Ein Pfeifen und ein Schlag! Fünf Schritte von ihm entfernt hatte eine Kanonenkugel die trockene Erde aufgewühlt und war darin verschwunden. Ein kalter Schauder lief ihm unwillkürlich über den Rücken. Er blickte wieder über die Reihen hin. Wahrscheinlich hatte die Kugel viele niedergerissen; beim zweiten Bataillon hatten sich die Soldaten zu einem großen Haufen zusammengedrängt.

»Herr Adjutant!« rief er. »Verbieten Sie den Leuten, sich so zusammenzudrängen.«

Der Adjutant erfüllte seinen Auftrag und trat dann zum Fürsten Andrei heran. Von der andern Seite kam der Bataillonskommandeur herbeigeritten.

»Vorgesehen!« erscholl der ängstliche Ruf eines Soldaten, und wie ein Vögelchen, das in schnellem Flug pfeift und zwitschert und sich dann auf die Erde setzt, klatschte zwei Schritte vom Fürsten Andrei entfernt neben dem Pferd des Bataillonskommandeurs mit nur mäßigem Geräusch eine Granate nieder. Als erstes äußerte das Pferd seine Empfindungen: ohne danach zu fragen, ob es passend oder unpassend sei, seine Furcht zu zeigen, schnaubte es, bäumte sich, so daß es den Major beinah abgeworfen hätte, und jagte nach der Seite davon. Der Schrecken des Pferdes teilte sich auch den Menschen mit.

»Hinlegen!« rief der Adjutant und warf sich auf die Erde.

Fürst Andrei blieb unschlüssig stehen. Die Granate drehte sich wie ein Kreisel rauchend zwischen ihm und dem am Boden liegenden Adjutanten an der Scheidegrenze des Ackers und der Wiese neben einem Wermutstrauch.

»Ist das wirklich der Tod?« dachte Fürst Andrei. Mit einem ganz neuen Gefühl des Neides blickte er nach den vom Tod nicht bedrohten Grasbüscheln und Wermutstauden und beobachtete das Rauchstreifchen, das aus dem sich drehenden schwarzen Ball sich herausschlängelte. »Ich kann nicht sterben, ich will nicht sterben, ich liebe das Leben, ich liebe dieses Gras, die Erde, die Luft …« So dachte er, und zugleich fiel ihm ein, daß viele Blicke auf ihn gerichtet waren.

»Schämen Sie sich, Herr Adjutant!« sagte er. »Was für ein …«

Er sprach nicht zu Ende. In demselben Augenblick ertönte eine Explosion, ein Klirren und Pfeifen von Splittern, wie wenn ein Fensterrahmen zerbräche, ein betäubender Pulverqualm verbreitete sich, Fürst Andrei wurde zur Seite geschleudert und fiel, den einen Arm in die Höhe hebend, auf die Brust.

Einige Offiziere liefen zu ihm hin. Aus der rechten Seite des Unterleibes strömte Blut und breitete sich auf dem Gras zu einem großen Fleck aus. Die herbeigerufenen Landwehrmänner blieben mit ihrer Tragbahre hinter den Offizieren stehen. Fürst Andrei lag auf der Brust; sein Gesicht war in das Gras gesunken; er atmete schwer und röchelnd.

»Nun, was steht ihr? Kommt heran!«

Die Bauern traten hinzu und faßten ihn an den Schultern und Beinen; aber er begann kläglich zu stöhnen, und nachdem sie einen Blick miteinander gewechselt hatten, ließen sie ihn wieder zurücksinken.

»Faßt an, legt ihn darauf; das hilft nichts!« rief eine Stimme.

Sie faßten ihn zum zweitenmal an und legten ihn auf die Tragbahre.

»O Gott, o Gott! Das ist ja entsetzlich … Der ganze Unterleib! Da ist’s aus! O Gott!« äußerte dieser und jener von den Offizieren.

»Ein Haarbreit an meinem Ohr summte sie vorbei«, sagte der Adjutant.

Die Bauern rückten die Tragbahre auf ihren Schultern zurecht und setzten sich auf dem von ihnen ausgetretenen Steig eilig nach dem Verbandsplatz in Bewegung.

»Geht doch im Tritt …! He …! Ihr Bauernvolk!« rief ein Offizier, packte die Bauern, die ungleich gingen und die Bahre dadurch erschütterten, an den Schultern und brachte sie so wieder zum Stehen.

»Fjodor, halte Tritt, paß auf, Fjodor!« sagte der Vordermann.

»Ja, ja, so! So ist’s gut!« antwortete vergnügt der Hintermann, nachdem er in Tritt gekommen war.

»Euer Durchlaucht … Was ist Ihnen, Fürst?« sagte der herbeigeeilte Timochin mit zitternder Stimme und blickte auf die Tragbahre.

Fürst Andrei schlug die Augen auf und schaute aus der Tragbahre heraus, in die sein Kopf tief hineingesunken war, nach dem Redenden hin, ließ dann aber die Lider wieder sinken.


Die Landwehrleute trugen den Fürsten Andrei nach dem Wald, wo die Fuhrwerke standen und der Verbandsplatz eingerichtet war. Der Verbandsplatz bestand aus drei am Rand des Birkenwaldes aufgeschlagenen Zelten, mit zurückgeklappten Vorderwänden. In dem Birkenwald standen die Fuhrwerke und Pferde. Die Pferde fraßen Hafer aus ihren Futterbeuteln; eine Menge von Sperlingen hatte sich bei ihnen eingefunden und suchte am Boden die verschütteten Körner auf. Krähen, die das Blut witterten, flatterten ungeduldig krächzend auf den Birken umher. Um die Zelte herum, auf einem Raum von mehr als zwei Deßjatinen, lagen, saßen und standen blutbefleckte Menschen in mannigfaltigen Uniformen. Rings um die Verwundeten standen mit traurigen Mienen in gespannter Aufmerksamkeit Scharen von Landwehrleuten, welche die Tragbahren hergebracht hatten; vergeblich versuchten die Offiziere, die hier auf Ordnung zu halten hatten, sie von diesem Ort wegzujagen. Ohne auf die Offiziere zu hören, blieben sie, auf die Tragbahren gestützt, stehen und blickten unverwandt, als ob sie sich über den schwerverständlichen Sinn dieses Schauspiels klarzuwerden suchten, nach dem hin, was da vor ihren Augen vorging. Aus den Zelten hörte man bald lautes, grimmiges Schreien, bald klägliches Stöhnen. Ab und zu kamen Heilgehilfen von dort herausgelaufen, um Wasser zu holen, und bezeichneten dann auch diejenigen, die hereingetragen werden sollten. Die Verwundeten, die bei den Zelten darauf warteten, daß sie an die Reihe kämen, röchelten, stöhnten, weinten, schrien, schimpften und baten um Branntwein. Manche redeten irre. Den Fürsten Andrei, als einen Regimentskommandeur, trugen die Landwehrleute, durch die noch unverbundenen Verwundeten hinschreitend, näher an eines der Zelte heran und blieben, in Erwartung weiterer Weisungen, dort stehen. Fürst Andrei öffnete die Augen und konnte lange Zeit nicht begreifen, was um ihn herum vorging. Die Wiese, der Wermutstrauch, der Acker, der schwarze, sich drehende Ball und sein leidenschaftlicher Ausbruch von Liebe zum Leben kamen ihm ins Gedächtnis. Zwei Schritte von ihm stand, laut redend und dadurch die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich ziehend, auf einen Ast gestützt, mit verbundenem Kopf ein großgewachsener, schöner, schwarzhaariger Unteroffizier. Er hatte Schußwunden im Kopf und im Bein. Um ihn hatte sich, begierig seinen Worten lauschend, ein Haufe von Verwundeten und Trägern versammelt.

»Als wir sie von da wegjagten«, rief der Soldat, indem er rings um sich blickte, wobei seine schwarzen, funkelnden Augen nur so blitzten, »da haben sie alles hingeschmissen, und ihren König selbst haben wir gefangengenommen. Wenn bloß da gerade die Reserven gekommen wären, dann wäre von den Feinden auch nicht so viel übriggeblieben, Jungens, das kann ich euch bestimmt sagen …«

Wie alle, die den Erzähler umgaben, sah auch Fürst Andrei ihn mit leuchtenden Augen an und fühlte, daß eine tröstliche Empfindung sich in ihm regte. »Aber ist denn nicht jetzt alles gleich?« dachte er. »Wie wird es dort sein, und was hat mir das Leben hier geboten? Warum tat es mir so leid, vom Leben scheiden zu müssen? Es war in diesem Leben etwas, das ich nicht verstand und auch jetzt noch nicht verstehe.«

XXXVII


Einer der Ärzte, dessen Schürze und kleine Hände mit Blut befleckt waren, und der in der einen Hand zwischen dem kleinen Finger und dem Daumen, um sie nicht schmutzig zu machen, eine Zigarre hielt, trat aus dem Zelt heraus. Er hob den Kopf in die Höhe und blickte nach den Seiten hin, aber über die Verwundeten hinweg. Offenbar wollte er sich einen Augenblick erholen. Nachdem er eine Zeitlang den Kopf nach rechts und nach links gedreht hatte, seufzte er und senkte die Augen.

»Ja, ja, gleich«, erwiderte er auf die Frage eines Heilgehilfen, der ihn auf den Fürsten Andrei aufmerksam machte, und ordnete an, daß er in das Zelt gebracht werden sollte.

In der Schar der wartenden Verwundeten erhob sich ein Murren.

»Na ja, auch in jener Welt werden die vornehmen Herren gewiß den Vorzug haben«, sagte einer.

Fürst Andrei wurde hereingetragen und auf einen soeben erst freigewordenen Tisch gelegt, von dem der Heilgehilfe noch irgend etwas abspülte. Fürst Andrei konnte nicht im einzelnen unterscheiden, was im Zelt vorhanden war. Darauf zu achten, machte ihm das klägliche Stöhnen, das von verschiedenen Seiten ertönte, sowie der qualvolle Schmerz in seiner Hüfte, seinem Unterleib und seinem Rücken unmöglich. Alles, was er um sich sah, floß für ihn in das eine Gesamtbild nackter, blutiger Menschenkörper zusammen, die das ganze niedrige Zelt auszufüllen schienen, geradeso wie einige Wochen vorher an jenem heißen Augusttag ebensolche Körper den schmutzigen Teich an der Smolensker Landstraße ausgefüllt hatten. Ja, das war dasselbe Menschenfleisch, jenes Kanonenfutter, chair à canon, dessen Anblick ihn schon damals, wie eine Vorbedeutung auf dieses jetzige Schauspiel, hatte zusammenschaudern lassen.

In dem Zelt befanden sich drei Tische. Zwei von ihnen waren besetzt; auf den dritten wurde Fürst Andrei gelegt. Eine Weile ließ man ihn allein, und unwillkürlich blickte er nach dem hin, was auf den beiden anderen Tischen geschah. Auf dem nächststehenden Tisch saß ein Tatar, wahrscheinlich ein Kosak, nach der Uniform zu urteilen, die neben dem Tisch auf den Boden geworfen war. Vier Soldaten hielten ihn fest. Ein Arzt mit einer Brille schnitt etwas an seinem braunen, muskulösen Rücken.

»Uch, uch, uch …!« grunzte der Tatar; plötzlich aber hob er sein dunkles Gesicht mit den breiten Backenknochen und der aufgestülpten Nase in die Höhe, fletschte die weißen Zähne, suchte heftig zuckend sich loszureißen und stieß ein durchdringendes, langgezogenes Winseln aus.

Auf dem andern Tisch, um den sich viele Menschen drängten, lag ein großer, wohlgenährter Mann mit zurückgeworfenem Kopf auf dem Rücken; sein lockiges Haar, die Farbe desselben und die Form seines Kopfes kamen dem Fürsten Andrei seltsam bekannt vor. Mehrere Heilgehilfen lehnten sich diesem Mann auf die Brust und hielten ihn fest. Sein eines weißes, großes, fleischiges Bein zuckte unaufhörlich fieberhaft zitternd in schnellen Bewegungen. Er schluchzte und schluckte krampfhaft. Zwei Ärzte, von denen der eine blaß war und zitterte, nahmen mit dem andern, rot aussehenden Bein dieses Menschen schweigend etwas vor. Als der bebrillte Arzt mit dem Tataren fertig war, dem dann ein Mantel übergeworfen wurde, wischte er sich die Hände ab und trat zum Fürsten Andrei.

Er blickte dem Fürsten Andrei forschend ins Gesicht und wandte sich eilig ab.

»Entkleiden! Was steht ihr da?« rief er den Heilgehilfen ärgerlich zu.

Die allererste, fernste Kindheit kam dem Fürsten Andrei ins Gedächtnis, als der Heilgehilfe mit aufgestreiften Ärmeln ihm eilig die Knöpfe aufmachte und ihm die Kleider abzog. Der Arzt beugte sich tief über die Wunde, sondierte sie und seufzte schwer. Dann gab er jemandem ein Zeichen, und ein qualvoller Schmerz im Innern des Leibes raubte dem Fürsten Andrei das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, waren die zerschmetterten Knochen aus der Hüfte herausgenommen, die Fleischfetzen abgeschnitten und die Wunde verbunden. Man spritzte ihm Wasser ins Gesicht. Sobald Fürst Andrei die Augen aufschlug, beugte sich der Arzt über ihn, küßte ihn schweigend auf die Lippen und trat eilig von ihm weg.

Nach dem überstandenen Leiden durchströmte den Fürsten Andrei ein Wonnegefühl, wie er es schon seit langer Zeit nicht mehr empfunden hatte. Die schönsten, glücklichsten Augenblicke seines Lebens, namentlich aus der fernsten Kindheit, wenn man ihn ausgezogen und in sein Bettchen gelegt hatte und die Wärterin ihn in Schlaf sang und er, den Kopf in die Kissen vergrabend, sich in dem bloßen Bewußtsein des Lebens glücklich fühlte, diese Augenblicke boten sich seinem geistigen Blick dar, und zwar nicht wie etwas Vergangenes, sondern wie Wirklichkeit.

Um jenen Verwundeten, dessen Kopfumrisse dem Fürsten Andrei so bekannt vorgekommen waren, waren die Ärzte eifrig beschäftigt; sie hoben ihn auf und redeten ihm beruhigend zu.

»Zeigen Sie mir … Oooooh! oh! Oooooh!« erscholl sein von Schluchzen unterbrochenes, angstvolles Stöhnen, dem man es anhörte, daß er vom Schmerz überwältigt war.

Als Fürst Andrei dieses Stöhnen hörte, hätte er am liebsten losgeweint. Ob nun, weil er im Begriff war eines ruhmlosen Todes zu sterben, oder deshalb, weil es ihm ein Schmerz war, vom Leben scheiden zu müssen, oder infolge dieser Erinnerungen an seine unwiederbringliche Kindheit, oder deshalb, weil er litt und andere Menschen litten und dieser Mensch so kläglich neben ihm stöhnte: genug, es drängte ihn, kindliche, gutherzige, beinahe freudige Tränen zu vergießen.

Man zeigte dem Verwundeten sein abgeschnittenes Bein, das noch mit dem Stiefel bekleidet und von geronnenem Blut bedeckt war.

»Oh! Oooooh!« schluchzte er wie ein Weib.

Der Arzt, der vor dem Verwundeten gestanden und dem Fürsten Andrei dessen Gesicht verdeckt hatte, trat zur Seite.

»Mein Gott! Was ist das? Wie kommt der hierher?« fragte sich Fürst Andrei.

In dem unglücklichen, schluchzenden, kraftlosen Menschen, dem soeben das Bein amputiert worden war, hatte er Anatol Kuragin erkannt. Die Heilgehilfen umfingen diesen stützend mit den Armen, und einer hielt ihm ein Glas Wasser hin, dessen Rand Anatol aber mit seinen zitternden, geschwollenen Lippen nicht fassen konnte. Anatol schluchzte heftig. »Ja, das ist er; ja, dieser Mensch steht in irgendeiner nahen, schmerzlichen Beziehung zu mir«, dachte Fürst Andrei, der das, was er vor sich hatte, noch nicht klar begriff. »Worin besteht die Verbindung dieses Menschen mit meiner Kindheit, mit meinem Leben?« fragte er sich, fand aber keine Antwort darauf. Plötzlich jedoch trat eine neue, unerwartete Erinnerung aus einer reinen, lieblichen, kindlichen Welt dem Fürsten Andrei vor die Seele. Er erinnerte sich an Natascha in der Gestalt, wie er sie zum erstenmal auf dem Ball im Jahre 1810 gesehen hatte, mit dem dünnen Hals, den schmächtigen Armen, mit dem zur Freude und zum Entzücken bereiten, ängstlichen, glücklichen Gesicht, und eine zärtliche Liebe zu ihr erwachte noch lebendiger und stärker als je zuvor in seiner Seele. Jetzt fiel ihm auch die Verbindung ein, die zwischen ihm und diesem Menschen bestand, der durch die Tränen hindurch, die seine verschwollenen Augen anfüllten, ihn trüb anblickte. Fürst Andrei erinnerte sich an alles, und sein glückliches Herz wurde von aufrichtigem Mitleid, von herzlicher Liebe zu diesem Menschen erfüllt.

Er konnte sich nicht mehr halten und vergoß milde, liebevolle Tränen über die Menschen, über sich selbst und über ihre und seine Verirrungen.

»Mitleid, Liebe zu unsern Brüdern, zu denen, die uns lieben; Liebe zu denen, die uns hassen, Liebe zu unsern Feinden; ja, jene Liebe, die Gott auf Erden gepredigt hat, jene Liebe, die mich Prinzessin Marja lehren wollte und die ich nicht verstand: das ist’s, weswegen es mir leid tat, aus dem Leben scheiden zu müssen; das ist das, was ich noch zu tun vor mir hatte, wenn ich am Leben geblieben wäre. Aber jetzt ist es zu spät. Das weiß ich!«

XXXVIII


Der furchtbare Anblick des mit Leichen und Verwundeten bedeckten Schlachtfeldes (im Verein mit der drückenden Benommenheit seines Kopfes und mit der Nachricht, daß zwanzig seiner besten Generale gefallen oder verwundet seien, und mit dem Bewußtsein der Kraftlosigkeit seines früher so starken Armes) hatte eine unerwartete Wirkung auf Napoleon hervorgebracht, der es gewöhnlich liebte, die Getöteten und Verwundeten zu betrachten, weil er dabei seiner Meinung nach seine Geistesstärke erprobte. An diesem Tag jedoch war jene Geistesstärke, die er an sich als einen besonderen Vorzug und als einen Beweis seiner Größe betrachtete, von dem entsetzlichen Anblick des Schlachtfeldes überwältigt worden. Er war eilig vom Schlachtfeld wieder weggeritten und nach dem Hügel von Schewardino zurückgekehrt. Mit gelbem, verschwollenem Gesicht, trüben Augen, geröteter Nase und heiserer Stimme saß er schwerfällig auf seinem Feldstuhl und horchte unwillkürlich, ohne die Augen zu erheben, auf die Töne des Geschützfeuers. In peinlicher Unruhe wartete er auf das Ende jenes Werkes, bei dem er sich für einen Mitwirkenden hielt, das er aber nicht imstande war aufzuhalten. Ein persönliches menschliches Gefühl gewann bei ihm für einen kurzen Augenblick die Oberhand über jenes künstliche Phantom des Lebens, dem er so lange gedient hatte. Er übertrug die Leiden und den Tod, die er auf dem Schlachtfeld gesehen hatte, in Gedanken auf sich selbst. Der schwere Druck, den er im Kopf und in der Brust empfand, erinnerte ihn an die Möglichkeit, daß Leiden und Tod auch ihn treffen könnten. Was er in diesem Augenblick für sich begehrte, das war nicht Moskau, nicht Sieg, nicht Ruhm (was brauchte er noch Ruhm!). Das einzige, was er jetzt begehrte, war Erholung, Ruhe und Freiheit.

Als er vorhin auf der Höhe von Semjonowskoje war, hatte ihm der Kommandeur der Artillerie vorgeschlagen, einige Batterien auf diesen Höhen aufzustellen, um das Feuer auf die bei Knjaskowo dichtgedrängt stehenden russischen Truppen zu verstärken. Napoleon hatte seine Zustimmung gegeben und befohlen, es solle ihm berichtet werden, welche Wirkung diese Batterien ausübten. Nun kam ein Adjutant herbeigeritten, um zu melden, daß dem Befehl des Kaisers gemäß zweihundert Geschütze auf die Russen gerichtet seien, die Russen aber trotzdem unverändert standhielten.

»Unser Feuer reißt sie reihenweis nieder; aber sie halten dennoch stand«, meldete der Adjutant.

»Sie wollen noch mehr davon!« erwiderte Napoleon heiser.

»Sire?« fragte der Adjutant, der nicht deutlich verstanden hatte.

»Sie wollen noch mehr davon«, wiederholte Napoleon stirnrunzelnd mit rauher, zischender Stimme. »Lassen Sie es ihnen verabfolgen.«

Auch ohne seinen Befehl hätte sich das vollzogen, was in Wirklichkeit gar nicht ein Produkt seines Willens war und was er nur anordnete, weil er meinte, daß man von ihm Befehle erwarte. Und nun versetzte er sich wieder in seine künstliche Welt mit dem Phantom von Größe und begann wieder (wie das Pferd, das auf den schrägen Schaufeln der Tretmaschine geht, sich einbildet, etwas in seinem eigenen Interesse zu tun), gehorsam die grausame, traurige, schwere, unmenschliche Rolle zu spielen, zu der er prädestiniert war.

Und nicht allein in dieser Stunde und an diesem Tag waren der Geist und das Gewissen dieses Mannes verdunkelt, der schwerer als alle anderen bei diesem Werk Mitwirkenden an der Last dessen, was sich vollzog, zu tragen hatte; nein, niemals, bis an sein Lebensende nicht, hat er für das Gute, Schöne und Wahre und für die Bedeutung seiner eigenen Taten ein Verständnis besessen. Diese Taten standen eben in zu schroffem Widerspruch zum Guten und Wahren und waren zu weit von aller Menschlichkeit entfernt, als daß er ihre Bedeutung hätte verstehen können. Er konnte seine Taten nicht verleugnen, die von der halben Welt gepriesen wurden, und so mußte er denn das Wahre und Gute und alles Menschliche verleugnen.

Nicht nur an diesem Tag zählte er bei seinem Ritt über das mit Toten und Verstümmelten besäte Schlachtfeld, das er für sein Werk hielt, wieviel Russen auf einen Franzosen kamen, und fand in seltsamer Selbsttäuschung Anlaß sich zu freuen, weil auf einen Franzosen fünf Russen kamen; nicht nur an diesem Tag schrieb er in einem Brief nach Paris: »Das Schlachtfeld war herrlich«, weil auf ihm fünfzigtausend Leichen lagen. Sondern auch auf der Insel St. Helena, in der Stille der Einsamkeit, wo er, wie er sagte, seine Muße der Darstellung seiner großen Taten zu widmen beabsichtigte, schrieb er folgendes:

»Der Krieg gegen Rußland hätte verdient, der populärste aller Kriege der Neuzeit zu sein: es war ein Krieg, der für die gesunde Vernunft und die wahren Lebensinteressen, für die Ruhe und Sicherheit aller geführt wurde; sein Zweck war ein rein friedlicher, konservativer.

Es handelte sich um ein großes Ziel: das Ende aller Wagestücke und den Beginn der Sicherheit. Ein neuer Horizont, neue Aufgaben waren im Begriff sich zu erschließen, die lediglich auf das Glück und Wohlergehen aller gerichtet waren. Das europäische System war gegründet; es kam nur noch darauf an, es zu organisieren.

Sobald ich in betreff dieser wichtigen Punkte befriedigt und nach allen Seiten hin gesichert gewesen wäre, hätte auch ich meinen Kongreß und meine heilige Allianz gehabt. Es sind dies Ideen, die man mir gestohlen hat. In dieser Vereinigung großer Herrscher hätten wir unsere Interessen wie Mitglieder einer einzigen Familie besprochen und den Völkern über unsere gesamte Verwaltung Rechnung gelegt.

Auf diese Weise wäre Europa in kurzer Zeit tatsächlich nur ein einziges Volk gewesen, und jedermann hätte sich, mochte er reisen, wohin er wollte, immer in dem gemeinsamen Vaterland befunden. Ich hätte verlangt, daß das Recht der Schiffahrt auf den Flüssen einem jeden zustehe, die Meere Gemeinbesitz seien und die großen stehenden Heere künftig auf eine bloße Leibwache der Herrscher reduziert würden.

Sobald ich nach Frankreich, in den Schoß des großen, starken, herrlichen, gesicherten, ruhmvollen Vaterlandes, zurückgekehrt gewesen wäre, hätte ich eine Proklamation erlassen, des Inhalts: seine Grenzen sollten unveränderlich sein, jeder künftige Krieg einen lediglich defensiven Charakter tragen und jede weitere Vergrößerung als antinational betrachtet werden. Ich hätte meinem Sohn einen Anteil an der Herrschaft gegeben; meine Diktatur wäre zu Ende gewesen, und seine konstitutionelle Regierung hätte begonnen.

Paris wäre die Hauptstadt der Welt geworden und die Franzosen für alle Nationen ein Gegenstand des Neides!

Meine Mußestunden und meine alten Tage hätte ich dann in Gemeinschaft mit der Kaiserin während der Regierungslehrzeit meines Sohnes dazu benutzt, gemächlich wie ein richtiges Paar Landedelleute im eigenen Wagen alle Winkel des Reiches zu besuchen, Beschwerden entgegenzunehmen, Ungerechtigkeiten zu beseitigen und überall und an allen Orten großartige Gebäude zu errichten und Wohltaten auszustreuen.«

Er, den die Vorsehung zu der traurigen, unfreien Rolle eines Henkers der Völker prädestiniert hatte, bildete sich ein, das Ziel seiner Handlungen sei das Wohl der Völker gewesen, und er hätte das Schicksal vieler Millionen leiten und ihnen durch seine Herrschaft Wohltaten erweisen können!

»Von den vierhunderttausend Mann, die die Weichsel überschritten«, schreibt er weiter über den russischen Krieg, »waren die Hälfte Österreicher, Preußen, Sachsen, Polen, Bayern, Württemberger, Mecklenburger, Spanier, Italiener, Neapolitaner. Die kaiserliche Armee im engeren Sinn bestand zu einem Drittel aus Holländern, Belgiern, Bewohnern der Rheinufer, Piemontesen, Schweizern, Genfern, Toskanern, Römern, Bewohnern der zweiunddreißigsten Militärdivision, Bremens, Hamburgs usw.; sie zählte kaum hundertvierzigtausend Mann französischer Zunge. Der russische Feldzug hat dem eigentlichen Frankreich nicht fünfzigtausend Mann gekostet. Die russische Armee hat auf dem Rückzug von Wilna nach Moskau und in den verschiedenen Schlachten viermal soviel verloren als die französische Armee; der Brand von Moskau hat hunderttausend Russen das Leben gekostet, die in den Wäldern vor Kälte und Entbehrungen gestorben sind; und endlich hat die russische Armee auf ihrem Marsch von Moskau bis zur Oder ebenfalls an den Unbilden der Jahreszeit zu leiden gehabt; bei ihrer Ankunft in Wilna zählte sie nur noch fünfzigtausend Mann und in Kalisch kaum noch achtzehntausend.«

Er bildete sich ein, der Krieg mit Rußland habe nach seinem Willen stattgefunden; aber kein Schrecken über das, was sich da vollzogen hatte, erschütterte seine Seele. Kühn nahm er die ganze Verantwortung für dieses Geschehnis auf sich, und sein verdunkelter Geist erblickte eine Entschuldigung in dem Umstand, daß sich unter den Hunderttausenden umgekommener Menschen weniger Franzosen als Hessen und Bayern befunden hatten.

