Aber Natascha, die alle Gebärden und Gedanken ihres Mannes kannte, sah, daß dieser sich schon längst vergeblich bemühte, das Gespräch in eine andere Bahn zu bringen und die Idee auszusprechen, die ihm ganz besonders am Herzen lag, eben die Idee, um derentwillen er nach Petersburg gefahren war, um dort mit seinem neuen Freund, dem Fürsten Fjodor, zu konferieren, und so kam sie ihm denn mit der Frage zu Hilfe, was er eigentlich mit dem Fürsten Fjodor zusammen vorhabe.

»Ja, worüber habt ihr denn verhandelt?« fragte Nikolai.

»Immer über denselben Gegenstand«, erwiderte Pierre und blickte rings um sich. »Jeder sieht, daß die Dinge einen so schlimmen Gang nehmen, daß man es nicht so weitergehen lassen darf und es die Pflicht jedes ehrenhaften Mannes ist, dem nach Kräften entgegenzuwirken.«

»Was können denn die ehrenhaften Männer dabei tun?« erwiderte Nikolai und zog die Stirn ein wenig zusammen. »Was ist dabei zu machen?«

»Die Sache ist die …«

»Wir wollen in mein Zimmer gehen«, sagte Nikolai.

Natascha, die schon längst erwartet hatte, daß man sie rufen werde, um den Kleinen zu nähren, hörte den Ruf der Kinderfrau und ging ins Kinderzimmer. Gräfin Maria ging mit ihr. Die Männer begaben sich in Nikolai Rostows Zimmer, und Nikolenka Bolkonski ging, ohne daß sein Onkel es bemerkte, auch mit und setzte sich in den Schatten, an den Schreibtisch beim Fenster.

»Na also, was werden Sie denn tun?« fragte Denisow.

»Immer Phantastereien«, sagte Nikolai.

»Die Sache ist die«, begann Pierre; er setzte sich nicht hin, sondern ging bald im Zimmer auf und ab, bald wieder blieb er stehen; beim Reden lispelte er und gestikulierte lebhaft mit den Armen. »Die Sache ist die. In Petersburg steht es so: der Kaiser kümmert sich um nichts. Er hat sich ganz dem Mystizismus in die Arme geworfen.« (Mystizismus verzieh Pierre niemandem.) »Er verlangt nur nach Ruhe, und diese Ruhe können ihm nur diese Männer ohne Treue und Gewissen verschaffen, die skrupellos alles niederschlagen und ersticken: Magnizki, Araktschejew und diese ganze Sorte … Du wirst zugeben: wenn du selbst dich nicht mit der Wirtschaft abgäbest und nur deine Ruhe haben wolltest, so würdest du deinen Zweck um so schneller erreichen, je strenger ein Vogt wäre«, sagte er, sich zu Nikolai wendend.

»Na, wozu sagst du das!« antwortete Nikolai.

»So geht nun alles zugrunde. In den Gerichten blüht das Bestechungsunwesen; beim Heer regiert nur der Stock; immer nur Exerzieren, dazu die Militärkolonien; das Volk wird gequält, die Bildung unterdrückt. Alles, was jung und ehrenhaft ist, richten sie zugrunde. Jedermann sieht, daß es so nicht weitergehen kann. Alles ist zu straff gespannt und muß mit Notwendigkeit reißen«, sagte Pierre, wie das, seit es überhaupt Regierungen gibt, die Menschen stets im Hinblick auf die Handlungen irgendeiner Regierung sagen. »Ich habe ihnen in Petersburg meine Meinung gesagt …«

»Wem?« fragte Denisow.

»Nun, ihr wißt schon, wem«, antwortete Pierre, indem er den beiden unter der gesenkten Stirn hervor einen bedeutsamen Blick zuwarf. »Dem Fürsten und ihnen allen. Ich habe ihnen gesagt: ›Zu wetteifern in Wohltätigkeit und in Verbreitung von Bildung, das ist ja alles ganz schön, selbstverständlich. Ein schönes Ziel, zweifellos; aber unter den jetzigen Umständen ist noch anderes vonnöten.‹«

In diesem Augenblick bemerkte Nikolai die Anwesenheit seines Neffen; sein Gesicht verfinsterte sich, und er ging auf ihn zu.

»Warum bist du hier?«

»Warum sollte er nicht? Laß ihn doch hierbleiben«, sagte Pierre und hielt seinen Schwager am Arm zurück; dann fuhr er fort: »Ich habe ihnen gesagt: ›Das genügt nicht; jetzt ist noch anderes vonnöten. Ihr steht da und wartet darauf, daß im nächsten Augenblick die zu straff gespannte Saite springt; alle warten auf die unausbleibliche Revolution. Aber was nottut, ist, daß wir mit möglichst vielen aus dem Volk und in möglichst engem Zusammenschluß einander die Hände reichen, um gegen die allgemeine Katastrophe anzukämpfen. Alle jungen, kräftigen Elemente werden nach jener Seite hinübergezogen und verdorben. Den einen verlocken die Weiber, den andern die Ehrenstellen, den dritten die Eitelkeit und das Geld, und so gehen sie in jenes Lager über. Unabhängige, freie Männer, wie ihr und ich, gibt es gar nicht mehr.‹ Ich habe ihnen gesagt: ›Erweitert den Umfang des Vereins; das Losungswort soll nicht allein Tugend heißen, sondern Unabhängigkeit und Tatkraft.‹«

Nikolai hatte von seinem Neffen abgelassen, ärgerlich seinen Stuhl an eine andere Stelle gerückt und sich darauf gesetzt; während er zuhörte, was Pierre sagte, hatte er sich unzufrieden geräuspert und ein immer finstereres Gesicht gemacht.

