegerückt, und infolge jener seltsamen Leichtigkeit des Daseins, deren er sich erfreute, vermochte er es beinahe mit der Denkkraft und dem Empfindungsvermögen zu erfassen …
Früher hatte er sich vor dem Ende des Lebens gefürchtet. Zweimal hatte er dieses entsetzlich quälende Gefühl der Todesfurcht durchgemacht, und jetzt hatte er für dieses Gefühl gar kein Verständnis mehr.
Zum erstenmal hatte er dieses Gefühl damals gehabt, als die Granate sich vor ihm wie ein Kreisel drehte und er das zertretene Feld und die Sträuche und den Himmel ansah und wußte, daß da vor ihm der Tod war. Als er aber dann nach seiner Verwundung wieder zu sich kam und sich plötzlich in seiner Seele, wie von dem lastenden Druck des Lebens befreit, jene Blume der ewigen, freien, von diesem Leben unabhängigen Liebe erschloß, da fürchtete er den Tod nicht mehr und dachte nicht mehr an ihn.
Je mehr er in jenen Stunden leidvoller Einsamkeit und teilweisen Irreredens, die er nach seiner Verwundung durchlebte, sich in das neue Element der ewigen Liebe hineindachte, das sich ihm erschlossen hatte, um so mehr entfremdete er sich, ohne es selbst zu merken, dem irdischen Leben. Alles und alle lieben, stets sich selbst um der Liebe willen zum Opfer bringen, das hieß niemanden lieben, das hieß an diesem irdischen Leben nicht teilhaben. Und je mehr er sich von diesem Element der Liebe durchdringen ließ, um so mehr wandte er sich vom Leben ab und um so vollständiger zerstörte er jene furchtbare Schranke, die, wenn jene Liebe nicht vorhanden ist, zwischen dem Leben und dem Tod steht. Sooft er in jener ersten Zeit daran dachte, daß er werde sterben müssen, sagte er zu sich selbst: »Nun schön, um so besser!«
Aber dann kam jene Nacht in Mytischtschi, in der sein Zustand zwischen Fieberphantasien und Klarheit hin und her schwankte und auf einmal die vor ihm stand, nach der ihn verlangt hatte, und er ihre Hand an seine Lippen drückte und stille, frohe Tränen vergoß; nach dieser Nacht stahl sich die Liebe zu diesem einen Weib unvermerkt in sein Herz und verknüpfte ihn wieder mit dem Leben. Und freudige und unruhige Gedanken wurden in ihm rege. Wenn er sich an jenen Augenblick auf dem Verbandsplatz erinnerte, wo er Kuragin erblickt hatte, so vermochte er nun jenes Gefühl der Liebe bei sich nicht wieder wachzurufen; es quälte ihn die Frage, ob dieser Mann wohl noch am Leben sei. Und er wagte nicht, sich danach zu erkundigen.
Seine Krankheit nahm ihren physischen Verlauf; der Vorgang aber, den Natascha mit den Worten bezeichnete: »Es trat auf einmal das bei ihm ein«, trug sich zwei Tage vor der Ankunft der Prinzessin Marja zu. Zu seiner eigenen Überraschung wurde Fürst Andrei sich dessen bewußt, daß er noch Wert auf das Leben legte, in welchem ihm die Möglichkeit der Liebe zu Natascha winkte, und es folgte nun ein letzter seelischer Kampf zwischen dem Leben und dem Tod, wobei der Tod den Sieg davontrug, ein letzter, schließlich überstandener Anfall von Furcht vor dem Unbekannten.
Es war am Abend. Er befand sich, wie gewöhnlich nach dem Mittagessen, in einem leichten Fieberzustand, und seine Gedanken waren außerordentlich klar. Sonja saß am Tisch. Er war eingeschlummert. Plötzlich überkam ihn eine glückselige Empfindung.
»Ah, sie muß hereingekommen sein«, dachte er.
Und wirklich saß auf Sonjas Platz Natascha, die soeben mit unhörbaren Schritten ins Zimmer getreten war.