XXXIX


Viele, viele Tausende von Menschen lagen tot in verschiedenen Körperhaltungen und Uniformen auf den Feldern und Wiesen, die den Herren Dawydow und fiskalischen Bauern gehörten, auf jenen Feldern und Wiesen, auf denen jahrhundertelang die Bauern der Dörfer Borodino, Gorki, Schewardino und Semjonowskoje Getreide gebaut und ihr Vieh geweidet hatten. Auf den Verbandsplätzen waren in einer Ausdehnung von einer Deßjatine das Gras und die Erde mit Blut getränkt. Scharen von verwundeten und nichtverwundeten Soldaten verschiedener Truppenteile strömten mit verstörten Gesichtern auf der einen Seite zurück nach Moschaisk, auf der andern Seite zurück nach Walujewo. Andere Scharen marschierten, ermüdet und hungrig, unter Führung ihrer Befehlshaber vorwärts. Wieder andere blieben auf ihren Plätzen stehen und fuhren fort zu schießen.

Über dem ganzen Feld, das vorher in der Morgensonne mit den blitzenden Bajonetten und den kleinen Rauchwölkchen einen so heiteren, schönen Anblick dargeboten hatte, lagerte jetzt ein Nebel von Feuchtigkeit und Rauch, und ein eigentümlicher säuerlicher Geruch nach Salpeter und Blut machte sich spürbar. Regenwolken zogen sich zusammen, und es fielen einzelne Tropfen herab auf die Getöteten und die Verwundeten, auf die angsterfüllten, ermatteten, unschlüssigen Menschen. Und es war, als wollte dieser leise Regen sagen: »Genug, genug, ihr Menschen! Hört auf! Kommt zur Besinnung! Was tut ihr?«

Auf der einen wie auf der andern Seite begann bei den Mannschaften, die durch den Mangel an Nahrung und Erholung entkräftet waren, sich in gleicher Weise der Zweifel zu regen, ob sie einander noch länger vernichten sollten, und auf allen Gesichtern konnte man diese Unschlüssigkeit wahrnehmen, und in der Seele eines jeden erhob sich gleichmäßig die Frage: »Wozu und für wen soll ich noch morden und mich morden lassen? Mordet, wen ihr wollt; tut, was ihr wollt; aber ich will nicht mehr mittun!« Dieser Gedanke bildete sich gegen Abend in der Seele eines jeden heraus. Es schien nicht unmöglich, daß im nächsten Augenblick alle diese Menschen von Entsetzen ergriffen werden würden über das, was sie taten, alles von sich werfen und nach irgendeiner beliebigen Richtung davonlaufen würden.

Aber obgleich gegen Ende der Schlacht die Menschen sich bereits der ganzen Entsetzlichkeit ihres Tuns bewußt wurden und froh gewesen wären aufzuhören, so fuhr dennoch eine unfaßbare, geheimnisvolle Macht immer noch fort, sie zu leiten, und die schweißtriefenden, auf ein Drittel zusammengeschmolzenen Artilleristen trugen mitten in Blut und Pulverrauch, ob auch vor Müdigkeit stolpernd und keuchend, immer noch Geschosse herbei, luden, richteten, legten die Lunten an: und die Kanonenkugeln flogen noch ebenso schnell und furchtbar von jeder Seite zur andern hinüber und zermalmten Menschenleiber, und es dauerte jenes schreckliche Werk fort, das sich nicht nach menschlichem Willen vollzieht, sondern nach dem Willen dessen, der die Menschen und die Welten lenkt.

Wer die Auflösung hinter der Front der russischen Armee betrachtet hätte, der hätte sagen müssen, daß die Franzosen nur noch eine geringe Anstrengung hätten zu machen brauchen, und die russische Armee wäre vernichtet worden; und wer den Zustand hinter der Front der Franzosen betrachtet hätte, der hätte sagen müssen, daß die Russen nur noch eine geringe Anstrengung hätten zu machen brauchen, und die Franzosen wären zugrunde gerichtet gewesen. Aber weder die Franzosen noch die Russen machten diese Anstrengung, und die Flamme des Kampfes erlosch langsam.

Die Russen machten diese Anstrengung nicht, weil sie von vornherein nicht die Angreifer gewesen waren. Zu Anfang der Schlacht hatten sie lediglich auf dem Weg nach Moskau gestanden und diesen versperrt, und am Ende der Schlacht standen sie noch genau ebenso wie zu Anfang. Aber selbst wenn der Zweck der Russen darin bestanden hätte, die Franzosen zu schlagen, so konnten sie doch diese letzte Anstrengung nicht machen, weil alle ihre Truppen sich in geschwächtem Zustand befanden und es keinen einzigen Teil des Heeres gab, der in der Schlacht nicht hätte gelitten gehabt, und die Russen zwar in ihren Stellungen geblieben waren, aber die Hälfte ihres Heeres verloren hatten.

Den Franzosen mit ihrer Erinnerung an all ihre Siege in den letzten fünfzehn Jahren, mit ihrem festen Glauben an die Unbesiegbarkeit Napoleons, mit ihrem Bewußtsein, daß ein Teil des Schlachtfeldes in ihrer Gewalt war und sie nur ein Viertel ihrer Leute verloren hatten und noch die zwanzigtausend Mann starke Garde unangerührt besaßen, den Franzosen wäre es ein leichtes gewesen, diese Anstrengung zu machen. Und die Franzosen, die das russische Heer mit der Absicht angegriffen hatten, es aus seiner Stellung hinauszuwerfen, hätten diese Anstrengung machen müssen; denn solange die Russen noch genau so wie vor der Schlacht den Weg nach Moskau versperrten, war das Ziel der Franzosen nicht erreicht, und alle ihre Anstrengungen und Verluste waren vergeblich gewesen. Aber die Franzosen machten diese Anstrengung nicht. Manche Geschichtsschreiber sagen, Napoleon hätte nur seine unangerührte alte Garde hinzugeben brauchen, dann wäre die Schlacht gewonnen gewesen. Darüber zu reden, was geschehen wäre, wenn Napoleon seine Garde hingegeben hätte, das ist ganz dasselbe, wie wenn man darüber reden wollte, was geschehen würde, wenn im Herbst der Frühling anbräche. Das konnte einfach nicht geschehen. Es stand nicht etwa so, daß Napoleon seine Garde nicht hingab, weil er es nicht tun wollte, sondern es war ihm unmöglich, dies zu tun. Alle Generale, Offiziere und Soldaten der französischen Armee wußten, daß es unmöglich war, dies zu tun, weil der gesunkene Geist des Heeres es nicht gestattete.

Und nicht Napoleon allein machte jenes traumähnliche Gefühl durch, daß der zu furchtbarem Schlag ausholende Arm kraftlos niedersinkt, sondern alle Generale und alle Soldaten der französischen Armee, mochten sie nun am Kampf teilgenommen haben oder nicht, hatten nach allen Erfahrungen der früheren Schlachten (wo es immer nur des zehnten Teiles der heutigen Anstrengungen bedurft hatte, um den Feind zum Fliehen zu bringen) gleichmäßig eine Empfindung des Schreckens vor diesem Feind, der, nachdem er die Hälfte seiner Truppen verloren hatte, am Ende der Schlacht noch ebenso drohend dastand wie beim Beginn. Die moralische Kraft der angreifenden französischen Armee war erschöpft. Die Russen hatten bei Borodino nicht jenen Sieg errungen, der nach erbeuteten, an Stangen genagelten Zeugstücken, Fahnen genannt, und nach dem Raum, auf dem die Truppen gestanden haben und stehen, beurteilt wird, sondern jenen moralischen Sieg, der den Gegner von der geistigen Überlegenheit seines Feindes und von seiner eigenen Kraftlosigkeit überzeugt. Wie ein wütendes Tier, das im vollen Ansturm eine tödliche Wunde empfangen hat, fühlte das französische Invasionsheer, daß ihm der Untergang sicher war; aber es konnte nicht anhalten, ebenso wie das nur halb so starke russische Heer nichts anderes tun konnte, als ihm ausweichen. Nach dem ihm einmal erteilten Anstoß konnte sich das französische Heer noch bis Moskau weiterbewegen; aber dort mußte es ohne neue Anstrengungen von seiten des russischen Heeres zugrunde gehen, da es an der tödlichen bei Borodino empfangenen Wunde verblutete. Die direkte Folge der Schlacht bei Borodino war die Flucht Napoleons aus Moskau ohne neue Ursachen, der Rückzug auf der alten Smolensker Straße, die Vernichtung des fünfhunderttausend Mann starken Invasionsheeres und der Untergang des Napoleonischen Frankreich, auf das zum erstenmal bei Borodino der Arm eines an Geist und Mut überlegenen Gegners niedergefallen war.

Elfter Teil


I

Dem menschlichen Verstand ist die absolute Stetigkeit einer Bewegung unbegreiflich. Begreiflich werden dem Menschen die Gesetze irgendeiner Bewegung nur dann, wenn er willkürlich herausgegriffene Einzelteile dieser Bewegung betrachtet. Aber gerade aus dieser willkürlichen Teilung der stetigen Bewegung in unterbrochene Einzelteile entspringt der größte Teil der menschlichen Irrtümer.

Bekannt ist ein sogenannter Sophismus der Alten, nach welchem Achilles nie eine vor ihm einherkriechende Schildkröte einholen könne, obwohl Achilles zehnmal so schnell laufe als die Schildkröte: denn während Achilles die Strecke zurücklege, die ihn von der Schildkröte trenne, durchwandere die Schildkröte vor ihm her ein Zehntel dieser Strecke; Achilles durchmesse nun dieses Zehntel, aber die Schildkröte unterdes ein Hundertstel, und so weiter bis ins Unendliche. Diese Aufgabe erschien den Alten als unlösbar. Die Sinnlosigkeit der Folgerung (daß Achilles nie die Schildkröte einholen könne) rührte nur von der willkürlichen Ansetzung gesonderter Einzelteile der Bewegung her, während sich doch die Bewegung sowohl des Achilles als auch der Schildkröte in stetiger Weise vollzog.

Wenn wir immer kleinere und kleinere Einzelteile der Bewegung nehmen, so nähern wir uns der Lösung der Frage nur, erreichen sie aber niemals. Nur wenn wir eine unendlich kleine Größe und eine von ihr aufsteigende geometrische Progression ansetzen und die Summe dieser Progression nehmen, erreichen wir die Lösung der Frage. Ein neuer Zweig der Mathematik, der die Kunst gelehrt hat, mit unendlich kleinen Größen zu operieren, gibt jetzt auch bei anderen, komplizierteren Fragen der Bewegung Antwort auf Fragen, die früher unlösbar schienen.

Dieser neue, den Alten unbekannte Zweig der Mathematik, der bei der Erörterung von Fragen der Bewegung unendlich kleine Größen ansetzt, d.h. solche, bei denen die wichtigste Eigenschaft der Bewegung (absolute Stetigkeit) wiederhergestellt wird, korrigiert eben dadurch jenen unvermeidlichen Fehler, den der menschliche Verstand notwendigerweise begeht, wenn er statt einer stetigen Bewegung gesonderte Einzelteile der Bewegung betrachtet.

Bei der Erforschung der Gesetze der historischen Bewegung zeigt sich völlig der gleiche Vorgang.

Die aus einer unzähligen Menge menschlicher Willensäußerungen resultierende Bewegung der Menschheit vollzieht sich in stetiger Folge.

Die Gesetze dieser Bewegung zu verstehen ist das Ziel der Geschichtsforschung. Aber um die Gesetze der stetigen Bewegung der Summe aller menschlichen Willensäußerungen zu begreifen, setzt der menschliche Verstand willkürliche, gesonderte Einzelteile an. Dabei bedient sich die Geschichtsforschung zweier Methoden. Die eine Methode besteht darin, willkürlich eine Reihe stetiger Ereignisse herauszugreifen und diese Reihe von den andern gesondert zu betrachten, obwohl es doch den Anfang irgendeines Ereignisses nicht gibt und nicht geben kann, sondern immer ein Ereignis in stetiger Folge sich aus dem andern entwickelt. Die zweite Methode besteht darin, die Handlungen eines einzelnen Menschen, eines Herrschers, eines Feldherrn, als die Summe der Willensäußerungen aller Menschen zu betrachten, obwohl doch diese Summe menschlicher Willensäußerungen niemals in der Tätigkeit einer einzelnen historischen Person zum Ausdruck kommt.

Die Geschichtswissenschaft macht in ihrer Weiterentwicklung beständig immer kleinere und kleinere Einzelteile zum Gegenstand der Betrachtung und bemüht sich, auf diesem Weg der Wahrheit näherzukommen. Aber mögen die Einzelteile, die die Geschichtswissenschaft annimmt, auch noch so klein sein, wir fühlen doch, daß die Ansetzung eines von einem andern gesonderten Einzelteiles, nämlich die Ansetzung des Anfanges irgendeiner Erscheinung und die Annahme, daß die Willensäußerungen aller Menschen in den Taten einer einzelnen historischen Person zum Ausdruck kommen, von vornherein unrichtig ist.

Jede Schlußfolgerung der Geschichte zerfallt, ohne die geringste Anstrengung von seiten der Kritik, wie ein Staubgebilde, ohne etwas Bleibendes zu hinterlassen, einfach dadurch, daß die Kritik einen größeren oder kleineren gesonderten Einzelteil zum Gegenstand der Prüfung macht; und dazu hat sie stets ein Recht, da der herausgegriffene historische Einzelteil stets auf Willkür beruht.

Nur wenn wir einen unendlich kleinen Einzelteil (das Differential der Geschichte, d.h. die gleichartigen Bestrebungen der Menschen) zum Gegenstand der Betrachtung machen und uns auf die Integralrechnung verstehen (die Kunst, die Summe dieser unendlich kleinen Einzelteile zu berechnen), nur dann können wir hoffen, zu einem Verständnis der Gesetze der Geschichte zu gelangen.


Die ersten fünfzehn Jahre des neunzehnten Jahrhunderts weisen in Europa eine ungewöhnliche Bewegung von Millionen von Menschen auf. Die Menschen verlassen ihre gewohnten Beschäftigungen, streben von einem Ende Europas nach dem andern, berauben und töten sich wechselseitig, triumphieren und verzweifeln; der ganze Gang des Lebens ändert sich für einige Jahre und bietet das Bild einer verstärkten Bewegung, die zuerst wächst und dann wieder schwächer wird. Da fragt sich der menschliche Geist: welches war die Ursache dieser Bewegung, oder nach welchen Gesetzen hat sich diese Bewegung vollzogen?

Bei der Beantwortung dieser Frage tragen uns die Geschichtsschreiber die Reden und Taten von ein paar Dutzend Leuten in einem Gebäude von Paris vor und bezeichnen diese Reden und Taten mit dem Wort Revolution; dann geben sie uns eine ausführliche Lebensbeschreibung Napoleons und einiger Menschen, die teils auf seiner Seite standen, teils ihm feindlich gesinnt waren, erzählen uns von der Einwirkung dieser Männer aufeinander und sagen: daraus ist diese Bewegung entstanden, und das sind ihre Gesetze.

Aber der menschliche Verstand weigert sich nicht nur, diese Erklärung für richtig zu halten, sondern sagt geradezu, daß das bei dieser Erklärung angewandte Verfahren falsch ist, weil bei dieser Erklärung eine schwächere Erscheinung als Ursache einer stärkeren aufgefaßt wird. Vielmehr war es die Summe der menschlichen Willensäußerungen, die sowohl die Revolution als auch den Kaiser Napoleon hervorgebracht hat, und nur die Summe dieser Willensäußerungen war es, die jene Erscheinungen trug und dann vernichtete.

»Aber«, sagt die Geschichtsforschung, »jedesmal, wenn Eroberungen stattgefunden haben, hat es Eroberer gegeben; und jedesmal, wenn sich Staatsumwälzungen zugetragen haben, hat es große Männer gegeben.« Darauf erwidert der menschliche Verstand: Gewiß, jedesmal, wenn Eroberer auftraten, hat es auch Kriege gegeben; aber das beweist nicht, daß die Eroberer die Ursache der Kriege gewesen wären und daß es möglich wäre, die Gesetze des Krieges in der persönlichen Tätigkeit eines einzelnen Menschen zu finden. Jedesmal, wenn ich bei einem Blick auf meine Uhr wahrnehme, daß der Zeiger sich der Zehn nähert, höre ich, daß in der nahen Kirche die Glocken zu läuten anfangen; aber darum bin ich noch nicht berechtigt zu schließen, daß die Stellung des Zeigers die Ursache der Bewegung der Glocken ist.

Jedesmal, wenn ich die Bewegung der Lokomotive sehe, höre ich den Ton der Dampfpfeife und sehe, wie sich das Ventil öffnet und die Räder sich bewegen; aber dies gibt mir noch kein Recht zu folgern, daß das Pfeifen und die Bewegung der Räder die Ursachen der Bewegung der Lokomotive wären.

Die Bauern sagen, im Spätfrühling wehe deswegen ein kalter Wind, weil dann die Knospen der Eiche aufbrechen, und tatsächlich weht in jedem Frühling ein kalter Wind zu der Zeit, wo die Eiche zu blühen beginnt. Aber obgleich mir die Ursache des beim Aufblühen der Eiche wehenden kalten Windes unbekannt ist, kann ich doch nicht den Bauern darin zustimmen, daß die Ursache des kalten Windes in dem Aufbrechen der Eichenknospen zu suchen sein sollte; denn die Kraft des Windes liegt außerhalb der Wirkungssphäre der Knospen. Ich sehe nur ein Zusammentreffen von Umständen, wie es bei jeder Erscheinung des Lebens vorkommt, und sehe, daß, mag ich den Zeiger der Uhr, das Ventil und die Räder der Lokomotive und die Knospen der Eiche auch noch so genau beobachten, ich dadurch die Ursache des Glockengeläutes und der Bewegung der Lokomotive und des Frühlingswindes nicht erkennen werde. Zu diesem Zweck muß ich vielmehr meinen Standpunkt als Beobachter vollständig ändern und die Gesetze für die Bewegung des Dampfes, der Glocke und des Windes studieren. Ebendasselbe muß auch die Geschichtsforschung tun. Versuche nach dieser Richtung hin sind bereits unternommen.

Um die Gesetze der Geschichte zu studieren, müssen wir in dem Gegenstand der Betrachtung einen vollständigen Wechsel vornehmen, müssen die Herrscher, Minister und Generale beiseite lassen und die gleichartigen, unendlich kleinen Triebkräfte untersuchen, durch welche die Massen sich leiten lassen. Niemand kann sagen, bis zu welchem Grade es dem Menschen beschieden ist, auf diesem Weg zu einem Verständnis der Gesetze der Geschichte zu gelangen; aber soviel ist klar, daß nur auf diesem Weg die Möglichkeit liegt, die Gesetze der Geschichte zu erfassen, und daß auf diesem Weg der menschliche Verstand noch nicht den millionsten Teil der Anstrengungen aufgewandt hat, denen sich die Historiker unterzogen haben, um uns die Taten von allerlei Herrschern, Feldherren und Ministern zu erzählen und uns ihre eigenen Gedanken über diese Taten darzulegen.

II


Die Streitkräfte von zwölf verschiedensprachigen Völkern Europas brechen in Rußland ein. Das russische Heer und die Einwohnerschaft weichen unter Vermeidung eines Zusammenstoßes bis Smolensk zurück, und von Smolensk bis Borodino. Das französische Heer eilt mit beständig wachsendem Drang nach Moskau, dem Ziel seiner Bewegung. Sein Drang nimmt mit der Annäherung an das Ziel zu, so wie die Schnelligkeit eines fallenden Körpers wächst, je mehr er sich der Erde nähert. Hinter sich hat es mehrere tausend Werst eines hungrigen, feindlichen Landes, vor sich nur noch gegen hundert Werst, die es von seinem Ziel trennen. Das fühlt jeder Soldat des napoleonischen Heeres, und das Invasionsheer bewegt sich ganz von selbst, kraft des ihm innewohnenden Dranges, weiter.

In dem russischen Heer entbrennt, je mehr es sich zurückzieht, der Ingrimm gegen den Feind immer heftiger; infolge des Zurückweichens konzentriert es sich und wächst. Bei Borodino findet der Zusammenstoß statt. Weder das eine noch das andere Heer wird vernichtet; aber das russische Heer weicht unmittelbar nach dem Zusammenstoß mit derselben Notwendigkeit zurück, mit der eine Kugel nach dem Zusammenprallen mit einer anderen zurückrollt, die ihr mit größerer Wucht entgegengekommen ist; und mit derselben Notwendigkeit (wiewohl sie bei dem Zusammenstoß viel von ihrer Kraft verloren hat) rollt die eilig laufende andere Kugel, das Invasionsheer, noch eine Strecke weiter.

Die Russen ziehen sich hundertundzwanzig Werst zurück, bis hinter Moskau; die Franzosen erreichen Moskau und machen dort halt. In den darauffolgenden fünf Wochen findet kein Kampf statt. Die Franzosen rühren sich nicht. Gleich einem tödlich verwundeten Tier, das verblutend seine Wunden leckt, bleiben sie fünf Wochen lang in Moskau, ohne etwas zu unternehmen; dann fliehen sie plötzlich, ohne daß irgendeine neue Ursache hinzugekommen wäre, zurück. Sie schlagen die Kalugaer Heerstraße ein; selbst nach einem Sieg, da ja wieder bei Malo-Jaroslawez das Schlachtfeld in ihrem Besitz geblieben war, lassen sie sich auf keinen ernsten Kampf mehr ein, sondern fliehen immer schneller nach Smolensk zurück, über Smolensk hinaus, über die Beresina, über Wilna hinaus, und immer weiter.

Am Abend des 26. August waren sowohl Kutusow als auch die ganze russische Armee überzeugt, daß die Schlacht bei Borodino von den Russen gewonnen sei. Das schrieb Kutusow auch an den Kaiser. An die Truppen ließ er den Befehl ergehen, sie sollten sich zu einem neuen Kampf vorbereiten, um den Feind völlig niederzuschlagen, nicht weil er jemand hätte täuschen wollen, sondern weil er, wie jeder andere Russe, der an der Schlacht teilgenommen hatte, des festen Glaubens war, daß der Feind besiegt sei.

Aber noch an demselben Abend und dann am folgenden Tag kam eine Nachricht nach der andern von den unerhörten Verlusten, von dem Verlust des halben Heeres; und eine neue Schlacht erschien als physisch unmöglich.

Es war einfach unmöglich, eine Schlacht zu liefern, ehe nicht neue Rekognoszierungen angestellt, die Verwundeten aufgesammelt, die Munition ergänzt, die Toten gezählt, neue Kommandeure an Stelle der gefallenen ernannt waren und die Soldaten sich sattgegessen und ausgeschlafen hatten. Dazu rückte gleich nach der Schlacht, schon am andern Morgen, das französische Heer kraft jenes Dranges, der jetzt noch sozusagen in umgekehrter Proportion der Quadrate der Entfernungen gewachsen war, wie von selbst auf das russische Heer los. Kutusow hatte beabsichtigt, am andern Tag anzugreifen, und dasselbe wünschte die ganze Armee. Aber um anzugreifen, dazu genügt nicht der Wunsch, es zu tun; es muß auch die Möglichkeit, es zu tun, vorhanden sein, und an dieser Möglichkeit fehlte es. Es war unbedingt notwendig, einen Tagesmarsch zurückzugehen, dann ebenso notwendig, einen zweiten zurückzugehen und einen dritten, und als schließlich am 1. September die Armee sich Moskau näherte, da verlangte, trotzdem das Gefühl in den Reihen der Truppen sich dagegen sträubte, doch die Macht der Verhältnisse, daß die Truppen auch noch hinter Moskau zurückgingen. Und sie gingen noch einen, den letzten, Tagesmarsch zurück und überließen Moskau dem Feind.

Leute, die sich gewöhnt haben zu denken, daß die Kriegs- und Schlachtpläne von den Feldherren in derselben Weise entworfen werden, in der ein jeder von uns, in seinem Arbeitszimmer bei der Landkarte sitzend, sich die Anordnungen zurechtlegt, die er in dieser oder jener Schlacht getroffen haben würde, diese Leute mögen nun mancherlei Fragen aufwerfen: warum Kutusow bei dem Rückzug nicht so und so verfahren sei, warum er nicht vor Fili eine günstige Position besetzt habe, warum er nicht gleich von vornherein, Moskau beiseite lassend, auf die Kalugaer Heerstraße zurückgegangen sei, usw. Wer so zu denken gewohnt ist, kennt nicht oder vergißt die unvermeidlichen Umstände und Verhältnisse, unter denen die Tätigkeit eines jeden Oberkommandierenden stets vor sich geht. Die Tätigkeit des Feldherrn entspricht nicht im entferntesten der Vorstellung, die wir uns von ihr machen, wenn wir bequem und ungestört in unserm Arbeitszimmer sitzen und den Gang eines Feldzuges nachprüfen, wobei wir dann die Truppenzahl auf der einen und auf der andern Seite kennen und mit der Örtlichkeit vertraut sind und unseren Kombinationen einen bestimmten Moment als Ausgangspunkt zugrunde legen. Der Oberkommandierende befindet sich nie in jenen den Anfang eines Ereignisses bildenden Umständen und Verhältnissen, von denen aus wir stets das Ereignis betrachten. Er steht immer mitten in einer sich bewegenden Reihe von Ereignissen, dergestalt, daß er niemals, in keinem Augenblick, imstande ist, die volle Tragweite eines sich vollziehenden Ereignisses zu ermessen. Das Ereignis wächst unmerklich, von einem Augenblick zum andern, zu seiner Bedeutung heran, und in jedem Augenblick dieses konsequenten, stetigen Heranwachsens des Ereignisses befindet sich der Oberkommandierende im Mittelpunkt eines höchst komplizierten Durcheinanderwirkens von Intrigen, Sorgen, Abhängigkeit, Amtsgewalt, Projekten, Ratschlägen, Drohungen und Täuschungen und sieht sich fortwährend genötigt, auf eine zahllose Menge ihm vorgelegter, einander stets widersprechender Fragen Antwort zu erteilen.

