»Ich weiß, warum sie sich schämen würde«, sagte Petja, der sich noch durch den Ausdruck gekränkt fühlte, mit welchem Natascha ihn vorhin bezeichnet hatte. »Weil sie in den Dicken mit der Brille verliebt war« (damit bezeichnete Petja seinen Namensvetter Pierre, den neuen Grafen Besuchow), »und weil sie jetzt in diesen Sänger verliebt ist« (Petja meinte den Italiener, bei dem Natascha Gesangsunterricht hatte). »Darum würde sie sich schämen.«
»Petja, du bist dumm«, sagte Natascha.
»Nicht dümmer als du, meine Verehrteste!« erwiderte der neunjährige Petja so energisch, wie wenn er ein alter Unteroffizier wäre.
Die Gräfin war durch die Andeutungen, welche Anna Michailowna während des Mittagessens gemacht hatte, bereits hinreichend vorbereitet. Nach Tisch ging sie auf ihr Zimmer, setzte sich in einen Lehnstuhl und blickte unverwandt das Miniaturporträt ihres Sohnes an, das auf ihrer Tabaksdose angebracht war; dabei kamen ihr die Tränen in die Augen. Anna Michailowna, mit dem Brief in der Tasche, näherte sich auf den Fußspitzen dem Zimmer der Gräfin und blieb vor der Tür stehen.
»Kommen Sie nicht mit hinein«, sagte sie zu dem alten Grafen, der ihr gefolgt war. »Erst nachher.« Sie ging hinein und machte die Tür hinter sich zu.
Der Graf legte das Ohr ans Schlüsselloch und horchte.
Anfangs hörte er, daß die beiden Frauen sich in gleichmütigem Ton unterhielten; dann war nur die Stimme Anna Michailownas zu vernehmen, die ziemlich lange allein sprach; dann folgte ein Aufschrei und hierauf Stillschweigen; dann redeten wieder beide Stimmen abwechselnd in fröhlichem Ton; darauf hörte er Schritte, und Anna Michailowna öffnete ihm die Tür. Ihr Gesicht zeigte die stolze Miene eines Chirurgen, der eine schwere Operation beendet hat und nun das Publikum hineinläßt, damit es seine Kunstfertigkeit bewundern könne.
»Das ist gemacht!« sagte sie zu dem Grafen und wies mit triumphierender Gebärde auf die Gräfin, die in der einen Hand die Tabaksdose mit dem Porträt, in der andern den Brief hielt und bald das Porträt, bald den Brief an die Lippen drückte.
Als sie den Grafen erblickte, streckte sie ihm die Arme entgegen, umfaßte seinen kahlen Kopf, sah über diesen hinweg wieder nach dem Brief und dem Porträt und schob dann, um diese Gegenstände an die Lippen zu drücken, den kahlen Kopf ihres Mannes sachte wieder von sich. Nachdem auch Wjera, Natascha, Sonja und Petja gerufen waren und sich eingefunden hatten, wurde der Brief vorgelesen. Nikolai schilderte darin in Kürze den Feldzug und die beiden Treffen, an denen er teilgenommen hatte, berichtete von seiner Beförderung zum Offizier und schrieb, er küsse seiner Mama und seinem Papa die Hände und bitte um ihren Segen, und er küsse auch Wjera, Natascha und Petja. Außerdem ließ er Herrn Schelling und Madame Schoß und die Kinderfrau grüßen und bat, auch die teuere Sonja zu küssen, die er noch ebenso lieb habe und an die er viel denke. Als Sonja das hörte, errötete sie so stark, daß ihr die Tränen in die Augen kamen. Und außerstande, die auf sie gerichteten Blicke zu ertragen, lief sie in den Saal, nahm einen Anlauf, wirbelte sich um sich selbst herum, so daß ihr Kleid sich wie ein Ballon aufblähte, und setzte sich dann mit gerötetem, lächelndem Gesicht auf den Fußboden.
Die Gräfin weinte.
»Worüber weinen Sie denn, Mama?« fragte Wjera. »Was er schreibt, ist ja alles zum Freuen und nicht zum Weinen.«
Das war vollkommen richtig; aber doch blickten der Graf und die Gräfin und Natascha sie alle drei vorwurfsvoll an. »Von wem sie nur diese Anschauungsweise geerbt hat?« dachte die Gräfin.
Nikolais Brief wurde wohl hundertmal vorgelesen, und diejenigen, die für würdig geachtet wurden, ihn zu hören, mußten zu der Gräfin kommen, die ihn nicht aus den Händen gab. Es kamen der Hauslehrer und die Kinderfrau und der Geschäftsführer Dmitri und viele Bekannte, und die Gräfin las den Brief jedesmal mit neuem Genuß vor und entdeckte jedesmal dabei neue Vorzüge und Tugenden ihres lieben Nikolai. Wie seltsam, überraschend und hocherfreulich war es ihr, daß ihr Sohn, eben der Sohn, der sich vor zwanzig Jahren mit seinen winzigen Gliedern kaum merkbar in ihrem Leib gerührt hatte, eben der Sohn, über den sie fortwährend ihren Streit mit dem Grafen gehabt hatte, der ihn verhätschelte, eben der Sohn, der merkwürdigerweise das Wort »Birne« früher sprechen gelernt hatte als das Wort »Bubanz«, daß dieser Sohn jetzt dort im fremden Land, in fremder Umgebung, als ein tapferer Krieger, allein, ohne Hilfe und Leitung, wacker seine Mannespflicht tat! Die gesamte, für die ganze Welt geltende, jahrtausendealte Erfahrung, welche lehrt, daß Kinder von der Wiege an in unmerklicher Fortentwicklung zu Männern werden, diese Erfahrung existierte für die Gräfin einfach nicht. Das Heranwachsen ihres Sohnes war für sie auf jeder Stufe so überraschend, als ob es nicht zu allen Zeiten Millionen und aber Millionen von Menschen gegeben hätte, die ebenso herangewachsen wären. Wie sie vor zwanzig Jahren nicht hatte glauben mögen, daß das kleine Wesen, das da irgendwo in ihr unter ihrem Herzen lebte, dereinst schreien und die Brust nehmen und sprechen werde, so schien es ihr auch jetzt unglaublich, daß dieses kleine Wesen der starke, tapfere, allen Söhnen und allen Menschen vorbildliche Mann sein könne, der er, wie dieser Brief zeigte, jetzt doch wirklich war.
»Was für ein Stil, wie allerliebst er zu schildern versteht!« sagte sie, wenn sie den beschreibenden Teil des Briefes las. »Und was für eine herrliche Seele! Über sich selbst schreibt er nichts … gar nichts. Da schreibt er von einem gewissen Denisow, und dabei ist er selbst doch gewiß tapferer als all diese Leute. Von seinen Leiden und Schmerzen schreibt er nichts. Was für ein gutes Herz! Daran erkenne ich ihn ganz wieder! Und wie er an alle denkt! Niemanden hat er vergessen. Ich habe es aber immer gesagt, immer, schon als er noch so klein war; ich habe es immer gesagt …«
Mehr als eine Woche lang wurden von allen Hausgenossen Briefe an Nikolai zuerst im Konzept hergestellt und dann ins reine geschrieben. Unter Oberleitung der Gräfin und geschäftiger Mitwirkung des Grafen wurden mancherlei zur Equipierung und Ausstattung des neugebackenen Offiziers nötige Dinge, namentlich auch Geld, beschafft und zusammengepackt. Anna Michailowna, als praktische Frau, hatte es verstanden, sich und ihrem Sohn bei der Feldarmee Protektionen wie in anderer Hinsicht so auch sogar für die Korrespondenz zu verschaffen; sie hatte die Möglichkeit, ihre Briefe an den Großfürsten Konstantin Pawlowitsch zu schicken, der die Garde kommandierte. Rostows waren nun der Ansicht, eine Angabe auf der Adresse wie: »Russische Garde im Ausland« sei hinreichend klar, und wenn der Brief auf diese Art an den Großfürsten gelange, der die Garde kommandierte, so werde er mit Sicherheit auch weiter an das Pawlograder Regiment gelangen, das da in der Nähe sein müsse; es wurde daher beschlossen, die Briefe und das Geld durch einen Kurier des Großfürsten an Boris zu schicken, und Boris sollte dann alles Nikolai zustellen. Die Briefe waren von dem alten Grafen, von der Gräfin, von Petja, von Wjera, von Natascha und von Sonja; beigefügt waren sechstausend Rubel zur Equipierung und allerlei Sachen, die der Graf seinem Sohn sandte.
VII
Am 12. November machte sich die Kutusowsche Armee, die bei Olmütz lagerte, zu einer Truppenschau vor den beiden Kaisern, dem russischen und dem österreichischen, für den nächsten Tag zurecht. Die Garde, die soeben aus Rußland eingetroffen war, übernachtete fünfzehn Werst von Olmütz entfernt und sollte sich am andern Tag direkt von dort zu der auf zehn Uhr angesetzten Truppenschau nach dem Olmützer Feld begeben.
Nikolai Rostow erhielt an diesem Tag von Boris eine kurze Zuschrift, worin er benachrichtigt wurde, daß das Ismaïler Regiment fünfzehn Werst vor Olmütz übernachten werde, und daß er ihn dort erwarte, um ihm einen Brief und Geld einzuhändigen. Geld brauchte Rostow jetzt besonders nötig; denn das Lager, in welchem das Heer nach der Rückkehr vom Feldzug jetzt bei Olmütz lag, war voll von Marketendern, die mit allerlei Gaumengenüssen wohlversehen waren, und von österreichischen Juden, welche verführerische Dinge aller Art anboten. Bei den Pawlograder Husarenoffizieren folgte ein Gelage auf das andere, da doch die im Feldzug erhaltenen Dekorationen und stattgefundenen Avancements nachträglich gefeiert werden mußten; oft ritten sie auch nach Olmütz zu der Ungarin Karoline, die dort kürzlich angekommen war und ein Restaurant mit weiblicher Bedienung eröffnet hatte. Rostow hatte vor kurzem seine Beförderung zum Kornett gefeiert, hatte von Denisow ein Pferd, den »Beduinen«, gekauft und steckte bei seinen Kameraden und bei den Marketendern tief in Schulden. Nachdem er das Briefchen von Boris erhalten hatte, ritt er mit einem Kameraden nach Olmütz, aß dort zu Mittag, trank eine Flasche Wein und ritt dann allein weiter nach dem Lager der Garde, um dort seinen Jugendfreund aufzusuchen. Rostow hatte noch nicht die Möglichkeit gefunden, sich zu equipieren. Er trug eine schon stark abgenutzte Junkerjacke, an welcher das Georgskreuz derjenigen Klasse hing, die den Unteroffizieren und Gemeinen verliehen wird, ferner ebensolche, mit abgescheuertem Leder besetzte Reithosen und einen Offizierssäbel mit Troddel; das Pferd, auf dem er ritt, war ein donisches, das er während des Feldzuges von einem Kosaken gekauft hatte; seine zerdrückte Husarenmütze hatte er keck nach hinten und zur Seite geschoben. Als er sich dem Lager des Ismaïler Regiments näherte, freute er sich darauf, wie er Boris und dessen sämtliche Kameraden von der Garde durch seine kriegerische Erscheinung, die von manchem mitgemachten Kampf zeugte, in Erstaunen versetzen werde.
Die Garde hatte den ganzen Marsch wie einen Spaziergang zurückgelegt und sich dabei auf ihre Sauberkeit und ihre Manneszucht nicht wenig zugute gehalten. Die Tagesmärsche waren klein gewesen; die Tornister waren auf Fuhrwerken mitgeführt worden; für die Offiziere hatten die österreichischen Behörden an allen Orten, wo übernachtet wurde, schöne Diners veranstaltet. Die Regimenter waren mit klingendem Spiel in die Städte eingerückt und ebenso wieder ausmarschiert, und während des ganzen Marsches waren die Soldaten (darauf war die Garde besonders stolz) auf Befehl des Großfürsten im Tritt gegangen, die Offiziere zu Fuß an ihren Plätzen. Boris war die ganze Zeit über mit Berg, der jetzt bereits Kompaniechef war, zusammen marschiert und hatte mit ihm zusammen gewohnt. Berg, der während des Marsches seine Kompanie bekommen hatte, hatte sich seitdem schon durch seine Pünktlichkeit und Sorgfalt das Vertrauen seiner Vorgesetzten erworben und seine finanzielle Lage auf das vorteilhafteste geordnet; und Boris hatte während des Marsches die Bekanntschaft vieler Leute gemacht, die ihm nützlich sein konnten, und war unter andern auch durch einen Empfehlungsbrief, den ihm Pierre geschickt hatte, mit dem Fürsten Andrei Bolkonski bekanntgeworden, durch dessen Vermittlung er eine Stelle in dem Stab des Oberkommandierenden zu erhalten hoffte.
Berg und Boris, die sich von dem letzten Tagesmarsch schon erholt hatten, saßen sauber und ordentlich gekleidet in dem reinlichen Quartier, das ihnen angewiesen war, an einem runden Tisch und spielten Schach. Berg hielt eine lange, brennende Pfeife zwischen den Knien. Boris stellte mit der ihm eigenen Akkuratesse die bereits genommenen Schachfiguren mit seinen weißen, schlanken Fingern in Form einer Pyramide auf und wartete auf Bergs Zug; er blickte nach dem Gesicht seines Partners hin und dachte offenbar über das Spiel nach, wie er denn immer nur an das dachte, womit er gerade beschäftigt war.
»Wollen mal sehen, wie Sie sich aus dieser Klemme ziehen«, sagte er.
»Ich will es versuchen«, antwortete Berg und berührte einen Bauer, zog aber die Hand schnell wieder zurück.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür.
»Da ist er ja endlich!« rief der eintretende Rostow. »Und Berg auch hier! Weißt du noch: ›Petits enfants, allez coucher dormir‹?« rief er, indem er den allabendlichen Satz der Kinderfrau wiederholte, über den er ehemals mit Boris zusammen oft gelacht hatte.
»Herr Gott, wie du dich verändert hast!« rief Boris.
Boris stand auf und kam Rostow entgegen, vergaß aber beim Aufstehen nicht, einige umgefallene Schachfiguren, die hinunterzurollen drohten, festzuhalten und wieder auf ihre Plätze zu stellen. Er wollte seinen Freund umarmen; aber Nikolai wich von ihm zurück. Es ist ja eine bekannte Eigenheit der Jugend: sie scheut die ausgefahrenen Geleise und möchte, statt anderen Leuten nachzuahmen, lieber auf eine neue, ihr eigene Weise ihre Gefühle zum Ausdruck bringen, nur nicht so, wie es, zum Teil heuchlerisch, ältere Leute tun; und so wollte auch Nikolai bei dem Wiedersehen mit seinem Freund gern irgend etwas Besonderes tun: er hatte Lust, Boris zu kneifen, ihm ein paar Püffe zu versetzen, aber nur nicht sich mit ihm zu küssen, wie das alle Leute tun. Boris hingegen umarmte seinen Freund ruhig und freundschaftlich und küßte ihn dreimal.
Sie hatten einander fast ein halbes Jahr nicht gesehen, und wie das in jenem Alter natürlich ist, in welchem junge Leute die ersten Schritte auf dem Lebensweg unternehmen, entdeckte jeder von ihnen an dem andern gewaltige Veränderungen und fand zu seiner größten Überraschung, daß der andere in gar manchen Punkten sich der gesellschaftlichen Umgebung angeglichen hatte, die der Schauplatz seiner ersten Schritte geworden war. Beide hatten sich seit ihrem letzten Zusammensein sehr verändert, und beide empfanden das Bedürfnis, sich möglichst schnell gegeneinander über die mit ihnen vorgegangenen Veränderungen auszusprechen.
»Ach, ihr verdammten Salonmenschen! Sehen die Kerle nicht so sauber und frisch aus, als ob sie von der Promenade kämen? Anders als wir armseligen Linienoffiziere!« sagte Rostow, auf seine mit Schmutz bespritzte Reithose weisend; seine Stimme hatte einen Baritonklang, der seinem Freund Boris neu war, und seine Gebärden beim Sprechen waren von der Art, wie sie wohl bei der Linie üblich sein mochten.
Die deutsche Hauswirtin steckte infolge von Rostows lautem Sprechen den Kopf durch die Tür.
»Wie steht’s? Ist sie hübsch?« fragte er, mit den Augen zwinkernd.
»Schrei doch nicht so! Du jagst ja den Leuten einen Schreck ein«, sagte Boris. »Heute hatte ich dich eigentlich noch gar nicht erwartet«, fügte er hinzu. »Ich habe meinen Brief erst gestern an dich abgeschickt, durch Vermittlung eines Bekannten von mir, des Fürsten Bolkonski, der bei Kutusow Adjutant ist, und hatte gar nicht geglaubt, daß er dir so schnell zugehen würde … Nun also, was machst du? Wie geht es dir? Bist du schon ins Gefecht gekommen?« fragte Boris.
Ohne zu antworten, schüttelte Rostow das Georgskreuz, das an dem Schnurwerk seiner Uniform hing, und zeigte auf seinen verbundenen Arm, wobei er Berg lächelnd anblickte.
»Wie du siehst«, sagte er.
»Na, so etwas! Ja, ja!« sagte Boris lächelnd. »Dafür haben wir einen ganz prächtigen Marsch gemacht. Du weißt ja, Seine Hoheit ist beständig mit unserm Regiment geritten, so daß wir alle erdenklichen Bequemlichkeiten und Vorteile hatten. Was es in Polen für Gastereien und Diners und Bälle gegeben hat, das läßt sich gar nicht alles erzählen. Und der Großfürst war gegen uns Offiziere alle überaus gnädig.«
Und die beiden Freunde erzählten einander, der eine von seinen Zechgelagen mit den anderen Husaren und von seinem Kriegsleben, der andere von den Annehmlichkeiten und Vorteilen des Dienstes unter dem Kommando hochgestellter Persönlichkeiten usw.
»O diese Garde!« rief Rostow. »Aber weißt du was, laß doch Wein holen.«
Boris runzelte die Stirn.
»Wenn du es durchaus willst«, erwiderte er.
Er trat an sein Bett, holte unter den reinen Kopfkissen eine Börse hervor und gab Befehl, Wein zu holen.
»Ja, und hier hast du das Geld und den Brief«, fügte er hinzu.