Seit der Zeit, wo sie seine Pflege übernommen hatte, hatte er immer diese physische Empfindung für ihre Nähe gehabt. Sie saß auf einem Lehnsessel, so daß sie ihm die Seite zuwendete und durch ihre Gestalt ihm als Schirm gegen das Licht der Kerze diente, und strickte einen Strumpf. (Sie hatte das Strumpfstricken gelernt, seit Fürst Andrei einmal zu ihr gesagt hatte, niemand verstehe sich so gut darauf, Kranke zu pflegen, wie die alten Kinderfrauen, welche Strümpfe strickten; in dem Strumpfstricken liege etwas Beruhigendes.) Ihre schlanken Finger hantierten schnell mit den Nadeln, die mitunter aneinanderschlugen, und das nachdenkliche Profil ihres herabgebeugten Gesichtes war ihm deutlich sichtbar. Bei einer zufälligen Bewegung, die sie machte, rollte das Knäuel von ihren Knien herunter. Sie schrak zusammen, blickte sich zum Fürsten Andrei um, verdeckte die Kerze mit der Hand, bog sich mit einer behutsamen, geschmeidigen, geschickten Bewegung nieder, hob das Knäuel auf und setzte sich wieder in ihrer früheren Haltung hin.
Er betrachtete sie, ohne sich zu rühren, und sah, daß es ihr nach dieser ihrer Bewegung Bedürfnis war, mit ganzer Brust Atem zu holen, daß sie dies aber absichtlich unterließ und recht vorsichtig aus- und einatmete.
Im Troiza-Kloster hatten sie über die Vergangenheit gesprochen, und er hatte zu ihr gesagt, wenn er am Leben bliebe, so würde er lebenslänglich Gott für seine Verwundung danken, die ihn wieder mit ihr zusammengeführt habe; aber seitdem hatten sie nie mehr über die Zukunft geredet.
»Kann es sein oder ist es unmöglich?« dachte er jetzt, während er sie ansah und auf das leise Klirren der stählernen Nadeln lauschte. »Hat mich das Schicksal wirklich nur darum in so seltsamer Weise wieder mit ihr zusammengeführt, damit ich nun doch sterbe …? Hat sich mir die Wahrheit des Lebens wirklich nur dazu erschlossen, damit ich doch in der Unwahrhaftigkeit weiterlebe? Ich liebe sie mehr als alles in der Welt. Aber was soll ich dagegen tun, wenn ich sie doch liebe?« sagte er zu sich und stöhnte auf einmal unwillkürlich auf, wie er sich das in seiner Leidenszeit angewöhnt hatte.
Sowie Natascha diesen Laut hörte, legte sie den Strumpf auf den Tisch, bog sich näher zu ihm hin und trat, als sie seine leuchtenden Augen bemerkte, mit einem leichten Schritt zu ihm und beugte sich über ihn.
»Sie schlafen nicht?«
»Nein, ich betrachte Sie schon lange; ich fühlte es, als Sie hereinkamen. Niemand gibt mir, wie Sie, diese weiche Stille, dieses Licht. Ich möchte geradezu weinen vor Freude.«
Natascha neigte sich noch näher zu ihm. Ihr Gesicht strahlte vor frohem Entzücken.
»Natascha, ich liebe Sie zu sehr, mehr als alles in der Welt.«
»Und ich?« Sie wandte sich einen Augenblick ab. »Warum denn zu sehr?«
»Warum zu sehr …? Nun, was sagt Ihnen Ihr Herz, was glauben Sie im tiefsten Herzen: werde ich am Leben bleiben? Was meinen Sie?«
»Ich bin überzeugt davon, fest überzeugt!« rief Natascha laut und ergriff mit einer leidenschaftlichen Bewegung seine beiden Hände.
Er schwieg ein Weilchen.
»Wie schön wäre das!« sagte er dann, nahm ihre Hand und küßte sie.
Natascha war glücklich und erregt; aber sogleich fiel ihr auch ein, daß ein solches Gespräch für ihn nicht gut sei und er Ruhe brauche.
»Aber Sie haben nicht geschlafen«, sagte sie, die Äußerungen ihrer Freude unterdrückend. »Geben Sie sich Mühe einzuschlafen; ich bitte Sie darum.«
Er drückte ihr die Hand und ließ sie dann los. Natascha ging wieder zu der Kerze und setzte sich so hin, wie sie vorher gesessen hatte. Zweimal sah sie sich nach ihm um; seine Augen leuchteten ihr entgegen. Sie stellte sich eine Aufgabe an ihrem Strumpf und nahm sich vor, sich nicht eher wieder nach ihm umzusehen, ehe sie diese nicht beendet habe.