Gelehrte Militärschriftsteller sagen uns mit dem größten Ernst, Kutusow habe schon lange vor Fili die Truppen auf die Kalugaer Straße führen müssen; es habe ihm sogar jemand ein solches Projekt vorgelegt. Aber dem Oberkommandierenden liegen, besonders in schwieriger Lage, nicht ein Projekt, sondern immer Dutzende von Projekten gleichzeitig vor. Und jedes dieser Projekte, die sich alle auf die Regeln der Strategie und Taktik gründen, widerspricht den andern. Nun könnte man meinen, die Aufgabe des Oberkommandierenden bestehe nur darin, aus diesen Projekten eines auszuwählen. Aber auch das zu tun ist er nicht imstande. Die Ereignisse und die Zeit warten nicht. Nehmen wir an, es sei ihm vorgeschlagen worden, am 28. nach der Kalugaer Straße hinüberzugehen; aber in diesem Augenblick kommt ein Adjutant von Miloradowitsch herangesprengt und fragt, ob er jetzt sogleich mit den Franzosen kämpfen oder zurückgehen soll. Es muß ihm sofort, in diesem Augenblick, ein Befehl erteilt werden. Der Befehl zum Rückzug aber macht es uns unmöglich, die Schwenkung nach der Kalugaer Straße auszuführen. Und gleich nach dem Adjutanten fragt der Intendant an, wohin der Proviant geschafft werden soll, und der Chef des Lazarettwesens, wohin er die Verwundeten bringen lassen soll; und ein Kurier aus Petersburg bringt einen Brief des Kaisers, der von einer Preisgabe Moskaus nichts wissen will; und der Rivale des Oberkommandierenden, der dessen Stellung zu untergraben sucht (solche Rivalen gibt es immer, und nicht einen, sondern mehrere), bringt ein neues Projekt in Vorschlag, das zu dem Plan, nach der Kalugaer Straße hinüberzugehen, in diametralem Gegensatz steht; und die erschöpften Kräfte des Oberkommandierenden selbst verlangen Schlaf und Stärkung; und ein bei der Verteilung von Anerkennungen übergangener angesehener General kommt, um sich zu beschweren; und die Einwohner bitten um Schutz; und ein zur Besichtigung des Terrains ausgesandter Offizier kommt zurück und meldet das gerade Gegenteil von dem, was ein vor ihm abgeschickter Offizier berichtet hat; und ein Kundschafter, ein Gefangener und ein General, der eine Rekognoszierung vorgenommen hat, schildern die Stellung der feindlichen Armee alle drei in verschiedener Weise. Leute, die diese unvermeidlichen Begleitumstände der Tätigkeit eines jeden Oberkommandierenden nicht kennen oder nicht an sie denken, halten uns z.B. die Stellung unserer Truppen bei Fili vor und setzen dabei voraus, daß der Oberkommandierende am 1. September in der Lage gewesen sei, die Frage der Preisgabe oder Verteidigung Moskaus völlig frei zu entscheiden, während doch in Wirklichkeit bei der Stellung der russischen Armee fünf Werst von Moskau diese Frage überhaupt nicht mehr existierte. Wann war denn eigentlich diese Frage entschieden worden? Schon an der Drissa und bei Smolensk und am fühlbarsten am 24. bei Schewardino und am 26. bei Borodino und an jedem Tag, in jeder Stunde und Minute des Rückzuges von Borodino nach Fili.

III


Die russische Armee hatte den Rückzug von Borodino ausgeführt und stand jetzt bei Fili. Jermolow, den Kutusow ausgesandt hatte, um die Position zu besichtigen, kam zurück und berichtete dem Oberkommandierenden, in dieser Position könne keine Schlacht geliefert werden, der Rückzug sei ein Ding der Notwendigkeit. Kutusow blickte ihn schweigend an.

»Reich mal deine Hand her«, sagte er dann, und nachdem er sie so gedreht hatte, daß er den Puls fühlen konnte, bemerkte er: »Du bist krank, mein Lieber. Überlege, was du sprichst.«

Kutusow konnte den Gedanken noch nicht fassen, daß es möglich sein sollte, sich ohne Kampf hinter Moskau zurückzuziehen.

Auf dem Poklonnaja-Berg, sechs Werst von dem Dorogomilowskaja-Tor in Moskau entfernt, stieg Kutusow aus dem Wagen und setzte sich auf eine Bank am Rand des Weges. Eine große Schar von Generalen sammelte sich um ihn. Graf Rastoptschin, der aus Moskau gekommen war, gesellte sich zu ihnen. Diese ganze glänzende Gesellschaft, die sich in mehrere Gruppen geteilt hatte, redete unter sich über die Vorteile und Nachteile der Position, über die Stellung der Truppen, über die vorgeschlagenen Pläne, über den Zustand Moskaus und überhaupt über militärische Dinge. Alle hatten die Empfindung, daß dies ein Kriegsrat sei, obwohl sie nicht zu einem solchen berufen waren und die Versammlung nicht diesen Namen führte. Alle Gespräche beschränkten sich auf das Gebiet der gemeinsamen Fragen. Und wenn jemand doch einem andern persönliche Neuigkeiten mitteilte oder sich nach solchen erkundigte, so sprach man darüber im Flüsterton und ging sogleich wieder zu den gemeinsamen Fragen über; von einem Scherz, einem Lachen oder auch nur von einem Lächeln war bei allen diesen Männern nichts zu bemerken. Alle waren offenbar mit Anstrengung bemüht, sich der ernsten Situation angemessen zu benehmen. Und jede Gruppe, die unter sich ein Gespräch führte, suchte sich in der Nähe Kutusows zu halten, dessen Bank den Mittelpunkt dieser Gruppen bildete, und jeder sprach absichtlich so laut, daß der Oberkommandierende ihn hören konnte. Dieser hörte zu und fragte manchmal nach dem, was um ihn herum gesprochen wurde, beteiligte sich aber selbst nicht an dem Gespräch und drückte keine Meinung aus. Großenteils wandte er sich, wenn er auf das Gespräch irgendeiner Gruppe hingehört hatte, mit enttäuschter Miene ab, als ob sie gar nicht über das gesprochen hätten, was er zu hören wünschte. Die einen sprachen von der gewählten Position und kritisierten dabei nicht sowohl die Position selbst als die geistigen Fähigkeiten derjenigen, die sie ausgesucht hatten; andere bewiesen, daß der Fehler schon weiter zurückliege und wir schon vorgestern eine Schlacht hätten annehmen müssen; wieder andere sprachen von der Schlacht bei Salamanca, von welcher ein soeben eingetroffener Franzose, namens Crossard, der spanische Uniform trug, mancherlei erzählte. (Dieser Franzose erörterte mit einem der deutschen Prinzen, die in der russischen Armee dienten, die Belagerung von Saragossa und hielt es für möglich, Moskau in gleicher Weise zu verteidigen.) In einer vierten Gruppe äußerte sich Graf Rastoptschin dahin, er sei bereit, mit der freiwilligen Moskauer Landwehr vor den Mauern der Hauptstadt zu sterben, müsse aber doch sein Bedauern darüber aussprechen, daß man ihn so lange in Unkenntnis gelassen habe, da, wenn er die wahre Lage früher gekannt hätte, manches anders gekommen wäre. Eine fünfte Gruppe, welche tiefsinnige strategische Kombinationen zutage brachte, sprach über die Richtung, die unsere Truppen nun einschlagen müßten. In einer sechsten Gruppe wurde purer Nonsens geredet. Kutusows Miene wurde immer sorgenvoller und trüber. Aus allen diesen Gesprächen ersah er nur eines: Moskau zu verteidigen war physisch unmöglich, im vollen Sinn des Wortes, d.h. es war dermaßen unmöglich, daß, wenn ein unverständiger Oberkommandierender befohlen hätte, eine Schlacht zu liefern, ein Wirrwarr entstanden und eine Schlacht doch nicht geliefert wäre, und zwar deshalb nicht, weil alle höheren Kommandeure diese Position für unbrauchbar erachteten und in ihren Gesprächen nur die Frage erörterten, was sich nach dem zweifellosen Verlassen dieser Position ereignen werde. Wie konnten denn die Kommandeure ihre Truppen auf ein Schlachtfeld führen, das sie für ungeeignet hielten? Auch die Offiziere niedrigeren Ranges und selbst die Soldaten, die ja ebenfalls urteilen, glaubten, daß die Position schlecht sei, und konnten daher nicht mit Zuversicht in den Kampf gehen. Wenn Bennigsen auf der Verteidigung dieser Position bestand und andere sie noch diskutierten, so hatte dies keine sachliche Bedeutung mehr, sondern diente nur als Vorwand zu Streit und Intrige. Das durchschaute Kutusow.

Bennigsen, der die Position ausgesucht hatte, betonte mit großer Heftigkeit seinen russischen Patriotismus (was Kutusow nicht ohne Stirnrunzeln anhören konnte) und bestand darauf, Moskau müsse verteidigt werden. Dem alten Kutusow war Bennigsens Absicht dabei sonnenklar: im Fall des Mißlingens der Verteidigung die Schuld auf Kutusow zu schieben, der die Truppen ohne Schlacht bis an die Sperlingsberge geführt habe; im Fall des Erfolges das Verdienst für sich in Anspruch zu nehmen; im Fall der Ablehnung seines Vorschlages sich von dem Verbrechen der Preisgabe Moskaus reinzuwaschen. Aber was jetzt den alten Mann beschäftigte, das war nicht diese Intrige, sondern eine einzige, furchtbare Frage, auf die er von niemand eine Antwort hörte. Er fragte sich jetzt nur: »Ist es wirklich meine Schuld, daß Napoleon bis Moskau gekommen ist, und wann habe ich den Fehler begangen? Wann war der entscheidende Augenblick? Gestern, als ich an Platow den Befehl zum Rückzug schickte, oder vorgestern abend, als ich mich nicht mehr wachhalten konnte und diesem Bennigsen befahl, die nötigen Anordnungen zu treffen? Oder schon früher? Aber wann, wann ist diese furchtbare Entscheidung gefallen? Moskau muß preisgegeben werden. Die Truppen müssen sich zurückziehen, und der Befehl dazu muß erteilt werden.« Diesen schrecklichen Befehl zu erteilen schien ihm gleichbedeutend mit der Niederlegung des Kommandos über die Armee. Und abgesehen davon, daß er die Macht liebte und an sie gewöhnt war (es reizte ihn die allgemeine Verehrung, die dem Fürsten Prosorowski gezollt worden war, unter dem er in der Türkei gestanden hatte), war er auch überzeugt, daß er zum Retter Rußlands prädestiniert und nur deswegen, gegen den Willen des Kaisers und auf den Wunsch des Volkes, zum Oberkommandierenden erkoren war. Er war überzeugt, daß er allein unter diesen schwierigen Verhältnissen imstande war, sich an der Spitze der Armee zu behaupten, und daß er allein in der ganzen Welt ohne Schauder dem unbesiegbaren Napoleon gegenüberzustehen vermochte; und er erschrak bei dem Gedanken an den Befehl, den er nun geben mußte. Aber irgendeine Entscheidung mußte er treffen; er mußte diesen um ihn herum geführten Gesprächen, welche einen allzu freien Charakter anzunehmen begannen, ein Ende machen.

Er rief die höchsten Generale zu sich heran.

»Mein Kopf, mag er nun gut oder schlecht sein, kann nur von sich selbst Rat annehmen«, sagte er, stand von der Bank auf und fuhr nach Fili, wo seine übrigen Wagen hielten.

IV


In der geräumigen, sogenannten guten Stube des Bauern Andrei Sawostjanow versammelte sich um zwei Uhr der Kriegsrat. Eine Anzahl von Bauern sowie die Weiber und Kinder der großen Bauernfamilie hatten sich in der geringeren Stube, die auf der andern Seite des Flures lag, zusammengedrängt. Nur eine Enkelin Andreis, die sechsjährige Malascha, die der Durchlauchtige beim Teetrinken freundlich gestreichelt und mit einem Stück Zucker beschenkt hatte, war in der großen Stube auf dem Ofen geblieben. Schüchtern und vergnügt betrachtete Malascha vom Ofen aus die Gesichter, Uniformen und Ordenskreuze der Generale, die einer nach dem andern in die Stube traten und sich in der vorderen Ecke auf den breiten Bänken unter den Heiligenbildern niederließen. Das Großväterchen selbst, wie Malascha für sich im stillen Kutusow nannte, saß getrennt von ihnen in einem dunklen Winkel hinter dem Ofen. Tief in seinen Feldstuhl hineingesunken, saß er da, räusperte sich unaufhörlich und hatte fortwährend damit zu tun, seinen Rockkragen in Ordnung zu bringen, der, obwohl aufgeknöpft, ihn doch am Hals zu drücken schien. Die Eintreffenden traten einer nach dem andern an den Feldmarschall heran; einigen drückte er die Hand, anderen nickte er zu. Der Adjutant Kaisarow wollte den Vorhang an dem Fenster Kutusow gegenüber aufziehen; aber Kutusow winkte ihm ärgerlich mit der Hand ab, und Kaisarow begriff, daß der Durchlauchtige sein Gesicht nicht sehen lassen wollte.

Um den Bauerntisch aus Tannenholz, auf welchem Landkarten, Pläne, Bleistifte und Schreibpapier lagen, hatten sich so viele Personen versammelt, daß die Offiziersburschen noch eine Bank hereinbringen und an den Tisch stellen mußten. Auf diese Bank setzten sich von den Angekommenen: Jermolow, Kaisarow und Toll. Gerade unter den Heiligenbildern saß auf dem vornehmsten Platz, mit dem Georgskreuz am Hals, mit blassem, kränklichem Gesicht und mit seiner hohen Stirn, die in den Kahlkopf überging, Barclay de Tolly. Er quälte sich schon seit dem vorhergehenden Tag mit einem Fieberanfall herum und litt gerade jetzt an heftigem Schüttelfrost. Neben ihm saß Uwarow und teilte ihm mit leiser Stimme (sie sprachen alle in dieser Weise) unter lebhaften Gestikulationen etwas mit. Der kleine, rundliche Dochturow hörte mit hinaufgezogenen Brauen, die Hände über dem Bauch gefaltet, aufmerksam zu. Auf der andern Seite saß, den breiten Kopf mit den kühn geschnittenen Zügen und den blitzenden Augen auf den Arm stützend, Graf Ostermann-Tolstoi und schien ganz in seine Gedanken versunken zu sein. Rajewski drehte, mit einem Ausdruck von Ungeduld, seine schwarzen Haare an den Schläfen mit einer ihm geläufigen Fingerbewegung zu Ringeln und blickte bald nach Kutusow, bald nach der Eingangstür hin. Auf dem energischen, hübschen, gutmütigen Gesicht Konownizyns glänzte ein freundliches, schlaues Lächeln. Er hatte Malaschas Blick aufgefangen und machte ihr nun mit den Augen Zeichen, über die die Kleine lächeln mußte.

Alle warteten auf Bennigsen, der unter dem Vorwand einer erneuten Besichtigung der Position erst noch sein opulentes Diner beendete. Man wartete von vier bis sechs auf ihn und trat während dieser ganzen Zeit nicht in die Beratung ein, sondern führte nur mit leiser Stimme Gespräche über fremdartige, nebensächliche Dinge.

Erst als Bennigsen in die Stube trat, kam Kutusow aus seiner Ecke heraus und rückte an den Tisch heran, jedoch nur so weit, daß sein Gesicht nicht von den auf dem Tisch stehenden Kerzen beleuchtet wurde.

Bennigsen eröffnete die Beratung mit der Frage: »Sollen wir die alte, heilige Hauptstadt Rußlands ohne Kampf aufgeben oder sie verteidigen?« Ein langes, allgemeines Stillschweigen folgte. Alle Gesichter waren finster geworden, und in der Stille war nur Kutusows ärgerliches Räuspern und Husten zu hören. Die Augen aller blickten auf ihn hin. Auch Malascha richtete ihre Blicke auf das Großväterchen. Sie war ihm am nächsten und sah, wie sein Gesicht sich mit Runzeln bedeckte: es sah aus, als ob er anfangen wollte zu weinen. Aber dies dauerte nicht lange.

»Die alte, heilige Hauptstadt Rußlands!« begann er plötzlich, indem er in ärgerlichem Ton Bennigsens Worte wiederholte und dadurch auf den falschen Beiklang dieser Worte hinwies. »Gestatten mir Euer Erlaucht, Ihnen zu sagen, daß diese Frage für einen Russen keinen Sinn hat.« (Er warf sich mit seinem schweren Körper nach vorn.) »Eine solche Frage darf man nicht stellen, und eine solche Frage hat keinen Sinn. Die Frage, um derentwillen ich diese Herren gebeten habe zusammenzukommen, ist eine rein militärische. Die Frage ist diese: Die Rettung Rußlands beruht auf der Armee; ist es nun vorteilhafter, den Verlust der Armee und Moskaus durch Annahme einer Schlacht zu riskieren oder Moskau ohne Kampf preiszugeben? Das ist die Frage, über die ich Ihre Meinung hören möchte.« (Er ließ sich gegen die Lehne des Sessels zurücksinken.)

Die Debatte begann. Bennigsen gab sein Spiel noch nicht verloren. Indem er die Ansicht Barclays und anderer von der Unmöglichkeit, eine Verteidigungsschlacht bei Fili anzunehmen, als richtig gelten ließ, schlug er, von russischem Patriotismus und von Liebe zu Moskau durchdrungen, vor, die Truppen in der Nacht von der rechten nach der linken Flanke hinüberzuführen und am andern Tag gegen den rechten Flügel der Franzosen zu kämpfen. Die Meinungen gingen auseinander; es wurde für und gegen diesen Vorschlag gestritten. Jermolow, Dochturow und Rajewski stimmten dem Plan Bennigsens bei. Ob sich diese Generale nun durch das Gefühl leiten ließen, daß vor der Preisgabe der Hauptstadt ein Opfer gebracht werden müsse, oder durch andere, persönliche Erwägungen, das bleibe dahingestellt; jedenfalls schienen sie nicht zu begreifen, daß der vorliegende Ratschlag an dem unvermeidlichen Gang der Dinge nichts ändern konnte und daß in Wirklichkeit Moskau schon jetzt preisgegeben war. Die übrigen Generale begriffen dies und redeten, indem sie die Frage nach dem Schicksal Moskaus beiseite ließen, über die Richtung, die das Heer bei seinem Rückzug einschlagen müsse. Malascha, die unverwandten Blickes die Dinge beobachtete, die da vor ihren Augen vorgingen, faßte die Bedeutung des Kriegsrates anders auf. Es schien ihr, daß es sich nur um einen persönlichen Streit zwischen dem Großväterchen und dem Langrock handelte, wie sie Bennigsen nannte. Sie sah, daß diese beiden sich jedesmal ärgerten, wenn sie miteinander sprachen, und nahm in ihrem Herzen für das Großväterchen Partei. Mitten in dem Gespräch nahm sie wahr, daß das Großväterchen dem andern einen schnellen, listigen Blick zuwarf, und bemerkte gleich darauf zu ihrer Freude, daß das Großväterchen, durch das, was er dem Langrock gesagt hatte, diesem einen gehörigen Hieb versetzt haben mußte; denn dieser wurde auf einmal ganz rot und ging zornig in der Stube auf und ab. Was so auf Bennigsen gewirkt hatte, war das Urteil gewesen, das Kutusow in ruhigem Ton und mit leiser Stimme über die Vorteile und Nachteile des Bennigsenschen Planes ausgesprochen hatte, also über den Plan, die Truppen in der Nacht von der rechten nach der linken Flanke hinüberzuführen zum Zweck eines Angriffs auf den rechten Flügel der Franzosen.

»Ich, meine Herren«, hatte Kutusow zum Schluß gesagt, »kann den Plan des Grafen nicht billigen. Veränderungen der Stellung der Truppen in geringer Entfernung vom Feind sind stets gefährlich, und durch die Kriegsgeschichte wird diese meine Anschauung bestätigt. So zum Beispiel …« (Kutusow schien beim Suchen nach einem Beispiel nachzudenken und sah Bennigsen mit hellem, harmlosem Blick an.) »Ja, nehmen wir zum Beispiel die Schlacht bei Friedland, die der Graf wohl noch gut im Gedächtnis hat; diese Schlacht hatte nur deshalb einen … einen nicht ganz glücklichen Ausgang, weil unsere Truppen in zu geringem Abstand vom Feind ihre Stellung änderten …«

Diesen Worten folgte ein Stillschweigen, das etwa eine Minute dauerte, aber allen sehr lang erschien.

Die Debatte begann von neuem; aber es traten oft Pausen ein, und es machte sich das Gefühl geltend, daß man eigentlich nichts mehr zu sagen habe.

Als wieder einmal eine solche Pause eintrat, seufzte Kutusow schwer auf, wie wenn er sich anschickte zu reden. Alle blickten zu ihm hin.

»Nun wohl, meine Herren! Ich sehe, daß ich derjenige sein werde, der die zerschlagenen Töpfe bezahlen muß«, sagte er. Und sich langsam erhebend trat er an den Tisch. »Meine Herren, ich habe Ihre Meinungen gehört. Einige von Ihnen werden mit mir nicht einverstanden sein. Aber ich …« Er hielt inne. »Kraft der Gewalt, die mein Kaiser und das Vaterland in meine Hände gelegt haben, gebe ich den Befehl zum Rückzug.«

Gleich darauf gingen die Generale mit jener feierlichen, schweigsamen Zurückhaltung auseinander, mit der man sich nach einem Begräbnis voneinander trennt.

Einige von ihnen machten mit gedämpfter Stimme und ganz anderer Tonhöhe, als diejenige war, mit der sie bei der Beratung gesprochen hatten, dem Oberkommandierenden noch diese und jene Mitteilungen.

Malascha, die schon längst von den Ihrigen zum Abendessen erwartet wurde, stieg vorsichtig rückwärts von ihrer Lagerstätte herab, indem sie sich mit den nackten Füßchen an die Absätze des Ofens anklammerte; dann wand sie sich zwischen den Beinen der Generale hindurch und schlüpfte aus der Tür.

Nachdem Kutusow die Generale entlassen hatte, saß er lange, den Kopf in die Hand gestützt, am Tisch und überdachte immer ein und dieselbe furchtbare Frage:

»Wann, wann hat denn die Waage sich so geneigt, daß Moskaus Preisgabe notwendig wurde? Wann ist dasjenige geschehen, wodurch diese Frage entschieden wurde, und wer ist schuld daran?«

»Das hatte ich nicht erwartet!« sagte er zu dem Adjutanten Schneider, der (es war schon spät in der Nacht) zu ihm in die Stube trat. »Das hatte ich nicht erwartet! Das hatte ich nicht gedacht!«

»Euer Durchlaucht sollten sich Ruhe gönnen!« bemerkte Schneider.

»Aber trotzdem! Sie werden doch noch Pferdefleisch fressen, wie die Türken!« rief Kutusow, ohne zu antworten, und schlug mit seiner fleischigen Faust auf den Tisch. »Das werden sie tun, wenn nur …«

V


Völlig verschieden von der Handlungsweise Kutusows war bei einem gleichzeitigen Vorgang, der noch wichtiger war als der kampflose Rückzug der Armee, nämlich bei der Räumung Moskaus durch die Einwohner und der Einäscherung dieser Stadt, die Tätigkeit Rastoptschins, der uns als Urheber dieses Vorganges bezeichnet wird.

Dieser Vorgang, die Räumung und Einäscherung Moskaus, war ebenso unausbleiblich wie der kampflose Rückzug der Truppen bis hinter Moskau nach der Schlacht bei Borodino.

Jeder Russe hätte das, was geschah, vorhersagen können, nicht aufgrund von Vernunftschlüssen, sondern aufgrund jenes Gefühls, das in uns liegt und in unsern Vätern gelegen hat.

Seit den Tagen von Smolensk hatte sich in allen Städten und Dörfern der russischen Erde ohne irgendwelche Einwirkung des Grafen Rastoptschin und seiner Flugblätter ganz dasselbe begeben, was sich dann auch in Moskau begab. Das Volk erwartete sorglos den Feind; es revoltierte nicht, riß niemand in Stücke, sondern erwartete ruhig sein Schicksal, da es in sich die Kraft fühlte, im schwierigsten Augenblick das herauszufinden, was es tun müsse. Und sobald der Feind heranrückte, gingen die reicheren Elemente der Bevölkerung unter Zurücklassung ihrer Habe davon; die Ärmeren blieben zurück und verbrannten und vernichteten das Zurückgelassene.

Das Bewußtsein, daß dies damals so geschehen mußte und zu allen Zeiten so geschehen muß, lag und liegt in der Seele eines jeden Russen, und dieses Bewußtsein und, was noch mehr ist, das bestimmte Vorgefühl, daß Moskau in die Gewalt des Feindes kommen werde, war in den Kreisen der höheren russischen Gesellschaft Moskaus im Jahre 1812 lebendig. Diejenigen, die von Moskau schon im Juli und zu Anfang August wegzogen, zeigten dadurch, daß sie dies erwarteten. Und wenn die Wegziehenden ihre Häuser und die Hälfte ihrer Habe zurückließen und nur mitnahmen, was sich leicht transportieren ließ, so war diese Handlungsweise eine Folge jenes verborgenen (latenten) Patriotismus, der nicht durch Phrasen, nicht durch Tötung der eigenen Kinder zur Rettung des Vaterlandes und durch andere derartig unnatürliche Taten zum Ausdruck zu kommen sucht, sondern sich unauffällig, schlicht, wie eine unwillkürliche Funktion des Organismus betätigt und eben darum immer die stärksten Wirkungen hervorbringt.

»Es ist eine Schande, vor der Gefahr davonzulaufen; nur Feiglinge fliehen aus Moskau!« wurde ihnen vorgehalten, und Rastoptschin rief ihnen in seinen Flugblättern mit allem Nachdruck zu, daß es eine schmähliche Handlungsweise sei, aus Moskau wegzuziehen. Jedoch die Einwohner schämten sich zwar, Feiglinge genannt zu werden, und schämten sich, wegzuziehen; aber sie zogen trotzdem weg, weil sie eben das Bewußtsein hatten, daß es so sein müsse. Und warum zogen sie weg? Es ist nicht anzunehmen, daß sie sich hätten in Angst versetzen lassen durch das, was Rastoptschin, um zur Verteidigung Moskaus anzuregen, über Greueltaten mitteilte, die Napoleon in unterworfenen Ländern verübt habe. Vorzugsweise und zuerst zogen reiche, gebildete Leute weg, die sehr wohl wußten, daß Wien und Berlin unversehrt geblieben waren und daß dort die Einwohner während der Besetzung durch Napoleon eine sehr vergnügliche Zeit mit den bezaubernden Franzosen verlebt hatten, von denen damals auch in Rußland die Männer und ganz besonders die Damen entzückt waren.