Rostow nahm den Brief, warf das Geld auf das Sofa, stützte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch und fing an zu lesen. Er las ein paar Zeilen und warf Berg einen ärgerlichen Blick zu. Als aber ihre Blicke einander trafen, verbarg Rostow sein Gesicht hinter dem Brief.
»Sie haben ja eine gehörige Menge Geld geschickt bekommen«, sagte Berg im Hinblick auf die schwere Börse, die das Sofapolster niederdrückte. »Unsereiner schlägt sich so mit seinem Gehalt durch. Ich kann Ihnen, was mich selbst anbelangt, sagen …«
»Wissen Sie was, mein liebster Berg«, sagte Rostow, »wenn Sie einmal einen Brief von zu Hause bekommen und mit einem guten Freund wieder zusammentreffen, den Sie über allerlei Dinge ausfragen möchten, und wenn ich dann dabei bin, dann werde ich sofort weggehen, um Sie nicht zu stören. Hören Sie, gehen Sie weg, ich bitte Sie darum, irgendwohin, irgendwohin … meinetwegen zum Teufel!« schrie er. Aber sofort faßte er ihn auch an der Schulter, sah ihm freundlich ins Gesicht und fügte in dem sichtlichen Bemühen, die Grobheit seiner Worte zu mildern, hinzu: »Sie kennen mich ja, seien Sie mir nicht böse, Liebster, Bester; ich rede frisch von der Leber weg, wie zu einem alten Bekannten.«
»Ach, ich bitte Sie, Graf, ich finde es sehr verständlich«, erwiderte Berg mit seiner gutturalen Aussprache und stand auf.
»Sie könnten ja zu den Wirtsleuten gehen; Sie sind ja von denen eingeladen, zu ihnen zu kommen«, fügte Boris hinzu.
Berg zog einen ganz saubern Rock, ohne das geringste Fleckchen oder Stäubchen, an, bürstete vor dem Spiegel das Haar an den Schläfen nach oben, so wie es der Kaiser Alexander Pawlowitsch trug, und nachdem er aus Rostows Blick die Überzeugung gewonnen hatte, daß sein feiner Rock gebührend beachtet war, verließ er mit einem angenehmen Lächeln das Zimmer.
»Ach, was bin ich für ein Rindvieh!« sagte Rostow, während er den Brief las, vor sich hin.
»Wieso denn?«
»Ach, was bin ich für ein Schurke, daß ich kein einziges Mal geschrieben und sie durch mein Schweigen so geängstigt habe. Ach, was bin ich für ein Schurke!« sagte er noch einmal und errötete plötzlich. »Na also, schicke doch deinen Gawriil nach Wein! Wollen eins trinken!« sagte er.
Den Briefen seiner Angehörigen lag ein Empfehlungsschreiben an den Fürsten Bagration bei, welches sich die alte Gräfin auf Anna Michailownas Rat durch Vermittlung von Bekannten verschafft und ihrem Sohn geschickt hatte, mit der Bitte, es an den Adressaten gelangen zu lassen und es nach Möglichkeit auszunutzen.
»So ein Unsinn! Dessen bedarf ich auch gerade!« rief Rostow und warf den Brief unter den Tisch.
»Warum wirfst du denn das da weg?« fragte Boris.
»Es ist ein Empfehlungsbrief. Hol das Ding der Teufel!«
»Wie kannst du so reden?« sagte Boris, der den Brief aufhob und die Adresse las. »Dieser Brief ist für dich außerordentlich wertvoll.«
»All so etwas hat für mich keinen Wert; ich will bei niemandem Adjutant werden.«
»Warum denn nicht?« fragte Boris.
»Das ist ein Lakaiendienst.«
»Du bist, wie ich sehe, immer noch derselbe Idealist«, sagte Boris kopfschüttelnd.
»Und du bist immer noch derselbe Diplomat. Na, aber darüber wollen wir jetzt nicht reden; wie geht es dir denn eigentlich?« fragte Rostow.
»Nun, das siehst du ja. Bis jetzt geht es mir ganz gut; aber ich muß dir gestehen, ich möchte sehr gern Adjutant werden und nicht im Frontdienst bleiben.«
»Warum?«
»Nun, wenn man einmal die militärische Laufbahn einschlägt, dann muß man sich doch bemühen, eine möglichst glänzende Karriere zu machen.«
»So, so, deshalb!« sagte Rostow, der augenscheinlich an etwas anderes dachte.
Er blickte seinen Freund unverwandt und fragend in die Augen; er suchte offenbar vergeblich eine Antwort auf eine ihm vorschwebende Frage.
Der alte Gawriil brachte Wein.
»Sollen wir jetzt nicht Alfons Karlowitsch wieder herrufen lassen?« fragte Boris. »Er kann dann mit dir trinken; ich für meine Person bin dazu nicht imstande.«
»Schön, schön, laß ihn rufen! Was ist dieser Deutsche denn eigentlich für ein Patron?« fragte Rostow mit geringschätzigem Lächeln.
»Er ist ein sehr, sehr guter, ehrenhafter und angenehmer Mensch«, antwortete Boris.
Rostow blickte ihm noch einmal forschend in die Augen und seufzte. Berg kehrte zurück, und bei der Flasche Wein wurde das Gespräch der drei Offiziere bald lebhafter. Die beiden Gardeoffiziere erzählten dem jungen Rostow von ihrem Marsch, wie man sie in Rußland, in Polen und im Ausland fetiert habe. Sie berichteten auch mancherlei über die Ausdrucksweise und das Benehmen ihres Kommandeurs, des Großfürsten, und erzählten Anekdoten von seiner Herzensgüte und seinem auffahrenden Wesen. Berg schwieg wie gewöhnlich, solange das Gespräch ihn nicht persönlich betraf; aber anläßlich der Geschichten von der Heftigkeit des Großfürsten erzählte er mit großem Behagen, wie er in Galizien das Glück gehabt habe, mit dem Großfürsten zu reden, als dieser an den Regimentern vorbeigeritten sei und sich über die Unregelmäßigkeit des Marschierens geärgert habe. Mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht erzählte Berg, wie der Großfürst, sehr zornig, zu ihm herangeritten sei und geschrien habe: »Ihr Arnauten!« (»Arnauten« war das Lieblingsschimpfwort des hohen Herrn, wenn er grimmig war) und den Kompaniechef vorgerufen habe.
»Können Sie es glauben, Graf, ich war nicht im geringsten erschrocken; denn ich wußte, daß ich nichts falsch gemacht hatte. Wissen Sie, Graf, ich kann, ohne mich zu rühmen, sagen, daß ich alle Regimentsbefehle auswendig kann und auch das Reglement so gut kenne wie das Vaterunser. Nachlässigkeiten kommen daher in meiner Kompanie nicht vor, Graf. Mein Gewissen konnte vollkommen ruhig sein. Ich trat also vor ihn hin.« (Berg stand auf und stellte schauspielerisch dar, wie er mit der Hand am Mützenschirm vor den Großfürsten hingetreten war. In der Tat hätte nicht leicht jemand in seinem Gesicht mehr Respekt und mehr Selbstzufriedenheit zum Ausdruck bringen können.) »Da hat er mich nun heruntergemacht, heruntergemacht, heruntergemacht; wie man zu sagen pflegt: in Grund und Boden hat er mich heruntergemacht; ›Arnauten‹ und ›nichtswürdige Kerle‹ und ›nach Sibirien‹, das prasselte nur so«, erzählte Berg mit schlauem Lächeln. »Aber ich wußte, daß ich nichts falsch gemacht hatte, und darum schwieg ich; tat ich daran nicht ganz recht, Graf? ›Bist du stumm? Was?‹ schrie er. Ich schwieg immer noch. Und was meinen Sie, Graf? Am andern Tag war die Sache im Tagesbefehl überhaupt nicht erwähnt; so wertvoll ist es, wenn man sich nicht aus der Fassung bringen läßt. Ja, so ist es, Graf«, schloß Berg, rauchte seine Pfeife an und blies Rauchringe in die Luft.
»Ja, das haben Sie vorzüglich gemacht«, antwortete Rostow lächelnd.
Aber Boris, der merkte, daß Rostow vorhatte, sich über Berg lustig zu machen, lenkte geschickt das Gespräch auf einen andern Gegenstand. Er bat Rostow, zu erzählen, wie und wo er verwundet worden sei. Diese Aufforderung war Rostow willkommen, und so begann er denn zu erzählen und geriet während der Erzählung immer mehr in Eifer. Er erzählte seinen Zuhörern von dem Kampf bei Schöngrabern in derselben Weise, in welcher Leute, die an Kämpfen teilgenommen haben, gewöhnlich von diesen Kämpfen erzählen, das heißt so, wie sie wünschen würden, daß die Sache gewesen wäre, so, wie sie es von andern Erzählern gehört haben, so, wie es in der Erzählung sich schön ausnimmt, aber ganz und gar nicht so, wie es sich wirklich zugetragen hat. Rostow war ein wahrheitsliebender junger Mann und hätte um keinen Preis absichtlich eine Unwahrheit gesagt. Er begann seine Erzählung mit der Absicht, alles genau so darzustellen, wie es geschehen war; aber unmerklich, unabsichtlich und unvermeidlich geriet er in eine unwahre Darstellung hinein. Hätte er diesen Zuhörern, die, wie er selbst, schon unzählige Male Schilderungen von Attacken gehört und sich danach eine bestimmte Vorstellung von dem Wesen einer Attacke im Kopf zurechtgemacht hatten und nun eine dieser Vorstellung genau entsprechende Erzählung von ihm erwarteten, hätte er denen die Wahrheit gesagt, so hätten sie ihm entweder nicht geglaubt, oder sie hätten, was noch schlimmer gewesen wäre, gedacht, Rostow sei selbst schuld daran gewesen, daß er nicht dasselbe erlebt hatte, was Erzähler von Kavallerieattacken sonst gewöhnlich erlebt haben. Er durfte ihnen nicht einfach erzählen, daß sie alle Trab geritten waren, und daß er vom Pferd gefallen war, sich den Arm gequetscht hatte und dann aus Leibeskräften von den Franzosen weg in den Wald gelaufen war. Außerdem hätte er, um einen wirklich wahrheitsgemäßen Bericht zu liefern, sich mit Anstrengung dazu zwingen müssen, nur das tatsächlich Geschehene zu erzählen. Die Warheit zu erzählen ist sehr schwer, und junge Leute sind dessen selten fähig. Seine Zuhörer erwarteten von ihm eine Erzählung, wie eine glühende Kampflust ihn gepackt habe, wie er, kaum von sich selbst wissend, einem Sturmwind gleich, auf das Karree losgeflogen sei, wie er in dasselbe hineingebrochen sei und nach rechts und links dreingehauen habe, wie sein Säbel Menschenfleisch gekostet habe, und wie er selbst endlich erschöpft vom Pferd gesunken sei, und mehr dergleichen. Und so erzählte er ihnen denn lauter solche Dinge.
Mitten in seiner Erzählung, in dem Augenblick, als er gerade sagte: »Du kannst dir gar keine Vorstellung davon machen, was für ein seltsames Gefühl rasender Wut man im Augenblick einer Attacke empfindet«, trat Fürst Andrei Bolkonski ins Zimmer, welchen Boris erwartet hatte. Da Fürst Andrei es liebte, mit jungen Leuten gönnerhaft zu verkehren, und sich geschmeichelt fühlte, wenn sich jemand an ihn mit der Bitte um seine Protektion wandte, und da er gegen Boris freundlich gesinnt war, der es tags zuvor verstanden hatte, ihm zu gefallen, so war er geneigt, den Wunsch des jungen Mannes zu erfüllen. Er war jetzt gerade mit Schriftstücken von Kutusow zum Thronfolger geschickt worden und kam zu dem jungen Mann mit heran, in der Hoffnung, ihn allein zu treffen. Als er ins Zimmer trat und einen Husaren von der Linie erblickte, der Kriegsabenteuer erzählte (eine Sorte von Menschen, die Fürst Andrei nicht ausstehen konnte), lächelte er Boris freundlich zu, sah Rostow stirnrunzelnd mit halb zugekniffenen Augen an und ließ sich nach einer leichten Verbeugung müde und lässig auf das Sofa nieder. Er fühlte sich unbehaglich, weil er in schlechte Gesellschaft hineingeraten zu sein glaubte. Rostow, der dies merkte, wurde dunkelrot; indes nahm er sich das nicht weiter zu Herzen, da es ja ein fremder Mensch war. Aber als er einen Blick auf Boris warf, sah er, daß auch dieser sich des Husaren von der Linie gewissermaßen schämte. Trotz des unangenehm spöttischen Tones des Fürsten Andrei, trotz der starken Geringschätzung, die Rostow von seinem Standpunkt als Linienoffizier gegen alle diese Herren Adjutanten vom Stab hegte, zu denen offenbar auch der soeben Eingetretene gehörte, fühlte sich Rostow doch verlegen, errötete und schwieg. Boris erkundigte sich, was man beim Stab Neues wisse, und was, wenn es nicht indiskret sei, danach zu fragen, über unsere Pläne verlaute.
»Wahrscheinlich werden wir vorrücken«, antwortete Bolkonski, der augenscheinlich in Gegenwart Fremder nicht mehr sagen mochte.
Berg benutzte die Gelegenheit, um mit besonderer Höflichkeit zu fragen, ob, wie das Gerücht gehe, die Kompaniechefs bei der Linie künftig doppelte Furagegelder bekommen würden. Hierauf antwortete Fürst Andrei lächelnd, in so wichtige Staatsangelegenheiten sei er nicht eingeweiht, und Berg lachte fröhlich.
»Über Ihre Angelegenheit«, wandte sich Fürst Andrei wieder an Boris, »reden wir ein andermal« (er blickte zu Rostow hin). »Kommen Sie nach der Truppenschau zu mir; wir werden alles tun, was in unsern Kräften steht.«
Er sah sich rings im Zimmer um und wandte sich nun auch an Rostow; er würdigte dessen kindische, unbezwingbare Verlegenheit, die in Ingrimm überging, keiner Beachtung und sagte:
»Sie erzählten ja wohl gerade von dem Kampf bei Schöngrabern? Sind Sie dabeigewesen?«
»Ja, ich bin dabeigewesen«, erwiderte Rostow grimmig, als ob er dadurch den Adjutanten zu kränken beabsichtigte.
Bolkonski bemerkte die Stimmung des Husaren recht wohl, und sie kam ihm komisch vor. Ein leises, geringschätziges Lächeln spielte um seinen Mund.
»Über diesen Kampf hört man jetzt vielerlei Erzählungen«, sagte er.
»Ja, vielerlei Erzählungen«, antwortete Rostow mit erhobener Stimme und sah mit wütenden Blicken bald Boris, bald Bolkonski an, »ja, vielerlei Erzählungen; aber unsere Erzählungen, die Erzählungen derjenigen, die selbst im feindlichen Feuer gewesen sind, unsere Erzählungen sind zuverlässig, anders als die Erzählungen der jungen Helden vom Stab, welche Auszeichnungen einheimsen, ohne etwas getan zu haben.«
»Und zu denen gehöre Ihrer Ansicht nach auch ich?« fragte Fürst Andrei in ruhigem Ton und mit einem besonders freundlichen Lächeln.
Ein sonderbar gemischtes Gefühl, ein Gefühl der Erbitterung und zugleich der Hochachtung vor der ruhigen Sicherheit dieses Mannes wurde in Rostows Seele rege.
»Von Ihnen rede ich nicht«, sagte er. »Ich kenne Sie nicht und habe, offengestanden, auch gar nicht den Wunsch, Sie kennenzulernen. Ich rede im allgemeinen von den Offizieren beim Stab.«
»Nun, hören Sie einmal zu, was ich Ihnen sagen werde«, unterbrach ihn Fürst Andrei im Ton ruhiger Überlegenheit. »Sie wollen mich beleidigen, und ich gebe gern zu, daß das eine sehr leichte Sache ist, wenn Sie nicht die genügende Selbstachtung besitzen; aber Sie müssen selbst sagen, daß Zeit und Ort dazu sehr übel gewählt sind. In den nächsten Tagen werden wir alle bei einem großen, ernsteren Duell mitzuwirken haben; und außerdem kann doch Drubezkoi, der sagt, daß er ein alter Freund von Ihnen sei, nichts dafür, daß mein Gesicht das Unglück gehabt hat, Ihnen zu mißfallen. Übrigens«, sagte er, indem er aufstand, »kennen Sie ja meinen Namen und wissen, wo ich zu finden bin. Vergessen Sie aber nicht«, fügte er hinzu, »daß ich weder mich noch Sie irgendwie für beleidigt halte, und als der ältere von uns beiden würde ich Ihnen raten, in dieser Sache nichts weiteres zu tun. Also auf Freitag, nach der Truppenschau; ich erwarte Sie, Drubezkoi; auf Wiedersehen!« rief Fürst Andrei; den beiden andern Anwesenden machte er eine Verbeugung und verließ das Zimmer.
Dem jungen Rostow fiel erst, als der Fürst schon weg war, ein, was er ihm hätte antworten sollen. Und daß er nicht darauf gekommen war, ihm dies zu sagen, machte ihn noch zorniger. Er ließ sich sogleich sein Pferd bringen und ritt, nach einem trockenen Abschied von Boris, wieder nach seinem Quartier zurück. Sollte er morgen nach dem Hauptquartier reiten und diesen Maulhelden von Adjutanten fordern oder die Sache wirklich auf sich beruhen lassen? Diese Frage quälte ihn auf dem ganzen Heimweg. Bald dachte er ingrimmig daran, mit welcher Lust er die Angst dieses kleinen, schwächlichen, hochmütigen Menschen der Mündung seiner Pistole gegenüber beobachten werde, bald wurde er sich mit Erstaunen bewußt, daß er von allen Menschen, die er kannte, keinen so lebhaft zum Freund zu haben begehrte, wie diesen verhaßten Adjutanten.
VIII
Am Tage nach dem Wiedersehen zwischen Boris und Rostow fand die Truppenschau über die österreichischen und über die russischen Truppen statt, und zwar, die letzteren anlangend, sowohl über die frischen, soeben aus Rußland eingetroffenen als auch über diejenigen, die mit Kutusow aus dem Feldzug zurückgekehrt waren. Diese Truppenschau über die verbündete achtzigtausend Mann starke Armee wurde von beiden Kaisern abgehalten; dem russischen Kaiser stand der Thronfolger, dem österreichischen der Erzherzog zur Seite.