Wirklich schloß er bald darauf die Augen und schlief ein. Er schlief nicht lange und erwachte auf einmal, von kaltem Schweiß bedeckt und in großer Unruhe.
Beim Einschlafen hatte er fortwährend an das gedacht, woran er diese ganze Zeit her gedacht hatte: an das Leben und den Tod. Und mehr an den Tod. Diesem fühlte er sich näher.
»Die Liebe? Was ist die Liebe?« hatte er gedacht.
»Die Liebe hindert den Tod. Die Liebe ist das Leben. Alles, alles, was ich verstehe, verstehe ich nur dadurch, daß ich liebe. Alles ist und existiert nur dadurch, daß ich liebe. Alles ist nur durch die Liebe miteinander verknüpft. Die Liebe ist Gott, und wenn ich sterbe, so bedeutet das, daß ich, ein Teilchen der Liebe, zu der gemeinsamen, ewigen Quelle zurückkehre.« Diese Gedanken erschienen ihm tröstlich. Aber doch waren es eben nur Gedanken. Es mangelte ihnen etwas; sie hatten etwas einseitig Persönliches, Verstandesmäßiges an sich; es war keine objektive Augenscheinlichkeit da. So befand er sich denn in Unruhe und Unklarheit. Er schlief ein.
Er träumte. Er liegt in demselben Zimmer, in dem er in Wirklichkeit lag; aber er ist nicht verwundet, sondern gesund. Viele verschiedene Personen, unbedeutende, gleichgültige Personen, stellen sich bei ihm ein. Er redet mit ihnen, disputiert mit ihnen über irgendeinen gleichgültigen Gegenstand. Sie schicken sich an wegzugehen. Es kommt ihm unklar zum Bewußtsein, daß alles dies nichtig ist und er andere, wichtigere Sorgen hat; aber dennoch redet er weiter, wertlose Witzworte, durch die er die Leute in Erstaunen versetzt. Allmählich verschwinden alle diese Personen eine nach der andern, und an die Stelle alles dessen, was bisher da war, tritt nun eine einzige Frage, die Frage des Verschließens der Tür. Er steht auf und geht zur der Tür hin, um den Riegel vorzuschieben und sie zuzuschließen. Davon, ob er sie noch rechtzeitig zuschließen kann oder nicht, hängt alles ab, alles. Er geht, er beeilt sich, seine Füße bewegen sich nicht, und er sieht ein, daß es ihm nicht gelingen wird, die Tür rechtzeitig zu verschließen; aber dennoch strengt er krampfhaft alle seine Kräfte an. Und eine qualvolle Angst packt ihn. Und diese Angst ist die Todesangst: draußen vor der Tür steht Es. Aber in dem Augenblick, wo er kraftlos und unbeholfen einherschleichend die Tür erreicht, drückt dieses furchtbare Es schon von außen gegen die Tür und pocht ungestüm dagegen. Etwas Unmenschliches, der Tod, pocht an die Tür, und er, Andrei, muß sie zuhalten. Er erfaßt die Tür und strengt seine letzten Kräfte an, um sie, da es zum Zuschließen zu spät ist, wenigstens zuzuhalten. Aber seine Kräfte sind zu schwach und zu unbeholfen, und die Tür, gegen die das Entsetzliche drückt, öffnet sich. Aber sie schließt sich wieder.
Noch einmal drückt Es von außen dagegen. Die letzten, übermenschlichen Anstrengungen sind vergeblich, und nun haben sich beide Türflügel geräuschlos geöffnet. Es ist eingetreten, und dieses Es ist der Tod. Und er, Andrei, ist gestorben.
Aber in demselben Augenblick, als er gestorben war, kam es dem Fürsten Andrei zum Bewußtsein, daß er nur schlafe, und in demselben Augenblick, als er gestorben war, machte er eine starke Anstrengung und erwachte.
»Ja, das war der Tod. Ich bin gestorben, ich bin erwacht. Ja, der Tod ist ein Erwachen!« Dieser Gedanke leuchtete auf einmal in seinem Geist auf, und der Vorhang, der bis dahin das Unbekannte verborgen hatte, hob sich vor seinem geistigen Blick in die Höhe. Es war ihm, als sei die bisher in seinem Innern gefesselte Kraft nun frei geworden, und er fühlte jene eigentümliche Leichtigkeit, die ihn von da an nicht mehr verließ.