»Und welchen Zweck verfolgt denn diese Tatkraft?« rief er. »Und welche Stellung nehmt ihr der Regierung gegenüber ein?«

»Das will ich dir sagen: die Stellung von Helfern. Der Bund braucht kein geheimer zu sein, wenn die Regierung ihn gestattet. Er ist nicht nur der Regierung nicht feindlich, sondern im Gegenteil ein Bund echt konservativ gesinnter Männer, ein Bund von Gentlemen im vollen Sinn dieses Wortes. Nur damit nicht ein Pugatschew kommt, um meine und deine Kinder zu morden, und damit Araktschejew mich nicht in eine Militärkolonie schickt, nur darum reichen wir einander die Hände, und unser einziger Zweck ist das allgemeine Wohl und die allgemeine Sicherheit.«

»Ja, aber dieser Bund ist ein geheimer, folglich ist er regierungsfeindlich und schädlich und kann nur Böses hervorbringen.«

»Wieso? Hat etwa der Tugendbund, der Europa gerettet hat« (damals verstieg man sich noch nicht zu dem Gedanken, daß Rußland Europa gerettet habe), »irgendein Unheil angerichtet? Der Tugendbund ist die Liebe, die gegenseitige Hilfe; er ist das, was Christus am Kreuz gepredigt hat …«

Natascha, die mitten während dieses Gesprächs ins Zimmer gekommen war, betrachtete mit lebhafter Freude ihren Mann. Sie freute sich nicht über das, was er sagte. Das interessierte sie nicht einmal, weil es ihr schien, daß das alles außerordentlich einfach sei und sie das alles schon längst wisse (das schien ihr deshalb so, weil sie den Boden, auf welchem diese Anschauungen gewachsen waren, Pierres ganze Seele, so genau kannte); sondern sie freute sich beim Anblick seiner Lebhaftigkeit und Begeisterung.

Mit noch größerer Freude und Begeisterung hafteten an Pierres Gestalt die Blicke des von allen vergessenen Knaben mit dem schlanken Hals, der aus dem zurückgeschlagenen Hemdkragen hervorragte. Jedes Wort Pierres setzte sein Herz in hellere Glut, und mit nervösen Bewegungen der Finger zerbrach er, ohne es selbst zu bemerken, die Siegellackstangen und Federn, die ihm auf dem Schreibtisch seines Onkels in die Hände kamen.

»Es ist ganz und gar nicht so, wie du meinst; ich will dir sagen, was es mit dem deutschen Tugendbund für eine Bewandtnis hatte, und mit dem, den ich in Vorschlag bringe.«

»Na, mein Bester, für die Wurstmacher mag das ja ganz gut sein, dieser Tugendbund; aber ich habe kein Verständnis für ihn und mag seinen Namen gar nicht aussprechen«, ließ sich Denisow in lautem, entschiedenem Ton vernehmen. »Daß alles scheußlich und greulich ist, das ist auch meine Ansicht; bloß für den Tugendbund habe ich kein Verständnis. Der gefällt mir schon deshalb nicht, weil er sich als Rebellion1 bezeichnet. Das ist meine bescheidene Meinung.«

Pierre lächelte, Natascha lachte laut auf, Nikolai aber zog die Augenbrauen noch finsterer zusammen und wollte Pierre beweisen, daß keine Revolution zu befürchten sei und die ganze Gefahr, von der er spreche, nur in seiner Einbildung existiere. Pierre bewies das Gegenteil, und da seine geistigen Kräfte stärker und gewandter waren, so fühlte Nikolai, daß er bei der Debatte den kürzeren zog. Dies brachte ihn noch mehr auf, da er in tiefster Seele, nicht aufgrund von Vernunftschlüssen, sondern aufgrund von etwas, was stärker war als Vernunftschlüsse, die zweifellose Überzeugung hatte, daß seine Ansicht die richtige sei.

»Ich will dir etwas sagen«, hob er an, indem er aufstand; er versuchte mit nervösen Bewegungen seine Pfeife in die Ecke zu stellen, ließ sie aber schließlich hinfallen. »Beweisen kann ich dir das nicht. Du sagst, es sei bei uns alles schlecht und es komme eine Revolution; ich sehe davon nichts. Aber du sagst, ein Eid habe nur einen bedingten Wert, und darauf antworte ich dir: du weißt, daß du mein bester Freund bist; aber wenn ihr einen geheimen Bund bildet und anfangt, euch der Regierung, mag sie sein, wie sie will, zu widersetzen, so weiß ich, daß es meine Pflicht ist, ihr zu gehorchen. Und sollte mir Araktschejew gleich diesen Augenblick befehlen, mit einer Eskadron gegen euch loszureiten und euch niederzuhauen, ich würde, ohne mich eine Sekunde lang zu bedenken, losreiten. Darüber magst du nun denken, wie du willst.«

Nach diesen Worten trat ein unbehagliches Schweigen ein. Natascha war die erste, die wieder zu reden anfing: sie verteidigte ihren Mann und fiel über ihren Bruder her. Ihre Verteidigung war ja nur schwach und ungeschickt, erreichte aber doch ihren Zweck. Das Gespräch kam wieder in Gang, und zwar nun nicht mehr in dem unangenehm feindseligen Ton, in welchem Nikolai die letzten Worte gesprochen hatte.

Als alle aufstanden, um zum Abendessen zu gehen, trat Nikolenka Bolkonski zu Pierre heran; er war blaß, und seine Augen glänzten und leuchteten.