Vom frühen Morgen an rückten die Truppen, die sich mit peinlicher Sorgfalt gesäubert und geputzt hatten, heran und nahmen auf dem weiten Feld vor der Festung Aufstellung. Hier bewegten sich Tausende von Menschenbeinen und Bajonetten mit wehenden Fahnen heran, machten auf das Kommando der Offiziere halt, schwenkten ein, gingen um andere, ähnliche Infanteriemassen in anderen Uniformen herum und stellten sich in bestimmten Abständen voneinander auf; dort kam unter gleichmäßigem Getrappel der Pferdehufe und Klirren der Waffen die schmucke Kavallerie, in blauen, roten und grünen gestickten Uniformen, mit den noch bunteren Musikern an der Spitze, auf Rappen, Füchsen und Grauschimmeln; dort kroch in lang ausgedehntem Zug, unter dem metallischen Getön der auf ihren Lafetten zitternden, wohlgesäuberten, glänzenden Kanonen und mit dem Geruch ihrer Luntenstöcke die Artillerie in den Zwischenraum zwischen Infanterie und Kavallerie hinein und ordnete sich an den ihr angewiesenen Plätzen. Nicht nur die Generale in voller Paradeuniform, die dicken und dünnen Taillen soviel als nur irgend möglich zusammengeschnürt, die roten Hälse von hohen Kragen umschlossen, mit Schärpen und sämtlichen Orden, nicht nur die pomadisierten, geschniegelten Offiziere, sondern auch jeder Soldat mit dem frisch gewaschenen und rasierten Gesicht und den bis zur äußersten Grenze der Möglichkeit blankgeputzten Ausrüstungsstücken, ja jedes Pferd, so sorgsam behandelt, daß sein Fell wie Atlas schimmerte und in der feuchten Mähne ein Härchen neben dem andern lag: alle hatten sie das Gefühl, daß etwas Ernstes, Wichtiges, Feierliches vorgehen solle. Jeder General und jeder Soldat wurde sich seiner eigenen Unbedeutendheit bewußt, kam sich wie ein Sandkörnchen in diesem Meer von Menschen vor und hatte doch gleichzeitig das Gefühl seines eigenen Wertes, indem er sich sagte, daß er ein Teil dieses gewaltigen Ganzen sei.
Am frühen Morgen hatte diese angestrengte, eifrige Geschäftigkeit begonnen, und um zehn Uhr war alles so in Ordnung gekommen, wie es verlangt war. Alles stand auf dem gewaltigen Feld in Reih und Glied. Die ganze Armee war in drei Linien aufgestellt: vorn die Kavallerie, dahinter die Artillerie, noch weiter nach hinten die Infanterie. Zwischen je zwei Linien war eine Art von Straße.
Scharf unterschieden sich in dieser Armee voneinander drei Teile: erstens das Kutusowsche Heer (auf dessen rechtem Flügel in der vordersten Linie die Pawlograder standen), zweitens die soeben aus Rußland gekommenen Linien- und Garderegimenter, und drittens das österreichische Heer. Aber alle standen sie in denselben drei Linien und unter demselben Oberbefehl und in derselben Ordnung.
Wie ein Wind durch die Blätter fährt, so pflanzte sich durch die Menschenreihen ein aufgeregtes Flüstern fort: »Sie kommen, sie kommen!« Man hörte einzelne ängstliche Zurufe, und wie eine Welle ging durch die ganze Truppenmasse eine von den letzten Vorbereitungen hervorgerufene unruhige Bewegung.
Vorn, aus der Richtung von Olmütz her, wurde eine sich nähernde Reitergruppe sichtbar. Und gerade in diesem Augenblick lief, obwohl es sonst ein windstiller Tag war, ein leichter Windhauch über das Heer hin und ließ die Lanzenfähnchen flattern und die entrollten Fahnen ein wenig gegen ihre Stangen schlagen. Es war, als ob die Armee selbst durch diese leise Bewegung ihre Freude über das Herannahen der Kaiser zum Ausdruck bringen wolle. Eine einzelne Stimme rief: »Stillgestanden!« Dann wiederholten, wie Hähne in der Morgenfrühe, viele Stimmen an verschiedenen Stellen dasselbe Kommando. Und alles wurde still.
In der Totenstille hörte man nur das Trappeln von Pferden. Das waren die Kaiser mit ihrer Suite. Die Kaiser ritten zu dem einen Flügel hin, und es ertönten die Trompeten des ersten Kavallerieregiments, die den Generalmarsch bliesen. Es war, als ob da nicht die Trompeten bliesen, sondern als ob das Heer selbst, über die Annäherung der Kaiser erfreut, wie ein einziger Organismus diese Töne hervorbrächte. Durch diese Töne hindurch erscholl vernehmlich eine einzelne jugendliche, freundliche Stimme, die Stimme des Kaisers Alexander. Er sprach den üblichen Gruß, und das erste Regiment schrie: »Hurra!« so betäubend, langgedehnt und freudig, daß die Leute selbst über die gewaltige Zahl und Stärke der Masse, die sie bildeten, einen Schreck bekamen.
Rostow stand in den ersten Reihen des Kutusowschen Heeres, an welches der Kaiser zuerst heranritt, und war von denselben Empfindungen erfüllt wie jeder Mann dieses Heeres: von einem Gefühl der Selbstvergessenheit, von einem stolzen Machtbewußtsein und von einer leidenschaftlichen Begeisterung für den, welcher die Ursache dieser feierlichen Veranstaltung war.
Er fühlte, daß es nur eines einzigen Wortes aus dem Mund dieses Mannes bedurfte, und diese gewaltige Menschenmasse (auch er selbst, der, ein winziges Sandkorn, zu ihr gehörte) würde sich ins Feuer und ins Wasser stürzen, zu Verbrechen schreiten, in den Tod gehen oder die glorreichsten Taten vollbringen, und es kam ihn ein Zittern an, das Herz wollte ihm stillstehen angesichts dieses herannahenden Wortes.
»Hurra! Hurra! Hurra!« klang es donnernd aus zahllosen Kehlen, und ein Regiment nach dem andern empfing den Kaiser mit den Klängen des Generalmarsches; wieder »Hurra!« und Generalmarsch, und wieder »Hurra!« und »Hurra!«. Und diese Töne flossen, immer stärker anschwellend, zu einem betäubenden Getöse zusammen.
Jedes Regiment glich, solange der Kaiser noch nicht bis zu ihm gelangt war, in seiner Stummheit und Regungslosigkeit einem leblosen Körper; sowie aber der Kaiser sich ihm näherte, gewann es Leben und rief laut und kräftig seinen Gruß, indem es in den donnernden Ruf der ganzen Linie einstimmte, an der der Kaiser bereits entlanggeritten war. Bei dem furchtbaren, betäubenden Ton dieser Stimmen bewegten sich zwischen diesen Truppenmassen, die ohne sich zu regen wie versteinert in ihren Karrees dastanden, lässig, aber in symmetrischen Gruppen und vor allem frei und unbehindert die mehrere hundert Reiter zählende Suite und an ihrer Spitze zwei Männer: die beiden Kaiser. Auf diese beiden konzentrierte sich ungeteilt die leidenschaftliche, aber äußerlich beherrschte Aufmerksamkeit dieser ganzen Menschenmasse.
Dem schönen, jugendlichen Kaiser Alexander, in der Uniform der Chevaliergardisten, auf dem Kopf den Dreimaster mit aufgeschlagenen Krempen, mit seinem freundlichen Gesicht und der wohlklingenden, mäßig lauten Stimme, fiel von dieser allgemeinen Aufmerksamkeit der Löwenanteil zu.
Rostow stand nicht weit von der Regimentsmusik; mit seinen scharfen Augen hatte er den Kaiser schon von weitem erkannt und verfolgte sein Herankommen. Als sich der Kaiser bis auf zwanzig Schritt genähert hatte und Nikolai das schöne, jugendliche, glückstrahlende Gesicht des Herrschers deutlich in allen Einzelheiten erkennen konnte, da wurde in seiner Seele ein Gefühl der Rührung und der Begeisterung wach, wie er es bisher noch nie gekannt hatte. Alles an dem Kaiser schien ihm bezaubernd, jeder Gesichtszug, jede Bewegung.
Als der Kaiser vor die Front des Pawlograder Regiments gelangt war, hielt er an, sagte zu dem Kaiser von Österreich etwas auf französisch und lächelte.
Rostow, der dieses Lächeln sah, begann unwillkürlich selbst zu lächeln und fühlte, wie die Liebe zu seinem Kaiser in seinem Herzen noch stärker anschwoll. Gern hätte er seine Liebe zum Kaiser irgendwie zum Ausdruck gebracht. Er wußte, daß das ein Ding der Unmöglichkeit war, und hätte beinahe losgeweint. Der Kaiser rief den Regimentskommandeur vor und sagte zu ihm einige Worte.
»O Gott, wie würde mir zumute sein, wenn der Kaiser mich anredete!« dachte Rostow. »Ich würde sterben vor Glückseligkeit.«
Der Kaiser wandte sich auch an die Offiziere:
»Ihnen allen, meine Herren« (jedes Wort klang Rostow wie ein Ton vom Himmel), »danke ich von ganzem Herzen.«
Wie glücklich wäre Rostow gewesen, wenn er jetzt hätte für seinen Zaren sterben können.
»Sie haben Ihre Georgsfahnen verdient und werden sich ihrer auch künftig würdig zeigen.«
»Könnte ich nur für ihn sterben, für ihn sterben!« dachte Rostow.
Der Kaiser sagte noch etwas, was Rostow nicht deutlich verstand, und die Husaren schrien so kräftig: »Hurra!« als ob sie sich die Brust auseinandersprengen wollten.
Rostow schrie, sich auf den Sattel niederbeugend, gleichfalls aus voller Kraft mit und hätte sich mit diesem Schreien sogar gern Schaden getan, wenn er nur seine Begeisterung für den Kaiser so recht hätte dokumentieren können.
Der Kaiser hielt noch einige Sekunden vor der Front des Husarenregiments, wie wenn er über etwas, was er tun wollte, unschlüssig wäre.
»Wie kann der Kaiser unschlüssig sein?« dachte Rostow; aber dann erschien ihm sogar diese Unschlüssigkeit als etwas Majestätisches und Bezauberndes, wie eben alles, was der Kaiser tat.
Die Unentschlossenheit des Kaisers hatte nur einen Moment gedauert. Sein Fuß berührte mit der schmal zulaufenden Stiefelspitze, wie man sie damals trug, die Flanke der anglisierten braunen Stute, die er ritt; seine Hand im weißen Handschuh faßte die Zügel fester, und er entfernte sich, begleitet vom unordentlich wogenden Meer der Adjutanten. Weiter und weiter ritt er, bei andern Regimentern anhaltend, davon, und schließlich konnte Rostow nur noch seinen weißen Federbusch aus der Suite, die die Kaiser umgab, herauserkennen.
Unter den Herren in der Suite hatte Rostow auch Bolkonski bemerkt, der lässig und schlaff auf seinem Pferd saß. Es war ihm sein gestriger Streit mit dem Adjutanten eingefallen, und er legte sich nun die Frage vor, ob es angemessen sei, ihn zum Duell zu fordern oder nicht. »Natürlich ist es nicht angemessen«, war jetzt Rostows Anschauung. »Wie kann man an dergleichen denken und von dergleichen reden in einem Augenblick, wie der jetzige? In einem Augenblick, wo man von einem solchen Gefühl der Liebe, der Begeisterung und Selbstverleugnung erfüllt ist, was bedeuten da alle unsere Zänkereien und wechselseitigen Beleidigungen? Jetzt liebe ich alle Menschen und verzeihe allen Menschen«, dachte Rostow.
Nachdem der Kaiser fast bei allen Regimentern entlanggeritten war, zogen die Truppen bei ihm im Parademarsch vorüber, und Rostow ritt auf dem »Beduinen«, den er dem Rittmeister Denisow kürzlich abgekauft hatte, als Schließender seiner Eskadron, das heißt allein und dem Kaiser frei sichtbar.
Als er noch nicht ganz bis zum Kaiser gelangt war, gab Rostow, ein vorzüglicher Reiter, seinem »Beduinen« zweimal die Sporen und brachte ihn glücklich zu der wilden Trabart, die der »Beduine«, auf diese Weise gereizt, oft anschlug. Das Tier bog das schäumende Maul gegen die Brust, spreizte den Schweif ab und schien, indem es die Beine hoch hinaufwarf und graziös wechselte, in der Luft zu fliegen, ohne die Erde zu berühren; so kam der »Beduine«, der ebenfalls zu fühlen schien, daß der Blick des Kaisers auf ihm ruhte, vorzüglich vorbei.
Rostow selbst streckte die Beine nach hinten, zog den Bauch ein, und sich eins mit seinem Pferd fühlend, ritt er mit finsterem, aber glückseligem Gesicht »wie ein wahrer Satan«, nach Denisows Ausdruck, an dem Kaiser vorüber.
»Brave Burschen, die Pawlograder!« sagte der Kaiser.
»O Gott, o Gott, wie glücklich wäre ich, wenn er mir befehlen würde, mich jetzt auf der Stelle ins Feuer zu stürzen«, dachte Rostow.
Als die Truppenschau beendet war, traten die Offiziere, sowohl die neu angekommenen als auch die Kutusowschen, zu einzelnen Gruppen zusammen und unterhielten sich miteinander über Orden und Beförderungen, über die Österreicher und deren Uniformen und militärische Leistungen, über Bonaparte, und wie schlecht es ihm jetzt ergehen werde, namentlich wenn noch das Essensche Korps herankomme und Preußen auf unsere Seite trete.
Aber am häufigsten redeten sie in allen Gruppen vom Kaiser Alexander; sie machten einander von jedem seiner Worte, von jeder seiner Bewegungen Mitteilung und waren davon entzückt und begeistert.
Alle hatten nur einen Wunsch: unter Führung des Kaisers recht bald gegen den Feind vorzurücken. Unter dem persönlichen Kommando des Kaisers mußten sie ja siegen, wer auch immer ihnen gegenüberstand; so dachten nach der Truppenschau Rostow und die allermeisten Offiziere.
Alle glaubten nach der Truppenschau mit größerer Zuversicht an einen bevorstehenden Sieg, als sie es nach zwei gewonnenen Schlachten hätten tun können.
IX
Am Tag nach der Truppenschau legte Boris seine feinste Uniform an und ritt, von den besten Wünschen seines Kameraden Berg für guten Erfolg begleitet, nach Olmütz zu Bolkonski, in der Absicht, sich dessen wohlwollende Gesinnung zunutze zu machen und sich eine recht angenehme Stellung zu verschaffen, am liebsten eine Adjutantenstelle bei irgendeiner hochgestellten Persönlichkeit; denn eine solche Stelle erschien ihm als die verlockendste in der ganzen Armee. »Ja«, dachte er, »dieser Rostow, der von seinem Vater fortwährend Summen von vielen tausend Rubeln geschickt bekommt, der hat gut reden, daß er sich vor niemand bücken und niemandes Lakai werden wolle. Aber ich, der ich nichts besitze als meinen Kopf, muß eifrig für meine Karriere sorgen und darf günstige Gelegenheiten nicht ungenutzt lassen.«
In Olmütz traf er an diesem Tag den Fürsten Andrei nicht an. Aber der Anblick dieser Stadt, wo sich das Hauptquartier und das diplomatische Korps befanden, und wo die beiden Kaiser mit ihren Suiten, mit dem Hofstaat und mit den sonstigen ihnen nahestehenden Persönlichkeiten wohnten, ließ seinen Wunsch, auch zu dieser höheren Welt zu gehören, nur noch lebhafter und stärker werden.
Er kannte hier niemand, und trotz seiner eleganten Gardeuniform standen, wie es schien, alle diese hohen Herren, teils Hofleute, teils Militärs, die mit Federbüschen, Orden und breiten Ordensbändern in prächtigen Equipagen eilig durch die Straßen rollten, so unermeßlich hoch über ihm, dem simplen Gardefähnrich, daß sie sich um seine Existenz nicht kümmern mochten, ja auch wohl gar nicht konnten. In dem Quartier des Oberkommandierenden Kutusow, wo er nach Bolkonski fragte, sahen ihn alle diese Adjutanten und sogar die Burschen so an, als ob sie ihm zu verstehen geben wollten, solche Offiziere wie er trieben sich hier massenhaft umher und seien ihnen schon zum Überdruß geworden. Trotzdem, oder vielmehr gerade deswegen, ritt er am folgenden Tag, dem 15., nach dem Mittagessen wieder nach Olmütz, ging in das von Kutusow bewohnte Haus und fragte nach Bolkonski. Fürst Andrei war zu Hause, und Boris wurde in einen großen Saal geführt, der wahrscheinlich früher als Tanzsaal gedient hatte, jetzt aber fünf Betten und verschiedene andere Möbel enthielt: einen Tisch, Stühle und ein Klavier. Ein Adjutant saß nicht weit von der Tür in einem persischen Schlafrock am Tisch und schrieb. Ein anderer, ein dicker Mensch mit rotem Gesicht (es war Neswizki) lag auf einem Bett, hatte die Hände unter den Kopf gelegt und unterhielt sich lachend mit einem andern neben ihm sitzenden Offizier. Ein dritter spielte auf dem Klavier einen Wiener Walzer, und ein vierter lag auf dem Klavier und sang dazu. Bolkonski war nicht anwesend. Obwohl diese Herren den eintretenden Boris bemerkten, sah sich doch keiner von ihnen veranlaßt, seine Haltung zu ändern oder seine Beschäftigung zu unterbrechen. Der, welcher schrieb und an den sich Boris wandte, drehte sich ärgerlich nach ihm um und sagte ihm, Bolkonski habe Dejour; wenn er ihn sprechen wolle, so möge er durch die Tür links in das Wartezimmer gehen. Boris bedankte sich und ging in das Wartezimmer. In dem Wartezimmer befanden sich etwa zehn Offiziere, darunter auch einige Generale.