Sie zogen weg, weil ein Russe sich überhaupt nicht die Frage vorlegen konnte, ob es unter der Herrschaft der Franzosen in Moskau gut oder schlecht sein werde. Für einen Russen war es eben schlechthin unmöglich, unter der Herrschaft der Franzosen zu leben: das war das Schlimmste, was es auf der Welt gab. Sie zogen sowohl vor der Schlacht bei Borodino als auch mit noch größerer Eile nach der Schlacht bei Borodino weg, ohne sich um die Aufrufe zur Verteidigung der Stadt zu kümmern, und trotzdem der Oberkommandierende von Moskau bekanntmachen ließ, er beabsichtige, das heilige Bild der Iberischen Muttergottes durch die Straßen tragen zu lassen, und trotz der Luftballons, durch die die Franzosen vernichtet werden sollten, und trotz all des Unsinns, den Rastoptschin in seinen Flugblättern schrieb. Sie sagten sich, um mit dem Feind zu kämpfen, dazu sei die Armee da, und wenn diese dazu nicht imstande sei, so könnten sie selbst nicht mit ihren Fräulein Töchtern und mit ihrer Dienerschaft auf die Drei Berge ziehen, um gegen Napoleon zu streiten, sondern sie müßten wegziehen, so schmerzlich es ihnen auch wäre, ihre Habe der Vernichtung preiszugeben. Sie zogen weg, ohne an die großartige Bedeutung dieses Ereignisses zu denken: daß eine so riesenhafte, reiche Residenz von den Einwohnern verlassen und mit Sicherheit eingeäschert werde (denn leere Häuser nicht zu demolieren und anzuzünden, das liegt nicht im Charakter des russischen Volkes); sie zogen weg, ein jeder aus eigenem Trieb, und dabei vollzog sich, eben infolge ihres Wegzuges, jenes großartige Ereignis, das für alle Zeit der schönste Ruhm des russischen Volkes bleiben wird. Jene vornehme Dame, die schon im Juni mit ihren Mohren und Hausnarren von Moskau nach ihrem Gut im Gouvernement Saratow aufbrach, in der unbestimmten Empfindung, daß sie keine Untertanin dieses Bonaparte sein könne, und trotz der Besorgnis, auf Befehl des Grafen Rastoptschin zurückgehalten zu werden, jene Dame hat in schlichter, natürlicher Weise bei dem großen Werk mitgewirkt, durch welches Rußland gerettet wurde. Graf Rastoptschin aber, der vielfach die Wegziehenden schmähte und doch selbst die Behörden fortschaffen ließ; der dem betrunkenen Gesindel unbrauchbare Waffen verabfolgte; der bald Heiligenbilder in den Straßen herumtragen ließ, bald dem Metropoliten Awgustin verbot, Reliquien und Bilder aus den Kirchen herauszubringen; der zur Verhinderung des Fortzuges alle Privatfuhrwerke in Moskau mit Beschlag belegte und doch den von Leppich gebauten Luftballon auf hundertsechsunddreißig Wagen wegtransportieren ließ; der einerseits Andeutungen machte, daß er Moskau einäschern werde, und später erzählte, wie er sein eigenes Haus angezündet habe, andrerseits eine Proklamation an die Franzosen erließ, in der er ihnen mit feierlichen Worten den Vorwurf machte, sie hätten seine Kleinkinderbewahranstalt zerstört; der bald den Ruhm der Einäscherung Moskaus für sich in Anspruch nahm, bald seine Beteiligung dabei in Abrede stellte; der bald dem Volk befahl, alle Spione zu fangen und zu ihm zu bringen, bald deswegen das Volk schalt; der alle Franzosen aus Moskau wegschaffte und dabei doch gerade Madame Auber-Chalmé, die den Mittelpunkt der ganzen französischen Kolonie in Moskau gebildet hatte, in der Stadt bleiben ließ; der den bejahrten, allgemein geachteten Postdirektor Klutscharew, ohne daß ihm ein spezielles Verschulden nachgewiesen werden konnte, arretieren und in die Verbannung transportieren ließ; der das Volk aufforderte, sich auf den Drei Bergen zu versammeln, um gegen die Franzosen zu kämpfen, und dann, um von diesem Volk loszukommen, ihm einen Menschen zur Ermordung preisgab und selbst durch den hinteren Ausgang seines Hauses sich davonmachte; der bald sagte, er werde das Unglück Moskaus nicht überleben, bald in die Alben französische Verse über seine Beteiligung an dieser Tat schrieb1: dieser Mann hatte kein Verständnis für die Bedeutung des Ereignisses, das sich da vollzog, sondern wollte nur selbst etwas tun, andere in Erstaunen versetzen, etwas Patriotisches, Heldenhaftes ausführen, jubelte ausgelassen wie ein Knabe über das großartige, unvermeidliche Ereignis der Räumung und Einäscherung Moskaus und suchte mit seiner Kinderhand die gewaltige, ihn mit sich fortreißende nationale Stimmung bald zu befördern, bald aufzuhalten.

Fußnoten


1 Je suis né Tartare,

Je voulus être Romain.

Les Français m’appelèrent barbare,

Les Russes George Dandin.


Obgleich von Herkunft recht und schlecht Tatar,

Hätt ich als großer Römer gern gegolten;

Doch ward von den Franzosen ich Barbar

Und von den Russen George Dandin gescholten.


Anmerkung des Verfassers.


VI

Helene, die mit dem Hof von Wilna nach Petersburg zurückgekehrt war, befand sich in einer schwierigen Lage.

In Petersburg hatte sie die besondere Protektion eines großen Herrn genossen, der eines der höchsten Ämter im Staat bekleidete. In Wilna aber war sie in nähere Beziehungen zu einem jungen ausländischen Prinzen getreten. Als sie nun nach Petersburg zurückgekehrt war, befanden sich beide, der Prinz und der hohe Würdenträger, ebendort, machten beide ihre Rechte geltend, und Helene stand nun vor einer Aufgabe, die ihr bisher in ihrer Laufbahn noch nicht vorgekommen war: zu beiden ihr bisheriges nahes Verhältnis aufrechtzuerhalten und keinen von ihnen zu verletzen.

Indes, was einer andern Frau schwer oder selbst unmöglich erschienen wäre, das kostete der Gräfin Besuchowa keine lange Überlegung; augenscheinlich erfreute sie sich nicht ohne Grund des Rufes, eine außerordentlich kluge Frau zu sein. Hätte sie versucht, ihr Tun zu verheimlichen und sich durch Schlauheit aus der unbequemen Lage herauszuwickeln, so würde sie gerade dadurch, daß sie sich in dieser Weise schuldig bekannt hätte, ihre Sache verdorben haben; aber Helene schlug ein ganz entgegengesetztes Verfahren ein. Wie ein wahrhaft großer Geist, der alles kann, was er will, stellte sie sich von vornherein auf den Standpunkt, daß sie im Recht sei (was sie übrigens aus voller Überzeugung glaubte) und alle andern im Unrecht.

Als sich der junge ausländische Prinz zum erstenmal erlaubte, ihr Vorwürfe zu machen, hob sie ihren schönen Kopf stolz in die Höhe, wendete sich mit einer halben Drehung zu ihm hin und sagte in bestimmtem, festem Ton:

»Da sieht man den Egoismus und die Grausamkeit der Männer! Ich habe auch nichts anderes erwartet. Die Frauen opfern sich für die Männer und leiden, und das ist dann ihr Lohn! Mit welchem Recht verlangen Sie, Monseigneur, von mir Rechenschaft über meine Freundschaftsverhältnisse und über meine Neigungen? Das ist ein Mann, der mir mehr als ein Vater gewesen ist.«

Der Prinz wollte etwas erwidern; aber Helene ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Nun ja«, sagte sie, »vielleicht hegt er gegen mich andere als nur väterliche Gefühle; aber das ist doch für mich noch kein Grund, ihm meine Tür zu verschließen. Ich bin ja doch kein Mann, daß ich so undankbar sein sollte. Lassen Sie sich sagen, Monseigneur, daß ich über alles, was meine innersten Empfindungen angeht, nur Gott und meinem Gewissen Rechenschaft ablege«, schloß sie, berührte mit der Hand ihre bebende schöne Brust und schaute nach oben.

»Aber um des Himmels willen, hören Sie mich doch nur an …«

»Heiraten Sie mich, und ich werde Ihre Sklavin sein.«

»Aber das ist doch unmöglich.«

»Sie mögen nicht zu mir herabsteigen; Sie …«, sagte Helene und brach in Tränen aus.

Der Prinz suchte sie zu beruhigen; Helene aber sagte schluchzend, wie wenn sie von ihrer Erregung hingerissen wäre, nichts könne sie hindern, eine andere Ehe einzugehen; dafür gebe es Beispiele (damals gab es solcher Beispiele allerdings erst wenige; aber sie nannte Napoleon und andere hohe Personen); sie sei nie die Frau ihres Mannes gewesen; sie sei geopfert worden.

»Aber die Gesetze, die Religion …«, wandte der Prinz, schon nachgebend, ein.

»Die Gesetze, die Religion … Wozu wären die denn erfunden, wenn sie so etwas nicht bewerkstelligen könnten!« erwiderte Helene.

Der hohe Herr war erstaunt, daß eine so einfache Erwägung ihm nicht in den Sinn gekommen war, und wandte sich mit der Bitte um Rat an die frommen Brüder von der Gesellschaft Jesu, mit denen er in nahen Beziehungen stand.

Einige Tage darauf wurde bei einem der reizenden Feste, die Helene in ihrem Landhaus auf dem Kamenny Ostrow gab, ihr ein »kurzröckiger« Jesuit, ein bereits älterer Mann mit schneeweißem Haar und schwarzen blitzenden Augen, vorgestellt, der bezaubernde Monsieur de Jobert; dieser sprach lange mit ihr im Garten, beim Schein der Illumination und den Klängen der Musik, über die Liebe zu Gott, zu Christus, zum Herzen der Muttergottes und über die Tröstungen, die die einzig wahre katholische Religion in diesem und im künftigen Leben gewähren könne. Helene war gerührt, und einige Male standen ihr und Herrn de Jobert die Tränen in den Augen, und die Stimme bebte ihnen. Der beginnende Tanz, zu welchem ein Kavalier Helene aufzufordern kam, unterbrach ihr Gespräch mit dem künftigen Berater ihres Gewissens; aber am folgenden Tag kam Herr de Jobert abends allein zu Helene, und seitdem sprach er häufig bei ihr vor.

Eines Tages führte er die Gräfin in die katholische Kirche, wo sie vor einem Altar, zu dem man sie geleitete, niederkniete. Der bezaubernde, wenn auch bereits bejahrte Franzose legte ihr die Hände auf den Kopf, und wie sie selbst nachher erzählte, fühlte sie etwas wie das Wehen eines frischen Windes, das ihr in die Seele drang. Man erklärte ihr, daß dies »die Gnade« gewesen sei.

Dann führte man ihr einen »langröckigen« Abbé zu; er hörte ihre Beichte und erteilte ihr die Absolution. Am folgenden Tag brachte man ihr ein Kästchen, in welchem sich eine Hostie befand, und ließ es ihr da, zum Gebrauch im Haus. Nach einigen weiteren Tagen erfuhr Helene zu ihrem großen Vergnügen, daß sie jetzt in die wahre katholische Kirche eingetreten sei, daß nächster Tage der Papst selbst von ihr erfahren und ihr ein gewisses Schriftstück zusenden werde.

Alles, was in dieser Zeit um sie her und mit ihr vorging, alle diese Aufmerksamkeit, die so viele kluge Männer ihr zuwandten und die sich in so angenehmen, feinen Formen bekundete, und der Zustand der Taubenreinheit, in dem sie sich jetzt befand (sie trug während dieser ganzen Zeit weiße Kleider mit weißen Bändern): alles dies bereitete ihr Vergnügen; aber trotz des Vergnügens, das sie empfand, ließ sie auch nicht einen Augenblick lang ihr Ziel aus den Augen. Und wie es immer so zugeht, daß im Punkt der Schlauheit der Dumme dem Klügeren überlegen ist, so war es auch in diesem Fall. Helene hatte es durchschaut, daß die Absicht aller dieser schönen Reden und geschäftigen Bemühungen vor allem darin bestand, nach ihrer Bekehrung zum Katholizismus von ihr Geld für die Jesuitenanstalten zu erlangen (darüber hatte man ihr bereits Andeutungen gemacht); aber bevor sie Geld hergab, bestand sie darauf, daß jene verschiedenen Operationen, durch die sie, wie es hieß, von ihrem Mann freikommen könnte, vorgenommen werden sollten. Nach ihrer Anschauung bestand das Wesen einer jeden Religion nur darin, bei der Befriedigung der menschlichen Wünsche auf die Beobachtung gewisser Anstandsregeln zu halten. Und in dieser Absicht verlangte sie bei einem dieser Gespräche mit ihrem Beichtvater energisch von ihm eine Antwort auf die Frage, inwieweit sie noch durch ihre Ehe gebunden sei.

Sie saßen im Salon am Fenster. Es dämmerte. Blumenduft drang herein. Helene trug ein weißes, an Brust und Schultern durchschimmerndes Kleid. Der wohlgenährte Abbé mit seinem dicken, glattrasierten Kinn, dem angenehmen, kräftigen Mund und den weißen Händen, die er sanftmütig auf den Knien gefaltet hielt, saß Helene nahe gegenüber, richtete mit einem feinen Lächeln um die Lippen ab und zu einen Blick stillen Entzückens über ihre Schönheit nach ihrem Gesicht und legte seine Ansicht über die Frage dar, welche sie beide beschäftigte. Helene blickte, unruhig lächelnd, nach seinem lockigen Haar und den glatt rasierten, vollen Backen mit den schwärzlichen Bartspuren und erwartete in jedem Augenblick, daß das Gespräch eine andere Wendung nehmen werde. Aber obgleich es dem Abbé augenscheinlich ein Genuß war, seine schöne Partnerin anzusehen, nahm doch die Ausübung seiner Berufstätigkeit sein Interesse zu sehr in Anspruch.

Der Gedankengang, den dieser Gewissensrat entwickelte, war folgender: »Ohne die Bedeutung dessen, was Sie taten, zu kennen, haben Sie das Gelübde der ehelichen Treue einem Mann gegeben, der seinerseits, indem er in die Ehe eintrat, ohne an die religiöse Bedeutung der Ehe zu glauben, einen Religionsfrevel beging. Diese Ehe hatte nicht die doppelte hohe Bedeutung, die sie hätte haben sollen. Aber trotzdem band Sie Ihr Gelübde. Sie haben sich von Ihrem Mann getrennt. Was haben Sie damit begangen? Eine läßliche Sünde oder eine Todsünde? Eine läßliche Sünde, weil Sie ohne böse Absicht so gehandelt haben. Wenn Sie jetzt mit der Absicht, Kinder zu haben, in eine neue Ehe träten, so könnte Ihre Sünde verziehen werden. Aber die Frage zerfällt wieder in zwei Unterfragen: erstens …«

»Aber ich denke«, bemerkte plötzlich Helene, der dies langweilig zu werden begann, mit ihrem bezaubernden Lächeln, »daß mich jetzt, nachdem ich zu der wahren Religion übergetreten bin, nicht mehr eine Verpflichtung binden kann, die mir vorher die falsche Religion auferlegt hat.«

Der Gewissensrat war erstaunt darüber, mit welcher Einfachheit und Selbstverständlichkeit das Ei des Kolumbus vor ihm hingestellt wurde. Er war entzückt über die überraschend schnellen Fortschritte seiner Schülerin; aber er vermochte sich von dem Gebäude kunstvoller Deduktionen, das er mit so viel Aufwand von Geist und Mühe errichtet hatte, nicht zu trennen.

»Verständigen wir uns, Gräfin«, sagte er lächelnd und begann die Schlußfolgerung seines Beichtkindes zu widerlegen.

VII


Helene war sich darüber klar, daß vom geistlichen Standpunkt aus die Erledigung der Sache leicht und einfach war und daß ihre Berater nur deshalb Schwierigkeiten machten, weil sie Bedenken hatten, wie die weltliche Gewalt die Sache ansehen werde.

Daher sagte sich Helene, daß es erforderlich sei, in der Gesellschaft die Sache vorzubereiten. Sie erweckte die Eifersucht des alten Würdenträgers und sagte ihm dann dasselbe, was sie ihrem andern Galan gesagt hatte, d.h. sie erklärte, das einzige Mittel, Rechte auf sie zu gewinnen, bestehe darin, sie zu heiraten. Der bejahrte hochgestellte Herr war über diesen Vorschlag, eine Frau zu heiraten, deren Mann noch lebte, im ersten Augenblick ebenso überrascht wie der junge Prinz. Aber Helenes unerschütterliche Überzeugung, daß dies ebenso einfach und natürlich sei, wie wenn sich ein Mädchen verheirate, wirkte auch auf ihn. Wäre an Helene selbst auch nur das geringste Anzeichen von Schwanken, Scham oder Verheimlichung zu merken gewesen, so wäre ihr Spiel ohne Zweifel verloren gewesen; aber nicht nur mangelte es vollständig an solchen Anzeichen von Verheimlichung und Scham, sondern sie erzählte sogar ganz im Gegenteil mit großer Harmlosigkeit und gutmütiger Naivität ihren guten Freunden (und dazu gehörte ganz Petersburg), daß ihr sowohl der Prinz als auch der hohe Würdenträger Heiratsanträge gemacht hätten und daß sie beide sehr gern habe und fürchte, den einen oder den andern zu verletzen.

Augenblicklich verbreitete sich in Petersburg das Gerücht, nicht etwa daß Helene sich von ihrem Mann scheiden lassen wolle (wäre dies der Inhalt des Gerüchtes gewesen, so hätten sich gewiß sehr viele gegen ein so gesetzwidriges Vorhaben ausgesprochen), sondern geradezu, daß die unglückliche, interessante Helene sich im Zweifel befinde, welchen von zwei Bewerbern sie heiraten solle. Die Frage war also nicht mehr darauf gerichtet, ob das überhaupt möglich sei, sondern nur darauf, welche Partie größere Vorteile biete und wie der Hof die Sache ansehen werde. Allerdings gab es einige verstockte Menschen, die sich nicht zu der Höhe dieser Anschauung erheben konnten und in diesem Vorhaben eine Beschimpfung des Sakramentes der Ehe erblickten; aber es waren ihrer nur wenige, und sie schwiegen; die meisten sprachen lebhaft interessiert von dem Glück, das der schönen Helene zufalle, und erörterten die Frage, welche Partie die bessere sei. Darüber aber, ob es recht oder unrecht sei, bei Lebzeiten des Gatten einen andern zu heiraten, redeten sie überhaupt nicht; denn diese Frage war für Leute, die klüger waren als Hinz und Kunz (wie man sich ausdrückte), offenbar längst entschieden, und wer an der Richtigkeit der Entscheidung der Frage gezweifelt hätte, der hätte damit lediglich seine eigene Beschränktheit und seine Unfähigkeit, in den Kreisen der besseren Gesellschaft zu leben, an den Tag gelegt.

Nur Marja Dmitrijewna Achrosimowa, die in diesem Sommer nach Petersburg gekommen war, um einen ihrer Söhne wiederzusehen, erlaubte sich, ihrer Ansicht, die zu der der Gesellschaft in starkem Gegensatz stand, unverhohlenen Ausdruck zu geben. Als sie mit Helene auf einem Ball zusammentraf, hielt sie sie mitten im Saal an und sagte, während ein allgemeines Stillschweigen eintrat, mit ihrer derben, kräftigen Stimme zu ihr: »Bei euch hier heiratet man ja wohl jetzt zum zweitenmal, während der erste Mann noch lebt. Denkst du vielleicht, daß du damit eine neue Erfindung gemacht hast? Das haben andre schon vor dir getan, meine Verehrteste! In allen« (hier bediente sie sich eines sehr kräftigen Ausdrucks) »machen Sie es so.« Und nach diesen Worten ging Marja Dmitrijewna, indem sie sich mit einer ihr geläufigen drohenden Gebärde ihre weiten Ärmel aufstreifte und mit strengen Blicken um sich sah, weiter durch den Saal.

Aber obwohl man sich vor Marja Dmitrijewna fürchtete, betrachtete man sie in Petersburg doch als eine Art von weiblichem Hanswurst und beachtete daher von dem, was sie gesagt hatte, nur das eine derbe Wort und kolportierte dieses flüsternd in der Stadt, in der Meinung, daß in diesem Wort der ganze geistige Gehalt jener Äußerung stecke.

Fürst Wasili, der in der letzten Zeit besonders häufig vergaß, was er früher gesagt hatte, und hundertmal ein und dasselbe wiederholte, sagte jedesmal, wenn er mit seiner Tochter zusammentraf:

»Helene, ich möchte dir ein paar Worte sagen.« Dabei führte er sie beiseite und zog in seiner absonderlichen Manier ihre Hand nach unten. »Ich habe Wind bekommen von gewissen Plänen in betreff … Du weißt schon. Nun, mein liebes Kind, du weißt, daß mein Vaterherz sich freut, daß du … Du hast so viel gelitten … Aber, mein liebes Kind … frage nur dein Herz um Rat. Das ist alles, was ich dir sagen kann.«

Und um seine Erregung, die bei ihm jedesmal die gleiche war, zu verbergen, drückte er seine Wange an die Wange seiner Tochter und ging dann von ihr weg.

Bilibin, der sich das Renommee eines außerordentlich klugen Mannes zu bewahren gewußt hatte und ein uneigennütziger Freund Helenes war, einer von jenen Freunden, wie sie stets in der Umgebung vielbewunderter Frauen zu finden sind, von jenen Freunden, bei denen es ausgeschlossen ist, daß sie jemals in die Rolle von Liebhabern übergehen, Bilibin sprach einmal seiner Freundin Helene gegenüber im engeren Freundeskreis seine Ansicht über diese ganze Angelegenheit aus.

»Hören Sie, Bilibin«, hatte Helene gesagt und dabei mit ihrer weißen, ringgeschmückten Hand seinen Frackärmel berührt; sie nannte solche Freunde wie Bilibin immer mit dem Familiennamen. »Sagen Sie mir aufrichtig, wie wenn Sie mit einer Schwester sprächen: was soll ich tun? Welchen von beiden soll ich nehmen?«

Bilibin zog die Haut über den Augenbrauen zusammen, legte seine Lippen zu einem Lächeln zurecht und überlegte ein Weilchen.

»Überraschend kommt mir diese Frage nicht; das wissen Sie«, erwiderte er. »Als Ihr wahrer Freund habe ich über Ihre Angelegenheit nachgedacht und immer wieder nachgedacht. Sehen Sie, wenn Sie den Prinzen heiraten« (dies war der junge Mann), Bilibin bog einen Finger ein, »so verlieren Sie für immer die Möglichkeit, den andern zu heiraten, und erregen außerdem das Mißfallen des Hofes. (Wie Sie wissen, existiert da so eine Art von Verwandtschaft.) Heiraten Sie dagegen den alten Grafen, so verschönern Sie ihm seine letzten Lebenstage, und wenn Sie dann die Witwe des großen N.N. sind, so begeht der Prinz keine Mesalliance mehr, wenn er Sie heiratet.« Hierauf zog Bilibin die Hautfalten auf der Stirn wieder auseinander.

»Das nenne ich einen wahren Freund!« sagte Helene mit strahlender Miene und berührte noch einmal mit der Hand Bilibins Ärmel. »Aber die Sache ist die, daß ich sie beide liebe und keinem von ihnen Schmerz bereiten möchte. Ich möchte für beide mein Leben hingeben, um sie glücklich zu machen.«

Bilibin zuckte die Achseln, um damit zu verstehen zu geben, daß für solches Leid auch er keine Hilfe wisse.

»Ein Hauptweib!« dachte er. »Das heißt klipp und klar aussprechen, um was es sich handelt. Am liebsten wäre sie mit allen dreien zugleich verheiratet.«

»Aber sagen Sie«, fuhr er laut fort, da er infolge seines fest begründeten Renommees nicht fürchtete, sich durch eine so naive Frage zu blamieren, »wie sieht denn Ihr Mann die Sache an? Ist er damit einverstanden?«

»Oh, er liebt mich so sehr!« antwortete Helene, die aus einem nicht recht verständlichen Grund sich einbildete, Pierre liebe sie ebenfalls. »Er ist für mich zu allem bereit.«

Bilibin zog die Stirnhaut zusammen, um anzudeuten, daß sich ein Witzwort vorbereitete.

»Sogar zur Scheidung!« sagte er.

Helene lachte.

Zu denjenigen, die sich erlaubten an der gesetzlichen Zulässigkeit der in Aussicht genommenen Wiederverheiratung zu zweifeln, gehörte auch Helenes Mutter, die Fürstin Kuragina. Sie wurde beständig von Neid auf ihre Tochter gequält, und jetzt, wo ihr der Anlaß des Neides besonders naheging, da es sich um eine Herzenssache handelte, ließ ihr der Gedanke, daß ihre Tochter ihre Absicht erreichen könnte, keine Ruhe. Sie befragte einen russischen Geistlichen, ob eine Scheidung und Wiederverheiratung bei Lebzeiten des Mannes möglich sei, und der Geistliche erklärte ihr, daß das unmöglich sei, und zeigte ihr auch zu ihrer Freude eine Stelle im Evangelium, wo die Eingehung einer zweiten Ehe bei Lebzeiten des Mannes ausdrücklich verboten wird.

Mit diesen Argumenten bewaffnet, die ihr unwiderleglich schienen, fuhr die Fürstin zu ihrer Tochter, und zwar frühmorgens, um sie allein zu treffen.

Helene hörte die Einwendungen ihrer Mutter mit einem milden, spöttischen Lächeln an.

»Es steht ja geradezu in der Schrift: ›Wer eine Abgeschiedene freiet …‹«, sagte die alte Fürstin.

»Ach, Mama, reden Sie doch keine Torheiten. Sie verstehen ja davon gar nichts. In meiner Stellung habe ich Pflichten«, erwiderte Helene auf französisch; sie ging absichtlich vom Russischen zum Französischen über, weil es ihr, wenn sie russisch sprach, immer so vorkam, als sei ihre Sache doch einigermaßen mißlich.

»Aber, liebes Kind …«

»Ach, Mama, begreifen Sie denn nicht, daß der Heilige Vater, der das Recht hat, Dispens zu erteilen …«

In diesem Augenblick trat die Gesellschaftsdame, welche Helene sich hielt, ein und meldete, Seine Hoheit sei im Saal und wünsche sie zu sprechen.

»Nein, sagen Sie ihm, daß ich ihn nicht sehen will und auf ihn wütend bin, weil er nicht Wort gehalten hat.«

»Gräfin, für jede Sünde gibt es ein Erbarmen«, sagte eintretend ein blonder junger Mann mit langem Gesicht und langer Nase.

Die alte Fürstin stand respektvoll auf und knickste. Der junge Mann, der hereingekommen war, schenkte ihr keine Beachtung. Die Fürstin nickte ihrer Tochter zu und ging mit gleitendem Gang zur Tür.

»Nein, sie hat recht«, dachte die alte Fürstin, deren Überzeugungen sämtlich durch das Erscheinen Seiner Hoheit in Trümmer gefallen waren. »Sie hat recht; aber wie haben wir nur in unserer Jugend, die nun unwiederbringlich dahin ist, darüber in Unkenntnis sein können! Und es wäre doch so einfach gewesen«, dachte die alte Fürstin, als sie in ihren Wagen stieg.

Anfang August hatte sich Helenes Angelegenheit völlig geklärt, und sie schrieb an ihren Mann, von dem sie annahm, daß er sie sehr liebe, einen Brief, in dem sie ihm mitteilte, daß sie Herrn N.N. zu heiraten beabsichtige und zur einzig wahren Religion übergetreten sei; sie bat ihn, alle für die Scheidung unumgänglichen Formalitäten zu erledigen, über die ihm der Überbringer dieses Briefes nähere Auskunft geben werde.

»Und nun bitte ich Gott, mein Freund, Sie unter Seinen heiligen, starken Schutz zu nehmen. Ihre Freundin Helene.«

Dieser Brief wurde in Pierres Haus zu der Zeit abgegeben, als er sich auf dem Schlachtfeld von Borodino befand.

VIII


Nachdem Pierre zum zweitenmal, schon gegen Ende der Schlacht bei Borodino, von der Rajewskischen Batterie hinuntergelaufen war, schlug er mit mehreren Soldatentrupps durch einen Hohlweg die Richtung nach Knjaskowo ein und gelangte zu dem Verbandsplatz. Als er dort das Blut sah und das Schreien und Stöhnen hörte, ging er, sich unter die Soldatenhaufen mischend, eilig weiter.

Das einzige, was Pierre jetzt aus aller Kraft seiner Seele wünschte, war, so schnell wie nur möglich von den furchtbaren Eindrücken loszukommen, unter denen er diesen Tag verlebt hatte, zu den gewöhnlichen Lebensverhältnissen zurückzukehren und ruhig in seinem Zimmer in seinem Bett einzuschlafen. Er fühlte, daß er nur in seinen gewöhnlichen Lebensverhältnissen imstande sein werde, sich selbst und alles, was er gesehen und erlebt hatte, zu verstehen. Aber diese gewöhnlichen Lebensverhältnisse waren eben nicht vorhanden.

Kanonen- und Flintenkugeln pfiffen zwar hier auf dem Weg, den er verfolgte, nicht umher; aber im übrigen war es ringsum dasselbe Bild wie dort auf dem Schlachtfeld. Da war derselbe Ausdruck des Leidens, der Erschöpfung und manchmal eines seltsamen Gleichmutes auf den Gesichtern, dasselbe Blut, dieselben Soldatenmäntel, dieselben Töne des zwar entfernten, aber trotzdem noch Schrecken erregenden Schießens; außerdem schwüle Luft und arger Staub.