»Onkel Pierre … Sie … nein … Wenn Papa noch lebte … würde er mit Ihnen derselben Ansicht sein?« fragte er.

Pierre begriff sofort, welch eine eigenartige, selbständige, komplizierte, starke Arbeit des Empfindungs- und Denkvermögens in der Seele dieses Knaben während ihres Gesprächs vorgegangen sein mußte, und indem er sich schnell alles vergegenwärtigte, was er gesagt hatte, ärgerte er sich, daß der Knabe es mit angehört hatte. Indes mußte er ihm doch eine Antwort geben.

»Ich glaube, ja«, sagte er mit innerem Widerstreben und verließ das Zimmer.

Der Knabe senkte den Kopf und schien jetzt erst zu bemerken, was er auf dem Schreibtisch angerichtet hatte. Er wurde dunkelrot und trat an seinen Onkel Nikolai Rostow heran.

»Verzeih mir, Onkel; ich habe das hier gemacht … ohne Absicht«, sagte er und wies auf die zerbrochenen Siegellackstangen und Federn.

Nikolai zuckte ärgerlich zusammen.

»Gut, gut«, erwiderte er und warf die Bruchstücke des Siegellacks und der Federn unter den Tisch.

Er hielt offenbar nur mit Mühe den in ihm aufsteigenden Zorn zurück und wandte sich von ihm ab.

»Du hattest hier überhaupt nichts zu suchen«, sagte er.

Fußnoten


1 bunt heißt im Russischen die Rebellion.

Anmerkung des Übersetzers.


XV

Beim Abendessen handelte das Gespräch nicht mehr von Politik und Geheimbünden, sondern vielmehr von einem für Nikolai höchst angenehmen Gegenstand: von Erinnerungen an das Jahr 1812. Darauf hatte Denisow das Gespräch gebracht, und Pierre zeigte sich dabei ganz besonders liebenswürdig und unterhaltend. So trennten sich alle in der freundschaftlichsten Stimmung.

Nach dem Abendessen ging Nikolai in sein Zimmer, entkleidete sich dort und gab dem Verwalter, der auf ihn lange gewartet hatte, seine Befehle; dann begab er sich im Schlafrock ins Schlafzimmer, wo er seine Frau noch am Schreibtisch traf: sie schrieb etwas.

»Was schreibst du, Marja?« fragte Nikolai.

Gräfin Marja errötete. Sie fürchtete, daß das, was sie schrieb, bei ihrem Mann kein Verständnis und keinen Beifall finden werde.

Sie hätte es ihm gern verborgen, was sie schrieb; aber gleichzeitig freute sich sich auch darüber, daß er sie dabei getroffen hatte und sie es ihm nun sagen mußte.

»Es ist ein Tagebuch, Nikolai«, sagte sie und reichte ihm ein blaues Heftchen, das zum Teil mit ihren festen, großen Schreibzügen gefüllt war.

»Ein Tagebuch?« erwiderte Nikolai mit einem leisen Anflug von Spott und nahm das Heft in die Hand.

Darin stand auf französisch folgendes geschrieben:

»Den 4. Dezember. Heute wollte Andrei« (der älteste Sohn), »nachdem er aufgewacht war, sich nicht anziehen, und Mademoiselle Luise ließ mich rufen. Er war unartig und eigensinnig. Ich versuchte es mit Drohungen; aber er wurde nur noch halsstarriger. Da nahm ich die Erledigung der Sache ganz auf mich, wandte mich von ihm weg und begann mit der Kinderfrau die andern Kinder zurechtzumachen, ihm aber sagte ich, daß ich ihm böse sei. Er schwieg lange, als wenn er erstaunt wäre; dann sprang er aus dem Bett, kam im bloßen Hemd zu mir gelaufen und schluchzte so heftig, daß ich ihn lange Zeit nicht beruhigen konnte. Offenbar war ihm das allerschmerzlichste, daß er mich betrübt hatte. Nachher am Abend, als ich ihm sein Zettelchen gab, küßte er mich und begann wieder kläglich zu weinen. Durch Zärtlichkeit kann man bei ihm alles erreichen.«

»Was ist denn das: sein Zettelchen?« fragte Nikolai.

»Ich habe angefangen, den älteren Kindern jeden Abend kleine Zensuren zu geben, wie sie sich aufgeführt haben.«

Nikolai blickte in die leuchtenden Augen, die ihn anschauten, und fuhr fort zu blättern und zu lesen. In dem Tagebuch war alles aus dem Kinderleben aufgezeichnet, was der Mutter bemerkenswert erschienen war, weil es auf den Charakter der Kinder schließen ließ oder auf allgemeine Ideen über Erziehungsmethoden hinleitete. Es waren größtenteils ganz geringfügige Kleinigkeiten; aber weder die Mutter faßte sie so auf noch auch der Vater, als er jetzt zum erstenmal dieses Kindertagebuch las.

Unter dem 5. Dezember war notiert:

»Dmitri war bei Tisch unartig. Der Papa befahl, er sollte nichts von der süßen Speise bekommen. So geschah es auch; aber er sah die andern, während sie aßen, so kläglich und gierig an. Ich meine, daß eine Bestrafung durch Entziehung der süßen Speise nur die Gier entwickelt. Ich will das doch auch Nikolai sagen.«

Nikolai legte das Büchlein hin und blickte seine Frau an, deren leuchtende Augen auf ihn mit der stillen Frage gerichtet waren, ob das Tagebuch seinen Beifall habe oder nicht. Es war kein Zweifel darüber möglich, daß Nikolai nicht nur das Tagebuch billigte, sondern auch seine Frau aufrichtig bewunderte.