In dem Augenblick, als Boris eintrat, hörte Fürst Andrei gerade, die Augen geringschätzig halb zukneifend (mit jener eigenartigen Miene höflicher Müdigkeit, welche deutlich sagt: »Wenn es nicht meine Pflicht wäre, würde ich keinen Augenblick länger mit Ihnen reden«), einen alten, mit Orden geschmückten russischen General an, der in strammer Haltung, beinah auf den Fußspitzen, mit dem Ausdruck einer sonst nur bei den untersten Rangstufen üblichen Unterwürfigkeit auf dem blauroten Gesicht ihm etwas meldete.
»Sehr schön, haben Sie die Güte ein wenig zu warten«, sagte er zu dem General auf russisch, aber mit jener französischen Klangfärbung, deren er sich zu bedienen pflegte, wenn er geringschätzig sprechen wollte. Nun bemerkte er Boris, nickte ihm zu und ging ihm freundlich lächelnd entgegen, ohne sich weiter um den General zu kümmern, der ihm nachlief und ihn flehentlich bat, ihm noch einen Augenblick Gehör zu schenken.
Bei diesem Anblick wurde sich Boris völlig klar über etwas, was er auch schon früher vermutet hatte, daß nämlich in der Armee außer derjenigen Subordination und Disziplin, von der das Reglement handelte, und die im Regiment bekannt war, und die auch er kannte, noch eine andere, wichtigere Subordination existierte, diejenige Subordination, die diesen General mit der festumschnürten Taille und dem blauroten Gesicht zwang, respektvoll so lange zu warten, wie der Hauptmann Fürst Andrei größeres Vergnügen daran fand, sich mit dem Fähnrich Drubezkoi zu unterhalten. Mit größerer Entschiedenheit als je vorher faßte Boris jetzt den Entschluß, künftighin nicht auf der Grundlage jener im Reglement festgesetzten Subordination, sondern auf der Grundlage dieser ungeschriebenen zu dienen. Er war sich jetzt bewußt, daß er, einzig und allein infolge der Empfehlung an den Fürsten Andrei, bereits auf einmal höher stand als ein General, der unter andern Umständen, nämlich bei der Truppe, ihn, den Gardefähnrich, hätte geradezu vernichten können.
Fürst Andrei trat zu ihm und ergriff seine Hand.
»Es tut mir außerordentlich leid, daß Sie mich gestern verfehlt haben. Ich habe den ganzen Tag über mit den Deutschen meine Plackerei gehabt. Ich war mit Weyrother hingeritten, um die Disposition nachzuprüfen. Na, und wenn die Deutschen erst mit ihrer Gründlichkeit anfangen, da ist kein Ende zu finden.«
Boris lächelte, als hätte er Verständnis für das, was Fürst Andrei wie etwas allgemein Bekanntes andeutete. Aber er hörte den Namen Weyrother und sogar das Wort Disposition in diesem Sinn zum erstenmal.
»Nun also, mein Lieber, haben Sie noch den Wunsch, Adjutant zu werden? Ich habe diese Zeit her wiederholt an Sie gedacht.«
»Ja, ich dachte den Oberkommandierenden darum zu bitten«, antwortete Boris mit unwillkürlichem Erröten. »Fürst Kuragin hat an ihn einen Empfehlungsbrief für mich geschrieben. Ich wollte nur deswegen darum bitten«, fügte er wie zur Entschuldigung hinzu, »weil ich fürchte, daß die Garde nicht ins Gefecht kommt.«
»Schön, schön! Wir wollen über all das noch genauer reden«, sagte Fürst Andrei. »Erlauben Sie nur, daß ich zuerst diesen Herrn anmelde; dann stehe ich vollständig zu Ihren Diensten.«
Während Fürst Andrei zu Kutusow hineinging, um den General mit dem blauroten Gesicht anzumelden, fixierte dieser General, der offenbar Boris’ Ansicht über die Vorzüge der ungeschriebenen Subordination nicht teilte, den dreisten Fähnrich, der ihn gehindert hatte, sein Gespräch mit dem Adjutanten zu Ende zu bringen, so hartnäckig, daß es diesem unbehaglich wurde. Er wandte sich ab und wartete ungeduldig auf des Fürsten Andrei Rückkehr aus dem Arbeitszimmer des Oberkommandierenden.
»Sehen Sie, mein Lieber, ich habe über Ihre Angelegenheit nachgedacht«, sagte Fürst Andrei, nachdem sie in den großen Saal mit dem Klavier gegangen waren. »Daß Sie zum Oberkommandierenden gehen, hat keinen Zweck; er wird Ihnen einen Haufen Liebenswürdigkeiten sagen, wird Sie zum Diner einladen« (»Das wäre noch nicht so übel für mein künftiges Dienen auf der Grundlage jener Subordination«, dachte Boris); »aber weiter wird dabei für Sie nichts herauskommen; wir Adjutanten und Ordonnanzoffiziere werden bald ein ganzes Bataillon sein. Aber wir wollen die Sache so machen: der Generaladjutant Fürst Dolgorukow, ein ganz vortrefflicher Mensch, ist ein guter Freund von mir. Nun wissen Sie das zwar vielleicht noch nicht, aber die Sache ist tatsächlich die, daß jetzt Kutusow mit seinem Stab und wir alle nichts mehr zu sagen haben; alle Fäden laufen jetzt beim Kaiser zusammen. Also da wollen wir uns an Dolgorukow wenden; ich muß sowieso zu ihm hingehen und habe mit ihm schon von Ihnen gesprochen; wir wollen sehen, ob er eine Möglichkeit findet, Sie bei sich oder irgendwo dort in der Nähe der Sonne unterzubringen.«
Fürst Andrei wurde immer besonders lebhaft und rege, wenn er in die Lage kam, einem jungen Mann Anleitung zu geben und ihm in der gesellschaftlichen Sphäre zu Erfolg zu verhelfen. Unter dem Vorwand, für einen andern eine Hilfe zu erbitten, die er für sich selbst aus Stolz niemals angenommen hätte, trat er gern in nähere Berührung mit jenen Kreisen, von denen aller Erfolg abhing, und die auf ihn eine starke Anziehungskraft ausübten. So nahm er sich denn des jungen Boris mit großem Vergnügen an und ging mit ihm zum Fürsten Dolgorukow.
Es war schon spätabends, als sie in das Olmützer Schloß hineingingen, wo die Kaiser und ihr Gefolge wohnten. An ebendiesem Tag hatte ein Kriegsrat stattgefunden, an welchem sämtliche Mitglieder des Hofkriegsrates und beide Kaiser teilgenommen hatten. Bei dieser Beratung war gegen die Ansicht zweier bejahrter Herren, nämlich Kutusows und des Fürsten Schwarzenberg, beschlossen worden, unverzüglich anzugreifen und Bonaparte eine Hauptschlacht zu liefern. Als Fürst Andrei, von Boris begleitet, in das Schloß kam, um den Fürsten Dolgorukow aufzusuchen, war der Kriegsrat soeben beendet. Jedermann im Hauptquartier stand noch unter dem starken Eindruck der heutigen, für die Partei der Jüngeren siegreichen Sitzung. Die Stimmen der Zauderer, welche geraten hatten, noch einige Zeit mit dem Angriff zu warten, waren so einmütig übertönt und ihre Gründe durch so unzweifelhafte Beweise von der Vorteilhaftigkeit eines Angriffs widerlegt worden, daß das, worüber im Kriegsrat gehandelt war, nämlich die bevorstehende Schlacht und der zweifellose Sieg, nicht mehr als etwas der Zukunft, sondern als etwas der Vergangenheit Angehöriges erschien. Alle Vorteile waren auf unserer Seite: gewaltige Streitkräfte, denen die Napoleons unzweifelhaft nicht gleichkamen, waren an einem Punkt zusammengezogen; die Truppen waren durch die Anwesenheit der Kaiser begeistert und brannten vor Kampfbegierde; der strategische Punkt, auf dem gekämpft werden sollte, war dem österreichischen General Weyrother, der die Truppen führte, bis in die kleinsten Einzelheiten bekannt (es erschien als ein glücklicher Zufall, daß die österreichischen Truppen im vorigen Jahr ein Manöver gerade auf dem Terrain abgehalten hatten, auf dem jetzt die Schlacht mit den Franzosen stattfinden sollte), und genaue Karten des Terrains waren an alle Beteiligten verteilt; und Bonaparte, der sich offenbar schwach fühlte, unternahm nichts.
Dolgorukow, einer der eifrigsten Vertreter der Ansicht, daß man angreifen müsse, war soeben aus der Sitzung zurückgekommen, ermüdet und erschöpft, aber doch lebhaft erregt und stolz auf den errungenen Sieg. Fürst Andrei stellte ihm den von ihm protegierten Offizier vor; aber Fürst Dolgorukow drückte diesem zwar höflich und mit Wärme die Hand, redete ihn jedoch nicht an; es drängte ihn offenbar unwiderstehlich, die Gedanken auszusprechen, die ihn in diesem Augenblick stärker als alles andere beschäftigten. Er wandte sich an den Fürsten Andrei und sagte auf französisch mit Lebhaftigkeit und in abgerissener Redeweise:
»Nun, mein Lieber, was haben wir für einen Kampf zu bestehen gehabt! Gott gebe nur, daß derjenige Kampf, der die Folge davon sein wird, ebenso siegreich ausgehe. Aber, mein Lieber, ich muß bekennen, daß ich den Österreichern, und namentlich diesem Weyrother, nicht das Wasser reiche. Welch eine Akkuratesse, welch eine Durchdringung der Einzelheiten, welch eine Kenntnis der Örtlichkeit, welch ein Vorhersehen aller Möglichkeiten, aller Umstände, aller, auch der kleinsten Details! Nein, mein Lieber, günstigere Umstände als die, in denen wir uns jetzt befinden, könnte man sich mit aller Mühe nicht ausdenken. Eine Vereinigung österreichischer Sorgsamkeit und russischer Tapferkeit – was will man mehr?«
»Also ist der Angriff definitiv beschlossen?« fragte Bolkonski.
»Und wissen Sie, mein Lieber, mir scheint, daß Bonaparte tatsächlich mit seinem Latein am Ende ist. Sie wissen, daß der Kaiser heute einen Brief von ihm bekommen hat.« Dolgorukow lächelte bedeutsam.
»Ei, so etwas! Nun, was schreibt er denn?« fragte Bolkonski.
»Was kann er denn schreiben? Wischiwaschi, alles nur mit der Absicht, Zeit zu gewinnen. Ich sage Ihnen: wir haben ihn vollständig in der Hand; das ist sicher! Aber was das Amüsanteste ist«, fuhr er fort und lachte dabei gutmütig, »wir konnten absolut keine angemessene Fassung der Adresse für die Antwort finden. Wenn man nicht: ›An den Konsul‹ adressieren wollte und selbstverständlich auch nicht: ›An den Kaiser‹, so empfahl es sich, wie mir schien: ›An den General Bonaparte‹ zu schreiben.«
»Aber ob man ihm den Kaisertitel vorenthält oder ihn so schlechtweg als General Bonaparte bezeichnet, dazwischen ist doch ein großer Unterschied«, meinte Bolkonski.
»Das ist’s ja eben!« unterbrach ihn Dolgorukow schnell und lachte von neuem. »Sie kennen Bilibin; er ist ein sehr kluger Mensch; der schlug vor, zu adressieren: ›An den Usurpator und Feind des Menschengeschlechtes‹.«
Dolgorukow lachte vergnügt.
»Nichts Schlimmeres?« bemerkte Bolkonski.
»Aber dann hat Bilibin doch im Ernst einen passenden Titel für die Adresse gefunden. Er ist ein scharfsinniger, kluger Mensch.«
»Nun, welchen denn?«
»›An das Oberhaupt der französischen Regierung, au chef du gouvernement français‹«, sagte Fürst Dolgorukow ernst und mit Behagen. »Nicht wahr, das ist gut?«
»Ja, aber ihm wird es sehr mißfallen«, bemerkte Bolkonski.
»Oh, sehr, sehr! Mein Bruder kennt ihn; der hat in Paris mehrere Male bei ihm, dem jetzigen Kaiser, gespeist und hat mir gesagt, er habe nie in seinem Leben einen schlaueren, listigeren Diplomaten kennengelernt. Wissen Sie: eine Vereinigung französischer Gewandtheit und italienischer Verstellungskunst. Kennen Sie die Geschichte von Bonaparte und dem Grafen Markow? Graf Markow, das war der einzige, der mit ihm umzugehen wußte. Sie kennen die Geschichte von dem Taschentuch? Die ist allerliebst!«
Und nun erzählte der redselige Dolgorukow, indem er sich bald an Boris, bald an den Fürsten Andrei wandte, wie Bonaparte, um unsern Gesandten Markow auf die Probe zu stellen, vor ihm stehend absichtlich sein Taschentuch habe fallen lassen und ihn dann, doch wohl in der Erwartung eines Gefälligkeitsdienstes von seiten Markows, angesehen habe, und wie Markow sogleich sein eigenes Taschentuch habe daneben fallen lassen und das seinige aufgehoben habe, aber nicht das Tuch Bonapartes.
»Sehr nett«, sagte Bolkonski. »Aber was ich sagen wollte, Fürst, ich bin als Fürsprecher für diesen jungen Mann zu Ihnen gekommen. Bitte, sehen Sie zu, ob …«
Aber Fürst Andrei konnte seinen Satz nicht zu Ende sprechen, da ein Adjutant ins Zimmer trat und den Fürsten Dolgorukow zum Kaiser rief.
»Ach, wie ärgerlich!« sagte Dolgorukow, stand schnell auf und drückte dem Fürsten Andrei und Boris die Hand. »Sie wissen, daß ich mich sehr freue, für Sie und für diesen liebenswürdigen jungen Mann alles zu tun, was in meinen Kräften steht.« Er drückte Boris noch einmal die Hand mit dem Ausdruck gutmütiger Aufrichtigkeit und munterer Harmlosigkeit. »Aber Sie sehen … Ein andermal!«
Den jungen Fähnrich Boris regte der Gedanke auf, wie nah er sich in diesem Augenblick der höchsten Instanz befand. Hier fühlte er sich in Berührung mit jenen Triebfedern, von welchen alle jene gewaltigen Massen in Bewegung gesetzt wurden; wenn er dagegen bei seinem Regiment war, so hatte er die Empfindung, daß er nur ein kleiner, gehorsamer, unbedeutender Teil dieser Massen sei. Fürst Andrei und er traten nach dem Fürsten Dolgorukow ebenfalls auf den Korridor hinaus und begegneten dort einem Herrn, der aus derselben Tür zu dem Zimmer des Kaisers herauskam, in welche Dolgorukow hineinging. Er trug Zivil, war von kleiner Statur, noch jung und hatte ein kluges Gesicht, das durch den vorstehenden Unterkiefer einen strengen, scharfen Zug erhielt; aber dieser Zug entstellte sein Gesicht nicht, sondern ließ dasselbe vielmehr besonders lebhaft und ausdrucksfähig erscheinen. Dieser kleine Herr nickte dem Fürsten Dolgorukow wie einem guten Bekannten zu; den Fürsten Andrei sah er mit einem kalten Blick starr an, ging gerade auf ihn zu und erwartete offenbar, daß Fürst Andrei ihn grüßen oder ihm Platz machen werde. Fürst Andrei jedoch tat weder das eine noch das andere; er machte ein ärgerliches Gesicht, und der junge Mann wandte den Kopf weg und ging mehr nach der Seitenwand des Korridors zu an ihnen vorüber.
»Wer war das?« fragte Boris.
»Das ist einer von den einflußreichsten, aber mir unangenehmsten Menschen. Es ist der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Fürst Adam Czartoryski. Das sind die Leute«, sagte Bolkonski, während sie aus dem Schloß hinausgingen, mit einem Seufzer, den er nicht unterdrücken konnte, »das sind die Leute, die das Schicksal der Völker entscheiden.«
Am andern Tag setzten sich die Truppen in Marsch, und Boris fand vor der Schlacht bei Austerlitz keine Zeit mehr, den Fürsten Bolkonski oder den Fürsten Dolgorukow aufzusuchen, und blieb daher vorläufig noch im Ismaïler Regiment.
X
In der Morgenfrühe des 16. November brach Denisows Eskadron, in welcher Nikolai Rostow stand, und die zur Abteilung des Fürsten Bagration gehörte, aus ihrem Quartier auf. Es hieß, sie werde ins Gefecht kommen; aber nachdem sie, hinter anderen Kolonnen einherziehend, ungefähr eine Werst zurückgelegt hatte, erhielt sie Befehl, sich neben der Chaussee aufzustellen. Rostow sah, wie eine Kosakenabteilung an seiner Eskadron vorbei weiterzog, desgleichen die erste und zweite Eskadron seines Husarenregiments, und Infanteriebataillone und Artillerie, und wie die Generale Bagration und Dolgorukow mit ihren Adjutanten vorbeiritten. All die Furcht, der er an diesem Tag, ebenso wie früher, vor dem Gefecht unterworfen gewesen war, der ganze innere Kampf, mittels dessen er diese Furcht überwunden hatte, all seine Phantasien, in denen er sich ausgemalt hatte, wie er sich so recht husarenmäßig in diesem Gefecht auszeichnen wolle: das alles war nun vergebens gewesen. Seine Eskadron wurde in der Reserve zurückbehalten, und Nikolai Rostow verbrachte diesen Tag in recht langweiliger, verdrießlicher Weise. Zwischen acht und neun Uhr vormittags hörte er von vorn her Schießen und Hurrarufen, sah, wie Verwundete zurücktransportiert wurden (es waren ihrer nicht viele), und schließlich, wie inmitten einer Kosakeneskadron eine ganze Abteilung gefangener französischer Kavalleristen vorbeigeführt wurde. Offenbar war das Gefecht beendet, und es war augenscheinlich nicht groß, aber glücklich gewesen. Die auf dem Rückmarsch vorbeikommenden Soldaten und Offiziere erzählten von einem glänzenden Sieg, von der Einnahme der Stadt Wischau und von der Gefangennahme einer ganzen französischen Eskadron. Nach einem starken Nachtfrost war es ein klarer, sonniger Tag geworden; zu dem heiteren Glanz des Herbsttages kam nun noch die Siegesnachricht, die man nicht nur aus den Erzählungen der Teilnehmer am Kampf erfuhr, sondern auch durch die frohen Mienen der Soldaten, Offiziere, Generale und der nach der einen und nach der andern Seite vorbeisprengenden Adjutanten bestätigt fand. Um so schmerzlicher zog sich Nikolais Herz zusammen, der die ganze Furcht, die bei ihm immer einem Kampf vorherging, vergeblich durchgemacht hatte und diesen heiteren Tag in Untätigkeit hatte verbringen müssen.