Nachdem Pierre etwa drei Werft auf der großen Straße nach Moschaisk zurückgelegt hatte, setzte er sich am Rand derselben nieder.

Die Dämmerung senkte sich auf die Erde hinab, und der Donner der Geschütze verstummte. Den Kopf auf den Arm gestützt, legte sich Pierre hin; so lag er lange und blickte nach den Schatten, die sich in der Dunkelheit an ihm vorbeibewegten. Alle Augenblicke kam es ihm vor, als ob mit furchtbarem Pfeifen eine Kanonenkugel auf ihn herabgeflogen käme; dann fuhr er zusammen und richtete sich ein wenig auf. Wieviel Zeit er so zugebracht haben mochte, dafür hatte er kein Bewußtsein. Um Mitternacht ließen sich drei Soldaten, nachdem sie Reisig herbeigeschleppt hatten, in seiner Nähe nieder und begannen ein Feuer anzumachen.

Immer nach Pierre hinschielend, brachten die Soldaten ihr Feuer in Gang, stellten einen Feldkessel mit Wasser darüber, brockten Zwieback hinein und taten Speck dazu. Der angenehme Geruch des appetitlichen, fetten Essens vermischte sich mit dem Geruch des Rauches. Pierre richtete sich auf und seufzte. Die drei Soldaten aßen, ohne sich um ihn zu kümmern, und redeten untereinander.

»Was bist du denn eigentlich für einer?« wandte sich plötzlich einer von ihnen zu Pierre; er meinte mit dieser Frage offenbar noch etwas anderes, was auch Pierre sofort verstand, nämlich: »Wenn du mitessen willst, so wollen wir dir etwas abgeben; aber sage vorher, ob du auch ein ordentlicher Mensch bist.«

»Ich? ich?« erwiderte Pierre, der die Notwendigkeit fühlte, seine gesellschaftliche Stellung möglichst zu verkleinern, um dadurch den Soldaten näherzurücken und verständlicher zu werden. »Ich bin eigentlich Landwehroffizier; ich habe nur meine Leute nicht bei mir; ich bin mit ihnen in den Kampf gekommen, und da bin ich von ihnen getrennt worden.«

»Na, nun sieh mal an!« sagte einer von den Soldaten.

Ein anderer Soldat wiegte den Kopf hin und her.

»Na gut, wenn du magst, iß von unserer Zwiebacksuppe!« sagte der erste und reichte Pierre seinen hölzernen Löffel, nachdem er ihn vorher abgeleckt hatte.

Pierre setzte sich ans Feuer und aß von der Zwiebacksuppe im Kessel, und diese Suppe erschien ihm schmackhafter als alle Gerichte, die er je gegessen hatte. Während er, über den Kessel gebeugt, gierig große Löffel voll herausholte und einen nach dem andern kaute und hinunterschluckte und sein Gesicht im Schein des Feuers deutlich zu sehen war, betrachteten ihn die Soldaten schweigend.

»Sag doch mal, wo willst du denn hin?« fragte ihn wieder einer von ihnen.

»Ich will nach Moschaisk.«

»Du bist wohl ein Herr?«

»Ja.«

»Und wie heißt du?«

»Pjotr Kirillowitsch.«

»Na, Pjotr Kirillowitsch, dann komm mit; wir wollen dich hinbringen.«

In völliger Dunkelheit gingen die Soldaten mit Pierre nach Moschaisk.

Die Hähne krähten schon, als sie nach Moschaisk gelangten und den steilen Berg bei der Stadt hinaufzusteigen begannen. Pierre ging mit den Soldaten mit, ohne daran zu denken, daß seine Herberge am Fuß des Berges lag und er schon an ihr vorbei war. Bei dem Zustand der Verstörtheit, in dem er sich befand, würde er sich überhaupt nicht mehr daran erinnert haben, wenn ihm nicht auf halber Höhe des Berges sein Reitknecht begegnet wäre, der sich nach der Stadt begeben hatte, um dort nach ihm zu suchen, und nun auf dem Rückweg nach ihrer Herberge war. Der Reitknecht erkannte Pierre an seinem weißen Hut, der durch die Dunkelheit schimmerte.

»Euer Erlaucht!« rief er. »Wir waren schon ganz verzweifelt. Und Sie sind zu Fuß? Wohin gehen Sie denn, wenn ich fragen darf?«

»Ach ja!« antwortete Pierre.

Die Soldaten waren stehengeblieben.

»Na, hast du einen von deinen Leuten gefunden?« fragte einer von ihnen. »Na, dann adje, Pjotr Kirillowitsch, so heißt du ja wohl.«

»Adje, Pjotr Kirillowitsch«, sagten auch die beiden andern.

»Adieu!« antwortete Pierre und schlug mit seinem Reitknecht die Richtung nach der Herberge ein.

»Ich muß ihnen wohl etwas geben!« dachte Pierre und griff in die Tasche. »Nein, das ist nicht das richtige«, sagte ihm eine innere Stimme.

In den Stuben der Herberge war kein Platz; sie waren sämtlich besetzt. Pierre ging auf den Hof, legte sich in seinen Wagen und hüllte den Kopf in den Mantelkragen.

IX


Kaum hatte Pierre seinen Kopf auf das Kissen gelegt, als er fühlte, daß er einschlief; aber plötzlich hörte er fast ebenso deutlich, wie wenn es Wirklichkeit wäre, das Bum, bum, bum der Kanonenschüsse, das Aufklatschen der Geschosse, das Stöhnen und Schreien, roch Blut und Pulver und fühlte sich von Schauder und Todesfurcht ergriffen. Erschrocken öffnete er die Augen und hob den Kopf aus dem Mantel in die Höhe. Auf dem Hof war alles still. Nur am Tor ging, durch den Schmutz patschend, ein Offiziersbursche und redete mit dem Hausknecht. Über Pierres Kopf schüttelten sich auf der dunklen Unterseite des Bretterdaches die Tauben, die durch die Bewegung, welche Pierre gemacht hatte, aufgestört worden waren. Über den ganzen Hof war jener friedliche, auf Pierre in diesem Augenblick angenehm wirkende, kräftige Herbergsgeruch nach Heu, Dünger und Teer verbreitet. Zwischen zwei schwarzen Schuppendächern war der reine, mit Sternen übersäte Himmel sichtbar.

»Gott sei Dank, daß das alles vorbei ist!« dachte Pierre und hüllte seinen Kopf wieder ein. »Oh, wie entsetzlich ist die Furcht, und in wie schmählicher Art habe ich mich ihr überlassen! Sie dagegen, sie waren die ganze Zeit über bis zu Ende ruhig und fest«, dachte er.

Sie, damit meinte Pierre die Soldaten, sowohl die, welche in der Batterie gewesen waren, als auch die, welche ihm zu essen gegeben hatten, als auch die, welche vor dem Heiligenbild gebetet hatten. Sie, diese seltsamen Menschen, die er bisher noch gar nicht gekannt hatte, sie schieden sich jetzt in seinem Denken klar und scharf von allen andern Menschen.

»Soldat sein, einfacher Soldat«, dachte Pierre, wieder einschlafend. »In diese Lebensgemeinschaft mit seiner ganzen Persönlichkeit eintreten, sich von den Empfindungen und Anschauungen durchdringen lassen, durch die sie zu den Menschen gemacht werden, die sie sind. Aber wie soll man es anstellen, all dieses Überflüssige und Teuflische, die ganze Bürde dieses äußeren Menschen von sich zu werfen? Es war einmal eine Zeit, wo ich ein solcher Mensch hätte werden können. Ich konnte meinem Vater weglaufen, wenn es mir beliebte. Und noch nach dem Duell mit Dolochow war es möglich, daß man mich zur Strafe unter die Soldaten steckte.« Vor Pierres Geist huschte die Erinnerung an das Diner im Klub vorüber, bei dem er Dolochow gefordert hatte, und an seinen edlen alten Freund in Torschok. Und da stand ihm auf einmal eine feierliche Tafelloge vor Augen. Diese Loge fand im Englischen Klub statt. Und jemand, den er kannte und der ihm nahestand und teuer war, saß am Ende des Tisches. Ja, das war er! Das war sein edler Freund! »Aber ist er denn nicht gestorben?« dachte Pierre. »Ja, er ist gestorben; aber ich wußte nicht, daß er wieder lebt. Wie leid hat es mir getan, daß er starb, und wie freue ich mich jetzt, daß er wieder am Leben ist!« An der einen Seite des Tisches saßen Anatol, Dolochow, Neswizki, Denisow und andere dieser Art (diese Menschenklasse war im Geist des träumenden Pierre ebenso deutlich von anderen geschieden, wie die Klasse derjenigen, die er sie nannte), und diese Leute, Anatol, Dolochow usw., schrien und sangen laut; aber durch ihr Geschrei hindurch war die Stimme des edlen Freundes vernehmbar, die unermüdlich redete, und der Klang seiner Worte war ebenso eindrucksvoll und ebenso ununterbrochen wie das Getöse des Schlachtfeldes; aber dieser Klang war angenehm und tröstlich. Was der edle Freund sagte, verstand Pierre nicht; aber er wußte (auch über die Kategorie, in welche diese Gedanken hineingehörten, war er sich im Traum völlig klar), daß derselbe vom Guten sprach, von der Möglichkeit, ein solcher Mensch zu sein, wie sie es waren. Und sie mit ihren schlichten, gutherzigen, festen Gesichtern umringten den edlen Mann von allen Seiten. Aber so gutherzig sie waren, so sahen sie doch Pierre nicht an; sie kannten ihn nicht. Pierre hätte gern ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt und etwas gesagt. Er begann sich aufzurichten; aber in demselben Augenblick wurden ihm die Beine nackt und kalt.

Er schämte sich und suchte mit der Hand seine Beine zu bedecken, von denen tatsächlich der Mantel heruntergeglitten war. Einen Augenblick lang, während er den Mantel wieder zurechtlegte, öffnete Pierre die Augen und erblickte dieselben beiden Schuppen und die Pfosten und den Hof; aber alles war jetzt von einem bläulichen Licht erhellt und mit schimmerndem Tau oder Reif überzogen.

»Es wird Tag«, dachte Pierre. »Aber das kümmert mich nicht. Ich muß zu Ende hören und verstehen, was mein edler Freund sagt.« Er hüllte wieder den Kopf in den Mantel; aber weder die Tafelloge noch der edle Freund waren mehr da; was zurückgeblieben war, das waren nur Gedanken, die in Worten ihren deutlichen Ausdruck fanden, Gedanken, die jemand aussprach oder die Pierre selbst dachte.

Sooft sich Pierre später an diese Gedanken erinnerte, war er, obgleich sie durch die Eindrücke des letzten Tages hervorgerufen waren, dennoch überzeugt, daß ein außer ihm Befindlicher sie ihm gesagt habe. Er meinte, er würde im Wachen niemals imstande gewesen sein, so zu denken und seine Gedanken so auszudrücken.

»Was dem Menschen am schwersten wird«, sagte die Stimme, »das ist, die eigene Freiheit den Geboten Gottes unterzuordnen. Die Einfalt ist der Gehorsam gegen Gott; von Gott loszukommen ist unmöglich. Und sie sind einfältigen Herzens. Sie reden nicht, sondern sie handeln. Das gesprochene Wort ist Silber, das nicht gesprochene ist Gold. Solange der Mensch den Tod fürchtet, vermag er nichts in seine Gewalt zu bekommen; aber wer den Tod nicht fürchtet, dem gehört alles. Gäbe es kein Leid, so würde der Mensch keine Schranken für sich kennen und würde sich selbst nicht kennen. Das Schwerste«, fuhr Pierre im Traum zu denken oder zu hören fort, »besteht darin, daß man es versteht, in seiner Seele das wahre Wesen aller Dinge zu vereinigen. Zu vereinigen?« fragte Pierre sich selbst. »Nein, nicht zu vereinigen. Vereinigen kann man die Gedanken nicht; aber umspannen kann man alle diese Gedanken; das ist’s, worauf es ankommt! Ja, wir müssen alles umspannen, alles umspannen!« wiederholte Pierre bei sich mit innerlichem Wohlgefühl, da er sich bewußt war, daß gerade durch dieses Wort und nur durch dieses Wort sich das ausdrücken ließ, was er ausdrücken wollte, und dies die einzige Lösung für die Frage war, die ihn quälte.

»Ja, wir müssen alles umspannen; es ist hohe Zeit.«

»Wir müssen anspannen; es ist hohe Zeit, Euer Erlaucht! Euer Erlaucht!« rief eine Stimme. »Wir müssen anspannen; es ist hohe Zeit zum Anspannen.«

Es war die Stimme des Reitknechtes, der Pierre weckte. Die Sonne schien Pierre gerade ins Gesicht. Er erblickte den schmutzigen Hof der Herberge, in dessen Mitte Soldaten beim Ziehbrunnen ihre mageren Pferde tränkten und aus dessen Tor Fuhrwerke hinausfuhren. Mit Widerwillen wendete sich Pierre von diesem Bild ab, und indem er die Augen wieder schloß, ließ er sich schnell auf den Sitz des Wagens zurücksinken. »Nein, ich mag das nicht sehen, mag davon nichts verstehen; ich will das verstehen, was sich mir im Traum erschlossen hat. Noch eine Sekunde, und ich hätte alles verstanden. Was soll ich denn tun? Alles umspannen; aber wie ist das zu machen?« Und Pierre wurde sich mit Schrecken bewußt, daß der ganze Sinn und Inhalt dessen, was er im Traum gesehen und gedacht hatte, in Trümmer gefallen war.

Der Reitknecht, der Kutscher und der Hausknecht erzählten ihm, es sei ein Offizier gekommen mit der Nachricht, daß die Franzosen gegen Moschaisk heranrückten; die Unsrigen zögen schon ab.

Pierre stand auf, befahl, daß angespannt werden und der Wagen ihm nachkommen solle, und ging zu Fuß durch die Stadt.

Die Truppen marschierten hinaus und ließen gegen zehntausend Verwundete in der Stadt zurück. Diese Verwundeten waren teils auf den Höfen und an den Fenstern der Häuser zu sehen, teils drängten sie sich auf den Straßen. Auf den Straßen hörte man um die Wagen, die zum Transport der Verwundeten bestimmt waren, Geschrei und Schimpfworte; selbst an Schlägereien fehlte es nicht. Als Pierres Wagen ihn eingeholt hatte, nahm Pierre einen ihm bekannten verwundeten General mit zu sich und fuhr mit ihm zusammen nach Moskau. Unterwegs hörte Pierre, sein Schwager und Fürst Andrei seien tot.

X


Am 30. August kam Pierre wieder in Moskau an. Kaum hatte er den Schlagbaum passiert, als ihm ein Adjutant des Grafen Rastoptschin begegnete.

»Wir suchen Sie überall«, sagte der Adjutant. »Der Graf muß Sie notwendig sprechen. Er läßt Sie bitten, in einer sehr wichtigen Angelegenheit unverzüglich zu ihm zu kommen.«

Ohne erst nach seinem Haus heranzufahren, nahm sich Pierre eine Droschke und fuhr zum Oberkommandierenden von Moskau.

Graf Rastoptschin war erst diesen Morgen von seinem Landhaus in Sokolniki nach der Stadt gekommen. Sein Vorzimmer und sein Wartezimmer waren voll von Beamten, die teils von ihm hinbestellt waren, teils aus eigenem Antrieb gekommen waren, um Befehle einzuholen. Wasiltschikow und Platow hatten den Grafen bereits gesprochen und ihm erklärt, eine Verteidigung Moskaus sei ein Ding der Unmöglichkeit; die Stadt werde dem Feind überlassen werden. Diese Nachricht wurde allerdings der Hauptmasse der Einwohner vorenthalten; aber die höheren Beamten, die Chefs der verschiedenen Behörden, wußten ebensogut wie Graf Rastoptschin selbst, daß Moskau in die Hände des Feindes fallen werde; und so kamen sie denn, um die Verantwortung von sich abzuwälzen, alle zu ihm als dem Oberkommandierenden von Moskau mit der Anfrage, wie sie sich in den ihnen unterstellten Ressorts zu verhalten hätten.

In dem Augenblick, als Pierre das Wartezimmer betrat, kam gerade ein Kurier, der von der Armee eingetroffen war, aus dem Arbeitszimmer des Grafen heraus.

Auf die Fragen, mit denen sich die Anwesenden an ihn wandten, machte der Kurier nur eine hoffnungslose Geste mit der Hand und ging durch das Zimmer hindurch.

Während Pierre in dem Wartezimmer wartete, betrachtete er rings um sich mit müden Augen die verschiedenen alten und jungen Militärs und Zivilbeamten, die sich im Zimmer befanden. Alle schienen unzufrieden und unruhig zu sein. Pierre trat an eine Gruppe von Beamten heran, von denen ihm einer bekannt war. Die Beamten fuhren, nachdem sie sich mit Pierre begrüßt hatten, in ihrem Gespräch fort.

»Wenn wir sie hinausschicken und dann wieder zurückkommen lassen, so ist ja dabei an sich kein Schade; aber in einer solchen Lage kann man für nichts die Verantwortung übernehmen«, bemerkte einer von ihnen.

»Aber sehen Sie nur, hier schreibt er doch …«, begann ein anderer und zeigte auf ein gedrucktes Blatt, das er in der Hand hielt.

»Das ist etwas anderes. Für das Volk ist so etwas nötig«, erwiderte der erste.

»Was ist denn das?« fragte Pierre.

»Ein neues Flugblatt.«

Pierre nahm es in die Hand und las:

»Der durchlauchtige Fürst ist, um sich schneller mit denjenigen Truppen zu vereinigen, die demnächst zu ihm stoßen werden, durch Moschaisk hindurchgezogen und hat in einer festen Stellung haltgemacht, wo der Feind Mühe haben wird, ihn anzugreifen. Von hier aus sind achtundvierzig Geschütze nebst der zugehörigen Munition an ihn abgegangen, und der Durchlauchtige erklärt, er werde Moskau bis zum letzten Blutstropfen verteidigen und sei bereit, nötigenfalls sogar in den Straßen der Stadt zu kämpfen. Macht euch darüber keine Gedanken, Brüder, daß die Behörden ihre Tätigkeit eingestellt haben: es war notwendig, sie wegzuschaffen; aber wir werden schon noch mit dem Bösewicht ins Gericht gehen! Wenn es so weit ist, brauche ich tüchtige Männer aus Stadt und Land. Ich werde zwei Tage vorher einen Aufruf erlassen; aber jetzt ist es noch nicht an der Zeit, daher schweige ich. Als Waffe ist ein Beil gut; auch ein Spieß ist nicht übel; am besten aber ist eine dreizinkige Heugabel, denn so ein Franzose ist nicht schwerer als eine Roggengarbe. Morgen nachmittag werde ich das Bild der Iberischen Muttergottes nach dem Katharinenhospital zu den Verwundeten bringen lassen. Da wollen wir das Wasser weihen; dann werden sie schneller gesund werden. Ich bin jetzt auch wieder gesund; ich hatte ein schlimmes Auge; aber jetzt kann ich wieder mit beiden sehen.«

»Aber ich habe doch von militärischer Seite gehört«, bemerkte Pierre, »daß ein Kampf in der Stadt unmöglich sei und daß die Position …«

»Na ja, davon sprechen wir ja eben«, unterbrach ihn der erste Beamte.

»Und was bedeutet das hier: ›Ich hatte ein schlimmes Auge; aber jetzt kann ich wieder mit beiden sehen‹?« fragte Pierre.

»Der Graf hatte ein Gerstenkorn«, erwiderte der Adjutant lächelnd, »und er beunruhigte sich sehr darüber, als ich ihm sagte, es kämen viele Leute, um sich, zu erkundigen, wie es ihm gehe. Aber wie ist es denn mit Ihnen, Graf?« fragte der Adjutant Pierre unvermittelt und lächelte dabei. »Wir haben gehört, es hätte bei Ihnen häusliche Zwistigkeiten gegeben, und die Gräfin, Ihre Frau Gemahlin …«

»Ich weiß von nichts«, antwortete Pierre gleichmütig. »Was haben Sie denn gehört?«

»Na ja, wissen Sie, die Leute denken sich so etwas oft geradezu aus. Ich sage ja auch nur, daß ich es gehört habe.«

»Was haben Sie denn gehört?«

»Nun, es heißt«, erwiderte der Adjutant, wieder mit demselben Lächeln, »die Gräfin, Ihre Frau Gemahlin, habe vor, ins Ausland zu reisen. Wahrscheinlich ist das dummes Zeug …«

»Kann sein«, antwortete Pierre, zerstreut um sich blickend. »Aber wer ist denn das da?« fragte er und wies auf einen kleinen, alten Mann in einem langen, sauberen, blauen Rock, mit schneeweißem Bart, ebensolchen Augenbrauen und frischer Gesichtsfarbe.

»Der? Das ist ein Kaufmann, das heißt ein Restaurateur, Wereschtschagin. Sie haben vielleicht die Geschichte von der Proklamation gehört.«

»Ah, also das ist dieser Wereschtschagin!« sagte Pierre, indem er das feste, ruhige Gesicht des alten Kaufmanns betrachtete und darin nach einem Zug suchte, der auf Hochverrat hindeuten könnte.

»Er selbst ist das nicht. Das ist der Vater dessen, der die Proklamation geschrieben hat«, erwiderte der Adjutant. »Jener selbst, der junge Mann, sitzt im Gefängnis, und es wird ihm voraussichtlich schlecht ergehen.«

Ein alter Herr mit einem Ordensstern und ein andrer, ein deutscher Beamter, mit einem Ordenskreuz am Hals, traten zu der in Unterhaltung begriffenen Gruppe heran.

»Sehen Sie«, sagte der Adjutant, »das ist eine verwickelte Geschichte. Es tauchte damals, so vor zwei Monaten, diese Proklamation auf. Dem Grafen wurde darüber Bericht erstattet. Er ordnete die Anstellung einer Untersuchung an. Gawriil Iwanowitsch hier hat die Untersuchung geführt; die Proklamation hatten genau dreiundsechzig Personen in Händen gehabt. Er kommt also zu einem: ›Von wem haben Sie sie bekommen?‹ ›Von dem und dem.‹ Nun geht er zu diesem: ›Von wem haben Sie sie erhalten?‹ und so weiter. So kam man schließlich zu Wereschtschagin … einem Kaufmannssöhnchen, das ein bißchen an den Wissenschaften herumgerochen hat; wissen Sie, so ein ›charmanter junger Mann‹«, sagte der Adjutant lächelnd. »Er wird also gefragt: ›Von wem hast du die Proklamation bekommen?‹ Und die Hauptsache war, wir wußten, von wem er sie bekommen hatte. Er konnte sie von keinem andern bekommen haben als vom Postdirektor. Aber zwischen den beiden bestand, wie sich zeigte, eine Verabredung. Er sagte: ›Von niemandem; ich habe sie selbst verfaßt.‹ Man bedrohte ihn, man redete ihm gütlich zu; er blieb dabei: ›Ich habe sie selbst verfaßt.‹ Es wurde dies also dem Grafen gemeldet. Der Graf ließ ihn zu sich bringen. ›Von wem hast du die Proklamation erhalten?‹ ›Ich habe sie selbst verfaßt.‹ Nun, Sie kennen ja den Grafen!« sagte der Adjutant mit einem stolzen, vergnügten Lächeln. »Er geriet in einen furchtbaren Zorn; aber denken Sie auch nur: eine solch freche, hartnäckige Verlogenheit!«

»Aha! Dem Grafen lag daran, daß der junge Wereschtschagin den Postdirektor Klutscharew angäbe; ich verstehe!« sagte Pierre.

»Das war durchaus nicht erforderlich«, erwiderte der Adjutant mit erschrockener Miene. »Klutscharew hatte schon ohnedies genug auf dem Kerbholz und ist darüber auch in die Verbannung geschickt worden. Aber die Sache war die: der Graf war über das Verhalten des jungen Mannes im höchsten Grade empört. ›Wie kannst du die Proklamation verfaßt haben?‹ sagte er zu ihm. Er nahm die ›Hamburger Zeitung‹ vom Tisch. ›Da steht sie ja! Du hast sie nicht verfaßt, sondern übersetzt, und zwar schlecht übersetzt, weil du Dummkopf nicht ordentlich französisch kannst.‹ Aber was meinen Sie wohl? ›Nein‹, sagte er, ›ich habe gar keine Zeitung gelesen; ich habe die Proklamation selbst verfaßt.‹ ›Nun, wenn es wirklich so ist, dann bist du ein Hochverräter, und ich werde dich vor Gericht stellen, und du wirst gehängt werden. Sage: von wem hast du sie bekommen?‹ ›Ich habe gar keine Zeitungen zu sehen bekommen; ich habe sie selbst verfaßt.‹ Dabei blieb er. Der Graf ließ auch den Vater hinzurufen; aber der junge Mensch beharrte bei seiner Aussage. So wurde er denn vor Gericht gestellt und verurteilt, ich glaube, zu Zwangsarbeit. Jetzt kommt nun der Vater her, um für ihn um Gnade zu bitten. Aber an dem Jungen ist nichts dran! Wissen Sie, so ein Kaufmannssöhnchen, ein Modenarr, der den Mädchen die Köpfe verdreht; hat irgendwo ein paar Vorlesungen gehört und bildet sich nun wer weiß was darauf ein. Was das für ein Früchtchen ist, können Sie auch daraus sehen: sein Vater hat hier ein Restaurant an der Kamenny-Brücke, und in diesem Restaurant befindet sich ein großes Bild, das Gott als Weltherrscher darstellt, wie er in der einen Hand das Zepter hält und in der andern die Weltkugel; und da hat der junge Mensch dieses Bild auf einige Tage in seine Wohnung genommen, und was hat er gemacht? Er hat einen Schurken von Maler gefunden …«

XI


Mitten in diesem neuen Gespräch wurde Pierre zum Oberkommandierenden gerufen.

Pierre trat in das Arbeitszimmer des Grafen Rastoptschin. Dieser rieb sich gerade die finster gerunzelte Stirn und die Augen mit der Hand. Ein Mann von kleinem Wuchs redete mit ihm, verstummte aber bei Pierres Eintritt und ging hinaus.

»Ah, guten Tag, Sie großer Krieger!« sagte Rastoptschin, sobald dieser Mann gegangen war. »Wir haben von Ihren Heldentaten gehört. Aber darum handelt es sich jetzt nicht. Unter uns, mein Lieber: sind Sie Freimaurer?« fragte Graf Rastoptschin in strengem Ton, als ob das etwas Schlimmes wäre, er aber trotzdem beabsichtige, Gnade walten zu lassen. Pierre schwieg. »Mein Lieber, ich bin gut unterrichtet; aber ich weiß, daß zwischen Freimaurern und Freimaurern ein Unterschied ist, und ich hoffe, daß Sie nicht zu denen gehören, die unter dem Vorwand, sie wollten die Menschheit retten, es auf das Verderben Rußlands absehen.«

»Ja, ich bin Freimaurer«, antwortete Pierre.

»Nun also, sehen Sie wohl, mein Lieber. Ich meine, es wird Ihnen nicht unbekannt geblieben sein, daß die Herren Speranzki und Magnizki dahin geschickt sind, wo sie hingehören; dasselbe ist auch mit Herrn Klutscharew geschehen und mit manchen andern, die unter dem Vorwand, sie wollten den Tempel Salomonis wieder aufbauen, den Tempel ihres eigenen Vaterlandes zu zerstören suchten. Sie können sich wohl denken, daß ich zu diesem Verfahren meine Gründe habe und daß ich den hiesigen Postdirektor nicht hätte in die Verbannung schicken können, wenn er nicht ein gefährlicher Mensch wäre. Jetzt ist zu meiner Kenntnis gelangt, daß Sie ihm zur Abreise aus der Stadt Ihren Wagen geschickt und sogar Papiere von ihm zur Aufbewahrung übernommen haben. Ich bin Ihnen wohlgesinnt und wünsche Ihnen nichts Schlechtes, und da Sie nur halb so alt sind wie ich, so möchte ich Ihnen den väterlichen Rat geben, allen Verkehr mit solchen Leuten abzubrechen und selbst sobald wie möglich diese Stadt zu verlassen.«

»Aber worin besteht denn Klutscharews Verschulden, Graf?« fragte Pierre.