»Vielleicht braucht man das nicht in so pedantischer Weise zu machen; vielleicht ist es sogar überhaupt nicht nötig«, dachte Nikolai; aber diese unermüdliche, stetige geistige Anstrengung, deren Ziel nur das sittliche Wohl der Kinder war, erregte seine Bewunderung. Wäre er imstande gewesen, sich seiner eigenen Empfindungen klar bewußt zu werden, so würde er gefunden haben, daß die wichtigste Grundlage, auf der seine feste, zärtliche, stolze Liebe zu seiner Frau ruhte, immer dieses Gefühl der Bewunderung für ihr Seelenleben war, für diese hohe sittliche Welt, in der seine Frau stets lebte und die ihm selbst beinah unzugänglich war.

Er war stolz darauf, daß sie so klug und gut war, sah ein, daß er auf geistigem Gebiet hinter ihr zurückstand, und freute sich um so mehr darüber, daß sie mit ihrer Seele nicht nur ihm gehörte, sondern sogar einen Teil seines eigenen Ich bildete.

»Das hat meinen vollen Beifall, meinen vollen Beifall, liebe Frau«, sagte er mit wichtiger Miene, und nach kurzem Stillschweigen fügte er hinzu: »Aber ich habe mich heute schlecht benommen. Du warst nicht in meinem Zimmer. Ich hatte einen Streit mit Pierre und wurde dabei etwas heftig. Aber es war auch nicht zum Aushalten. Er ist ja das reine Kind. Ich weiß nicht, was aus ihm werden sollte, wenn ihn Natascha nicht noch im Zaum hielte. Kannst du dir vorstellen, warum er nach Petersburg gereist war? Sie haben da so eine Art Bund gestiftet …«

»Ja, ich weiß«, fiel Gräfin Marja ein. »Natascha hat es mir erzählt.«

»Na, also du weißt es«, fuhr Nikolai fort, der bei der bloßen Erinnerung an den Streit wieder hitzig wurde. »Er wollte mir beweisen, daß es die Pflicht jedes ehrenhaften Mannes sei, der Regierung entgegenzutreten, während doch Eid und Pflicht … Schade, daß du nicht dabei warst. Und da fielen sie alle über mich her, auch Denisow und Natascha … Natascha ist überhaupt eine zu komische Person. Sie hält ihn ja gehörig unter dem Pantoffel; aber sowie es zu einer Debatte kommt, hat sie gar keine eigenen Gedanken, sie redet geradezu mit Pierres eigenen Worten«, fügte Nikolai hinzu, da er jener unwiderstehlichen Neigung unterlag, die uns dazu verführt, gerade die Menschen, die uns die liebsten sind und uns am nächsten stehen, abfällig zu beurteilen.

Nikolai vergaß dabei, daß man Wort für Wort dasselbe, was er von Natascha sagte, auch von ihm selbst im Verhältnis zu seiner Frau sagen konnte.

»Ja, das habe ich auch bemerkt«, erwiderte Gräfin Marja.

»Als ich ihm sagte, Pflicht und Eid ständen höher als alles andre, fing er an, Gott weiß was zu beweisen. Schade, daß du nicht dabei warst; was hättest du dazu gesagt?«

»Meiner Ansicht nach hast du vollständig recht«, sagte Gräfin Marja. »Das habe ich auch zu Natascha gesagt. Pierre sagt, alle hätten jetzt schwer zu leiden, würden gepeinigt, gerieten auf Abwege, und es sei unsere Pflicht, unserm Nächsten zu helfen. Natürlich hat er recht; aber er vergißt, daß wir noch andere, nähere Pflichten haben, auf die uns Gott selbst hingewiesen hat, und daß wir zwar unsere eigene Person aufs Spiel setzen dürfen, aber nicht unsere Kinder.«

»Na ja, siehst du, genau dasselbe habe ich ihm auch gesagt«, rief Nikolai einfallend, der sich wirklich einbildete, dasselbe gesagt zu haben. »Aber sie blieben bei ihrem Satz, daß die Liebe zum Nächsten und das Christentum usw … Und das alles in Nikolenkas Gegenwart, der sich da ins Zimmer eingeschlichen hatte und alles zerbrach.«

»Ach ja, weißt du, Nikolai, Nikolenka macht mir so oft Sorge«, sagte Gräfin Marja. »Er ist ein ganz eigenartiger Charakter. Und ich fürchte, daß ich über der Beschäftigung mit meinen eigenen Kindern ihm nicht genug Teilnahme zuwende. Wir alle haben hier Kinder, jeder im Haus hat seine Familie, nur er hat niemanden. Er ist immer allein mit seinen Gedanken.«

»Nun, ich möchte doch meinen, daß du keinen Grund hast, dir seinetwegen Vorwürfe zu machen. Alles, was nur die zärtlichste Mutter für ihren Sohn tun kann, hast du für ihn getan und tust du noch für ihn. Und ich freue mich darüber natürlich. Er ist ein prächtiger, ganz prächtiger Junge. Heute hörte er in einer Art von Selbstvergessenheit zu, was Pierre sagte. Und denke mal: als wir hinausgehen wollen zum Abendbrot, da sehe ich, daß er auf meinem Schreibtisch alles kurz und klein gebrochen hat; und er sagte es auch sofort. Ich habe noch nie bemerkt, daß er die Unwahrheit gesagt hätte. Ein prächtiger, ganz prächtiger Junge!« sagte Nikolai noch einmal, dem der Knabe im Grunde des Herzens nicht sympathisch war, der aber immer gern hervorhob, daß er ein prächtiger Junge sei.