»Komm her, Rostow, wir wollen unsern Kummer vertrinken!« rief Denisow, der sich am Rand der Chaussee bei einer Flasche und einem kalten Imbiß niedergelassen hatte.
Die Offiziere versammelten sich im Kreis um Denisows Proviantkorb, aßen und redeten miteinander.
»Da bringen sie noch einen!« sagte einer von ihnen und zeigte auf einen gefangenen französischen Dragoner, den zwei Kosaken zu Fuß vorbeitransportierten.
Der eine von ihnen führte das dem Gefangenen abgenommene große, schöne französische Pferd am Zügel.
»Verkaufe doch das Pferd!« rief Denisow dem Kosaken zu.
»Gern, Euer Wohlgeboren …«
Die Offiziere standen auf und umringten die Kosaken und den gefangenen Franzosen. Der französische Dragoner war ein junger Bursche, ein Elsässer, der Französisch mit deutscher Färbung sprach. Er war vor Aufregung ganz außer Atem und hatte ein gerötetes Gesicht, und als er die Offiziere Französisch sprechen hörte, redete er sie schnell an, indem er sich bald an diesen, bald an jenen wendete. Er sagte, er würde sich nicht haben gefangennehmen lassen; daß er gefangengenommen sei, daran sei nicht er schuld, sondern sein Korporal, der ihn weggeschickt habe, um die Pferdedecken zu holen, obgleich er ihm gesagt habe, daß die Russen schon da seien. Alle Augenblicke sagte er dazwischen: »Ich bitte nur, daß meinem lieben, guten Pferd nichts zuleide getan wird«, und streichelte sein Pferd. Es war augenscheinlich, daß er sich nicht recht klar darüber war, wo er sich eigentlich befand. Bald entschuldigte er sich, daß er sich hatte gefangennehmen lassen, bald hatte er die Vorstellung, daß er seine Vorgesetzten vor sich habe, und suchte seine soldatische Pünktlichkeit und seinen Diensteifer ins rechte Licht zu setzen. So brachte er die eigentümliche Atmosphäre des französischen Heeres, die den Russen so fremd war, in ihrer ganzen Frische mit sich in unsere Vorhut hinein.
Die Kosaken verkauften das Pferd für zwei Dukaten, und Rostow, der jetzt, wo er Geld bekommen hatte, der reichste von den Offizieren war, kaufte es.
»Ich bitte nur, daß meinem lieben, guten Pferd nichts zuleide getan wird«, sagte der Elsässer gutherzig zu Rostow, als das Pferd einem Husaren übergeben wurde.
Lächelnd beruhigte Rostow den Dragoner darüber und gab ihm etwas Geld.
»Allö! Allö!« sagte der eine Kosak und berührte den Gefangenen am Arm, damit er weiterginge.
»Der Kaiser! Der Kaiser!« wurde plötzlich unter den Husaren gerufen.
Alles lief und hastete, und Rostow erblickte von hinten her auf dem Weg einige sich nähernde Reiter mit weißen Federbüschen. In einem Augenblick waren alle auf ihren Plätzen und warteten.
Rostow hatte gar kein Bewußtsein und Gefühl davon, wie er an seinen Platz lief und sich auf sein Pferd setzte. Verschwunden war augenblicklich sein schmerzliches Bedauern darüber, daß er nicht hatte am Kampf teilnehmen können, verschwunden die Alltagsstimmung, in der er sich inmitten der ihm schon so langweilig gewordenen Gesichter befunden hatte, verschwunden sofort jeder Gedanke an seine eigene Person: sein Herz war ganz erfüllt von der Glücksempfindung, die die Nähe des Kaisers in ihm hervorrief. Schon allein durch diese Nähe fühlte er sich für den Verlust des heutigen Tages entschädigt. Er war glücklich wie ein Verliebter, dem die ersehnte Begegnung endlich zuteil wird. Er wagte nicht, in Reih und Glied den Kopf zu drehen; aber er empfand mit dem Instinkt der Begeisterung die Annäherung des Kaisers. Und zwar merkte er das nicht nur an dem Klang der Hufschläge der sich nähernden Kavalkade, sondern er fühlte es daran, daß, je näher sie herankam, um so heller, freudiger, bedeutsamer, festtäglicher alles um ihn herum wurde. Immer mehr und mehr näherte sich ihm diese Sonne, Strahlen milden, majestätischen Lichtes um sich verbreitend, und nun fühlte er sich schon von diesen Strahlen umflossen, er hörte die Stimme des Kaisers, diese freundliche, ruhige Stimme, die zugleich so majestätisch und so schlicht klang. Eine Totenstille war eingetreten, wie es auch nach Rostows Empfindung gar nicht anders sein konnte, und in dieser Stille ertönte die Stimme des Kaisers.
»Die Pawlograder Husaren?« sagte er im Ton der Frage.
»Die Reserve, Euer Majestät«, antwortete eine andere Stimme, eine recht menschenartige Stimme nach jener einer höheren Welt angehörigen Stimme, die gesagt hatte: »Die Pawlograder Husaren?«
Der Kaiser war nun bis zu Rostow gelangt und hielt an. Das Gesicht Alexanders war noch schöner als bei der Truppenschau vor drei Tagen. Es glänzte von einer solchen Heiterkeit und Jugendfrische, von einer so unschuldsvollen Jugendfrische, daß es an die ausgelassene Munterkeit eines vierzehnjährigen Knaben erinnerte, und doch war es dabei zugleich das Antlitz eines majestätischen Herrschers. Während der Kaiser einen musternden Blick über die Eskadron gleiten ließ, begegneten seine Augen zufällig den Augen Rostows und blieben nicht länger als zwei Sekunden auf ihnen haften. Ob der Kaiser erkannte, was in Rostows Seele vorging, war wohl schwer zu sagen (Rostow war der Meinung, daß der Kaiser alles erkenne); aber er blickte ihm zwei Sekunden lang mit seinen blauen Augen, denen ein mildes, sanftes Licht entströmte, ins Gesicht. Dann zog er auf einmal die Brauen in die Höhe, stieß mit einer scharfen Bewegung des linken Fußes das Pferd an und galoppierte weiter in der Richtung nach vorn.
Der junge Kaiser hatte dem Wunsch, bei dem Kampf zugegen zu sein, nicht widerstehen können, hatte trotz aller Gegenvorstellungen seiner Umgebung um zwölf Uhr die dritte Kolonne, die er bis dahin begleitet hatte, verlassen und war in scharfer Gangart zur Vorhut geritten. Aber noch ehe er zu den Husaren gelangt war, waren ihm einige Adjutanten mit der Nachricht von dem glücklichen Ausgang des Kampfes entgegengekommen.
Das Treffen, das eigentlich nur darin bestanden hatte, daß eine französische Eskadron besiegt worden war, wurde als ein glänzender Sieg über die Franzosen dargestellt, und daher waren der Kaiser und die ganze Armee (namentlich solange sich der Pulverrauch noch nicht von dem Kampfplatz verzogen hatte) des Glaubens, die Franzosen seien besiegt und auf einem unfreiwilligen Rückzug begriffen. Einige Minuten, nachdem der Kaiser vorbeigeritten war, wurde auch diese Eskadron der Pawlograder nach vorn beordert. In dem kleinen deutschen Städtchen Wischau sah Rostow den Kaiser noch einmal. Auf dem Marktplatz, wo vor der Ankunft des Kaisers ein ziemlich heftiges Schießen stattgefunden hatte, lagen einige Gefallene und Verwundete, die man noch nicht Zeit gefunden hatte wegzuschaffen. Der Kaiser, von seiner militärischen und nichtmilitärischen Suite umgeben, ritt ein anderes Pferd als bei der Truppenschau, eine anglisierte Fuchsstute; sich zur Seite herabbiegend, hielt er mit einer anmutigen Bewegung seine goldene Lorgnette vor die Augen und betrachtete durch sie einen Soldaten, der mit dem Gesicht nach unten, ohne Tschako, mit blutigem Kopf dalag. Der verwundete Soldat sah so unsauber, plump und garstig aus, daß sich Rostow von dessen Anwesenheit in nächster Nähe des Kaisers peinlich berührt fühlte. Rostow sah, daß die herabgebeugten Schultern des Kaisers wie von einem durch sie hinlaufenden Schauder zusammenzuckten; er sah, daß der linke Fuß des Kaisers krampfhaft mit dem Sporn das Pferd in die Seite stieß, daß aber das dressierte Tier sich gleichmütig umsah und sich nicht von der Stelle rührte. Ein Adjutant stieg vom Pferd, faßte den Soldaten unter die Arme und schickte sich an, ihn auf eine schnell herbeigebrachte Tragbahre zu legen.
»Sachte, sachte, geht es denn nicht sachter?« sagte der Kaiser, der offenbar mehr litt als der sterbende Soldat, und ritt weiter.
Rostow sah, daß dem Kaiser die Tränen in den Augen standen, und hörte, wie er im Weiterreiten auf französisch zu Czartoryski sagte:
»Der Krieg ist doch etwas Furchtbares, etwas ganz Furchtbares!«
Die zur Vorhut gehörigen Truppen lagerten sich vor Wischau, gegenüber der feindlichen Vorpostenkette, die während dieses ganzen Tages stets vor den Unsrigen zurückgewichen war, sobald diese auch nur einige wenige Schüsse abgegeben hatten. Der Vorhut wurde der Dank des Kaisers ausgesprochen, es wurden ihr Belohnungen in Aussicht gestellt, und an die Mannschaften wurden doppelte Rationen Branntwein verteilt. Noch lustiger als in der vorhergehenden Nacht knisterten die Biwakfeuer und tönten die Lieder der Soldaten. Denisow feierte in dieser Nacht seine Beförderung zum Major, und gegen Ende des Gelages brachte Rostow, der schon ziemlich viel getrunken hatte, einen Toast auf den Kaiser aus, aber »nicht auf Seine Majestät, unsern Allergnädigsten Kaiser und Herrn, wie es bei offiziellen Diners heißt«, sagte er, »sondern auf die Gesundheit unseres lieben, guten Kaisers, des bezaubernden, herrlichen Menschen; trinken wir auf seine Gesundheit und auf den sicheren Sieg über die Franzosen!«
»Wenn wir uns schon früher brav geschlagen haben«, sagte er, »und, wie bei Schöngrabern, uns von den Franzosen nichts haben gefallen lassen, wie wird es nun erst jetzt gehen, wo er an unserer Spitze ist? Wir alle werden gern für ihn sterben, werden mit Wonne für ihn sterben. Nicht wahr, meine Herren? Vielleicht treffe ich nicht die richtigen Ausdrücke; ich habe viel getrunken; aber das ist meine Empfindung, und gewiß auch die Ihrige. Auf die Gesundheit Alexanders des Ersten! Hurra!«
»Hurra!« riefen die Offiziere in hoher Begeisterung.
Auch der alte Rittmeister Kirsten schrie begeistert mit und nicht minder herzlich als der zwanzigjährige Rostow.
Als die Offiziere ausgetrunken und ihre Gläser zerschlagen hatten, goß Kirsten andere Gläser voll und ging, nur in Hemd und Hose, mit einem Glas in der Hand, zu den Biwakfeuern der Mannschaften hin. In imponierender Haltung, den rechten Arm hoch erhoben, mit seinem langen, grauen Schnurrbart und der behaarten Brust, die unter dem offenstehenden Hemd sichtbar wurde, blieb er im Schein eines Feuers stehen.
»Kinder, auf die Gesundheit Seiner Majestät des Kaisers und auf den Sieg über die Feinde, Hurra!« rief er mit seiner, trotz des Alters immer noch frisch und jugendlich klingenden Husarenstimme, einem hübschen Bariton.
Die Husaren drängten sich um ihn und antworteten alle zugleich mit lautem Geschrei.
Als spät in der Nacht alle Teilnehmer des Zechgelages sich entfernt hatten, klopfte Denisow mit seiner kurzfingerigen Hand seinem Liebling Rostow auf die Schulter.
»Nun sehe mal einer diesen Burschen an! Weil er in dem Feldzug niemand hat, in den er sich verlieben könnte, hat er sich in den Zaren verliebt«, sagte er.
»Denisow, darüber darfst du nicht spotten!« rief Rostow. »Das ist ein so hohes, so schönes Gefühl, ein so …«
»Ich glaube es, ich glaube es, Freundchen, und ich teile dieses Gefühl und billige es durchaus …«
»Nein, du hast kein Verständnis dafür!«
Rostow stand auf und schlenderte zwischen den Lagerfeuern umher und erging sich in Träumereien darüber, welch ein Glück es wäre zu sterben, nicht als Lebensretter des Kaisers (davon wagte er gar nicht zu träumen), sondern einfach nur vor den Augen des Kaisers. Er war tatsächlich in den Kaiser verliebt und in den Ruhm der russischen Waffen und in die Hoffnung auf den bevorstehenden Sieg und Triumph. Und er war nicht der einzige, den dieses Gefühl in jenen denkwürdigen Tagen erfüllte, die der Schlacht bei Austerlitz vorhergingen; neun Zehntel der russischen Armee waren damals, wenn auch weniger enthusiastisch als er, in ihren Zaren und in den Ruhm der russischen Waffen verliebt.
XI
Am folgenden Tag blieb der Kaiser in Wischau. Sein Leibarzt Villiers wurde mehrere Male zu ihm gerufen. Im Hauptquartier und bei den in der Nähe lagernden Truppenteilen war die Nachricht verbreitet, dem Kaiser sei nicht wohl. Er hatte, wie aus seiner Umgebung verlautete, nichts gegessen und die letzte Nacht schlecht geschlafen. Der Grund dieses Unwohlseins lag in dem starken Eindruck, den der Anblick der Verwundeten und Getöteten auf das weiche Herz des Kaisers gemacht hatte.
Am frühen Morgen des 17. November wurde von den Vorposten ein französischer Offizier, der mit einer Parlamentärsflagge gekommen war und gebeten hatte, den Kaiser von Rußland sprechen zu dürfen, nach Wischau geleitet. Dieser Offizier war Savary. Der Kaiser war eben erst eingeschlafen, und daher mußte Savary warten. Um Mittag wurde er beim Kaiser vorgelassen, und eine Stunde darauf ritt er zu den Vorposten der französischen Armee zurück, begleitet von dem Fürsten Dolgorukow.
Wie man hörte, bestand der Zweck der Sendung Savarys darin, dem Kaiser Alexander den Vorschlag zu einer Zusammenkunft mit Napoleon zu machen. Eine persönliche Zusammenkunft war von Kaiser Alexander zur großen Freude und stolzen Genugtuung des ganzen Heeres abgelehnt worden; statt dessen wurde nun Fürst Dolgorukow, der Sieger von Wischau, mit Savary zusammen abgesandt, um mit Napoleon zu verhandeln, falls dem Verlangen desselben nach Verhandlungen wider Vermuten wirklich der Wunsch, Frieden zu schließen, zugrunde liegen sollte.
Am Abend kehrte Dolgorukow zurück, begab sich direkt zum Kaiser und blieb lange mit ihm allein unter vier Augen.
Am 18. und 19. November rückten die russischen Truppen noch zwei weitere Tagesmärsche vor, und die feindlichen Vorposten wichen zurück, nachdem wenige Schüsse gewechselt waren. In den höheren Rängen der Armee hatte am Morgen des 19. eine lebhafte Tätigkeit und unruhige Geschäftigkeit begonnen, die sich bis zum Morgen des folgenden Tages, des 20. November, fortsetzte, an welchem die so denkwürdige Schlacht bei Austerlitz geschlagen wurde.
Bis zum Mittag des 19. beschränkte sich diese Bewegung, die lebhaften Gespräche, das Hin- und Herlaufen, das Senden von Adjutanten, auf das Hauptquartier der Kaiser; am Nachmittag desselben Tages übertrug sich die Bewegung auf das Hauptquartier Kutusows und auf die Stäbe der Unterbefehlshaber. Am Abend wurde durch Adjutanten diese Bewegung nach allen Enden und Teilen der Armee hin verbreitet, und in der Nacht vom 19. zum 20. brach die achtzigtausendköpfige Masse des verbündeten Heeres aus ihren Quartieren auf, ein Stimmengebraus erhob sich, und wogend wie eine riesige, neun Werst lange Leinwandbahn rückte sie vorwärts.
Die innerste Bewegung, die am Vormittag im Zentrum, dem Hauptquartier der Kaiser, begonnen und den Anstoß zu der gesamten weiteren Bewegung gegeben hatte, war der ersten Bewegung des Mittelrades einer großen Turmuhr ähnlich. Langsam hat sich das eine Rad in Bewegung gesetzt; nun dreht sich ein zweites, ein drittes, und immer schneller und schneller beginnen sich die Räder, die Rollen, die Walzen zu drehen, das Glockenspiel erklingt, die Figuren springen heraus, und gemessen rücken die Zeiger vor, die das Resultat der Bewegung anzeigen.
Auch in dem Mechanismus des Kriegswesens setzt sich ebenso unaufhaltsam wie in dem Mechanismus einer Uhr die einmal hervorgerufene Bewegung bis zum letzten Resultat fort, und in ebenso teilnahmsloser Ruhe verharren bis unmittelbar zu dem Augenblick, wo ihnen die Bewegung mitgeteilt wird, diejenigen Teile des Mechanismus, bis zu denen die Aktion noch nicht gelangt ist. Die Räder quietschen auf ihren Achsen und greifen mit den Zähnen ineinander; es pfeifen infolge der schnellen Umdrehung die Walzen; aber das benachbarte Rad bleibt so ruhig und regungslos, als ob es vorhätte, jahrhundertelang so ohne Bewegung dazustehen; nun jedoch ist der Augenblick gekommen, ein Hebel greift ein, und dieser Einwirkung gehorchend, beginnt das Rad knarrend sich zu drehen und schließt sich der allgemeinen Tätigkeit an, deren Resultat und Ziel ihm unbekannt sind.