Als er, von kaltem Schweiß bedeckt, wieder zu sich kam und sich auf dem Sofa bewegte, trat Natascha zu ihm und fragte ihn, wie er sich befinde. Er antwortete ihr nicht, sondern blickte sie, ohne sie zu verstehen, mit einem seltsamen Blick an.
Dies war es, was sich mit ihm zwei Tage vor der Ankunft der Prinzessin Marja zugetragen hatte. Seit diesem Tag hatte das Zehrfieber, wie der Arzt sagte, einen schlimmen Charakter angenommen; aber Natascha legte auf das, was der Arzt sagte, keinen Wert; sie sah diese furchtbaren seelischen Symptome, die ihr minder zweifelhaft waren.
Seitdem hatte für den Fürsten Andrei zugleich mit dem Erwachen aus dem Schlaf das Erwachen aus dem Leben begonnen. Und im Verhältnis zu der Dauer des Lebens erschien ihm dieses letzte Erwachen nicht langsamer als das Erwachen aus dem Schlaf im Verhältnis zu der Dauer des Traumes.
Es lag nichts Furchtbares und Schreckliches in diesem entsprechend langsamen Erwachen.
Seine letzten Tage und Stunden verliefen in der gewöhnlichen, natürlichen Weise. Auch Prinzessin Marja und Natascha, die nicht von seinem Lager wichen, fühlten das. Sie weinten nicht und schauderten nicht und waren sich in der letzten Zeit dessen bewußt, daß sie nicht mehr ihn (denn er selbst existierte nicht mehr, er war schon von ihnen gegangen), sondern nur die nächstliegende Erinnerung an ihn, seinen Körper, pflegten. Die Empfindungen der beiden Mädchen waren so tief und stark, daß die äußere, furchtbare Seite des Todes auf beide nicht wirkte und sie es nicht nötig fanden, ihren Schmerz anzureizen. Sie weinten weder im Krankenzimmer noch außerhalb desselben und sprachen auch nie von dem Kranken untereinander. Sie fühlten beide, daß sie unvermögend waren dem, was sie empfanden, mit Worten Ausdruck zu geben.
Beide sahen sie, wie er immer tiefer und tiefer, langsam und ruhig von ihnen hinwegsank in einen unbekannten Abgrund, und beide wußten, daß das so sein mußte und daß es gut so war.
Ein Geistlicher hörte seine Beichte und reichte ihm das Abendmahl; alle traten zu ihm heran, um von ihm Abschied zu nehmen. Als sein Sohn zu ihm gebracht wurde, berührte er ihn mit den Lippen, wandte sich dann aber ab, nicht weil es ihm zu ergreifend und schmerzlich gewesen wäre (Prinzessin Marja und Natascha verstanden das recht wohl), sondern nur weil er annahm, das sei alles, was man von ihm verlange; aber als ihm gesagt wurde, er möchte den Knaben doch auch noch segnen, da tat er auch dies noch und blickte um sich, als wollte er fragen, ob er vielleicht noch etwas tun müßte.
Als die letzten Zuckungen des Körpers eintraten, den der Geist schon verlassen hatte, waren Prinzessin Marja und Natascha bei ihm.
»Es ist wohl zu Ende!« sagte Prinzessin Marja, als der Körper schon einige Minuten regungslos vor ihnen dagelegen hatte und zu erkalten begann. Natascha trat hinzu, blickte in die toten Augen und beeilte sich, sie zuzudrücken. Sie drückte sie zu, küßte sie aber nicht, sondern sank andächtig nieder bei dem Körper, der die nächste Erinnerung an ihn selbst war.
»Wohin ist er gegangen? Wo ist er jetzt …?« dachte sie.
Als der Leichnam gewaschen und angekleidet im Sarg auf dem Tisch lag, traten alle an ihn heran, um Abschied zu nehmen, und alle weinten.
Nikolenka weinte vor schmerzlicher Verständnislosigkeit, die ihm das Herz zerriß. Die Gräfin und Sonja weinten aus Mitleid mit Natascha und darüber, daß er nun dahin war. Der alte Graf weinte darüber, daß, wie er fühlte, auch für ihn die Zeit herannahte, wo er denselben furchtbaren Schritt werde tun müssen.