»Es genügt, wenn ich das weiß, und es steht Ihnen nicht zu, mich danach zu fragen«, schrie Rastoptschin.

»Wenn er beschuldigt wird, Proklamationen Napoleons verbreitet zu haben, so ist das doch noch nicht bewiesen«, sagte Pierre, ohne Rastoptschin anzublicken, »und was Wereschtschagin anlangt …«

»Das ist eben der Punkt!« unterbrach ihn plötzlich Rastoptschin mit finsterer Miene und mit noch lauterer Stimme als vorher. »Wereschtschagin ist ein Hochverräter und Aufwiegler, der seine verdiente Strafe erhalten wird«, sagte Rastoptschin mit jener ingrimmigen Wut, welche manche Leute bei der Erinnerung an erlittene Kränkungen zu überkommen pflegt. »Aber ich habe Sie nicht rufen lassen, um Ihr Urteil über meine Handlungen zu vernehmen, sondern um Ihnen einen Rat zu geben, oder einen Befehl, wenn Sie es so nennen wollen. Ich ersuche Sie, den Verkehr mit solchen Herren wie Klutscharew abzubrechen und die Stadt zu verlassen. Ich werde den Leuten solche Torheiten schon austreiben, mag es sein, wer da will.« Aber hier mochte es ihm doch zum Bewußtsein kommen, daß er Besuchow, dem noch kein Verschulden nachgewiesen war, zu heftig angeschrien hatte, und so fügte er denn, indem er freundlich Pierres Hand ergriff, hinzu: »Wir stehen am Vorabend eines Unglückes für unsere Stadt, und ich habe keine Zeit dazu, allen denen, die mit mir zu tun haben, Liebenswürdigkeiten zu sagen. Der Kopf ist mir manchmal ganz wirbelig. Nun also, mein Lieber, was werden Sie tun, Sie für Ihre eigene Person?«

»Gar nichts«, antwortete Pierre; er hob immer noch nicht die Augen in die Höhe und änderte auch seine nachdenkliche Miene nicht.

Der Graf zog ein finsteres Gesicht.

»Einen freundschaftlichen Rat möchte ich Ihnen geben, mein Lieber. Machen Sie, daß Sie möglichst schnell von hier wegkommen; das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe. Es wird Ihnen nützlich sein, wenn Sie meine Worte beherzigen. Leben Sie wohl, mein Lieber. Ach ja«, rief er Pierre noch nach, als dieser schon in der Tür war, »ist das wahr, daß die Gräfin in die Klauen der frommen Männer von der Gesellschaft Jesu geraten ist?«

Pierre gab keine Antwort; mit so grimmiger, zorniger Miene, wie man sie noch nie an ihm gesehen hatte, verließ er Rastoptschin.

Als er nach Hause kam, senkte sich schon die Abenddämmerung herab. Etwa acht Personen verschiedenster Art kamen an diesem Abend zu ihm, um mit ihm zu sprechen: der Sekretär eines Komitees, der Oberst seines Regiments, der Oberadministrator, der Haushofmeister und mehrere Bittsteller. Alle trugen ihm Anliegen materieller Art vor, und er sollte darüber seine Entscheidung geben. Pierre verstand nichts von dem, was sie sagten, interessierte sich für diese Dinge auch gar nicht und gab auf alle Fragen nur solche Antworten, durch die er am ehesten diese Leute loszuwerden hoffen konnte. Als sie ihn endlich alleingelassen hatten, öffnete er den Brief seiner Frau und las ihn.

»Sie, die Soldaten auf der Batterie … Fürst Andrei gefallen … Der alte Mann … Die Einfalt ist der Gehorsam gegen Gott … Wir müssen leiden … Das wahre Wesen aller Dinge … Wir müssen alles umspannen … Meine Frau will sich verheiraten … Man muß vergessen und verstehen …«, so wirbelten die Gedanken in seinem Kopf umher. Er trat an sein Bett, warf sich unausgekleidet darauf und schlief sofort ein.

Als er am andern Morgen aufwachte, kam der Haushofmeister, um ihm zu melden, es sei, vom Grafen Rastoptschin expreß geschickt, ein Polizeibeamter dagewesen und habe sich erkundigt, ob Graf Besuchow schon abgereist sei oder bald abreisen werde.

Ungefähr zehn Personen, die ihn in allerlei geschäftlichen Angelegenheiten zu sprechen wünschten, warteten auf ihn im Salon. Pierre kleidete sich eilig an; aber statt sich zu den Wartenden zu begeben, ging er nach der Hintertür und von dort durch das Tor hinaus.

Von diesem Augenblick an bekam ihn bis zum Ende der Zerstörung Moskaus trotz aller Nachforschungen niemand von seinen Hausgenossen mehr zu sehen, und niemand wußte, wo er geblieben war.

XII


Die Familie Rostow blieb bis zum 1. September, also bis zum Tag vor dem Einrücken des Feindes in Moskau, in der Stadt.

Nachdem Petja in das Obolenskische Kosakenregiment eingetreten und nach Bjelaja Zerkow abgegangen war, wo dieses Regiment formiert wurde, lebte die Gräfin in einer beständigen Angst. Der Gedanke, daß ihre beiden Söhne sich im Krieg befänden und sich beide aus dem Schutz ihrer mütterlichen Flügel entfernt hätten und heute oder morgen einer von ihnen oder vielleicht sogar beide zugleich (wie die drei Söhne einer ihr befreundeten Dame) getötet werden könnten, dieser Gedanke drängte sich ihr zum erstenmal jetzt in diesem Sommer mit grausamer Klarheit auf. Sie versuchte Nikolai loszubekommen, damit er zu ihr zurückkehre; sie wollte selbst zu Petja hinreisen und ihn bei irgendeinem Regiment in Petersburg unterbringen; aber das eine wie das andere stellte sich als unmöglich heraus. Petja konnte in keiner andern Weise zurückkehren, als entweder mit seinem Regiment oder durch Versetzung in ein anderes aktives Regiment. Nikolai befand sich irgendwo bei der Armee und hatte nach seinem letzten Brief, in welchem er eingehend seine Begegnung mit Prinzessin Marja geschildert hatte, nichts mehr von sich hören lassen. Die Gräfin schlief keine Nacht ordentlich, und wenn sie wirklich einschlief, so träumte ihr, ihre Söhne seien gefallen. Nach vielen Beratungen und Unterhandlungen hatte der Graf endlich ein Mittel ausfindig gemacht, um die Gräfin zu beruhigen. Er veranlaßte, daß Petja aus dem Obolenskischen Regiment in das Regiment Besuchows versetzt wurde, das in der Nähe von Moskau formiert wurde. Obgleich Petja im Militärdienst blieb, hatte infolge dieser Versetzung die Gräfin doch den Trost, wenigstens den einen Sohn wieder unter ihren Flügeln zu sehen, und hoffte, es nun mit ihrem Petja so einrichten zu können, daß sie ihn nicht mehr von sich zu lassen brauchte und er immer nur in solchen dienstlichen Stellungen verwendet würde, wo er nie in eine Schlacht hineingeraten könnte. Solange Nikolai allein in Gefahr gewesen war, hatte die Gräfin die Empfindung gehabt (und sie hatte sich sogar deswegen ernstlich gescholten), daß ihr Ältester ihr lieber sei als alle ihre übrigen Kinder; aber nun ihr Jüngster, der Wildfang, der immer schlecht gelernt und alles im Haus zerbrochen und die Geduld aller auf eine harte Probe gestellt hatte, Petja, dieser Petja mit seiner Stupsnase, seinen munteren, schwarzen Augen, seiner frischen Gesichtsfarbe und dem erst ganz schwach hervorsprießenden Flaum auf den Backen, nun ihr Petja unter diese großen, schrecklichen, grausamen Männer gegangen war, die dort solche Schlachten lieferten und daran eine Art von Vergnügen fanden: jetzt schien es der Mutter, als fühle sie für ihn mehr, weit mehr Liebe als für all ihre andern Kinder. Je näher der Zeitpunkt heranrückte, zu welchem der sehnlich erwartete Petja nach Moskau zurückkehren sollte, um so mehr stieg die Unruhe der Gräfin. Sie dachte schon, all ihr Warten auf dieses Glück sei vergeblich. Nicht nur Sonjas Anwesenheit, sondern auch die ihrer geliebten Natascha, ja sogar die ihres Mannes machte die Gräfin nervös. »Was kümmere ich mich um sie alle; ich will niemand haben als meinen Petja«, dachte sie.

In den letzten Tagen des August erhielten Rostows einen zweiten Brief von Nikolai. Er schrieb aus dem Gouvernement Woronesch, wohin er geschickt war, um Pferde zu holen. Aber dieser Brief beruhigte die Gräfin nicht. Jetzt, wo sie den einen Sohn außer Gefahr wußte, ängstigte sie sich noch mehr um Petja.

Obgleich fast alle Bekannten der Familie Rostow schon vom 20. August an einer nach dem andern Moskau verlassen und alle der Gräfin zugeredet hatten, so schnell wie möglich wegzureisen, wollte sie doch von Abreise nichts hören, solange nicht ihr Kleinod, ihr vergötterter Petja, zurückgekehrt wäre. Am 28. August kam Petja an. Die krankhaft leidenschaftliche Zärtlichkeit, mit der die Mutter ihn behandelte, behagte dem sechzehnjährigen Offizier nicht. Obwohl die Mutter ihre Absicht, ihn nun nicht wieder aus dem Schutz ihrer Flügel wegzulassen, vor ihm verbarg, durchschaute Petja doch ihr Vorhaben, und da er instinktiv befürchtete, im Verkehr mit der Mutter selbst weichlich und sozusagen ein altes Weib zu werden (so dachte er darüber), so benahm er sich gegen sie kühl, mied sie und hielt sich während seines Aufenthalts in Moskau ausschließlich an die Gesellschaft Nataschas, für die er von jeher eine ganz besondere, beinahe verliebte, brüderliche Zärtlichkeit gehegt hatte.

Infolge der gewöhnlichen Lässigkeit des Grafen war am 28. August noch nichts zur Abreise in Ordnung, und die Fuhrwerke, die sie von den im Rjasanschen und bei Moskau gelegenen Gütern zum Transport des gesamten Hausrates erwarteten, kamen erst am 30. an.

In der Zeit vom 28. bis zum 31. August war ganz Moskau in geschäftiger Tätigkeit und unruhiger Bewegung. Täglich wurden Tausende von Verwundeten aus der Schlacht bei Borodino durch das Dorogomilowskaja-Tor hereingebracht und dann in der Stadt verteilt, und Tausende von Fuhrwerken mit Einwohnern und ihrer Habe fuhren aus den andern Toren hinaus. Trotz der Flugblätter Rastoptschins, und zwar entweder unabhängig von ihnen oder gerade infolge derselben, wurden die widersprechendsten und seltsamsten Neuigkeiten in der Stadt ausgestreut. Der eine sagte, es sei verboten worden, daß irgend jemand abreise; ein anderer im Gegenteil erzählte, alle Heiligtümer seien aus den Kirchen entfernt worden und alle Einwohner sollten mit Gewalt weggeschickt werden; ein anderer sagte, es habe nach Borodino noch eine Schlacht stattgefunden, in der die Franzosen geschlagen seien, ein anderer dagegen, das ganze russische Heer sei vernichtet; wieder jemand sprach von der Moskauer Landwehr, die, mit der Geistlichkeit voran, auf die Drei Berge ziehen werde; ein anderer erzählte als Heimlichkeit, daß dem Metropoliten Awgustin verboten worden sei, die Stadt zu verlassen, und daß man eine Anzahl von Verrätern verhaftet habe, und daß die Bauern revoltierten und die Wegfahrenden ausplünderten, usw., usw. Das waren ja freilich nur Redereien; aber tatsächlich hatten sowohl die Wegfahrenden als auch die Zurückbleibenden (wiewohl der Kriegsrat in Fili, in dem die Preisgabe Moskaus beschlossen wurde, noch nicht stattgefunden hatte) sämtlich die Empfindung, wenn sie sie auch nicht aussprachen, daß Moskau jedenfalls dem Feind werde überlassen werden und daß man so schnell wie möglich sich selbst davonmachen und seine Habe retten müsse. Sie fühlten, daß alles auf einmal zusammenstürzen und anders werden würde; aber bis zum 1. September hatte sich noch nichts geändert. Wie der Verbrecher, der zum Tode geführt wird, weiß, daß er in ganz kurzer Zeit sterben wird, aber doch noch die Dinge um sich herum betrachtet und die schief sitzende Mütze zurechtschiebt, so setzte auch Moskau unwillkürlich seine gewohnte Lebensweise fort, obgleich es wußte, daß die Zeit des Unterganges nahe sei, wo alle die Lebensverhältnisse, an die man sich gewöhnt hatte, zerstört werden würden.

Während dieser drei Tage, die der Besetzung Moskaus vorhergingen, befand sich die ganze Familie Rostow in unruhiger Tätigkeit von mancherlei Art. Das Haupt der Familie, Graf Ilja Andrejewitsch, fuhr fortwährend in der Stadt umher und sammelte von überallher die umlaufenden Gerüchte; zu Hause erteilte er nur ganz allgemeine, oberflächliche, hastige Weisungen über die Vorbereitungen zur Abreise.

Die Gräfin sah beim Einpacken der Sachen zu, war mit allem unzufrieden und ging hinter Petja her, der ihr beständig auswich; sie war ordentlich eifersüchtig auf Natascha, mit der er die ganze Zeit über zusammen war. Sonja war die einzige, die praktisch tätig war und für das Einpacken der Sachen sorgte. Aber Sonja war in dieser ganzen letzten Zeit recht traurig und schweigsam. Nikolais Brief, in welchem er von der Prinzessin Marja sprach, hatte die Gräfin zu Kombinationen freudiger Art angeregt, die sie denn auch in Sonjas Gegenwart ausgesprochen hatte: sie hatte geäußert, in dem Zusammentreffen der Prinzessin Marja mit Nikolai sehe sie eine Fügung Gottes.

»Damals«, sagte die Gräfin, »als Bolkonski Nataschas Bräutigam war, bin ich nie so recht froh gewesen; aber daß unser lieber Nikolai die Prinzessin heiraten möchte, das habe ich immer gewünscht, und ich habe eine Ahnung, daß es so kommen wird. Ach, wie gut wäre das, wie gut!«

Sonja sagte sich selbst, daß dies die Wahrheit sei und daß eine Heirat Nikolais mit einem reichen Mädchen für die Familie Rostow die einzige Möglichkeit bilde, ihre Verhältnisse wieder zu ordnen, und daß die Prinzessin eine solche gute Partie sei. Aber für sie selbst war das tief schmerzlich. Trotz ihres Kummers jedoch, oder vielleicht gerade infolge ihres Kummers, nahm sie die schwere Aufgabe auf sich, beim Zusammensuchen und Einpacken der Sachen alles Nötige anzuordnen, und war ganze Tage lang ununterbrochen damit beschäftigt. Und wenn der Graf und die Gräfin irgendeinen Befehl erteilen wollten, so wandten sie sich damit an Sonja.

Petja und Natascha hingegen waren ihren Eltern nicht nur nicht behilflich, sondern fielen sogar meistenteils allen im Haus lästig und störten nur. Fast den ganzen Tag über hörte man die beiden im Haus herumlaufen, schreien und ohne Anlaß lachen. Sie lachten und freuten sich keineswegs, weil sie eine Ursache zum Lachen gehabt hätten; sondern sie waren nun einmal in heiterer, fröhlicher Stimmung, und darum war alles, was ihnen vorkam, für sie ein Grund zur Freude und zum Lachen. Petja war vergnügt, weil er, der das Elternhaus als ein Knabe verlassen hatte, nun als ein tüchtiger junger Mann (wie ihm alle sagten) zurückgekehrt war; er war vergnügt, weil er sich zu Hause befand und weil er von Bjelaja Zerkow, wo er nicht so bald hätte hoffen können, an einer Schlacht teilzunehmen, nach Moskau gekommen war, wo in den nächsten Tagen ein Kampf stattfinden sollte; und ganz besonders war er vergnügt, weil es auch Natascha war, deren Gemütsstimmungen er immer zu teilen pflegte. Natascha aber war vergnügt, weil sie allzulange traurig gewesen war und jetzt durch nichts mehr an die Ursache ihrer Traurigkeit erinnert wurde, und weil sie gesund war. Und dann war sie noch deswegen vergnügt, weil sie jemanden hatte, der von ihr entzückt war; denn daß andere Leute von ihr entzückt waren, das war sozusagen das Öl an den Rädern, dessen Nataschas Lebensmaschine bedurfte, um sich frei zu bewegen; und Petja war von ihr entzückt. Die Hauptsache aber war: sie waren vergnügt, weil der Krieg vor den Mauern Moskaus stand und weil dicht vor dem Tor eine Schlacht geliefert werden sollte, und weil Waffen verteilt wurden, und weil alle Leute irgendwohin wegliefen und wegfuhren, und weil überhaupt etwas Ungewöhnliches vorging, was den Menschen immer in eine freudige Stimmung versetzt, namentlich wenn er noch jung ist.

XIII


Sonnabend, den 31. August, ging im Rostowschen Haus alles drunter und drüber. Alle Türen waren geöffnet, alle Möbel hinausgetragen oder von ihren Plätzen gerückt, die Spiegel, die Bilder abgenommen. In den Zimmern standen Kisten; Heu, Packpapier und Bindfäden lagen auf dem Fußboden umher. Die Bauern und Gutsleute, die die Sachen hinaustrugen, gingen mit schweren Schritten über das Parkett. Auf dem Hof standen dichtgedrängt Bauernwagen, teils bereits hoch beladen und verschnürt, teils noch leer.

Die Stimmen und Schritte der zahlreichen Dienerschaft und der mit den Fuhrwerken gekommenen Bauern erschollen lärmend sowohl auf dem Hof als auch im Haus. Der Graf war schon frühmorgens weggefahren, man wußte nicht wohin. Die Gräfin, die von dem Treiben Kopfschmerzen bekommen hatte, lag in dem Sofazimmer mit Essigumschlägen auf dem Kopf. Petja war nicht zu Hause; er war zu einem Kameraden gegangen, mit dem zusammen er von der Landwehr zur aktiven Armee überzugehen beabsichtigte. Sonja half im Saal beim Einpacken des Kristalls und des Porzellans. Natascha saß in ihrem wüst aussehenden Zimmer auf dem Fußboden zwischen bunt durcheinander hingeworfenen Kleidern, Bändern und Schärpen; regungslos auf den Boden blickend, hielt sie ein altes Ballkleid in den Händen, eben jenes schon unmodern gewordene Kleid, in dem sie zum erstenmal auf einem Petersburger Ball gewesen war.

Natascha hatte sich geschämt, im Haus müßig zu sein, während alle so eifrig beschäftigt waren, und im Laufe des Vormittags mehrmals versucht, sich an der Arbeit zu beteiligen; aber sie hatte kein rechtes seelisches Interesse an dieser Tätigkeit gehabt, und es lag nun einmal in ihrer Natur, daß sie nichts tun konnte, was sie nicht von ganzem Herzen und aus aller Kraft tat. Sie hatte ein Weilchen neben Sonja gestanden, welche gebeugt Porzellan einpackte, und ihr helfen wollen; aber sie hatte sehr bald damit wieder aufgehört und war auf ihr Zimmer gegangen, um ihre eigenen Sachen zu packen. Anfangs hatte es ihr Vergnügen gemacht, dies und das von ihren Kleidern und Bändern den Stubenmädchen zu schenken; aber dann, als es nun doch nötig geworden war, das übrige einzupacken, hatte sie das langweilig gefunden.

»Liebe Dunjascha, du wirst einpacken, ja? Ja?« Und als Dunjascha ihr gern versprochen hatte, alles zu besorgen, hatte Natascha sich auf den Fußboden gesetzt, das alte Ballkleid in die Hände genommen und war in Gedanken versunken, aber in Gedanken an ganz andere Dinge als an die, welche jetzt ihr Interesse hätten in Anspruch nehmen sollen. Aus ihrer Versunkenheit wurde sie geweckt durch ein Gespräch der Mädchen im anstoßenden Mädchenzimmer und durch den Schall ihrer eiligen Schritte, die sich vom Mädchenzimmer nach der Hintertür bewegten. Natascha stand auf und blickte durch das Fenster. Auf der Straße stand eine lange Reihe von Wagen und Verwundeten.

Stubenmädchen, Diener, die Haushälterin, die Kinderfrau, Köche, Kutscher, Reitknechte und Küchenjungen standen am Tor und betrachteten die Verwundeten.

Natascha warf sich ein weißes Taschentuch über das Haar, hielt es mit beiden Händen an den Zipfeln fest und ging auf die Straße hinaus.

Die ehemalige Haushälterin, die alte Mawra Kusminitschna, löste sich von dem Haufen ab, der am Tor stand, ging an einen Bauernwagen heran, der mit einem Verdeck aus Matte versehen war, und redete mit dem darin liegenden jungen, blassen Offizier. Natascha trat einige Schritte näher heran und blieb dann schüchtern stehen; sie hielt immer noch ihr Tuch fest und hörte zu, was die Haushälterin sagte.

»Aber haben Sie denn so gar niemand hier in Moskau?« fragte Mawra Kusminitschna. »Sie würden doch in irgendeinem Privathaus mehr Bequemlichkeit haben … Gleich zum Beispiel hier bei uns. Die Herrschaft fährt weg.«

»Ich weiß nicht, ob das erlaubt ist«, antwortete der Offizier mit schwacher Stimme. »Da ist der Kommandeur dieses Transportes … fragen Sie den.« Er zeigte auf einen dicken Major, der auf der Straße an der Wagenreihe entlang nach dem hinteren Ende zurückging.

Natascha blickte mit erschrockenen Augen in das Gesicht des verwundeten Offiziers und ging sogleich auf den Major zu.

»Dürfen einige von den Verwundeten in unserm Haus bleiben?« fragte sie.

Der Major legte lächelnd die Hand an den Mützenschirm.

»Wen möchten Sie denn gern haben, Mamsellchen?« sagte er und kniff lächelnd die Augen zusammen.

Natascha wiederholte ruhig ihre Frage, und obwohl sie immer noch ihr Tuch an den Zipfeln hielt, waren doch ihr Gesicht und ihr ganzes Wesen so ernst, daß der Major aufhörte zu lächeln; nachdem er zunächst ein Weilchen überlegt hatte, wie wenn er sich selbst fragte, ob das zulässig sei, antwortete er bejahend.

»O ja, warum denn nicht? Das geht schon«, sagte er.

Natascha machte ihm eine leichte Verbeugung mit dem Kopf und kehrte mit schnellen Schritten zu Mawra Kusminitschna zurück, die über den Offizier gebeugt dastand und mit mitleidiger Teilnahme zu ihm redete.

»Es geht; er hat gesagt, es geht!« flüsterte Natascha ihr zu.

Der Wagen mit dem Offizier bog in den Rostowschen Hof ein, und nun fuhren Dutzende von Wagen mit Verwundeten auf die Einladung der Städter in der Powarskaja-Straße auf die Höfe und vor die Haustüren. Natascha fand augenscheinlich Gefallen an diesen von den gewöhnlichen Lebensverhältnissen abweichenden Beziehungen zu unbekannten Menschen. Sie und Mawra Kusminitschna veranlaßten möglichst viele Wagen mit Verwundeten auf ihren Hof zu fahren.

»Wir müssen aber doch dem Papa davon Mitteilung machen«, meinte Mawra Kusminitschna.

»Ach was, das ist gar nicht nötig! Für den einen Tag siedeln wir in den Salon über. Dann können wir ihnen unsern ganzen Teil der Wohnung überlassen.«

»Aber Fräulein, was haben Sie für Einfälle! Aber auch wenn wir sie in das Nebengebäude und in die ofenlose Stube und in das Zimmer der Kinderfrau einquartieren wollen, auch dann müssen wir fragen.«

»Nun, dann werde ich fragen.«

Natascha lief ins Haus und ging auf den Zehen durch die halbgeöffnete Tür in das Sofazimmer, aus dem ein Geruch von Essig und Hoffmannstropfen herausdrang.

»Schlafen Sie, Mama?«

»Ach, wie werde ich denn schlafen!« antwortete die Gräfin, die soeben eingeschlafen war und nun aufwachte.

»Liebste Mama!« sagte Natascha, indem sie vor der Mutter niederkniete und ihr Gesicht nahe an das der Mutter hielt. »Bitte, verzeihen Sie mir; es soll nie wieder geschehen; ich habe Sie aufgeweckt. Mawra Kusminitschna schickt mich her; es sind Verwundete gebracht worden, Offiziere. Erlauben Sie es? Es fehlt an Unterkunft für sie; ich weiß ja, daß Sie es erlauben …«, sagte sie schnell in einem Atem.

»Was für Offiziere? Wer ist gebracht worden? Ich verstehe dich nicht«, antwortete die Gräfin.

Natascha lachte, und auch auf dem Gesicht der Gräfin zeigte sich ein schwaches Lächeln.

»Ich wußte ja, daß Sie es erlauben würden … Dann werde ich es also auch so bestellen.«

Natascha küßte ihre Mutter, sprang auf und lief aus der Tür.

Im Saal traf sie ihren Vater, der mit üblen Nachrichten nach Hause zurückgekehrt war.

»Wir sind viel zu lange hiergeblieben!« sagte er mit unwillkürlich hervorbrechendem Ärger. »Der Klub ist geschlossen, und die Polizei verläßt die Stadt.«

»Papa, Sie sind doch damit einverstanden, daß ich Verwundete ins Haus aufgenommen habe?« sagte Natascha zu ihm.

»Selbstverständlich«, antwortete der Graf zerstreut. »Aber jetzt handelt es sich um andere Dinge, und ich muß dich bitten, dich jetzt nicht mit Torheiten abzugeben, sondern beim Einpacken zu helfen; wir müssen morgen abfahren, jawohl, abfahren.«

Auch dem Haushofmeister und der Dienerschaft erteilte der Graf denselben Befehl. Beim Mittagessen erzählte auch Petja, der nach Hause gekommen war, seine Neuigkeiten.

Er berichtete, es seien heute im Kreml an das Volk Waffen verteilt worden, und obgleich es in dem Rastoptschinschen Flugblatt geheißen habe, er werde zwei Tage vorher einen Aufruf erlassen, sei doch bereits fest angeordnet worden, daß das ganze Volk morgen mit den Waffen auf die Drei Berge kommen solle; dort werde eine große Schlacht geliefert werden.