Wie bei der Uhr das Resultat der komplizierten Bewegung der zahllosen verschiedenen Räder und Walzen nur die langsame, gleichmäßige Bewegung der Zeiger ist, die die Zeit angeben, ebenso war auch bei den Menschen das Resultat all der komplizierten Bewegungen dieser hundertundsechzigtausend Russen und Franzosen (das Resultat all der Leidenschaften, Wünsche, Sinnesänderungen, Demütigungen, Leiden, Äußerungen des Stolzes und der Furcht und der Begeisterung) nur der Verlust der Schlacht bei Austerlitz, der sogenannten Dreikaiserschlacht, das heißt, die langsame Fortbewegung des Zeigers der Weltgeschichte auf dem Zifferblatt der Geschichte des Menschengeschlechtes.
Fürst Andrei hatte an diesem Tag Dejour und befand sich dauernd um die Person des Oberkommandierenden.
Zwischen fünf und sechs Uhr abends kam Kutusow in das Hauptquartier der Kaiser, und nachdem er eine kurze Zeit bei dem Kaiser von Rußland gewesen war, begab er sich zu dem Oberhofmarschall Grafen Tolstoi.
Bolkonski benutzte diese Zeit, um zu Dolgorukow zu gehen und sich bei ihm nach den Einzelheiten der militärischen Operationen zu erkundigen. Er hatte gemerkt, daß Kutusow über etwas verstimmt und mit etwas unzufrieden war, und daß man auch im Hauptquartier mit dem Oberkommandierenden nicht zufrieden war, und daß alle diese Herren vom kaiserlichen Hauptquartier demselben gegenüber einen Ton anschlugen, als wüßten sie etwas, was andere Leute nicht wüßten. Darum lag dem Fürsten Andrei daran, mit Dolgorukow zu sprechen.
»Nun, seien Sie willkommen, mein Lieber«, sagte Dolgorukow, der mit Bilibin beim Tee saß. »Morgen gibt’s einen großen Festtag. Was macht denn Ihr alter Herr? Er ist wohl übler Laune?«
»Daß er übler Laune wäre, kann ich nicht gerade sagen; er hat wohl nur den Wunsch, gehört zu werden.«
»Man hat ihn ja im Kriegsrat angehört, und man wird ihn auch weiter anhören, wenn er sich entschließt, vernünftig zu reden; aber jetzt zu zögern und noch auf irgend etwas zu warten, jetzt, wo Bonaparte vor nichts solche Furcht hat wie vor einer Entscheidungsschlacht, das ist geradezu unmöglich.«
»Sie haben ihn ja wohl gesehen«, sagte Fürst Andrei. »Nun, was ist dieser Bonaparte für ein Mann? Was für einen Eindruck hat er auf Sie gemacht?«
»Ja, ich habe ihn gesehen und die Überzeugung gewonnen, daß er vor nichts in der Welt solche Furcht hat wie vor einer Entscheidungsschlacht«, sagte Dolgorukow noch einmal, der auf diese allgemeine Folgerung, die er aus seiner Zusammenkunft mit Napoleon zog, offenbar großen Wert legte. »Wenn er sich nicht vor einer Schlacht fürchtete, was hätte er dann für Grund gehabt, eine Unterredung zu verlangen, Unterhandlungen einzuleiten und, was die Hauptsache ist, zurückzuweichen, obgleich doch das Zurückweichen der gesamten Methode seiner Kriegführung zuwiderläuft? Glauben Sie mir: er hat Furcht, Furcht vor einer Entscheidungsschlacht. Sein Stündlein hat geschlagen; das kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen.«
»Aber erzählen Sie doch: was ist er für ein Mann? Wie benimmt er sich?« fragte Fürst Andrei noch einmal.
»Er trug einen grauen Rock und wünschte lebhaft, daß ich ›Euer Majestät‹ zu ihm sagen möchte; aber ich habe ihn zu seiner großen Kränkung mit keinem Titel angeredet. So ein Mensch ist das; weiter ist über ihn nichts zu sagen«, antwortete Dolgorukow und sah Bilibin lächelnd an.
»Trotz meiner vollkommenen Hochachtung vor dem alten Kutusow«, fuhr er fort, »muß ich doch sagen: wir wären alle gar zu töricht, wenn wir jetzt auf etwas warten wollten und ihm damit die Möglichkeit gäben, davonzugehen oder uns zu täuschen, während wir ihn jetzt sicher in unserer Gewalt haben. Nein, wir dürfen Suworow und seinen Grundsatz nicht vergessen: nicht die Rolle dessen, der angegriffen wird, zu übernehmen, sondern selbst anzugreifen. Glauben Sie mir: im Krieg zeigt die Energie der jüngeren Leute oft richtiger den Weg als alle Erfahrung der alten Zauderer.«
»Aber wenn wir ihn angreifen wollen, gegen welche Position sollen wir denn dann unsern Angriff richten?« sagte Fürst Andrei. »Ich bin heute bei den Vorposten gewesen; aber es war unmöglich, zu erkennen, wo er eigentlich mit seiner Hauptmacht steht.«
Er hätte gern dem Fürsten Dolgorukow den Angriffsplan entwickelt, den er selbst entworfen hatte.
»Ach, das ist ganz gleichgültig«, erwiderte Dolgorukow schnell, stand auf und breitete eine Landkarte auf dem Tisch aus. »Es sind alle Möglichkeiten vorhergesehen: wenn er bei Brünn steht …«
Und Fürst Dolgorukow setzte eilfertig und in unklarer Weise Weyrothers Plan einer Flankenbewegung auseinander.
Fürst Andrei wollte Einwendungen machen und seinen eigenen Plan darlegen, der ja auch vielleicht ebensogut war wie Weyrothers Plan, aber den Fehler hatte, daß Weyrothers Plan bereits genehmigt war. Sowie Fürst Andrei angefangen hatte, die Nachteile jenes Planes und die Vorzüge seines eigenen zu erörtern, hörte Fürst Dolgorukow ihm nicht mehr zu und blickte zerstreut nicht mehr auf die Landkarte, sondern nach dem Gesicht des Fürsten Andrei.
»Übrigens wird heute noch bei Kutusow ein Kriegsrat abgehalten«, sagte Dolgorukow. »Da können Sie das ja alles vortragen.«
»Das werde ich auch tun«, sagte Fürst Andrei und trat von der Karte zurück.
»Worüber machen Sie sich denn eigentlich Sorgen, meine Herren?« sagte Bilibin, der bisher mit heiterem Lächeln ihrem Gespräch zugehört hatte und sich jetzt offenbar anschickte, einen Scherz zu machen. »Ob es nun morgen einen Sieg oder eine Niederlage gibt, der Ruhm der russischen Waffen ist außer Gefahr. Abgesehen von unserm Kutusow ist kein einziger höherer russischer Truppenführer dabei. Die Führer sind: der Herr General Wimpffen, Graf Langeron, Fürst Liechtenstein, Fürst Hohenlohe und endlich Prischprschiprsch, wie ja alle polnischen Namen klingen.«
»Still, still, was haben Sie für eine böse Zunge!« sagte Dolgorukow. »Es ist übrigens nicht wahr; es sind schon jetzt außer Kutusow noch zwei Russen dabei, Miloradowitsch und Dochturow, und es würde auch noch ein dritter dabei sein, Graf Araktschejew, wenn er nicht so schwache Nerven hätte.«
»Aber ich glaube, Michail Ilarionowitsch ist vom Grafen Tolstoi wieder herausgekommen«, sagte Fürst Andrei. »Ich wünsche Ihnen Glück und Erfolg, meine Herren«, fügte er hinzu, drückte dem Fürsten Dolgorukow und Bilibin die Hand und ging hinaus.
Bei der Heimfahrt konnte sich Fürst Andrei nicht enthalten, den schweigsam neben ihm sitzenden Kutusow zu fragen, was er über die morgige Schlacht denke.
Kutusow blickte seinen Adjutanten finster an und antwortete nach kurzem Schweigen:
»Ich glaube, daß wir die Schlacht verlieren werden, und das habe ich auch dem Grafen Tolstoi gesagt und ihn gebeten, es dem Kaiser mitzuteilen. Nun, und was meinst du, hat er mir geantwortet? ›Mein lieber General, ich habe mich um den Reis und die Koteletts zu kümmern; die Kriegsangelegenheiten, das ist Ihre Sache.‹ Ja, so hat man mir geantwortet.«
XII
Zwischen neun und zehn Uhr abends kam Weyrother mit seinen schriftlichen Plänen in Kutusows Quartier, wo ein Kriegsrat angesetzt war. Alle höheren Offiziere waren aufgefordert worden, zum Oberkommandierenden zu kommen, und außer dem Fürsten Bagration, der ausrichten ließ, daß er nicht kommen könne, waren alle zur bestimmten Stunde erschienen.
Weyrother, der die gesamte Disposition für die bevorstehende Schlacht entworfen hatte, bildete mit seiner Lebhaftigkeit und Raschheit einen scharfen Gegensatz zu dem verstimmten, schläfrigen Kutusow, der nur ungern die Rolle des Vorsitzenden und Leiters im Kriegsrat übernommen hatte. Weyrother fühlte sich offenbar als das Haupt der Bewegung, die bereits eine unaufhaltsame geworden war. Er hatte Ähnlichkeit mit einem eingespannten Pferd, das mit einer Fuhre bergab läuft. Ob er zog oder vorwärts gedrängt wurde, wußte er selbst nicht; aber er jagte mit größtmöglicher Schnelligkeit dahin, ohne daß er jetzt noch Zeit gehabt hätte, zu überlegen, wohin diese Bewegung führen werde. Weyrother war an diesem Abend zweimal zum Zweck persönlicher Rekognoszierung bei der feindlichen Vorpostenkette gewesen, zweimal bei den Kaisern von Rußland und von Österreich, um ihnen Bericht zu erstatten und die nötigen Mitteilungen zu machen, und dann noch in seiner Kanzlei, wo er die Disposition in deutscher Sprache diktiert hatte. Sehr erschöpft kam er jetzt zu Kutusow.
Er war offenbar so sehr mit seinem Plan beschäftigt, daß er sogar den schuldigen Respekt gegen den Oberkommandierenden vergaß: er unterbrach ihn mehrmals und sprach hastig und undeutlich, ohne ihm ins Gesicht zu sehen und ohne auf die Fragen, die jener an ihn richtete, zu antworten. Auch war er mit Schmutz bespritzt und sah leidend, angegriffen und zerstreut, dabei aber doch selbstbewußt und stolz aus.
Kutusow bewohnte ein kleines, einem Edelmann gehöriges Schloß bei Ostralitz. In dem großen Salon, der zum Arbeitszimmer des Oberkommandierenden umgestaltet war, waren Kutusow selbst, Weyrother und die übrigen Mitglieder des Kriegsrates versammelt. Sie tranken Tee und warteten nur noch auf den Fürsten Bagration, um die Beratung zu beginnen. Aber statt Bagration kam einer seiner Ordonnanzoffiziere mit der Nachricht, der Fürst könne nicht kommen. Fürst Andrei ging in das Sitzungszimmer, um dies dem Oberkommandierenden zu melden, und Gebrauch machend von der Erlaubnis, die ihm Kutusow vorher erteilt hatte, bei dem Kriegsrat anwesend zu sein, blieb er im Zimmer.
»Da Fürst Bagration nicht kommt, können wir anfangen«, sagte Weyrother, erhob sich rasch von seinem Platz und trat an den Tisch, auf dem eine gewaltige Karte der Umgegend von Brünn ausgebreitet war.
Kutusow saß in aufgeknöpfter Uniform, aus welcher, wie nach Freiheit trachtend, sein fetter Hals über den Kragen hervorquoll, auf einem Lehnstuhl, hatte seine dicken, alten Hände symmetrisch auf die Armlehnen gelegt und schlief beinah. Beim Ton von Weyrothers Stimme öffnete er mit Anstrengung sein einziges Auge.
»Ja, ja, bitte; es wird sonst gar zu spät«, sagte er, nickte mit dem Kopf, ließ ihn von neuem hinabsinken und schloß wieder die Augen.
Wenn die Mitglieder des Kriegsrates zunächst gedacht hatten, daß Kutusow sich nur schlafend stelle, so bewiesen die Töne, die er während der nun folgenden Vorlesung mit der Nase hervorbrachte, daß es sich in diesem Augenblick für den Oberkommandierenden um etwas weit Wichtigeres handelte, als um den Wunsch, seine Geringschätzung für die Schlachtdisposition oder für sonst irgend etwas zum Ausdruck zu bringen; es handelte sich für ihn um die unabweisbare Befriedigung eines menschlichen Bedürfnisses: des Schlafes. Er schlief wirklich. Weyrother warf, wie wenn er viel zu sehr beschäftigt wäre, als daß er auch nur einen Augenblick Zeit verlieren dürfte, einen schnellen Blick auf Kutusow, und als er sich überzeugt hatte, daß dieser schlief, begann er mit lauter, eintöniger Stimme die Disposition für die bevorstehende Schlacht vorzulesen, unter der Überschrift, die er gleichfalls vorlas:
»Disposition zum Angriff auf die feindliche Position hinter Kobelnitz und Sokolnitz, den 30. November 1805.«
Die Disposition war sehr kompliziert und sehr schwer zu verstehen. Eine Stelle darin lautete wörtlich folgendermaßen:
»Da der Feind mit seinem linken Flügel an die mit Wald bedeckten Berge lehnt und sich mit seinem rechten Flügel längs Kobelnitz und Sokolnitz hinter die dort befindlichen Teiche zieht, wir im Gegenteil mit unserem linken Flügel seinen rechten sehr debordieren, so ist es vorteilhaft, letzteren Flügel des Feindes zu attackieren, besonders wenn wir die Dörfer Sokolnitz und Kobelnitz im Besitz haben, wodurch wir dem Feind zugleich in die Flanke fallen und ihn auf der Fläche zwischen Schlapanitz und dem Turaser Wald verfolgen können, indem wir den Defileen von Schlapanitz und Bellowitz ausweichen, welche die feindliche Front decken. Zu diesem Endzweck ist es nötig … Die erste Kolonne marschiert … die zweite Kolonne marschiert … die dritte Kolonne marschiert …« usw. So las Weyrother vor.
Die Generale hörten, wie es schien, die schwierige Disposition nur widerwillig mit an. Der blonde, hochgewachsene General Buxhöwden stand, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, da, richtete die Augen starr auf eine brennende Kerze und schien nicht zuzuhören, ja nicht einmal zu wollen, daß die anderen dächten, er höre zu. Dem lesenden Weyrother gerade gegenüber, die glänzenden, weitgeöffneten Augen unverwandt auf ihn geheftet, saß in kriegerischer Haltung, die Hände mit auswärts gekehrten Ellbogen auf die Knie gestützt, der rotwangige Miloradowitsch mit hinaufgestrichenem Schnurrbart und emporgezogenen Schultern. Er schwieg hartnäckig, sah Weyrother ins Gesicht und wandte die Augen nur dann von ihm weg, wenn der österreichische Generalstabschef einmal schwieg. In solchen Augenblicken ließ Miloradowitsch seine Augen mit ernstem Ausdruck bei den anderen Generalen umherwandern; aber ob er mit der Disposition einverstanden war oder nicht, sie billigte oder nicht, das war aus diesen ernsten Blicken nicht zu entnehmen. Am nächsten von allen bei Weyrother saß Graf Langeron; ein feines Lächeln wich während der ganzen Dauer der Vorlesung nicht von seinem südfranzösischen Gesicht; er blickte auf seine schlanken Finger, die eine goldene, mit einem Porträt verzierte Tabaksdose an den Ecken rasch herumdrehten. In der Mitte einer der längsten Perioden hemmte er die rotierende Bewegung der Dose und hob den Kopf in die Höhe; in den äußersten Winkeln seiner schmalen Lippen erschien der Ausdruck einer unangenehm wirkenden Höflichkeit; er unterbrach Weyrother und wollte etwas sagen; aber der österreichische General runzelte, ohne im Vorlesen innezuhalten, ärgerlich die Stirn und machte eine Bewegung mit den Ellbogen, wie wenn er sagen wollte: »Nachher! Nachher können Sie mir Ihre Gedanken sagen; jetzt, bitte, sehen Sie auf die Karte, und hören Sie zu.« Langeron hob mit dem Ausdruck höchster Verwunderung die Augen nach der Zimmerdecke empor und blickte dann Miloradowitsch an, wie wenn er eine Erklärung für dieses Verhalten suchte; als er jedoch dessen ernstem, aber nichtssagendem Blick begegnete, schlug er mit trüber Miene die Augen nieder und begann wieder, seine Tabaksdose herumzudrehen.
»Eine Geographiestunde«, sagte er wie für sich, aber laut genug, um gehört zu werden.
Przebyszewski bog, indem er eine respektvolle, aber würdige Höflichkeit an den Tag legte, sein Ohr mit der Hand zu Weyrother hin und gab sich das Aussehen, als höre er mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Der kleine Dochturow saß mit bescheidener, eifriger Miene Weyrother gerade gegenüber und prägte sich, über die ausgebreitete Karte gebeugt, gewissenhaft die Disposition und das ihm unbekannte Terrain ein. Ein paarmal, wenn er nicht genau verstanden hatte, bat er Weyrother, die betreffenden Worte, besonders auch schwierige Namen von Dörfern, zu wiederholen. Weyrother erfüllte seinen Wunsch, und Dochturow machte sich Notizen.
Als das Vorlesen, das mehr als eine Stunde gedauert hatte, beendet war, hielt Langeron seine Tabaksdose wieder still und bemerkte, ohne Weyrother oder sonst jemand einzeln anzusehen, es werde doch seine Schwierigkeiten haben, eine solche Disposition durchzuführen, bei der die Stellung des Feindes als bekannt vorausgesetzt werde, während sie uns vielleicht in Wirklichkeit unbekannt sei, da der Feind sich in Bewegung befinde. Langerons Einwendung war begründet; aber es war offensichtlich, daß der Hauptzweck dieser Einwendung der war, dem General Weyrother, der seine Disposition mit solcher Selbstgefälligkeit vorgelesen hatte, als ob Schulknaben vor ihm säßen, zum Bewußtsein zu bringen, daß er nicht etwa lauter Dummköpfe, sondern Männer vor sich habe, von denen auch er in Kriegssachen etwas lernen könne.