»Ich bin ihm doch kein Ersatz für eine Mutter«, sagte Gräfin Marja. »Ich fühle meine Unzulänglichkeit, und das ist mir ein Schmerz. Er ist ein wunderbarer Knabe; aber ich bin um ihn in großer Sorge. Es wäre für ihn nützlich, wenn er Gesellschaft hätte.«

»Nun, es dauert ja nicht mehr lange; im nächsten Sommer bringe ich ihn nach Petersburg«, antwortete Nikolai. »Ja, Pierre ist von jeher ein Phantast gewesen und wird immer einer bleiben«, fuhr er fort, indem er auf das Gespräch zurückkam, das sie in seinem Zimmer geführt hatten; dieses Gespräch hatte ihn offenbar sehr erregt. »Na, was gehen mich alle diese Dinge an, daß Araktschejew ein schlechter Mensch sein soll usw.? Was habe ich mich um all dergleichen damals geschert, als ich mich verheiratete und so viel Schulden hatte, daß meine Gläubiger mich ins Loch stecken wollten, und dazu die Mutter, die das nicht sehen und begreifen konnte? Und dann nachher, als ich dich hatte und die Kinder und die Wirtschaft. Bin ich denn etwa zu meinem Vergnügen vom Morgen bis zum Abend in der Wirtschaft und im Kontor tätig? Nein, ich weiß, daß ich arbeiten muß, um meine Mutter zu versorgen, um dir meine Schuld zurückzuzahlen und um die Kinder nicht als solche Bettler zurückzulassen, wie ich einer war.«

Gräfin Marja hätte ihm gern gesagt, der Mensch lebe nicht vom Brot allein und er lege diesen materiellen Dingen eine zu große Wichtigkeit bei; aber sie wußte, daß es keinen Zweck und keinen Nutzen hatte, das zu sagen. Sie ergriff nur seine Hand und küßte sie. Er faßte diese Handlung seiner Frau als ein Zeichen dafür, daß sie seine Anschauungen billige und teile, und nachdem er ein Weilchen schweigend nachgedacht hatte, fuhr er fort, seine Gedanken laut zu äußern.

»Weißt du, Marja«, sagte er, »heute ist Ilja Mitrofanowitsch« (dies war der Geschäftsführer) »von dem Gut im Tambowschen angekommen und berichtet, daß für den Wald schon achtzigtausend Rubel geboten sind.«

Und nun sprach Nikolai mit lebhafter Erregung von der Möglichkeit, in sehr kurzer Zeit Otradnoje wieder zurückzukaufen. »Wenn ich noch so zehn Jahre lebe, werde ich die Kinder in vorzüglichen Verhältnissen zurücklassen.«

Gräfin Marja hörte ihrem Mann zu und verstand alles, was er ihr sagte. Sie wußte, daß, wenn er in dieser Weise laut dachte, er sie manchmal fragte, was er gesagt habe, und ärgerlich wurde, wenn er merkte, daß sie an andere Dinge gedacht hatte. Aber sie mußte sich sehr zum Zuhören zwingen, da sie für das, was er sagte, gar kein Interesse hatte. Während sie ihn anblickte, hatte sie zwar nicht eigentlich andere Gedanken, aber andere Empfindungen. Sie empfand eine demütige, zärtliche Liebe zu diesem Mann, von dem sie wußte, daß er niemals Verständnis für alles das haben werde, wofür sie selbst Verständnis hatte; und es war, als liebe sie ihn deswegen noch stärker, mit einer Beigabe leidenschaftlicher Zärtlichkeit. Außer diesem Gefühl, das sie ganz erfüllte und sie hinderte, in alle Einzelheiten der Pläne ihres Mannes einzudringen, huschten ihr noch Gedanken durch den Kopf, die mit dem, was er sagte, nichts gemein hatten. Sie dachte an ihren Neffen (die Erzählung ihres Mannes von der Aufregung desselben bei Pierres Auseinandersetzungen hatte auf sie einen starken Eindruck gemacht), und es traten ihr mancherlei Züge seines zarten, empfindsamen Charakters vor die Seele; und bei dem Gedanken an ihren Neffen mußte sie dann auch an ihre eigenen Kinder denken. Sie verglich nicht den Neffen mit ihren Kindern, aber sie verglich ihr Gefühl für den einen mit ihrem Gefühl für die andern und fand zu ihrer Betrübnis, daß ihrem Gefühl für Nikolenka ein gewisser Mangel anhaftete.

Es kam ihr, wie auch sonst manchmal, der Gedanke, dieser Unterschied möge wohl vom Lebensalter herrühren; aber sie fühlte sich ihm gegenüber schuldig und gelobte sich im Herzen, sich zu bessern und das Unmögliche zu tun, d.h. in diesem Leben ihren Mann und ihre Kinder und Nikolenka und alle ihre Nächsten so zu lieben, wie Christus die Menschheit geliebt hat. Die Seele der Gräfin Marja strebte immer dem Unendlichen, Ewigen, Vollkommenen zu und konnte darum niemals völlig ruhig sein. Auch jetzt trat auf ihr Gesicht der tiefernste Ausdruck eines verborgenen schweren Leides der vom Körper beschwerten Seele. Nikolai blickte sie an. »Mein Gott«, dachte er, »was soll aus uns werden, wenn sie stirbt! Und wenn ihr Gesicht so aussieht, kommen mir die schlimmsten Ahnungen!« Er trat vor das Heiligenbild und sprach das Abendgebet.