Mit Angst und Schrecken betrachtete die Gräfin das vergnügte, erregte Gesicht ihres Sohnes, während er das erzählte. Sie wußte, daß, wenn sie ihn auch nur mit einem Wort bäte, nicht mit in diese Schlacht zu gehen (auf die er sich, wie sie sah, freute), er etwas von Männern, von Ehre, von Vaterland sagen werde, so etwas Sinnloses, Männliches, Hartnäckiges, worauf sie nichts würde erwidern können, und daß damit ihre Sache vollends verdorben sein würde. Daher griff sie zu einem andern Mittel: in der Hoffnung, es so einrichten zu können, daß ihre Abreise schon vorher stattfände und sie dann Petja als Beschützer und Verteidiger mitnähmen, sagte sie zu Petja nichts, sondern rief nach dem Mittagessen den Grafen zu sich und flehte ihn unter Tränen an, sie recht bald wegzuschaffen, wenn es möglich wäre, noch in dieser Nacht. Mit der Schlauheit, die den Frauen die Liebe unwillkürlich eingibt, sagte sie, die bisher eine vollständige Furchtlosigkeit bekundet hatte, sie werde vor Angst sterben, wenn sie nicht noch heute nacht abreisten. Und sie fürchtete jetzt wirklich ohne Verstellung alles, auch das Schlimmste.

XIV


Madame Schoß, die einen Besuch bei ihrer Tochter gemacht hatte, steigerte noch die Furcht der Gräfin durch Erzählung dessen, was sie in der Mjasnizkaja-Straße bei einem Branntweinladen mit angesehen hatte. Als sie beim Rückweg durch diese Straße kam, hatte sie wegen einer betrunkenen Volksmenge, die bei dem Laden tobte, nicht hindurchkommen können. Sie hatte sich eine Droschke genommen und war auf dem Umweg durch eine Seitengasse nach Hause gefahren, und der Droschkenkutscher hatte ihr erzählt, das Volk habe die Fässer in dem Branntweinladen zerschlagen; das sei so befohlen worden.

Nach dem Mittagessen machten sich bei Rostows alle Hausgenossen eilig und mit größtem Eifer daran, die Sachen einzupacken und die sonstigen Vorbereitungen für die Reise zu treffen. Der alte Graf, der sich auf einmal gleichfalls der Sache annahm, ging fortwährend vom Hof ins Haus und wieder zurück, indem er die an sich schon eilenden Leute sinnlos anschrie und zu noch größerer Eile anzutreiben versuchte. Petja erteilte auf dem Hof Anweisungen. Sonja wußte infolge der einander widersprechenden Befehle des Grafen nicht mehr, was sie tun sollte, und war ganz wirr im Kopf geworden. Die Leute liefen schreiend, streitend und lärmend in den Zimmern und auf dem Hof umher. Plötzlich machte sich auch Natascha mit der Leidenschaftlichkeit, die ihr bei allem eigen war, ans Werk. Anfangs begegnete ihre Einmischung in die Arbeit des Packens starkem Mißtrauen. Die Leute meinten, sie treibe doch nur Possen, und wollten nicht auf sie hören; aber hartnäckig und leidenschaftlich verlangte sie, daß man ihr gehorche, wurde zornig, weinte beinahe, daß man nicht nach ihrem Willen tat, und erreichte schließlich doch, daß man ihr Vertrauen schenkte. Ihre erste Heldentat, die ihr gewaltige Anstrengungen kostete, aber auch ihre Autorität begründete, war das Einpacken der Teppiche. Der Graf hatte im Haus wertvolle Gobelins und persische Teppiche in ziemlicher Menge. Als Natascha sich ans Werk machte, standen im Saal zwei offene Kisten: die eine war fast bis oben mit Porzellan vollgepackt, die andere mit Teppichen. Eine Menge Porzellan stand noch auf Tischen daneben, und aus der Geschirrkammer wurde immer noch mehr herbeigetragen. Es mußte eine neue, dritte Kiste angefangen werden, und es waren schon ein paar Leute weggegangen, um eine zu holen.

»Warte mal, Sonja, wir schaffen es mit dem Packen auch so«, sagte Natascha.

»Es geht nicht, Fräulein; wir haben es schon versucht«, wandte der Büfettdiener ein.

»Nein, warte doch, bitte, warte mal!«

Damit begann Natascha hurtig aus der Kiste die in Papier gewickelten Schüsseln und Teller herauszunehmen.

»Die Schüsseln müssen hierher, zwischen die Teppiche«, sagte sie.

»Wir wollen Gott danken, wenn wir nur allein die Teppiche in drei Kisten hineinbekommen«, meinte der Büfettdiener.

»Nein, bitte, warte mal.« Und Natascha begann schnell und geschickt das Geschirr zu sortieren. »Das soll nicht mit«, sagte sie mit Bezug auf die Kiewer Teller. »Dies ja; das soll zwischen die Teppiche gelegt werden«, sagte sie von dem sächsischen Porzellan.

»Aber so hör doch auf, Natascha; laß es gut sein; wir werden das Packen schon besorgen«, sagte Sonja vorwurfsvoll.

»Ja, ja, Fräulein«, stimmte auch der Haushofmeister bei.

Aber Natascha hörte nicht darauf; sie nahm alle Sachen heraus und entschied dahin: die schlechteren Teppiche für den Hausgebrauch und das überflüssige Geschirr sollten überhaupt nicht mitgenommen werden. Als alles herausgenommen war, begannen sie von neuem einzupacken. Und wirklich: nach Ausscheidung fast aller geringen Sachen, die des Mitnehmens nicht wert waren, bekamen sie alles Wertvolle in zwei Kisten hinein. Nur wollte der Deckel der Teppichkiste nicht zugehen. Man hätte etwas von den Sachen wieder herausnehmen können; aber Natascha bestand auf ihrem Kopf. Sie packte auf die eine, dann auf eine andere Weise, drückte die Sachen zusammen, ließ den Büfettdiener und Petja, den sie zu der Arbeit des Einpackens mit herangezogen hatte, auf den Deckel drücken und machte selbst verzweifelte Anstrengungen.

»Hör doch auf, Natascha«, sagte Sonja zu ihr. »Ich sehe ein, daß du mit deiner Art zu packen recht gehabt hast; aber nimm doch einen, den obersten, heraus.«

»Nein, das will ich nicht!« schrie Natascha, indem sie mit der einen Hand das aufgegangene Haar an dem schweißbedeckten Gesicht festhielt und mit der andern die Teppiche zusammenpreßte. »So drücke doch, Petja, drücke! Wasiljewitsch, drücke!« rief sie. Die Teppiche ließen sich noch etwas zusammendrücken, und der Deckel ging zu. Natascha klatschte in die Hände und jauchzte vor Freude; die Tränen stürzten ihr aus den Augen. Aber das dauerte nur einen Augenblick. Sofort machte sie sich an eine andere Arbeit und fand nun schon bei den andern volles Vertrauen, und der Graf wurde nicht ärgerlich, wenn ihm gesagt wurde, Natascha Jljinitschna habe einen seiner Befehle abgeändert, und die Gutsleute kamen zu Natascha, um zu fragen, ob eine Fuhre hinlänglich beladen sei und sie sie verschnüren sollten oder nicht. Die Arbeit machte dank Nataschas Anordnungen gute Fortschritte: die entbehrlichen Sachen wurden zurückgelassen und die wertvollen recht eng gepackt.

Aber wie geschäftig auch alle waren, so wurde es doch schon spät in der Nacht, und noch war nicht alles eingepackt. Die Gräfin hatte sich schon zur Ruhe gelegt, und der Graf verschob die Abreise auf den nächsten Tag und ging gleichfalls zu Bett.

Sonja und Natascha schliefen unausgekleidet im Sofazimmer.

In dieser Nacht wurde noch ein Verwundeter durch die Powarskaja-Straße gefahren, und Mawra Kusminitschna, die am Tor stand, suchte zu veranlassen, daß er zu Rostows hereingebracht würde. Dieser Verwundete war nach Mawra Kusminitschnas Ansicht ein sehr vornehmer Mann. Er wurde in einer Kalesche gefahren, der durch das Vorderleder und das aufgeschlagene Verdeck vollständig geschlossen war. Auf dem Bock saß neben dem Kutscher ein alter, würdig aussehender Kammerdiener. Dahinter fuhren in einem Bauernwagen ein Arzt und zwei Soldaten.

»Bitte, kommen Sie doch zu uns, seien Sie so gut! Die Herrschaft reist ab, das ganze Haus ist leer«, sagte die Alte, sich an den bejahrten Diener wendend.

»Es ist eine schlimme Sache«, antwortete der Kammerdiener seufzend, »wir glauben kaum, daß wir ihn bis an unser Ziel bringen! Wir haben ein eigenes Haus hier in Moskau; aber es ist weit, und es wohnt auch jetzt niemand darin.«

»Nun, dann bitte kommen Sie zu uns; bei unserer Herrschaft ist alles reichlich vorhanden; bitte schön!« sagte Mawra Kusminitschna. »Steht es mit dem Herrn denn so schlimm?«

»Wir fürchten, wir bringen ihn nicht lebend bis zu unserm Haus. Ich muß den Arzt fragen, ob er hierbleiben soll.«

Der Kammerdiener stieg vom Bock und ging zu dem Bauernwagen hin.

»Schön«, sagte der Arzt.

Der Kammerdiener trat wieder an die Kalesche heran, blickte hinein, wiegte bedenklich den Kopf hin und her, befahl dem Kutscher, auf den Hof zu fahren, und ließ den Wagen neben Mawra Kusminitschna halten.

»Herr Jesus Christus!« rief sie beim Anblick des Verwundeten.

Mawra Kusminitschna schlug vor, den Verwundeten in das Hauptgebäude zu tragen.

»Die Herrschaft wird nichts dagegen haben«, sagte sie.

Aber das Hinauftragen auf die Treppe mußte vermieden werden, und daher wurde der Verwundete in das Nebengebäude getragen und in dem bisherigen Zimmer der Madame Schoß einquartiert. Dieser Verwundete war Fürst Andrei Bolkonski.

XV


Moskaus letzter Tag brach an. Es war ein Sonntag mit schönem, klarem Herbstwetter. Wie auch sonst immer an Sonntagen wurde in allen Kirchen zur Messe geläutet. Es schien, als habe noch niemand ein Verständnis dafür, was der Stadt bevorstand.

Nur zwei Anzeichen im sozialen Leben deuteten darauf hin, in welcher Lage sich Moskau befand: das Treiben der ärmeren Bevölkerung und die Preise mancher Gegenstände. Ein gewaltiger Haufe von Fabrikarbeitern, Gutsleuten und Bauern, vermischt mit Beamten, Seminaristen und Adligen, zog an diesem Tag frühmorgens auf die Drei Berge hinaus. Nachdem die Leute dort eine Weile gestanden, vergeblich auf Rastoptschin gewartet und die Überzeugung erlangt hatten, daß Moskau dem Feind überlassen werden würde, kehrten sie in die Stadt zurück und zerstreuten sich in die Schenken und Speisewirtschaften. Die Preise wiesen an diesem Tag gleichfalls auf die Lage der Dinge hin. Die Preise für Waffen, Bauernwagen und Pferde sowie der Kurs des Goldes stiegen immer höher, wogegen der Kurs des Papiergeldes und die Preise für feinere Waren immer mehr sanken. Gegen Mittag kam es vor, daß Fuhrleute für das Herausschaffen teurer Waren, z.B. besserer Tuche, aus der Stadt die Hälfte der Waren erhielten und für ein Bauernpferd fünfhundert Rubel bezahlt wurden: Möbel aber, Spiegel und Bronzen wurden umsonst weggegeben.

In dem alten, soliden Rostowschen Haus machte sich dieser Zerfall der bisherigen Lebensverhältnisse nur wenig fühlbar. In bezug auf die Leute kam weiter nichts vor, als daß in der Nacht von der großen Dienerschaft drei Mann heimlich davongingen, ohne indes etwas zu stehlen; und was die Veränderungen im Wert mancher Dinge anlangte, so stellte sich heraus, daß die dreißig Fuhrwerke, die von den Gütern hereingekommen waren, einen gewaltigen Reichtum repräsentierten, um welchen Rostows von vielen beneidet wurden; man bot ihnen für diese Fuhrwerke enorme Summen Geldes. Ja, am Abend des vorhergehenden Tages und frühmorgens am 1. September kamen, von den verwundeten Offizieren geschickt, Burschen und Diener auf den Rostowschen Hof, und auch die Verwundeten selbst, die bei Rostows und in den Nachbarhäusern einquartiert waren, schleppten sich hin und flehten die Rostowschen Leute an, ihnen doch zu erwirken, daß sie ein Fuhrwerk bekämen, um Moskau verlassen zu können. Der Haushofmeister, an den sie sich mit solchen Bitten wandten, hatte zwar mit den Verwundeten alles Mitleid, schlug aber die Bitten rundweg ab, indem er sagte, er wage nicht einmal, dem Grafen davon Meldung zu machen. Wie leid ihm auch die zurückbleibenden Verwundeten täten, so sei es doch klar, daß, wenn man ein Fuhrwerk bewilligte, man auch ein zweites nicht wohl abschlagen könne; und so würden schließlich alle hingegeben werden, auch die eigenen Equipagen der Herrschaft. Dreißig Fuhrwerke würden ja auch gar nicht ausreichen, um alle Verwundeten in Sicherheit zu bringen, und bei dem allgemeinen Unglück müsse ein jeder auch für sich und für seine Familie sorgen. So dachte der Haushofmeister für seinen Herrn.

Als Graf Ilja Andrejewitsch am Morgen des 1. September aufgewacht war, ging er leise, um die Gräfin nicht zu wecken, die erst gegen Morgen eingeschlafen war, aus dem Schlafzimmer und trat in seinem lilaseidenen Schlafrock auf die Freitreppe hinaus. Die verschnürten Fuhrwerke standen auf dem Hof, die Kutschen bei der Freitreppe. Der Haushofmeister stand in der Nähe und redete mit einem alten Offiziersburschen und einem jungen blassen Offizier mit verbundenem Arm. Als der Haushofmeister den Grafen erblickte, machte er dem Offizier und dem Burschen ein bedeutsames, energisches Zeichen, daß sie weggehen möchten.

»Nun, wie steht’s? Alles bereit, Wasiljewitsch?« fragte der Graf. Er rieb sich seinen kahlen Kopf, blickte den Offizier und den Burschen gutmütig an und nickte ihnen zu. Der Graf hatte überhaupt stets seine Freude daran, neue Gesichter zu sehen.

»Es kann sofort angespannt werden, wenn Euer Erlaucht befehlen.«

»Nun, das ist ja prächtig. Die Gräfin wird auch bald aufwachen, und dann wollen wir in Gottes Namen fahren! Was wünschen Sie, mein Herr?« wandte er sich an den Offizier. »Sind Sie bei mir im Haus?«

Der Offizier trat näher heran. Sein blasses Gesicht wurde auf einmal von einer hellen Röte übergossen.

»Graf, tun Sie mir den großen Gefallen und erlauben Sie mir, um Gottes willen, mir irgendwo auf einem Ihrer Fuhrwerke ein Plätzchen zu suchen. Sachen habe ich keine bei mir. Wenn es auch auf einem Bauernwagen ist; mir ganz gleich.«

Der Offizier hatte noch nicht ausgesprochen, als sich der Bursche mit derselben Bitte für seinen Herrn an den Grafen wandte.

»O gewiß, jawohl, jawohl«, sagte der Graf eilig. »Es freut mich, freut mich sehr. Wasiljewitsch, ordne das Nötige an; laß da einen oder zwei Wagen leer machen; nun ja, da … schön … soviel wie nötig …«, sagte der Graf, sich bei seinem Befehl recht unbestimmter Ausdrücke bedienend.

Aber in demselben Augenblick machte der Ausdruck heißer Dankbarkeit, der auf das Gesicht des Offiziers trat, gewissermaßen den vom Grafen erteilten Befehl unwiderruflich. Der Graf blickte um sich; auf dem Hof, im Tor, an den Fenstern des Nebengebäudes waren Verwundete und Burschen sichtbar. Alle sahen sie nach dem Grafen hin und setzten sich nach der Freitreppe zu in Bewegung.

»Darf ich Euer Erlaucht bitten, mit nach der Galerie zu kommen? Ich möchte um Ihre Befehle bitten, wie es da mit den Bildern gehalten werden soll«, sagte der Haushofmeister.

Der Graf ging mit ihm ins Haus hinein und wiederholte ihm dabei seinen Befehl, Verwundeten, die mitfahren zu dürfen bäten, solle dies bewilligt werden.

»Nun, warum denn nicht? Man kann ja etwas herunternehmen«, fügte er leise und gewissermaßen heimlich hinzu, als ob er fürchtete, von jemand gehört zu werden.

Um neun Uhr wachte die Gräfin auf, und Matrona Timofjejewna, ihr ehemaliges Stubenmädchen, das jetzt bei der Gräfin sozusagen das Amt eines Polizeiinspektors versah, kam, um ihrer früheren Herrin zu melden, daß Marja Karlowna höchst entrüstet sei und daß die Sommerkleider der jungen Damen unmöglich hiergelassen werden könnten. Auf ihre Frage, warum denn Madame Schoß entrüstet sei, erfuhr die Gräfin dann, der Koffer der Madame Schoß sei vom Wagen wieder heruntergenommen worden; es sollten alle Fuhren wieder aufgeschnürt, die Sachen abgeladen und Verwundete hineingesetzt werden, die der Graf in seiner Gutmütigkeit mitzunehmen befohlen habe. Die Gräfin befahl, ihren Mann zu ihr zu bitten.

»Was hat das zu bedeuten, mein Freund, ich höre, daß die Sachen wieder abgeladen werden?«

»Weißt du, liebe Frau, ich wollte es dir eben sagen … meine liebe Gräfin … Da ist ein Offizier zu mir gekommen; die Verwundeten bitten, ihnen ein paar Wagen zu überlassen. Die Sachen lassen sich ja alle wieder beschaffen; aber wie traurig wäre es für diese armen Menschen, wenn sie hierbleiben müßten, überlege das einmal! Wahrhaftig! Wir haben da Offiziere in unserm Haus, wir haben sie ja selbst zu uns eingeladen … Weißt du, ich glaube, wahrhaftig, liebe Frau, siehst du wohl, liebe Frau … mögen sie doch die Wagen benutzen … mit uns hat es ja keine Not.«

Der Graf sagte das schüchtern, so wie er stets sprach, wenn es sich um Geldsachen handelte. Die Gräfin ihrerseits kannte diesen Ton recht gut, dessen sich der Graf immer bediente, wenn er irgend etwas vorhatte, wodurch der finanzielle Ruin der Kinder beschleunigt wurde, etwa den Bau einer Galerie oder eines Gewächshauses oder die Einrichtung eines Haustheaters oder eines Hausorchesters; die Gräfin kannte diesen Ton und hielt es für ihre Pflicht, immer gegen das anzukämpfen, was der Graf in diesem schüchternen Ton vorbrachte.

Sie nahm also ihre unterwürfige, weinerliche Miene an und sagte zu ihrem Mann: »Höre einmal, Graf, du hast es schon dahin gebracht, daß wir für das Haus nichts bekommen, und nun willst du auch noch unsere ganze bewegliche Habe, die Habe unserer Kinder, zugrunde richten. Du hast ja doch selbst gesagt, daß die Sachen in unserm Hause einen Wert von hunderttausend Rubeln haben. Ich für meine Person, mein Freund, bin darin mit dir nicht einverstanden, durchaus nicht einverstanden. Nimm es mir nicht übel. Für die Verwundeten ist die Regierung da. Die wird schon wissen, was zu tun ist. Sieh nur: da drüben bei Lopuchins ist schon gestern alles, geradezu alles weggeschafft. So machen es alle vernünftigen Leute. Nur wir sind die Dummen. Habe doch wenigstens mit den Kindern Mitleid, wenn du mit mir schon keines hast.«

Der Graf schwenkte resigniert die Arme und ging, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Zimmer.

»Papa, worüber haben Sie sich denn gestritten?« fragte ihn Natascha, die nach ihm in das Zimmer der Mutter gekommen war und ihm nun in den Salon folgte.

»Über nichts! Was geht es dich an!« antwortete der Graf ärgerlich.

»Aber ich habe es doch gehört«, sagte Natascha. »Warum will Mama es denn nicht?«

»Was geht es dich an?« schrie der Graf.

Natascha trat von ihm weg ans Fenster und überließ sich ihren Gedanken.

»Papa, Berg kommt bei uns vorgefahren«, sagte sie, durch das Fenster blickend.

XVI


Berg, der Rostowsche Schwiegersohn, war schon Oberst, war mit dem Wladimir- und dem Anna-Orden am Halse dekoriert und bekleidete immer noch denselben ruhigen, angenehmen Posten als Gehilfe des Stabschefs des Gehilfen der ersten Abteilung des Stabschefs des zweiten Armeekorps.

Er kam am 1. September von der Armee nach Moskau.

Zu tun hatte er in Moskau eigentlich nichts; aber er hatte wahrgenommen, daß alle sich von der Armee Urlaub nach Moskau geben ließen, ohne daß er wußte, was sie dort täten, und so hielt er es denn gleichfalls für nötig, sich in häuslichen und Familienangelegenheiten Urlaub geben zu lassen.

Berg fuhr in seinem sauberen Kutschwägelchen, das mit zwei wohlgenährten Hellbraunen bespannt war (genau solchen, wie sie ein gewisser Fürst besaß), vor dem Haus seines Schwiegervaters vor. Aufmerksam blickte er auf den Hof nach den Fuhrwerken hin, zog, als er die Stufen vor der Haustür hinanstieg, sein reines Taschentuch heraus und band einen Knoten hinein.

Aus dem Vorzimmer ging Berg mit schleifendem, ungeduldigem Gang in den Salon, umarmte dort den Grafen, küßte Natascha und Sonja die Hand und erkundigte sich eilig nach dem Befinden der Mama.

»Wie könnte sie sich jetzt wohlbefinden? Nun, aber erzähle doch«, sagte der Graf, »was macht die Armee? Ziehen sie sich zurück, oder wird noch eine Schlacht geliefert werden?«

»Nur der allmächtige Gott, Papa«, antwortete Berg, »kann über das Schicksal unseres Vaterlandes entscheiden. Die Armee glüht von heroischem Mut, und jetzt sind die geistigen Leiter derselben, um mich so auszudrücken, zur Beratung zusammengetreten. Was geschehen wird, ist noch unbekannt. Aber von dem ganzen russischen Heer kann ich Ihnen sagen, Papa: ein so heldenmütiger Geist, ein so wahrhaft antiker Mannesmut, wie sie … wie es« (verbesserte er sich) »ihn in diesem Ringen am sechsundzwanzigsten gezeigt oder bewiesen hat, läßt sich gar nicht mit würdigen Worten schildern. Ich sage Ihnen, Papa« (er schlug sich ebenso gegen die Brust, wie das vor kurzem in seiner Gegenwart ein russischer General getan hatte, der von der Schlacht erzählte; freilich tat Berg es etwas zu spät, da er sich bei den Worten »das russische Heer« hätte gegen die Brust schlagen müssen), »ich sage Ihnen wahrheitsgemäß: wir Offiziere brauchten nicht nur die Soldaten nicht anzufeuern, sondern wir konnten sogar nur mit Mühe diese, diese … ja, diese mannhaften, des Altertums würdigen Heldentaten mäßigen«, sagte er in schnellfließender Rede. »General Barclay de Tolly hat sein Leben überall vor der Front der Truppen aufs Spiel gesetzt, kann ich Ihnen sagen. Unser eigenes Korps war am Abhang eines Berges aufgestellt. Sie können sich vorstellen, wie es da herging!«

Und nun erzählte Berg alles, was ihm von den verschiedenen Erzählungen, die er diese Zeit her gehört hatte, im Gedächtnis war. Natascha sah ihn unverwandt an, als ob sie auf seinem Gesicht über irgend etwas ins klare zu kommen suchte; dieser Blick machte Berg verlegen.

»Ein solcher Heroismus, wie ihn die russischen Truppen an den Tag gelegt haben, läßt sich überhaupt gar nicht beschreiben, gar nicht genug rühmen«, fuhr Berg fort; er blickte dabei zu Natascha hin und lächelte ihr in Erwiderung auf ihren hartnäckigen Blick zu, als ob er sie damit bestechen wollte. »Es ist ein schönes Wort: ›Rußland ist nicht in Moskau, es ist in den Herzen seiner Söhne!‹ Nicht wahr, Papa?« sagte Berg.

In diesem Augenblick kam die Gräfin mit müdem mißvergnügtem Gesicht vom Sofazimmer in den Salon. Eilfertig sprang Berg auf, küßte ihr die Hand, erkundigte sich nach ihrem Befinden und blieb, durch bedauerndes Hin- und Herwiegen des Kopfes seine Teilnahme zum Ausdruck bringend, bei ihr stehen.

»Ja, Mama, das sage ich Ihnen aus tiefster Seele: es sind schwere, traurige Zeiten für jeden Russen. Aber wozu beunruhigen Sie sich so? Sie werden noch rechtzeitig fortkommen.«

»Ich verstehe gar nicht, was die Leute machen«, sagte die Gräfin, sich zu ihrem Mann wendend. »Es wurde mir soeben gesagt, es sei noch nichts bereit. Es müßte doch jemand das Erforderliche anordnen. Schade, daß wir Dmitri nicht hier haben. Wir werden ja nie fertig!«

Der Graf wollte etwas erwidern, beherrschte sich aber offenbar. Er stand von seinem Stuhl auf und ging zur Tür.

In diesem Augenblick zog Berg, wohl um sich die Nase zu putzen, sein Taschentuch heraus; als er dabei den Knoten erblickte, wurde er nachdenklich und wiegte ernst und trübe den Kopf hin und her.

»Ich habe eine große Bitte an Sie, Papa«, sagte er.

»Hm?« erwiderte der Graf und blieb stehen.

»Ich kam soeben an dem Jusupowschen Haus vorbei«, sagte Berg lächelnd. »Da kam der Verwalter, den ich kenne, herausgelaufen und fragte mich: ›Wollen Sie nicht etwas kaufen?‹ Ich ging hinein, wissen Sie, nur so aus Neugierde, und da fand ich ein Näh-und Putztischchen. Sie wissen, daß Wjera sich eines wünschte und daß wir uns darüber stritten.« (Berg war, als er von dem Näh- und Putztischchen zu sprechen angefangen hatte, unwillkürlich in einen Ton freudiger Erregung über seine kluge Benutzung der Umstände übergegangen.) »Und so allerliebst ist das Tischchen! Zum Herausziehen und mit einem englischen Geheimfach, wissen Sie. Und Wjera hat sich schon lange so ein Tischchen gewünscht. Also möchte ich sie damit überraschen. Nun habe ich bei Ihnen eine solche Menge Bauern auf dem Hof gesehen. Bitte, geben Sie mir einen davon zum Transport des Tischchens; ich will es ihm gut bezahlen und …«

Der Graf runzelte die Stirn und räusperte sich.

»Wenden Sie sich mit Ihrer Bitte an die Gräfin; ich habe hier nichts anzuordnen.«

»Wenn es irgendwie Umstände macht, so ist es ja nicht nötig«, sagte Berg. »Es wäre mir nur um Wjeras willen sehr lieb gewesen.«

»Ach, schert euch alle zum Teufel, jawohl zum Teufel!« schrie der alte Graf. »Mir ist der Kopf ganz wirbelig.«

Mit diesen Worten ging er aus dem Zimmer. Die Gräfin brach in Tränen aus.

»Ja, ja, Mama, es sind recht schwere Zeiten!« sagte Berg.

Natascha war mit dem Vater zugleich hinausgegangen; anfangs ging sie wie in schwerem Nachdenken hinter ihm her, aber dann lief sie nach unten.

Auf der Freitreppe stand Petja, der damit beschäftigt war, die Leute, die aus Moskau wegfahren sollten, zu bewaffnen. Auf dem Hof standen immer noch wie vorher die beladenen, bespannten Fuhrwerke. Nur zwei Fuhrwerke waren leer gemacht, und auf eines von ihnen stieg, von seinem Burschen unterstützt, ein Offizier hinauf.