Als der einförmige Klang der Stimme Weyrothers verstummt war, hatte Kutusow die Augen aufgemacht, wie ein Müller, der aufwacht, sobald der einschläfernde Ton der Mühlenräder eine Unterbrechung erfährt. Er horchte auf Langerons Äußerung hin, und als ob er sagen wollte: »Habt ihr immer noch diese Dummheiten vor?« schloß er schnell wieder die Augen und ließ den Kopf noch tiefer hinabsinken.
In der Absicht, Weyrother in seinem Stolz auf den von ihm entworfenen Schlachtplan recht tief zu verletzen, wies Langeron nach, daß Bonaparte, statt sich angreifen zu lassen, leicht selbst angreifen und dadurch diese ganze Disposition völlig wertlos machen könne. Weyrother antwortete auf alle Einwürfe mit einem überlegenen, geringschätzigen Lächeln, das er offenbar schon im voraus für jeden Einwurf in Bereitschaft hielt, ganz gleich, was jemand zu ihm sagen werde.
»Wenn er uns angreifen könnte, hätte er es heute getan«, sagte er.
»Sie meinen also, daß er nicht genug Streitkräfte besitzt?« fragte Langeron.
»Er kann höchstens vierzigtausend Mann haben«, antwortete Weyrother mit dem Lächeln eines Arztes, dem ein Quacksalber ein Heilmittel empfiehlt.
»Dann wird er also wohl unseren Angriff abwarten und seinem Verderben nicht entgehen«, erwiderte Langeron mit einem feinen, ironischen Lächeln und blickte wieder zum nahe bei ihm sitzenden Miloradowitsch hin, als suche er dessen Beistimmung.
Aber Miloradowitsch dachte in diesem Augenblick offenbar an nichts weniger als an das, worüber sich hier die Generale stritten. »Ei nun«, sagte er, »morgen auf dem Schlachtfeld werden wir über all diese Dinge ins klare kommen.«
Weyrother verzog wieder das Gesicht zu einem Lächeln, welches besagte, daß es ihm seltsam und komisch vorkomme, auf Einwendungen bei den russischen Generalen zu stoßen und ihnen Dinge beweisen zu müssen, von deren Richtigkeit er nicht nur selbst vollkommen überzeugt sei, sondern auch die Kaiser überzeugt habe.
»Der Feind hat seine Biwakfeuer ausgelöscht, und es ist von seinem Lager her ein ununterbrochenes Getöse zu hören«, sagte er. »Was bedeutet das? Entweder entfernt er sich (und das wäre das einzige, was wir zu fürchten hätten), oder er ändert seine Stellung.« Er lächelte. »Aber selbst wenn er eine Stellung bei Turas einnehmen sollte, würde er uns nur viel Mühe und Umstände ersparen, und alle unsere Anordnungen würden bis auf die geringsten Kleinigkeiten dieselben bleiben.«
»Wieso denn …?« fragte Fürst Andrei, der schon lange auf eine Gelegenheit gewartet hatte, seine Bedenken auszusprechen.
Da wachte Kutusow auf, hustete und räusperte sich stark und blickte die Generale um sich herum an.
»Meine Herren, die Disposition für morgen, oder richtiger für heute, da es ja schon nach Mitternacht ist, kann nicht mehr geändert werden«, sagte er. »Sie haben sie gehört, und wir alle werden unsere Pflicht tun. Vor einer Schlacht ist aber nichts wichtiger …« (er schwieg einen Augenblick) »als sich ordentlich auszuschlafen.«
Er machte Miene aufzustehen. Die Generale verbeugten sich und gingen. Auch Fürst Andrei ging weg.
Der Kriegsrat, bei dem es dem Fürsten Andrei nicht gelungen war, seine Meinung, wie er doch gehofft hatte, auszusprechen, hinterließ bei ihm eine peinliche Unklarheit und eine starke Unruhe. Wer recht hatte, Dolgorukow und Weyrother oder die Gegner des Angriffsplanes, Kutusow, Langeron und andere, das wußte er nicht. Aber war es denn wirklich dem Oberkommandierenden Kutusow nicht möglich gewesen, dem Kaiser direkt seine Meinung darzulegen? War das wirklich ein Zustand, an dem sich nichts ändern ließ? »Muß wirklich«, dachte er, »um solcher höfischen und persönlichen Rücksichten willen das Leben so vieler Tausende von Menschen und auch mein, mein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt werden?«
»Ja, sehr gut möglich, daß ich morgen falle«, sagte er sich. Und bei diesem Gedanken an den Tod wurde plötzlich eine ganze Reihe von Erinnerungen, von weit zurückliegenden, ihm überaus teuren Erinnerungen in seiner Seele wach: er dachte an seinen letzten Abschied von seinem Vater und von seiner Frau; er dachte an die ersten Zeiten seiner Liebe zu ihr! Er dachte an ihre Schwangerschaft, und er bedauerte seine Frau und sich selbst. In einem Zustand nervöser Rührung und Aufregung verließ er die Stube, in welcher er mit Neswizki wohnte, und ging vor dem Haus auf und ab.
Die Nacht war neblig, und durch den Nebel drang das Licht des Mondes geheimnisvoll hindurch. »Ja, morgen, morgen!« dachte er. »Morgen wird vielleicht das alles für mich zu Ende sein; alle diese Erinnerungen werden für mich nicht mehr vorhanden sein; alle diese Erinnerungen werden für mich keine Bedeutung mehr haben. Vielleicht werde ich morgen, ja, sicher werde ich morgen (das ahnt mir) zum erstenmal endlich die Möglichkeit haben zu zeigen, was ich leisten kann.« Und lebhaft vergegenwärtigte er sich die Schlacht und die schlimme Wendung, die sie nimmt, und die Konzentrierung des Kampfes auf einen Punkt und die Ratlosigkeit aller Befehlshaber. Und da ist nun endlich für ihn jener glückliche Augenblick gekommen, jenes Toulon, auf das er so lange gewartet hat. Fest und klar setzt er seine Meinung Kutusow und Weyrother und den Kaisern auseinander. Alle sind sie überrascht von der Richtigkeit seiner Kombination; aber niemand getraut sich, sie auszuführen; und da nimmt er nun ein Regiment, eine Division, macht aber zur Bedingung, daß niemand sich in seine Anordnungen einmischen dürfe; und nun führt er seine Division nach dem entscheidenden Punkt und erringt allein, er allein, den Sieg. »Aber der Tod und die Leiden?« fragte eine andere Stimme. Aber Fürst Andrei antwortete dieser Stimme nicht und schritt in Gedanken auf der Bahn des Erfolges weiter fort. Die Disposition der nächsten Schlacht entwirft er ganz allein. Der äußeren Stellung nach ist er erster Adjutant bei Kutusow; aber in Wirklichkeit wird alles von ihm allein ausgeführt. Diese nächste Schlacht gewinnt er auf diese Art ganz allein. Kutusow wird seines Amtes enthoben; an seine Stelle wird er ernannt … »Nun, und dann?« fragte wieder die andere Stimme, »und dann, wenn du nicht vorher zehnmal verwundet, getötet oder um den Preis deiner Mühen betrogen bist, was dann?« – »Nun dann«, gab Fürst Andrei sich selbst zur Antwort, »ich weiß nicht, was dann weiter kommen wird; ich will es nicht wissen, und ich kann es nicht wissen; aber wenn ich nach solchen Zielen strebe, wenn ich nach Ruhm strebe, wenn ich von den Menschen gekannt, von den Menschen geliebt zu werden wünsche, so ist es ja doch nicht meine Schuld, daß ich danach strebe, einzig und allein danach strebe, einzig und allein dafür lebe. Ja, einzig und allein dafür! Ich werde das nie jemand sagen; aber, mein Gott, was soll ich dann anfangen, wenn ich nun einmal keinen andern Wunsch habe, als mir Ruhm und die Liebe meiner Mitmenschen zu erwerben? Tod, Wunden, der Verlust meiner Angehörigen, nichts kann mich schrecken. Und wie lieb und teuer mir auch viele Menschen sind (als die teuersten mein Vater, meine Schwester, meine Frau), dennoch, mag es auch noch so entsetzlich und unnatürlich klingen, dennoch würde ich sie alle sofort hingeben für eine Minute des Ruhmes, würde sie alle hingeben, wenn ich dafür Menschen beherrschen und von Menschen geliebt werden könnte, die ich nicht kenne und nie kennenlernen werde, von Menschen geliebt werden könnte, wie diese hier«, dachte er, indem er nach einem Gespräch hinhorchte, das auf dem Hof von Kutusows Quartier geführt wurde.
Die Redenden waren Burschen und Diener Kutusows, die mit Einpacken beschäftigt waren. Einer von ihnen, wohl ein Kutscher oder Reitknecht, neckte den alten, dem Fürsten Andrei wohlbekannten Koch Kutusows, namens Tit, und sagte:
»Tit, he, Tit!«
»Was ist?« antwortete der Alte.
»Tit, Tit, Tit! Hast du Appetit, tit, tit?« sagte der Spaßmacher.
»Hol dich der Teufel!« rief der Gefoppte, dessen Stimme aber von dem Gelächter der Burschen und Diener fast übertönt wurde.
»Und doch ist das Ziel meiner Wünsche und meines Strebens nur die Herrschaft über all diese Menschen, und als das einzig Wertvolle erscheint mir die Macht und der Ruhm, die geheimnisvoll hier in diesem Nebel über meinem Haupt schweben.«
XIII
Rostow stand in dieser Nacht mit einem Beritt in der Vorpostenkette vor der Abteilung Bagrations. Seine Husaren waren paarweise auf einer ziemlich langen Linie verteilt; er selbst ritt an dieser Linie entlang, bemüht, den Schlaf von sich abzuwehren, dem er kaum mehr widerstehen konnte. Hinter sich erblickte er, über einen gewaltigen Raum ausgedehnt, die Lagerfeuer unseres Heeres, deren Glutschein im Nebel nur undeutlich zu sehen war; vor ihm lag neblige Dunkelheit. Soviel auch Rostow in diese neblige Ferne hineinspähte, er sah nichts: bald schien da etwas Graues oder Schwarzes vorhanden zu sein, bald schienen da, wo der Feind sein mußte, Lichter aufzublitzen, bald wieder meinte er, daß das alles nur ein Flimmern in seinen Augen sei. Mitunter fielen ihm die Augen zu, und dann führte ihm seine Einbildungskraft bald den Kaiser vor, bald Denisow, bald Moskauer Erinnerungen, und schnell riß er die Augen wieder auf und erblickte nahe vor sich den Kopf und die Ohren des Pferdes, auf dem er saß, und manchmal die schwarzen Gestalten seiner Husaren, wenn er auf sechs Schritt an sie herangekommen war, und in der Ferne immer dieselbe neblige Dunkelheit. »Warum nicht?« sagte Rostow, mit halbgeschlossenen Augen phantastische Gedanken ausspinnend, zu sich selbst. »Leicht möglich, daß der Kaiser, wenn er mich trifft, mir einen Auftrag gibt, wie er es ja auch bei andern Offizieren öfters tut. Er wird zum Beispiel sagen: ›Reite mal hin und bringe in Erfahrung, was da los ist.‹ Es gibt viele Geschichten darüber, wie er auf diese Weise ganz zufällig irgendeinen Offizier kennengelernt und ihn dann in seine Nähe gezogen hat. Wie, wenn er so auch mich in seine Nähe zöge! Oh, wie wollte ich ihn behüten und ihm die reine Wahrheit sagen und alle, die ihn zu betrügen suchen, entlarven!« Und um sich seine Liebe und Treue gegen den Kaiser recht lebhaft zu vergegenwärtigen, stellte sich Rostow einen Feind oder einen betrügerischen Deutschen vor, den er mit Hochgenuß nicht nur tötete, sondern auch vor den Augen des Kaisers ohrfeigte. Plötzlich schreckte ein fernes Geschrei Rostow aus seinem Halbschlaf auf. Er fuhr zusammen und öffnete die Augen.
»Wo bin ich? Ja, bei den Vorposten; Losung und Parole: Deichsel, Olmütz. Wie ärgerlich, daß unsere Eskadron morgen in der Reserve bleibt!« dachte er. »Ich will bitten, mich am Kampf teilnehmen zu lassen. Das ist vielleicht für mich die einzige Möglichkeit, den Kaiser zu sehen. Jetzt wird es nicht mehr lange hin sein bis zur Ablösung. Ich will noch einmal entlangreiten, und wenn ich zurückkomme, will ich zum General gehen und ihm meine Bitte vorlegen.« Er setzte sich auf dem Sattel zurecht und trieb sein Pferd an, um noch einmal seine Husaren zu revidieren. Es kam ihm vor, als ob es heller geworden wäre. Zur Linken war ein vom Monde beschienener sanfter Abhang und ein ihm gegenüberliegender schwarzer Hügel zu sehen, der steil wie eine Wand erschien. Auf diesem Hügel war ein weißer Fleck, aus welchem Rostow nicht recht klug werden konnte: war es eine vom Mond beschienene Lichtung im Wald oder liegengebliebener Schnee oder weiße Häuser? Es wollte ihm sogar scheinen, als ob sich auf diesem weißen Fleck etwas bewegte. »Wahrscheinlich ist es Schnee, dieser Fleck; ein Fleck, une tache … tache … tache … Natascha … Natascha, meine Schwester, mit den schwarzen Augen. Die liebe Natascha. (Die wird sich wundern, wenn ich ihr erzähle, daß ich den Kaiser gesehen habe!) Natascha … Die Tasche, da nimm die Säbeltasche …« – »Bitte, mehr rechts, Euer Wohlgeboren; sonst geraten Sie ins Gebüsch«, sagte die Stimme eines Husaren, neben dem der im Einschlafen begriffene Rostow vorbeiritt. Rostow hob den Kopf in die Höhe, der ihm schon bis auf die Mähne des Pferdes hinabgesunken war, und hielt vor dem Husaren an. Der Schlaf überkam ihn unwiderstehlich, wie man es bei kleinen Kindern sieht. »Ja, ja, woran dachte ich doch noch? Das möchte ich nicht vergessen. Wie ich mit dem Kaiser reden werde? Nein, das war es nicht; das kommt erst morgen. Ja, ja! Auf die Tasche treten, darüber fallen … überfallen, uns überfallen, wen? Die Husaren. Husaren und Schnurrbärte … Bei uns in Moskau in der Twerskaja-Straße, da ritt so ein Husar mit einem Schnurrbart; ich habe noch neulich an ihn gedacht, gerade gegenüber dem Gurjewschen Haus … Der alte Gurjew … Ja, Denisow ist doch ein prächtiger Mensch! Aber das alles sind ja Kleinigkeiten. Die Hauptsache ist jetzt, daß der Kaiser hier ist. Wie er mich ansah; er wollte etwas sagen, aber er wagte es nicht … Nein, der es nicht wagte, das war ich. Aber das ist Unsinn; die Hauptsache ist: ich darf nicht vergessen, was ich Wichtiges gedacht habe, ja. Auf die Tasche, darüber fallen, uns überfallen, ja, ja, ja. So ist’s in Ordnung.« Er fiel wieder mit dem Kopf auf den Hals des Pferdes. Plötzlich schien es ihm, als würde auf ihn geschossen. »Was ist das? Was ist das …? Einhauen! Was ist das …?« rief Rostow, zu sich kommend. In dem Augenblick, wo er die Augen öffnete, hörte er vor sich, dort, wo der Feind stand, ein langgezogenes, tausendstimmiges Geschrei. Sein eigenes Pferd und das des Posten stehenden Husaren, neben dem er noch immer hielt, spitzten bei diesem Geschrei die Ohren. An der Stelle, von der das Geschrei herübertönte, leuchtete ein Lichtschein auf und erlosch wieder, dann ein zweiter, und in der ganzen Linie der französischen Truppen auf dem Berg flammten Feuer auf, und das Geschrei wurde immer stärker und stärker. Rostow hörte den Klang französischer Worte, konnte sie aber nicht verstehen. Es tönten zu viele Stimmen durcheinander. Man hörte nur: aaaa! und rrrr!
»Was ist das? Was meinst du dazu?« wandte sich Rostow an den neben ihm haltenden Husaren. »Das ist doch beim Feind?«
Der Husar gab keine Antwort.
»Na, hörst du es denn etwa nicht?« fragte Rostow wieder, nachdem er ziemlich lange auf eine Antwort gewartet hatte.
»Wer kann wissen, was das ist, Euer Wohlgeboren?« antwortete der Husar endlich gezwungen.
»Nach der Gegend zu urteilen, muß es wohl der Feind sein?« setzte Rostow seine Fragen fort.
»Vielleicht ist er’s, vielleicht auch nicht«, sagte der Husar. »Bei Nacht ist das so eine Sache … Na! Ruhig!« rief er seinem Pferd zu, das sich unter ihm regte.
Rostows Pferd wurde gleichfalls unruhig, schlug mit dem Huf gegen die gefrorene Erde, horchte auf die Töne und blickte nach den Feuern. Das Geschrei der vielen Stimmen wuchs immer stärker an und floß in ein allgemeines Gebrause zusammen, wie es nur ein Heer von vielen tausend Köpfen hervorbringen konnte. Die Feuer verbreiteten sich immer weiter und weiter, wahrscheinlich an der ganzen Linie des französischen Lagers entlang. Rostows Schläfrigkeit war verschwunden. Das frohe, triumphierende Geschrei im feindlichen Heer machte ihn wach und munter. »Vive l’empereur, l’empereur!« konnte Rostow jetzt deutlich hören.
»Es kann nicht weit sein, wahrscheinlich gleich jenseits des Baches«, sagte er zu dem Husaren.
Der Husar seufzte nur, antwortete nichts und räusperte sich verdrießlich. Längs der Vorpostenlinie der Husaren war ein herantrabender Reiter zu hören, und aus dem nächtlichen Nebel hob sich plötzlich, einen Augenblick lang einem gewaltigen Elefanten gleich, die Gestalt eines Husarenunteroffiziers heraus.
»Euer Wohlgeboren, die Generale!« sagte der Unteroffizier zu Rostow heranreitend. Rostow ritt mit dem Unteroffizier, indem er sich dabei immer noch nach den Feuern und dem Geschrei umsah, einer Anzahl von Reitern entgegen, die an der Vorpostenkette entlanggeritten kamen. Einer ritt auf einem Schimmel. Es waren Fürst Bagration und Fürst Dolgorukow nebst ihren Adjutanten; sie waren ausgeritten, um nach dieser seltsamen Erscheinung im feindlichen Lager, den Feuern und dem Geschrei, Ausschau zu halten. Rostow ritt an Bagration heran, stattete seinen Rapport ab und schloß sich dann den Adjutanten an, um zu hören, was die Generale sagen würden.