XVI


Als Natascha mit ihrem Mann allein geblieben war, sprach sie gleichfalls mit ihm so, wie nur Mann und Frau miteinander sprechen, d.h. indem einer des andern Gedanken mit außerordentlicher Klarheit und Schnelligkeit erkennt und ihm ebenso die seinigen mitteilt, auf einem Weg, der allen Regeln der Logik zuwiderläuft, ohne das Mittel der Urteile, Schlüsse und Beweisführungen, vielmehr auf eine ganz besondere Weise. Natascha war dermaßen daran gewöhnt, mit ihrem Mann in dieser Art zu reden, daß ein logischer Gedankengang von seiten Pierres ihr als sicherstes Merkmal dafür diente, daß zwischen ihr und ihrem Mann irgend etwas nicht richtig war. Wenn er zu beweisen und vernunftgemäß und ruhig zu sprechen anfing, und wenn sie dann selbst, unwillkürlich seinem Beispiel folgend, dasselbe tat, so wußte sie, daß dies mit Sicherheit zu einem Streit führte.

Von dem Augenblick an, wo sie miteinander allein geblieben waren und Natascha mit weitgeöffneten, glückseligen Augen leise zu ihm herangetreten war, auf einmal schnell seinen Kopf gefaßt und an ihre Brust gedrückt und gesagt hatte: »Jetzt gehörst du ganz mir, ganz mir! Nun kannst du mir nicht davon!«, von diesem Augenblick an hatte dieses Gespräch begonnen, das allen Gesetzen der Logik zuwiderlief, ihnen schon deshalb zuwiderlief, weil gleichzeitig über ganz verschiedene Gegenstände gesprochen wurde. Und diese gleichzeitige Erörterung vieler Dinge tat der Klarheit des Verständnisses in keiner Weise Eintrag, ja, sie war sogar das sicherste Zeichen dafür, daß die beiden Gatten einander vollständig verstanden.

Wie im Traum alles unrichtig, sinnlos und widerspruchsvoll ist, mit Ausnahme des Gefühls, das dem Traum zugrunde liegt, so waren auch bei diesem Gedankenaustausch, der allen Gesetzen der Vernunft widersprach, folgerichtig und klar nicht die gesprochenen Sätze, sondern das zugrunde liegende Gefühl.

Natascha erzählte ihrem Mann von der Lebensweise ihres Bruders, und was für ein trauriges Leben sie während der Abwesenheit ihres Mannes geführt habe, eigentlich gar kein Leben, und daß ihre Liebe zu Marja noch stärker geworden sei, und daß Marja in jeder Hinsicht besser sei als sie. Indem Natascha das sagte, erkannte sie aufrichtig Marjas höheren Wert an; aber gleichzeitig verlangte sie doch von Pierre, er solle sie dieser und allen anderen Frauen vorziehen und solle ihr gerade jetzt, nachdem er in Petersburg so viele Frauen gesehen habe, dies von neuem versichern.

In Erwiderung auf Nataschas Mitteilungen erzählte ihr Pierre, wie unerträglich es ihm in Petersburg gewesen sei, Abendgesellschaften mitzumachen und mit Damen bei Tisch zu sitzen. »Ich habe es ganz verlernt, mich mit Damen zu unterhalten«, sagte er. »Es ist mir geradezu langweilig. Und noch dazu, da ich so sehr beschäftigt war.«

Natascha blickte ihn unverwandt an und fuhr fort:

»Marja ist ein entzückendes Wesen! Wie sie die Kinder versteht! Gerade als ob sie nur ihre Seelen sähe. Gestern z.B. war der kleine Dmitri unartig …«

»Was hat der für eine überraschende Ähnlichkeit mit seinem Vater!« bemerkte Pierre, seine Frau unterbrechend.

Natascha durchschaute sofort, warum er diese Bemerkung über die Ähnlichkeit des kleinen Dmitri mit Nikolai gemacht hatte: die Erinnerung an seinen Streit mit seinem Schwager war ihm unangenehm, und er wollte gern Nataschas Meinung darüber hören.

»Es ist eine Schwäche Nikolais«, sagte sie, »daß er um keinen Preis einer Ansicht zustimmt, wenn sie nicht allgemein angenommen ist. Du dagegen, das weiß ich, legst gerade Wert darauf, neue Bahnen zu erschließen.« Diese letzten Worte waren die Wiederholung eines Ausdrucks, den Pierre einmal gebraucht hatte.

»Nein«, erwiderte Pierre, »die Hauptsache ist dies: für Nikolai sind Gedanken und Überlegungen eine Spielerei, eigentlich nur ein Mittel, um die Zeit hinzubringen. Da sammelt er sich nun eine Bibliothek und hat es sich zum Grundsatz gemacht, kein neues Buch zu kaufen, ehe er nicht das zuletzt gekaufte durchgelesen hat. Schriften von Sismondi, Rousseau und Montesquieu«, fügte Pierre lächelnd hinzu. »Du weißt ja, wie ich ihn …«, begann er, um das Gesagte herabzumildern; aber Natascha unterbrach ihn und gab ihm dadurch zu verstehen, daß das nicht nötig sei.