Natascha und Prinzessin Marja weinten jetzt ebenfalls; aber sie weinten nicht aus persönlichem Gram, sondern infolge der andächtigen Rührung, von der ihre Seelen ergriffen waren angesichts des schlichten, erhabenen Mysteriums des Todes, das sich vor ihren Augen vollzogen hatte.
Dreizehnter Teil
I
Der menschliche Verstand vermag die Gesamtheit der Ursachen der Erscheinungen nicht zu begreifen. Aber das Bedürfnis, nach diesen Ursachen zu forschen, liegt in der Seele des Menschen. Da nun der menschliche Verstand in die zahllose Menge und mannigfaltige Verschlingung der die Erscheinungen begleitenden Umstände, von denen ein jeder, für sich betrachtet, als Ursache erscheinen kann, einzudringen nicht imstande ist, so greift er nach dem erstbesten, verständlichsten Moment, das mit einer Erscheinung in Berührung steht, und sagt: das ist die Ursache. Bei geschichtlichen Ereignissen, wo den Gegenstand der Untersuchung Handlungen von Menschen bilden, erscheint als ein solches Moment, das sich zuallererst darbietet, der Wille der Götter, demnächst der Wille derjenigen Personen, die bei dem betreffenden Ereignis auf dem sichtbarsten Platz stehen, der Helden der Geschichte. Aber man braucht nur in das Wesen eines historischen Ereignisses einzudringen, d.h. in die Tätigkeit der gesamten Masse der Menschen, die an dem Ereignis beteiligt gewesen sind, um sich zu überzeugen, daß der Wille eines Helden der Geschichte, weit entfernt die Tätigkeit der Massen zu lenken, vielmehr selbst beständig von ihnen gelenkt wird. Es könnte nun scheinen, als sei es gleichgültig, ob man die Bedeutung eines geschichtlichen Ereignisses in der einen oder in der andern Weise auffaßt. Aber zwischen dem, welcher sagt, die Völker des Westens seien nach dem Osten gezogen, weil Napoleon das gewollt habe, und dem, welcher sagt, dies sei deshalb geschehen, weil es geschehen mußte, besteht derselbe Unterschied, der zwischen denjenigen Menschen bestand, welche behaupteten, die Erde stehe fest und die Planeten bewegten sich um sie herum, und denjenigen, welche sagten, sie wüßten nicht, wodurch die Erde gehalten werde, sie wüßten aber, daß es Gesetze gebe, durch die die Bewegung der Erde sowohl als auch der andern Planeten regiert werde. Für ein historisches Ereignis gibt es keine anderen Ursachen und kann es keine anderen Ursachen geben als die einzige Ursache aller Ursachen. Aber es gibt Gesetze, welche die Ereignisse regieren, Gesetze, die wir teils nicht kennen, teils tastend fühlen. Die Aufdeckung dieser Gesetze ist nur dann möglich, wenn wir völlig darauf verzichten, die Ursachen in dem Willen eines einzelnen Menschen zu suchen, geradeso wie die Aufdeckung der Gesetze der Bewegung der Planeten erst dann möglich wurde, als die Menschen auf die Vorstellung vom Feststehen der Erde verzichteten.
Nach der Schlacht bei Borodino, der Besetzung Moskaus durch den Feind und dem Brand dieser Stadt betrachten die Geschichtsforscher als das wichtigste Ereignis des Krieges von 1812 den Marsch des russischen Heeres von der Rjasaner Straße nach der Kalugaer Straße und zu dem Lager bei Tarutino, den sogenannten Flankenmarsch hinter Krasnaja-Pachra. Den Ruhm dieser genialen Tat schreiben sie verschiedenen Personen zu und streiten darüber, wem derselbe rechtmäßig zukommt. Auch ausländische Geschichtsforscher, sogar französische, erkennen die Genialität der russischen Heerführer an, wenn sie von diesem Flankenmarsch sprechen. Aber warum die Kriegsschriftsteller, und in ihrem Gefolge alle Leute, annehmen, daß dieser Flankenmarsch eine besonders tiefsinnige Erfindung eines einzelnen Mannes gewesen sei, durch die Rußland gerettet und Napoleon ins Verderben gestürzt worden sei, das ist sehr schwer zu begreifen. Erstens ist schwer zu begreifen, worin denn das Tiefsinnige und Geniale dieses Marsches liegen soll; denn um einzusehen, daß die beste Stellung für eine Armee (wenn sie nicht angegriffen wird) da ist, wo sich die beste Verpflegungsmöglichkeit bietet, dazu bedarf es keiner großen geistigen Anstrengung; und ein jeder, selbst ein dummer Junge von dreizehn Jahren, konnte sich ohne Mühe sagen, daß im Jahre 1812 die vorteilhafteste Stellung für die Armee nach dem Rückzug von Moskau auf der Kalugaer Straße war. Somit ist nicht zu begreifen erstens, durch welche Vernunftschlüsse die Geschichtsforscher dazu gelangen, in diesem Manöver etwas Tiefsinniges zu sehen. Zweitens ist noch schwerer zu begreifen, worin die Geschichtsforscher eigentlich den großen Vorteil dieses Manövers für die Russen und seine Verderblichkeit für die Franzosen sehen; denn dieser Flankenmarsch hätte unter anderen vorhergehenden, begleitenden und nachfolgenden Umständen für das russische Heer verderblich und für das französische vorteilhaft werden können. Wenn von dem Zeitpunkt an, wo dieser Marsch erfolgte, die Lage des russischen Heeres sich besser gestaltete, so folgt daraus keineswegs, daß dieser Marsch die Ursache davon gewesen wäre.