»Weißt du, warum?« fragte Petja seine Schwester.

Natascha verstand, was er meinte: ob sie wüßte, warum der Vater und die Mutter sich gestritten hätten. Sie gab ihm keine Antwort.

»Weil Papa alle Fuhrwerke für die Verwundeten hergeben wollte«, sagte Petja. »Wasiljewitsch hat es mir gesagt. Meiner Ansicht nach …«

»Meiner Ansicht nach«, rief Natascha auf einmal fast schreiend, indem sie ihr zorniges Gesicht zu Petja hinwandte, »meiner Ansicht nach ist das eine Schändlichkeit, eine Gemeinheit, eine … ich weiß gar nicht, wie ich es nennen soll. Sind wir denn etwa Deutsche?«

Die Kehle zitterte ihr von krampfhaftem Schluchzen; aus Furcht, sie werde sich nicht halten können und die ganze Ladung ihres Ingrimms nutzlos verpuffen, drehte sie sich um und lief eilig die Treppe hinauf.

Berg saß bei der Gräfin und tröstete sie in der respektvollen Weise eines jüngeren Familienmitgliedes. Der Graf ging mit der Pfeife in der Hand im Zimmer auf und ab, als plötzlich Natascha mit einem Gesicht, das von zorniger Erregung ganz entstellt aussah, wie ein Sturmwind ins Zimmer hereinstürzte und mit schnellen Schritten auf die Mutter zutrat.

»Das ist eine Schändlichkeit, eine Gemeinheit!« rief sie. »Es ist unmöglich, daß Sie das befohlen haben.«

Berg und die Gräfin blickten sie verständnislos und erschrocken an. Der Graf blieb auf seiner Wanderung am Fenster stehen und horchte auf.

»Mama, das darf nicht sein!« rief sie. »Sehen Sie nur einmal auf den Hof; sie sollen hierbleiben!«

»Was hast du? Von wem redest du? Was willst du denn?«

»Von den Verwundeten rede ich! Das darf nicht sein, liebe Mama; das wäre ja unerhört … Nein, liebe, beste Mama, das ist nicht das Richtige; verzeihen Sie mir, bitte, liebe Mama … Liebe Mama, was haben wir von den Sachen, die wir mitnehmen könnten! Sehen Sie nur einmal auf den Hof … Liebe Mama …! Das kann nicht sein …!«

Der Graf stand am Fenster und horchte, ohne das Gesicht umzuwenden, auf Nataschas Worte hin. Plötzlich schnob er hörbar durch die Nase und hielt sein Gesicht dicht an das Fenster.

Die Gräfin blickte ihre Tochter an, sah, wie deren Gesicht von Scham über das Verhalten ihrer Mutter übergossen war, sah Nataschas Aufregung, begriff, weshalb ihr Mann sich jetzt nicht nach ihr umsehen mochte, und schaute mit verlegener Miene rings um sich.

»Ach, tut meinetwegen, was ihr wollt! Als ob ich jemanden hinderte!« sagte sie in einem Ton, als wolle sie sich doch nicht gleich mit einemmal völlig ergeben.

»Liebe Mama, beste Mama, verzeihen Sie mir!«

Aber die Gräfin schob die Tochter von sich und trat an den Grafen heran.

»Mein Lieber, ordne du nur alles an, wie du es für nötig hältst; ich verstehe ja nichts davon«, sagte sie, schuldbewußt die Augen niederschlagend.

»Hier ist einmal wirklich das Ei klüger gewesen als die Henne«, sagte der Graf unter Tränen glückseliger Freude und umarmte seine Frau, die froh war, ihr von Scham übergossenes Gesicht an seiner Brust verbergen zu können.

»Lieber Papa, liebe Mama, darf ich es anordnen? Darf ich?« fragte Natascha. »Das Notwendigste werden wir trotzdem mitnehmen können.«

Der Graf nickte ihr bejahend zu, und Natascha lief mit solcher Geschwindigkeit wie früher beim »Greifen«-Spielen durch den Saal ins Vorzimmer und die Treppe hinunter auf den Hof.

Die Leute versammelten sich um Natascha und vermochten an den seltsamen Befehl, den sie ihnen überbrachte, nicht eher zu glauben, als bis der Graf selbst, zugleich im Namen seiner Frau, den Befehl bestätigte, daß alle Fuhrwerke den Verwundeten eingeräumt, die Kisten aber in die Vorratsräume gebracht werden sollten. Als sie den Befehl richtig erfaßt hatten, machten sich die Leute mit sichtlicher Freude und emsiger Geschäftigkeit an die neue Arbeit. Der Dienerschaft erschien dies jetzt ganz und gar nicht seltsam, ja, sie hatte im Gegenteil das Gefühl, es könne gar nicht anders sein, gerade wie es eine Viertelstunde vorher keinem von ihnen seltsam erschienen war, daß die Verwundeten zurückgelassen und die Sachen mitgenommen werden sollten, sondern sie dies für selbstverständlich gehalten hatten.

Alle Hausgenossen nahmen mit großem Eifer, wie wenn sie es wiedergutmachen wollten, daß sie dies nicht früher getan hatten, die neue Aufgabe in Angriff, die Verwundeten auf den Fuhrwerken unterzubringen. Die Verwundeten kamen aus ihren Zimmern herausgekrochen und umringten mit blassen, aber freudigen Gesichtern die Fuhrwerke. Auch nach den Nachbarhäusern war das Gerücht gedrungen, daß hier Fuhrwerke zu haben seien, und so begannen auch aus anderen Häusern Verwundete zu Rostows auf den Hof zu kommen. Viele der Verwundeten baten, die Sachen nicht herunterzunehmen, sondern sie nur obendrauf zu setzen. Aber das einmal begonnene Werk des Abladens der Sachen ließ sich nicht mehr hemmen; auch war es ganz gleich, ob alles dagelassen wurde oder nur die Hälfte. Auf dem Hof standen die noch nicht weggeräumten Kisten mit Bronzen, Gemälden, Spiegeln und Geschirr umher, die am vorhergehenden Abend bis in die Nacht hinein so eifrig gepackt waren, und immer suchte und fand man noch eine Möglichkeit, auch dies und das noch abzuladen und immer noch einen Wagen nach dem andern für die Verwundeten zu bestimmen.

»Vier können wir noch mitnehmen; ich will gern mein Fuhrwerk dazu hergeben«, sagte der Verwalter. »Aber wohin mit den letzten?«

»Nehmt nur den Wagen mit meiner Garderobe«, sagte die Gräfin. »Dunjascha kann sich zu mir in die Kutsche setzen.«

Auch der Garderobewagen wurde noch dazugenommen, und da noch Platz blieb, wurde er nach einem der Nachbarhäuser geschickt, um auch von dort noch Verwundete zu holen. Alle Familienmitglieder und die Dienerschaft waren in heiterer Erregung. Natascha befand sich in einer so lebhaften, feierlich-glückseligen Gemütsstimmung, wie sie sie seit langer Zeit nicht mehr gekannt hatte.

»Wo sollen wir die denn festbinden?« fragten die Leute, die vergebens eine Kiste an das schmale Hinterbrett eines der Kutschwagen heranpaßten. »Wenigstens einen Bauernwagen müßten wir doch für die Sachen behalten.«

»Was ist denn darin?« fragte Natascha.

»Die Bücher des Grafen.«

»Laßt die Kiste nur hier; Wasiljewitsch wird sie wegstellen; die braucht nicht mit.«

In der Britschke waren alle Plätze besetzt; es wurde überlegt, wo denn nun Petja sitzen sollte.

»Er kann auf dem Bock sitzen. Nicht wahr, du steigst auf den Bock, Petja?« rief Natascha.

Auch Sonja war unablässig tätig; aber ihre Geschäftigkeit hatte gerade das entgegengesetzte Ziel wie die Nataschas: Sonja räumte die Sachen beiseite, die dableiben sollten, machte auf Wunsch der Gräfin ein Verzeichnis davon und suchte soviel wie möglich mitzunehmen.

XVII


Gegen zwei Uhr standen die vier Rostowschen Equipagen bepackt und angespannt vor der Haustür. Die Fuhrwerke mit den Verwundeten fuhren eines nach dem andern vom Hof.

Die Kalesche, in welcher Fürst Andrei lag, erregte, als er an der Freitreppe vorbeifuhr, die Aufmerksamkeit Sonjas, die mit Hilfe eines Stubenmädchens in der gewaltig großen, hohen Kutsche, die vor der Haustür hielt, einen Sitz für die Gräfin zurechtmachte.

»Wessen Kalesche ist denn das?« fragte Sonja, indem sie den Kopf aus dem Kutschfenster steckte.

»Haben Sie das noch nicht gehört, Fräulein?« antwortete das Stubenmädchen. »Die gehört dem verwundeten Fürsten, der bei uns übernachtet hat und nun auch mit uns fährt.«

»Aber wer ist es denn? Wie heißt er?«

»Es ist unser gewesener Bräutigam, Fürst Bolkonski«, erwiderte das Stubenmädchen seufzend. »Es heißt, er ist dem Tod nahe.«

Sonja sprang aus der Kutsche und lief zur Gräfin hin. Die Gräfin ging, schon zur Reise angekleidet, mit Hut und Schal, müde im Salon auf und ab und wartete auf die Hausgenossen, damit sie sich alle vor der Abreise bei geschlossenen Türen für einen Augenblick hinsetzten und beteten. Natascha war nicht im Zimmer.

»Mama«, sagte Sonja. »Fürst Andrei ist hier, tödlich verwundet. Er fährt mit uns.«

Erschrocken öffnete die Gräfin weit die Augen, ergriff Sonja bei der Hand und blickte um sich.

»Und Natascha?« fragte sie.

Sowohl für Sonja als auch für die Gräfin hatte diese Nachricht im ersten Augenblick nur in einer Beziehung Wichtigkeit. Sie kannten beide ihre Natascha, und die Angst vor der Wirkung, die diese Nachricht auf sie ausüben würde, übertäubte bei ihnen das Mitgefühl für den Mann, den sie beide gern gehabt hatten.

»Natascha weiß es noch nicht; aber er wird mit uns mitfahren«, sagte Sonja.

»Du sagst, er ist tödlich verwundet?«

Sonja nickte mit dem Kopf.

Die Gräfin umarmte sie und brach in Tränen aus.

»Die Wege des Herrn sind unerforschlich«, dachte sie und wurde sich bewußt, daß in allem, was jetzt geschah, sich eine allmächtige Hand fühlbar zu machen begann, die bisher den Blicken der Menschen verborgen gewesen war.

»Nun, Mama, es ist alles fertig. Wovon redet ihr denn da noch?« fragte Natascha, die mit lebhaft erregtem Gesicht ins Zimmer gelaufen kam.

»Oh, von nichts«, antwortete die Gräfin. »Nun, wenn alles fertig ist, dann wollen wir fahren.«

Sie beugte sich über ihren Ridikül, um ihre Verwirrung zu verbergen. Sonja umarmte Natascha und küßte sie.

Natascha blickte sie fragend an.

»Was hast du? Was ist denn vorgefallen?«

»Nichts … gar nichts …«

»Etwas sehr Schlimmes für mich? Was ist es denn?« fragte Natascha, die ein feines Gefühl besaß.

Sonja seufzte und gab keine Antwort. Der Graf, Petja, Madame Schoß, Mawra Kusminitschna und Wasiljewitsch traten in den Salon, und nachdem die Türen geschlossen waren, setzten sich alle hin und saßen so, schweigend und ohne einander anzusehen, einige Sekunden lang.

Der Graf stand zuerst auf und bekreuzte sich, laut seufzend, vor dem Heiligenbild. Alle andern taten dasselbe. Dann umarmte der Graf Mawra Kusminitschna und Wasiljewitsch, die in Moskau blieben, und klopfte sie, während sie nach seiner Hand griffen und ihn auf die Schulter küßten, leise auf den Rücken, wobei er undeutlich ein paar freundliche Worte zu ihrer Beruhigung sagte.

Die Gräfin begab sich in das Betzimmer, und Sonja fand sie dort auf den Knien vor den hier und da an den Wänden zurückgebliebenen Heiligenbildern. (Diejenigen Bilder, die durch langjährige Familientraditionen einen besonderen Wert hatten, waren mitgenommen worden.)

An der Freitreppe und auf dem Hof nahmen diejenigen Dienstboten, welche mit wegreisten (Petja hatte sie mit Dolchen und Säbeln bewaffnet; sie hatten die Hosen in die Stiefel gesteckt und sich mit Lederriemen und Leibbinden fest umgürtet), Abschied von denen, die zurückblieben.

Wie es beim Abreisen immer geht, war vieles vergessen oder an falscher Stelle untergebracht, und recht lange standen zwei Diener rechts und links von dem geöffneten Kutschenschlag und dem niedergelassenen Tritt bereit, um der Gräfin beim Einsteigen zu helfen, während Mädchen mit Kissen und Bündeln aus dem Haus zu den Kutschen, der Kalesche und der Britschke und wieder zurück liefen.

»Nein, diese Menschen, ihre Zerstreutheit und Vergeßlichkeit legen sie doch ihr Leben lang nicht ab!« sagte die Gräfin. »Du weißt doch, daß ich so nicht sitzen kann.«

Dunjascha preßte die Zähne zusammen und sprang, ohne zu antworten, mit verdrossenem Gesicht in die Kutsche, um den Sitz umzuändern.

»Ach ja, dieses Volk!« stimmte der Graf seiner Frau bei und wiegte den Kopf hin und her.

Der alte Kutscher Jefim (mit einem andern zu fahren konnte sich die Gräfin unter keinen Umständen entschließen) saß hoch auf seinem Bock und sah sich nach dem, was hinter ihm geschah, gar nicht einmal um. Aus dreißigjähriger Erfahrung wußte er, daß es noch eine ganze Weile dauerte, bis man ihm sagen würde: »Nun, dann in Gottes Namen!« und daß, wenn das gesagt war, man ihn noch zweimal halten ließ und Leute zurückschickte, um vergessene Sachen zu holen, und daß er darauf noch einmal halten mußte und die Gräfin selbst den Kopf aus dem Kutschfenster heraussteckte und ihn um Jesu Christi willen bat, wo es bergab ginge, nur ja recht vorsichtig zu fahren. Das alles wußte er, und daher wartete er geduldig auf das, was da kommen sollte, geduldiger als seine Pferde, von denen namentlich das linke, ein Fuchs namens »Falke«, mit dem Huf schlug und auf dem Mundstück kaute. Endlich waren alle zum Sitzen gekommen; der Wagentritt wurde zusammengeklappt und an den Wagen hinaufgeschlagen, die Wagentür geschlossen; es wurde noch nach einer Schatulle geschickt; die Gräfin bog sich hinaus und erteilte dem Kutscher die unvermeidliche Ermahnung. Dann nahm Jefim langsam seinen Hut vom Kopf und bekreuzte sich. Der Reitknecht, der auf einem der Pferde saß, und alle Dienstboten taten das gleiche. »In Gottes Namen!« sagte Jefim und setzte seinen Hut wieder auf. »Vorwärts!« Der Reitknecht trieb sein Pferd an. Das rechte Deichselpferd legte sich in das Kummet, die hohen Wagenfedern knackten, und der Wagenkasten setzte sich in schaukelnde Bewegung. Der Lakai sprang, während der Wagen schon fuhr, auf den Bock. Die Kutsche bekam, als sie vom Hof auf das holperige Pflaster fuhr, ein paar kräftige Stöße, desgleichen die andern Equipagen, und nun bewegte sich der Zug die Straße hinauf. In den Kutschen, der Kalesche und der Britschke bekreuzten sich alle nach der gegenüberliegenden Kirche hin. Was von dem Dienstpersonal in Moskau zurückblieb, ging zu beiden Seiten der Equipagen, um ihnen das Geleit zu geben.

Natascha hatte selten ein so freudiges Gefühl empfunden wie jetzt, wo sie neben der Gräfin in der Kutsche saß und nach den langsam vorüberziehenden Häusermauern des halbverödeten, beunruhigten Moskau hinblickte. Ab und zu steckte sie den Kopf aus dem Kutschfenster hinaus und blickte bald zurück, bald nach vorn nach dem langen Wagenzug mit Verwundeten, der vor ihnen herfuhr. Fast ganz an der Spitze desselben war das hochgeschlagene Verdeck der Kalesche des Fürsten Andrei sichtbar. Sie wußte nicht, wer sich in diesem Wagen befand; aber jedesmal, wenn sie den Bereich ihres Zuges musterte, suchte sie mit den Augen nach dieser Kalesche. Sie wußte, daß er beinahe ganz vorn war.

Auf dem Kudrinskaja-Platz trafen aus der Nikitskaja-Straße, der Prjesnenskaja-Straße und dem Podnowinski-Boulevard noch mehrere solcher Züge wie der Rostowsche zusammen, und in der Sadowaja-Straße mußten die Equipagen und die andern Fuhrwerke schon in zwei Reihen nebeneinander fahren.

Als sie um den Sucharew-Turm herumfuhren, rief Natascha, die schnell und neugierig die vorbeifahrenden und vorbeigehenden Leute betrachtete, plötzlich freudig und erstaunt aus:

»Herrgott! Mama, Sonja, seht mal, das ist er!«

»Wer? Wer?«

»Seht nur, wahrhaftigen Gottes, Besuchow!« sagte Natascha, bog sich aus dem Kutschfenster und blickte nach einem hochgewachsenen, dicken Mann, der zwar einen Kutscherrock trug, dem Gang und der Haltung nach aber entschieden ein verkleideter Edelmann war. In Begleitung eines bartlosen, kleinen, alten Mannes, mit gelblicher Gesichtsfarbe, in einem Friesmantel, ging er eben unter das Gewölbe des Sucharew-Turmes.

»Wahrhaftig, Besuchow, in einem langen Kaftan, mit irgendeinem alten Mann. Wahrhaftig«, sagte Natascha, »seht nur, seht nur!«

»Aber nein, das ist er nicht. Wie kannst du nur solchen Unsinn reden!«

»Mama«, rief Natascha, »ich lasse mir den Kopf abschneiden, wenn er es nicht ist. Ich will es Ihnen beweisen. Halt, halt!« rief sie dem Kutscher zu.

Aber der Kutscher konnte nicht anhalten, weil aus der Mjeschtschanskaja-Straße andere Equipagen und gewöhnliche Fuhrwerke herausgefahren kamen und deren Kutscher ihm zuschrien, er solle weiterfahren und andere nicht aufhalten.

Wirklich erblickten nun alle Rostows, wiewohl in erheblich größerer Entfernung als vorher, Pierre oder einen Menschen, der diesem außerordentlich ähnlich war, in einem Kutscherrock, wie er mit gesenktem Kopf und ernstem Gesicht neben einem kleinen, bartlosen, alten Mann, der wie ein Diener aussah, auf der Straße ging. Der Alte bemerkte, daß sich ein Gesicht aus der Kutsche hinausbog und nach ihnen hinsah; respektvoll berührte er Pierre am Ellbogen, sagte ihm etwas und zeigte auf die Kutsche. Pierre verstand längere Zeit nicht, was sein Gefährte zu ihm sagte; so vertieft war er offenbar in seine Gedanken. Als er endlich verstanden hatte, blickte er nach der ihm gewiesenen Richtung hin, und als er Natascha erkannte, ging er sofort in demselben Augenblick, dem ersten Impuls folgend, schnell auf die Kutsche zu. Aber nachdem er etwa zehn Schritte zurückgelegt hatte, fiel ihm offenbar etwas ein, und er blieb stehen.

Nataschas Gesicht, das sich aus dem Kutschfenster bog, strahlte von spöttischer Freundlichkeit.

»Pjotr Kirillowitsch, kommen Sie doch her! Wir haben Sie ja erkannt! Das ist ja erstaunlich!« rief sie und streckte ihm die Hand entgegen. »Wie kommen Sie hierher? Und warum sehen Sie so aus?«

Pierre ergriff die hingestreckte Hand und küßte sie unbeholfen während des Fahrens, da die Kutsche sich weiterbewegte.

»Was ist denn mit Ihnen vorgegangen, Graf?« fragte die Gräfin in verwundertem, mitleidigem Ton.

»Was vorgegangen ist? Warum ich hier bin? Fragen Sie mich nicht«, erwiderte Pierre und blickte dann wieder zu Natascha hin, deren strahlender, freudiger Blick ihn (das fühlte er, auch während er sie nicht ansah) mit seinem Zauber umfing.

»Was haben Sie denn vor? Bleiben Sie etwa in Moskau?« fragte Natascha.

»In Moskau?« erwiderte er fragend. »Ja, ich bleibe in Moskau. Leben Sie wohl.«

»Ach, ich wollte, ich wäre ein Mann; dann bliebe ich bestimmt mit Ihnen hier. Ach, wie schön das wäre!« sagte Natascha. »Mama, wenn Sie es erlauben, bleibe ich hier.«

Pierre blickte Natascha zerstreut an und wollte etwas sagen; aber die Gräfin ließ ihn nicht zu Worte kommen:

»Wie wir gehört haben, sind Sie bei der Schlacht dabeigewesen?« fragte sie.

»Ja, ich bin dort gewesen«, antwortete Pierre. »Morgen wird wieder eine Schlacht stattfinden …«, begann er; aber Natascha unterbrach ihn:

»Aber was ist denn mit Ihnen vorgegangen, Graf? Sie sehen so ganz verändert aus …«

»Ach, fragen Sie mich nicht, fragen Sie mich nicht; ich weiß es selbst nicht. Morgen … Aber nein! Leben Sie wohl, leben Sie wohl«, murmelte er; »es ist eine schreckliche Zeit!«

Er trat von der Kutsche zurück und ging auf das Trottoir.

Natascha blieb noch lange so aus dem Kutschfenster gebeugt und schaute mit einem strahlenden, heiteren, freundlichen und ein wenig spöttischen Lächeln zu ihm hin.

XVIII


Seit Pierre am vorhergehenden Tag aus seinem Haus verschwunden war, wohnte er in der leerstehenden Wohnung des verstorbenen Basdjejew. Das war folgendermaßen zugegangen.

Als Pierre an dem Tag, der auf seine Rückkehr nach Moskau und sein Gespräch mit Graf Rastoptschin folgte, des Morgens aufgewacht war, konnte er lange nicht darüber ins klare kommen, wo er sich eigentlich befand und was man von ihm wollte. Als ihm unter den Namen anderer Personen, die im Wartezimmer darauf warteten, vorgelassen zu werden, auch gemeldet wurde, daß jener Franzose auf ihn warte, der den Brief der Gräfin Helene überbracht hatte, da überkam ihn plötzlich jenes Gefühl der Verwirrung und Hoffnungslosigkeit, dem er so oft und so leicht unterworfen war. Er hatte auf einmal die Vorstellung, jetzt sei alles zu Ende, alles in Verwirrung, alles zugrunde gerichtet, niemand sei schuldlos, niemand schuldig, die Zukunft könne nichts Gutes mehr bieten, und es gebe aus dieser Lage keinen Ausgang. Gezwungen lächelnd und etwas vor sich hinmurmelnd, setzte er sich bald in einer Haltung völliger Hilflosigkeit auf das Sofa, bald stand er wieder auf, ging an die Tür und sah durch die Spalte in das Wartezimmer, bald kehrte er mit einer resignierten Handbewegung zurück und griff nach einem Buch. Der Haushofmeister kam zum zweitenmal, um ihm zu melden, daß der Franzose, der den Brief von der Gräfin gebracht habe, dringend bäte, ihn, wenn auch nur auf einen Augenblick, zu empfangen, und daß jemand von der Witwe Osip Alexejewitsch Basdjejews gekommen sei mit der Bitte, doch die Bücher in Empfang zu nehmen, da Frau Basdjejewa selbst aufs Land gefahren sei.

»Ach ja, sogleich, warte einen Augenblick … oder nein! Nein, geh nur und sage, ich würde sogleich kommen«, sagte Pierre zu dem Haushofmeister.

Aber kaum war der Haushofmeister aus dem Zimmer, als Pierre seinen Hut nahm, der auf dem Tisch lag, und sein Arbeitszimmer durch die Hintertür verließ. Auf dem Korridor war niemand. Pierre durchschritt ihn in seiner ganzen Länge bis zur Treppe und stieg, die Stirn runzelnd und sie mit beiden Händen reibend, bis zum ersten Absatz hinunter. Der Portier stand beim Vorderportal. Von dem Absatz, zu dem Pierre hinuntergestiegen war, führte eine andere Treppe nach dem hinteren Ausgang. Hierher ging Pierre und trat auf den Hof hinaus. Niemand sah ihn. Aber sowie er durch das Tor auf die Straße kam, erblickten ihn die Kutscher, die dort mit ihren Equipagen hielten, sowie der Hausknecht und nahmen vor ihm die Mützen ab. Als er ihre Blicke auf sich gerichtet fühlte, machte es Pierre wie der Strauß, der seinen Kopf in einen Busch steckt, um nicht gesehen zu werden: er senkte den Kopf und ging mit beschleunigtem Schritt die Straße hinunter.

Von allen den Tätigkeiten, die ihn an diesem Morgen in Anspruch nehmen wollten, erschien ihm als die wichtigste die Sichtung der Bücher und Papiere Osip Alexejewitsch Basdjejews.

Er nahm die erste Droschke, die er fand, und befahl dem Kutscher, nach den Patriarchenteichen zu fahren, wo das Haus der verwitweten Frau Basdjejewa lag.

Während er unaufhörlich die von überallher sich vorwärtsbewegenden Wagenzüge der aus Moskau flüchtenden Einwohner betrachtete und sich mit seinem dicken Körper zurechtrückte, um nicht aus der klappernden, alten Droschke herauszurutschen, empfand Pierre dasselbe freudige Gefühl wie ein Schüler, der aus der Schule davongelaufen ist. In dieser Stimmung ließ er sich mit dem Kutscher in ein Gespräch ein.

Der Kutscher erzählte ihm, heute würden im Kreml Waffen verteilt werden, und morgen werde man das ganze Volk aus dem Dreibergentor hinaustreiben, und da werde dann eine große Schlacht stattfinden.

Als Pierre zu den Patriarchenteichen gekommen war, suchte er sich Basdjejews Haus, in dem er seit langer Zeit nicht gewesen war. Er trat zu dem Pförtchen neben dem Tor. Gerasim, jener selbe gelbliche, bartlose Alte, den Pierre vor fünf Jahren in Torschok als Osip Alexejewitschs Begleiter gesehen hatte, kam auf sein Klopfen herbei.

»Ist jemand von der Herrschaft zu Hause?« fragte Pierre.

»Wegen der Zustände, die jetzt hier herrschen, ist Sofja Danilowna mit den Kindern nach dem Gut im Torschokschen gereist, Euer Erlaucht.«

»Ich möchte doch hineingehen; ich muß die Bücher sichten«, sagte Pierre.

»Bitte, treten Sie näher; Makar Alexejewitsch, der Bruder des verstorbenen Herrn (Gott gebe ihm das Himmelreich!), ist hiergeblieben; aber wie Sie wissen, ist er schwachsinnig«, sagte der alte Diener.

Makar Alexejewitsch war, wie Pierre wußte, der halbverrückte, dem Trunk ergebene Bruder von Osip Alexejewitsch.

»Ja, ja, ich weiß. Wir wollen hineingehen«, sagte Pierre und ging ins Haus.

Ein großer, kahlköpfiger, rotnasiger, alter Mann, in einem Schlafrock, mit Überschuhen auf den bloßen Füßen, stand im Vorzimmer; als er Pierre erblickte, murmelte er ärgerlich etwas vor sich hin und ging hinaus auf den Korridor.

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