»Du meinst also, daß die Gedanken für ihn nur eine Spielerei sind …«

»Ja, und für mich ist alles übrige Spielerei. Ich habe während der ganzen Zeit in Petersburg alle Menschen nur wie im Traum gesehen. Wenn mich ein Gedanke beschäftigt, so ist mir alles übrige Spielerei.«

»Ach, wie schade, daß ich nicht mit angesehen habe, wie du die Kinder begrüßt hast«, sagte Natascha. »Welche hat sich denn am meisten gefreut? Gewiß Lisa?«

»Ja«, antwortete Pierre und fuhr fort, von dem zu sprechen, was ihn beschäftigte. »Nikolai sagt, wir sollten nicht denken. Aber darauf zu verzichten ist mir unmöglich. Ich will gar nicht davon reden, daß ich in Petersburg die Empfindung hatte (dir kann ich das ja sagen), ohne meine Bemühung würde alles auseinanderfallen und jeder eine Partei für sich bilden. Aber mir ist es gelungen, sie alle zu vereinigen; und dann ist ja auch meine Idee so einfach und so klar. Ich sage ja nicht, daß wir gegen dies und das Widerstand leisten sollen. Wir könnten ja irren. Sondern ich sage: Reicht euch die Hände, ihr, die ihr das Gute liebt, und laßt uns nur dieses eine Panier haben: werktätige Tugend. Fürst Sergei ist ein prächtiger Mensch und ein kluger Mensch.«

Natascha hätte nicht daran gezweifelt, daß Pierres Idee eine große Idee sei; nur ein Umstand machte sie betroffen, nämlich daß er ihr Mann war. »Kann ein so bedeutender und für die menschliche Gesellschaft so unentbehrlicher Mensch wirklich zugleich mein Mann sein? Wie kann das zugegangen sein?« Gern hätte sie ihm diesen Zweifel ausgesprochen. »Wo sind eigentlich die Leute zu finden, die imstande wären, ein Urteil darüber abzugeben, ob er wirklich soviel klüger ist als alle andern?« fragte sie sich und musterte in Gedanken alle diejenigen Menschen, welche Pierre besonders hochschätzte. Keinen von diesen Menschen schätzte er, nach seinen Erzählungen zu urteilen, so hoch wie seinen einstigen Leidensgenossen Platon Karatajew.

»Weißt du, woran ich denke?« sagte sie. »An Platon Karatajew. Wie würde der sich dazu stellen? Würde er dir jetzt zustimmen?«

Pierre wunderte sich über ihre Frage nicht im mindesten. Er verstand den Gedankengang seiner Frau.

»Platon Karatajew?« erwiderte er und dachte nach, offenbar ernstlich bemüht, sich von Karatajews Urteil über diesen Gegenstand eine Vorstellung zu bilden. »Er würde es nicht verstehen; übrigens vielleicht doch.«

»Ich liebe dich schrecklich!« sagte Natascha auf einmal. »Schrecklich, schrecklich liebe ich dich!«

»Nein, er würde mir nicht zustimmen«, sagte Pierre, nachdem er eine Weile überlegt hatte. »Was seinen Beifall haben würde, das wäre unser Familienleben. Er wollte in allem so gern Einklang und Glück und Ruhe sehen, und ich hätte ihm mit Stolz unsere Familie gezeigt. Du sprachst vom Getrenntsein; aber du glaubst gar nicht, was für eine besondere Empfindung ich für dich habe, wenn wir getrennt sind …«

»Vielleicht, daß du mich noch …«, begann Natascha.

»Nein, das nicht. Ich liebe dich stets, und mehr zu lieben ist unmöglich; aber dies ist etwas Besonderes … Nun ja …« Er sprach nicht zu Ende, weil ihre Blicke, die sich trafen, das übrige ergänzten.

»Was die Leute für Dummheiten reden«, sagte Natascha auf einmal, »von den Flitterwochen, und daß die erste Zeit die glücklichste sei. Im Gegenteil; jetzt ist die beste Zeit. Wenn du nur nicht so oft fortreistest! Erinnerst du dich wohl noch, wie heftig wir uns manchmal gestritten haben? Und immer hatte ich unrecht. Jawohl, immer ich. Und worüber wir uns gestritten haben, darauf kann ich mich gar nicht einmal mehr besinnen.«

»Es war immer derselbe Grund«, erwiderte Pierre lächelnd, »Eifer …«

»Sprich es nicht aus; ich mag es nicht hören!« rief Natascha, und ein kalter, böser Glanz leuchtete in ihren Augen auf. »Hast du sie gesehen?« fügte sie nach kurzem Stillschweigen hinzu.

»Nein; und wenn ich sie gesehen hätte, so würde ich sie nicht wiedererkannt haben.«

Sie schwiegen einen Augenblick.

»Ach, weißt du? Als du in Nikolais Zimmer sprachst, habe ich dich betrachtet«, begann Natascha wieder zu sprechen; sie bemühte sich offenbar, die Wolke zu verscheuchen, die sich an dem reinen Himmel gezeigt hatte. »Ihr seid euch ähnlich wie ein Ei dem andern, du und der Junge.« (So nannte sie ihr Söhnchen.) »Ach, ich muß zu ihm gehen … Seine Zeit ist gekommen … Aber es tut mir leid fortzugehen.«

Sie schwiegen wieder einige Sekunden. Dann wandten sie sich plötzlich gleichzeitig einander zu und begannen zu reden, Pierre voll Begeisterung und voll Zufriedenheit mit dem Erreichten, Natascha mit stillem, glückseligem Lächeln. Sobald sie merkten, daß sie durcheinandersprachen, hielten sie beide inne, und jeder wollte den andern zuerst reden lassen.

»Was wolltest du sagen? Sprich doch, sprich!«

»Nein, sprich du; ich habe weiter nichts, nur Dummheiten«, sagte Natascha.

Pierre sagte nun das, wozu er angesetzt hatte. Es war die Fortsetzung seiner Mitteilungen über seine Erfolge in Petersburg, mit denen er so zufrieden war. Es schien ihm in diesem Augenblick, daß er dazu berufen sei, der gesamten sozialen Entwicklung in Rußland und in der ganzen Welt eine neue Richtung zu geben.