Dieser Flankenmarsch hätte leicht für die russische Armee nicht nur nutzlos, sondern sogar verderblich sein können, wenn nicht außerdem mancherlei andere Umstände zusammengetroffen wären. Was wäre geschehen, wenn Moskau nicht abgebrannt wäre? Wenn Murat die Russen nicht aus den Augen verloren hätte? Wenn Napoleon nicht in Untätigkeit verharrt wäre? Wenn die russische Armee nach Bennigsens und Barclays Rat bei Krasnaja-Pachra eine Schlacht geliefert hätte? Was wäre geschehen, wenn die Franzosen die Russen angegriffen hätten, als diese jenseits der Pachra marschierten? Was wäre geschehen, wenn später Napoleon bei dem Anmarsch auf Tarutino die Russen auch nur mit dem zehnten Teil der Energie angegriffen hätte, die er bei Smolensk aufgewandt hatte? Was wäre geschehen, wenn die Franzosen ihren Marsch nach Petersburg gelenkt hätten? Bei all diesen Eventualitäten konnte die Nützlichkeit des Flankenmarsches in verhängnisvolle Schädlichkeit umschlagen.
Drittens, das Unbegreifliche ist dies, daß die Männer, die die Geschichte studieren, absichtlich nicht sehen wollen, daß man den Flankenmarsch nicht auf einen einzelnen Urheber zurückführen kann, daß ihn nie jemand vorausgesehen hat, daß dieses Manöver, gerade wie der Rückzug in Fili, zur Zeit der Ausführung nie jemandem in seiner Totalität vor Augen gestanden hat, sondern sich Schritt für Schritt, Stück für Stück, Moment für Moment aus einer zahllosen Menge der verschiedensten Umstände herausentwickelt und sich erst dann in seiner Totalität dargestellt hat, als es ausgeführt war und der Vergangenheit angehörte.
Bei dem Kriegsrat in Fili war bei den hohen russischen Militärs der vorherrschende Gedanke der als selbstverständlich erscheinende Rückzug in gerader Richtung nach rückwärts, d.h. auf der Straße nach Nischni-Nowgorod. Als Beweis dafür kann der Umstand dienen, daß die Mehrzahl der Stimmen im Kriegsrat in diesem Sinn abgegeben wurde, und ganz besonders die bekannte Besprechung, die der Oberkommandierende nach dem Kriegsrat mit Lanskoi, dem Intendanten des Verpflegungswesens, hatte. Lanskoi berichtete dem Oberkommandierenden, daß der Proviant für die Armee vorzugsweise an der Oka entlang, in den Gouvernements Tula und Kaluga, zusammengebracht sei, und daß im Fall des Rückzuges nach Nischni-Nowgorod die Proviantvorräte von der Armee durch den großen Okafluß getrennt sein würden, über den in der ersten Zeit des Winters die Überfahrt unmöglich sei. Dies war das erste Anzeichen für die Notwendigkeit von der geraden Richtung nach Nischni-Nowgorod abzuweichen, die vorher als die natürlichste erschienen war. Die Armee hielt sich mehr südlich, an der Rjasaner Straße, und näher an ihren Vorräten. In der Folge veranlaßten die Untätigkeit der Franzosen, die das russische Heer sogar aus den Augen verloren hatten, die Sorgen um die Verteidigung der Tulaer Gewehrfabrik und vor allem der Vorteil, den Vorräten dadurch näher zu kommen, dies alles veranlaßte die Russen, noch weiter südlich, auf die Tulaer Straße, abzubiegen. Als das Heer in einer gewagten Bewegung jenseits der Pachra auf die Tulaer Straße gelangt war, beabsichtigten die russischen Heerführer bei Podolsk zu bleiben, und kein Mensch dachte daran, eine Position bei Tarutino einzunehmen; aber eine zahllose Menge von Umständen und das Wiedererscheinen der französischen Truppen, die vorher das russische Heer aus den Augen verloren hatten, und allerlei Projekte für eine Schlacht und hauptsächlich die große Menge von Proviant in Kaluga bewogen unsere Armee, noch weiter nach Süden abzuschwenken und mitten in ihr Verpflegungsgebiet hinein nach Tarutino zu gehen, von der Tulaer auf die Kalugaer Straße. Geradeso wie auf die Frage, wann Moskau preisgegeben wurde, keine Antwort gegeben werden kann, ebensowenig ist dies möglich auf die Frage, wann und von wem der Beschluß gefaßt worden ist, nach Tarutino zu ziehen. Erst als die Truppen bereits infolge unzähliger Differentialkräfte nach Tarutino gelangt waren, erst da begannen die Menschen sich einzureden, daß sie dies gewollt und lange vorhergesehen hätten.
II
Der berühmte Flankenmarsch bestand nur darin, daß das russische Heer, das bisher immer nach der dem Angriff entgegengesetzten Richtung in gerader Linie zurückgewichen war, nun, nachdem der Angriff der Franzosen aufgehört hatte, von der ursprünglich eingeschlagenen geraden Richtung abwich und, da es keinen Verfolger mehr hinter sich sah, naturgemäß sich nach der Seite hinwandte, wohin es sich durch den Überfluß an Proviant gezogen fühlte.
Stellt man sich keine genialen Heerführer an der Spitze der russischen Armee vor, sondern denkt man sich, die Armee wäre ohne alle Leitung gewesen, so hätte auch eine solche Armee nichts anderes tun können als wieder in der Richtung auf Moskau marschieren, und zwar in einem Bogen nach der Seite zu, wo mehr Proviant und eine reichere Gegend war.
Dieser Übergang von der Straße nach Nischni-Nowgorod auf die Rjasaner, Tulaer und Kalugaer Straße war dermaßen natürlich, daß auch die Marodeure der russischen Armee nach derselben Richtung davonliefen und von Petersburg aus an Kutusow die Weisung erging, mit dem Heer gerade nach dieser Richtung zu marschieren. Als Kutusow sich bereits in Tarutino befand, ging ihm ein beinah im Ton eines Verweises gehaltenes Schreiben des Kaisers zu, in welchem dieser es mißbilligte, daß Kutusow die Armee auf die Rjasaner Straße geführt hatte, und ihm dieselbe Stellung gegenüber von Kaluga anwies, in welcher er sich schon in dem Augenblick befand, als der Brief des Kaisers in seine Hände kam.
Die Kugel, d.h. das russische Heer, welche in der Richtung des Stoßes zurückgerollt war, den sie während des ganzen Feldzuges und zuletzt in der Schlacht bei Borodino empfangen hatte, nahm, als die Kraft des Stoßes aufgehört hatte und sie keine neuen Stöße mehr empfing, diejenige Lage ein, die für sie die natürliche war.
Kutusows Verdienst bestand nicht in irgendeinem genialen strategischen Manöver, wie man es zu nennen pflegt, sondern darin, daß er allein die Bedeutung des sich vollziehenden Ereignisses begriff. Er allein begriff schon damals die Bedeutung der Untätigkeit der Franzosen; er allein verblieb beharrlich bei der Behauptung, daß die Schlacht bei Borodino ein Sieg gewesen sei; er allein, für den doch (möchte man meinen) seine Stellung als Oberkommandierender einen Anreiz zur Offensive hätte bilden sollen, er allein verwandte alle seine Kraft darauf, die russische Armee von nutzlosen Schlachten zurückzuhalten.