»Ich wollte nur sagen, daß alle Ideen, die einen gewaltigen Erfolg haben, immer einfach sind. Meine ganze Idee besteht darin: wenn die lasterhaften Menschen sich zusammenschließen und dadurch eine Macht werden, so müssen die ehrenhaften Menschen dasselbe tun. Wie einfach, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und was wolltest du sagen?«

»Ich? Ach nichts, nur Dummheiten.«

»Nein, sag es doch.«

»Es sind ja nur Torheiten«, sagte Natascha, deren Lächeln noch heller und strahlender wurde. »Ich wollte nur etwas von unserm kleinen Petja sagen: heute als die Kinderfrau zu mir trat, um ihn mir abzunehmen, da lachte er, kniff die Augen zu und drückte sich an mich; er dachte gewiß, daß er sich versteckte. Er ist zu allerliebst. Da! Jetzt schreit er. Nun, dann gute Nacht!« Sie verließ das Zimmer.


Zu derselben Zeit brannte unten in Nikolenka Bolkonskis Schlafzimmer wie immer ein Lämpchen (der Knabe fürchtete die Dunkelheit, und man harte ihm diese Schwäche nicht abgewöhnen können). Dessalles schlief mit hochliegendem Oberkörper auf seinen vier Kissen, und seine römische Nase gab gleichmäßige Schnarchtöne von sich. Der Knabe war soeben, von kaltem Schweiß bedeckt, aufgewacht, saß mit weitgeöffneten Augen auf seinem Bett und blickte vor sich hin. Ein schrecklicher Traum hatte ihn geweckt. Er hatte im Traum sich und Pierre mit Helmen auf dem Kopf gesehen, mit solchen Helmen, wie sie in seiner Ausgabe des Plutarch abgebildet waren. Er und Onkel Pierre zogen vor einem gewaltigen Heer einher. Dieses Heer bestand aus weißen, schrägen Linien, die die Luft nach Art jener Spinnenfäden erfüllten, die im Herbst herumfliegen und die Herr Dessalles fils de la Vierge nannte. Vor ihnen beiden her schwebte der Ruhm, von ähnlicher Beschaffenheit wie diese Fäden, nur etwas kräftiger. Sie beide, er und Pierre, schwebten leicht und freudig immer weiter und näherten sich immer mehr ihrem Ziel. Auf einmal begannen die Fäden, durch die sie vorwärts bewegt wurden, kraftlos zu werden und sich zu verwirren; sie fühlten sich beide schwerer. Und plötzlich stand Onkel Nikolai Iljitsch in strenger, drohender Haltung vor ihnen.

»Habt ihr das getan?« sagte er, indem er auf die zerbrochenen Siegellackstangen und Federn hinwies. »Ich habe euch liebgehabt; aber ich habe Befehl von Araktschejew erhalten und werde den ersten, der noch weiter vordringt, töten.« Nikolenka blickte sich nach Pierre um; aber Pierre war nicht mehr da. Pierre war jetzt zu seinem Vater, dem Fürsten Andrei, geworden, und der Vater hatte keine Gestalt und Form; aber er war da, und bei seinem Anblick fühlte Nikolenka, wie ihn die Liebe schwach machte: er hatte die Empfindung, als ob er keine Kraft, keine Knochen, keinen innern Halt mehr hätte. Der Vater streichelte und bedauerte ihn. Aber Onkel Nikolai Iljitsch rückte ihnen immer näher. Eine furchtbare Angst packte den Knaben, und er erwachte.

»Mein Vater«, dachte er. »Mein Vater« (obgleich im Haus zwei wohlgetroffene Porträts vorhanden waren, stellte Nikolenka sich den Fürsten Andrei niemals in menschlicher Gestalt vor), »mein Vater war bei mir und hat mich gestreichelt. Er hat mich gelobt, er hat Onkel Pierre gelobt. Alles, was er mir sagt, werde ich tun. Mucius Scävola hat seine Hand ins Feuer gehalten und verbrennen lassen. Aber warum sollte sich nicht auch in meinem Leben etwas Ähnliches begeben? Ich weiß, sie wollen, daß ich lernen soll. Ich werde auch lernen. Aber es wird einmal die Zeit kommen, wo ich zu lernen aufhören werde, und dann werde ich handeln. Ich bitte Gott nur um eines, daß er mich in ähnliche Lagen bringe wie die Männer im Plutarch; dann werde ich ebenso handeln; dann werde ich noch besser handeln. Alle Menschen werden mich kennen, alle werden mich lieben, alle werden mich bewundern.« Und plötzlich fühlte er, wie ein Schluchzen ihm die Brust beengte, und er brach in Tränen aus.

»Sind Sie nicht wohl?« fragte Dessalles.

»Mir fehlt nichts«, antwortete Nikolenka und legte sich auf das Kissen.

»Er ist so gut und freundlich, und ich habe ihn lieb«, dachte er mit Bezug auf Dessalles. »Und Onkel Pierre? Oh, welch ein großartiger Mann! Und mein Vater? Mein Vater! Mein Vater! Ja, ich werde so handeln, daß auch er mit mir zufrieden sein wird …«

Bildanhang

Abbildung 1: Kartenskizze

Abbildung 1


Kartenskizze

Table of Contents

Titelseite

Erster Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

Zweiter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

Dritter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

Vierter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

Fünfter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

Sechster Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

Siebenter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

Achter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

Neunter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

Zehnter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

Elfter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

Zwölfter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

Dreizehnter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

Vierzehnter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

Fünfzehnter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

Epilog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

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