»Glauben Sie mir«, sagte Fürst Dolgorukow, zu Bagration gewendet, »das Ganze ist weiter nichts als eine List: er hat sich zurückgezogen und die Arrieregarde angewiesen, Feuer anzuzünden und Lärm zu machen, um uns zu täuschen.«
»Schwerlich«, erwiderte Bagration. »Ich habe sie noch abends auf jenem Hügel gesehen; zöge der Feind sich zurück, so wären sie auch von dort schon verschwunden … Herr Offizier«, wandte sich Fürst Bagration an Rostow, »stehen dort noch seine Vorposten?«
»Am Abend standen sie noch da; wie es jetzt ist, weiß ich nicht, Euer Durchlaucht. Wenn Sie befehlen, werde ich mit ein paar Husaren hinreiten«, erwiderte Rostow.
Bagration hielt an; ohne zu antworten, suchte er in dem Nebel Rostows Gesicht zu erkennen.
»Nun gut, sehen Sie einmal zu«, sagte er nach kurzem Stillschweigen.
»Zu Befehl.«
Rostow gab seinem Pferd die Sporen, rief den Unteroffizier Fedtschenko und noch zwei Husaren herbei, befahl ihnen, hinter ihm herzureiten, und ritt im Trab bergab auf das immer noch fortdauernde Geschrei zu. Es war ihm ängstlich und froh zugleich zumute, wie er da so allein mit seinen drei Husaren dahinritt in diese geheimnisvolle, gefährliche, neblige Ferne, wo vor ihm noch niemand gewesen war. Bagration rief ihm von oben her noch nach, er solle nicht weiter als bis an den Bach reiten; aber Rostow tat, als hätte er diese Weisung nicht mehr gehört, und ritt, ohne anzuhalten, weiter und weiter, wobei er sich fortwährend irrte, indem er Büsche für Bäume und Wasserrinnsale für Menschen hielt, und dann fortwährend seines Irrtums innewurde. Als er im Trab am Fuße des Berges angelangt war, sah er weder die Lagerfeuer der Unsrigen noch die der Feinde mehr, hörte aber das Schreien der Franzosen lauter und deutlicher. Im Talgrund erblickte er etwas vor sich, was wie ein Fluß aussah; aber als er hingelangt war, sah er, daß es ein Fahrweg war. Er ritt auf den Weg und hielt unschlüssig sein Pferd an: sollte er den Weg verfolgen oder ihn kreuzen und über das schwarze Feld bergauf reiten? Auf dem im Nebel hellschimmernden Weg zu reiten war minder gefährlich, weil es hier eher möglich war, menschliche Gestalten zu unterscheiden. »Mir nach!« kommandierte er, kreuzte den Weg und ritt im Galopp bergauf nach dem Ort hin, wo am Abend ein französisches Pikett gestanden hatte.
»Euer Wohlgeboren, da ist er«, sagte hinter ihm einer der Husaren.
Und Rostow hatte noch nicht Zeit gehabt, einen schwärzlichen Gegenstand, der plötzlich im Nebel sichtbar wurde, zu erkennen, als ein Feuerschein aufblitzte, ein Schuß knallte und die Kugel mit einer Art von klagendem Pfeifen oben durch den Nebel flog und sich aus der Hörweite verlor. Ein zweites Gewehr ging nicht los; es blitzte nur das Pulver auf der Zündpfanne auf. Rostow warf sein Pferd herum und ritt im Galopp zurück. Noch vier Schüsse ertönten in verschiedenen Zeitabständen, und mit verschiedenartig singenden Tönen flogen die Kugeln irgendwo durch den Nebel. Rostow hielt sein Pferd zurück, das, ebenso wie er selbst, durch die Schüsse in eine fröhliche Erregung gekommen war, und ritt im Schritt weiter. »Schießt nur immer weiter, immer weiter!« sagte eine vergnügte Stimme in seinem Innern. Aber es erfolgten keine weiteren Schüsse mehr.
Erst als er sich dem Fürsten Bagration näherte, setzte Rostow sein Pferd wieder in Galopp und ritt, die Hand an den Mützenschirm legend, zu ihm heran.
Dolgorukow hatte inzwischen immer noch hartnäckig seine Ansicht verfochten, daß die Franzosen abgezogen wären und nur um uns zu täuschen, Feuer angezündet hätten.
»Was beweist denn das?« sagte er gerade in dem Augenblick, als Rostow zu ihnen herangeritten kam. »Sie werden abgezogen sein und ein paar Piketts zurückgelassen haben.«
»Es scheint doch, daß sie noch nicht alle abgezogen sind, Fürst«, erwiderte Bagration. »Warten wir bis morgen früh; morgen werden wir über alles ins klare kommen.«
»Euer Durchlaucht, das Pikett steht auf dem Berg immer noch an derselben Stelle, wo es am Abend stand«, meldete Rostow sich vorbeugend und die Hand an den Mützenschirm haltend; er war nicht imstande, ein fröhliches Lächeln zu unterdrücken, das sein Rekognoszierungsritt und besonders das Pfeifen der Kugeln auf seinem Gesicht hervorgerufen hatten.
»Gut, gut«, antwortete Bagration. »Ich danke Ihnen, Herr Offizier.«
»Euer Durchlaucht«, sagte Rostow, »gestatten Sie mir eine Bitte.«
»Nämlich?«
»Meine Eskadron ist morgen zur Reserve bestimmt; gestatten Sie mir die Bitte um Abkommandierung zur ersten Eskadron.«
»Wie ist Ihr Name?«
»Graf Rostow.«
»Ah, schön. Sie können als Ordonnanzoffizier bei mir bleiben.«
»Ein Sohn von Ilja Andrejewitsch?« fragte Dolgorukow.
Aber Rostow gab ihm keine Antwort.
»Also darf ich hoffen, Euer Durchlaucht?«
»Ich werde Befehl geben.«
»Morgen kann es leicht so kommen«, dachte Rostow, »daß ich mit irgendeiner Meldung zum Kaiser geschickt werde. Gott sei Dank!«
Das Geschrei und die Feuer in der feindlichen Armee waren dadurch veranlaßt worden, daß, während den Truppen der Tagesbefehl Napoleons vorgelesen wurde, der Kaiser selbst durch ihre Biwaks hindurchritt. Sobald die Soldaten den Kaiser erblickten, zündeten sie Strohbüschel an und liefen ihm mit dem Ruf: »Vive l’empereur!« nach. Der Tagesbefehl Napoleons lautete folgendermaßen:
»Soldaten! Die russische Armee zieht gegen uns, um die Niederlage zu rächen, die wir der österreichischen Armee bei Ulm beigebracht haben. Dies sind dieselben Bataillone, die ihr bei Hollabrunn geschlagen und seitdem ununterbrochen bis zu diesem Punkt verfolgt habt. Die Positionen, die wir innehaben, sind stark, und wenn die Feinde versuchen sollten, mich auf der rechten Seite zu umgehen, so werden sie mir ihre Flanke zum Angriff darbieten! Soldaten! Ich selbst werde eure Bataillone führen. Ich werde mich außerhalb des Feuers halten, wenn ihr mit eurer gewohnten Tapferkeit Unordnung und Verwirrung in die Reihen der Feinde tragen werdet; sollte aber der Sieg auch nur für einen Augenblick zweifelhaft werden, so werdet ihr euren Kaiser unter den Vordersten sich den Streichen des Feindes aussetzen sehen; denn der Sieg darf nicht ins Schwanken kommen, namentlich an einem Tag, an dem es sich um die Ehre des französischen Infanteristen handelt, die für die Ehre der Nation so notwendig und unentbehrlich ist.
Niemand darf Reih und Glied verlassen unter dem Vorwand der Wegschaffung Verwundeter! Möge ein jeder sich ganz von dem Gedanken durchdringen lassen, daß wir diese Mietlinge Englands besiegen müssen, die von solchem Haß gegen unsere Nation erfüllt sind. Dieser Sieg wird unsern Feldzug beendigen, und wir werden in die Winterquartiere zurückkehren können, wo die neuen französischen Truppen zu uns stoßen werden, welche ich jetzt in Frankreich formieren lasse; und dann wird der Friede, den ich schließen werde, meines Volkes und euer und meiner selbst würdig sein.
Napoleon.«
XIV
Um fünf Uhr morgens war es noch ganz dunkel. Die Truppen des Zentrums, die Reserven, sowie der von Bagration kommandierte rechte Flügel verharrten noch regungslos; aber auf dem linken Flügel war schon Leben. Die dort stehenden Infanterie-, Kavallerie- und Artilleriekolonnen, welche als die ersten von den Höhen hinabsteigen sollten, um den rechten Flügel der Franzosen anzugreifen und der Disposition gemäß in die böhmischen Berge zurückzuwerfen, rührten sich bereits und erhoben sich von ihrem Nachtlager. Der Rauch von den Lagerfeuern, in die sie alles Überflüssige hineinwarfen, biß in die Augen. Es war kalt und dunkel. Die Offiziere tranken eilig ihren Tee und frühstückten; die Soldaten kauten ihren Zwieback, trampelten umher, um sich zu erwärmen, und drängten sich um die Feuer, in denen sie Stühle, Tische, Räder, Fässer, Reste von den Baracken, kurz alles verbrannten, was nicht mitgenommen werden konnte. Höhere österreichische Offiziere eilten zwischen den russischen Truppen umher und konnten als Vorboten des Aufbruchs dienen. Sowie ein solcher österreichischer Offizier sich bei dem Quartier eines Regimentskommandeurs gezeigt hatte, geriet das Regiment in hastige Bewegung: die Soldaten liefen von den Feuern weg, steckten ihre Tabakspfeifen in die Stiefelschäfte, legten die Brotbeutel auf die Fuhrwerke, brachten ihre Gewehre in Ordnung und stellten sich auf. Die Offiziere knöpften die Uniformen zu, legten Degen und Ränzchen an und gingen, ab und zu einen Soldaten anschreiend, an den Reihen entlang; die Fuhrleute und Burschen spannten an, luden die Gepäckstücke auf und banden sie fest. Die Adjutanten, die Bataillons- und Regimentskommandeure stiegen zu Pferd, bekreuzten sich, erteilten den zurückbleibenden Fuhrleuten die letzten Befehle, Anweisungen und Aufträge, und nun ertönte der gleichmäßige, stampfende Tritt mehrerer tausend Füße. Die Kolonnen marschierten ab, ohne zu wissen wohin, und infolge der sie umgebenden Kameraden und des Rauches und des zunehmenden Nebels sahen sie weder die Örtlichkeit, die sie jetzt verließen, noch die, nach der sie hinzogen.
Der Soldat wird auf dem Marsch von seinem Regiment ebenso umgeben, beschränkt und mitgezogen, wie der Seemann von dem Schiff, auf dem er sich befindet. Wie weit er auch fortmarschieren, in welche fremdartigen, unbekannten, gefährlichen Gegenden er auch gelangen mag, um sich hat er (wie der Seemann immer und überall dasselbe Verdeck, dieselben Masten und Taue seines Schiffes) immer und überall dieselben Kameraden, dieselben Reihen, denselben Feldwebel Iwan Mitritsch, denselben Kompaniehund Schutschka, dieselben Vorgesetzten. Der Soldat hat nur selten den Wunsch, die Breiten kennenzulernen, in denen sich sein »Schiff« befindet; aber am Tag einer Schlacht macht sich, Gott weiß wie und woher, in der Gedankenwelt der Truppen gleichsam ein einheitlicher, ernster Ton vernehmbar, der das Herannahen von etwas Entscheidendem, Feierlichem zu bedeuten scheint und bei ihnen eine Neugier erweckt, die ihnen sonst fremd ist. Am Tag einer Schlacht suchen die Soldaten in lebhafter Erregung die enge Interessensphäre ihres Regiments zu überschreiten, sie horchen umher, blicken sich um und erkundigen sich eifrig nach dem, was um sie herum vorgeht.
Der Nebel hatte sich so verdichtet, daß man, obwohl es schon Tag geworden war, nicht zehn Schritte weit vor sich sehen konnte. Sträuche sahen aus wie riesige Bäume, Ebenen wie Abhänge und Schluchten. Überall, auf allen Seiten, konnte man mit dem auf zehn Schritte unsichtbaren Feind zusammenstoßen. Aber schon lange marschierten die Kolonnen immer in demselben Nebel dahin, bergab und bergauf, an Gärten und Feldern vorbei, durch eine neue, unbekannte Gegend; und nirgends stießen sie auf den Feind. Vielmehr nahmen die Soldaten bald vorn, bald hinten, auf allen Seiten, wahr, daß da russische Kolonnen in derselben Richtung marschierten. Jedem Soldaten war es ein angenehmes Gefühl, zu wissen, daß ebendahin, wohin er selbst ging, wiewohl das Ziel ihm unbekannt war, noch viele, viele andere der Unsrigen gingen.
»Nun sieh mal an, die Kursker sind auch vorbeimarschiert«, wurde in den Reihen gesagt.
»Es ist gar nicht zu glauben, Bruder, was für eine Unmasse von unsern Truppen hier zusammengekommen ist. Ich habe es mir am Abend angesehen, als die Feuer angezündet wurden: es war kein Ende davon zu erblicken. Ordentlich wie Moskau!«
Obgleich keiner der höheren Kommandeure an die Reihen heranritt und zu den Soldaten sprach (die höheren Offiziere waren, wie wir beim Kriegsrat gesehen haben, verstimmt und mit der in Aussicht genommenen Aktion unzufrieden und beschränkten sich daher darauf, die Befehle auszuführen, ohne sich um die Aufmunterung der Soldaten zu bemühen), marschierten die Soldaten dennoch in heiterer Stimmung, wie immer, wenn es zum Kampf und namentlich zum Angriff geht. Aber nachdem sie ungefähr eine Stunde, immer im dichten Nebel, marschiert waren, mußte ein großer Teil der Truppen haltmachen, und es verbreitete sich in den Reihen das unangenehme Gefühl, daß etwas in Unordnung gekommen sei und die Dispositionen nicht stimmten. Auf welche Weise ein solches Gefühl sich verbreitet, ist sehr schwer festzustellen; aber jedenfalls verbreitet es sich, einmal aufgekommen, mit außerordentlicher Sicherheit und sickert schnell immer weiter, unmerklich und unaufhaltsam, wie Wasser, das einen Abhang hinabläuft. Wären die russischen Truppen für sich allein gewesen, ohne Verbündete, so hätte es vielleicht noch längere Zeit gedauert, bis dieses Gefühl von einer Unordnung zur allgemeinen Überzeugung geworden wäre; aber jetzt schob man, als müßte das so sein, diese Unordnung den verdrehten Deutschen in die Schuhe, und alle waren überzeugt, daß da eine nachteilige Konfusion entstanden sei, an der diese Wurstmacher schuld wären.
»Warum haben wir haltgemacht? Ist der Weg versperrt? Oder sind wir schon auf die Franzosen gestoßen?«
»Nein, es ist nichts zu hören. Dann würde doch geschossen werden.«
»Da haben sie es nun so eilig gehabt mit unserm Ausmarsch, und nun sind wir ausmarschiert und stehen hier ohne Sinn und Zweck mitten auf dem Feld; diese verfluchten Deutschen richten immer nur Verwirrung an. Solche verrückten Kerle!«
»Ja, wenn’s auf mich ankäme, ich würde sie ins Vordertreffen stellen; aber die, da kann man sicher sein, die drücken sich nach hinten zusammen. Da müssen wir nun stehen, ohne etwas Ordentliches im Leib zu haben!«
»Na? Geht’s bald wieder weiter? Es heißt, die Kavallerie versperrt uns den Weg«, sagte ein Offizier zu einem andern.
»Ach, diese verdammten Deutschen! Kennen ihr eigenes Land nicht!« antwortete der.
»Von welcher Division sind Sie?« schrie ein Adjutant, der herangeritten kam.
»Von der achtzehnten.«
»Warum sind Sie denn dann hier? Sie müßten schon längst vorn sein! Jetzt kommen Sie vor Abend nicht durch!«
»Das kommt von den törichten Anordnungen; die hohen Herren finden selbst nicht darin zurecht«, sagte der eine Offizier und ritt weg.
Dann kam ein General geritten und rief zornig etwas, aber nicht auf russisch.
»Tafa-lafa; was der da schimpft, kann unsereiner nicht verstehen«, sagte ein Soldat, indem er dem fortreitenden General nachäffte. »Totschießen möchte ich sie, die Kanaillen!«
»Vor neun Uhr sollten wir an Ort und Stelle sein, und nun haben wir noch nicht einmal die Hälfte des Weges hinter uns. Das sind nette Anordnungen!« wurde von verschiedenen Seiten räsoniert.
Und der Kampfeswille, mit welchem die Truppen zum Gefecht aufgebrochen waren, fing an in Ärger und Zorn über die sinnlosen Anordnungen und über die Deutschen überzugehen.
Die Ursache der Verwirrung lag darin, daß während des Vorrückens der österreichischen Kavallerie auf dem linken Flügel die oberste Leitung gefunden hatte, unser Zentrum sei doch gar zu weit vom rechten Flügel entfernt, und daher der ganzen Kavallerie Befehl erteilt hatte, auf die rechte Seite hinüberzugehen. So zogen denn mehrere tausend Mann Kavallerie vor dem Fußvolk vorbei, und das Fußvolk mußte warten.
Bei der Tete der Infanterie kam es zu einem harten Zusammenstoß zwischen einem höheren österreichischen Offizier und einem russischen General. Der russische General verlangte, zornig schreiend, die Reiterei solle anhalten; der Österreicher wies darauf hin, daß nicht er, sondern die oberste Leitung daran schuld sei. Inzwischen standen die Truppen da, bekamen Langeweile und ließen den Mut sinken. Nach einem einstündigen Aufenthalt konnten sie sich endlich wieder in Bewegung setzen und begannen bergab zu marschieren. Der Nebel, der sich oben auf der Anhöhe zerteilt hatte, breitete sich in den Tälern, in die die Truppen hinabstiegen, nur um so dichter aus. Vorn erscholl im Nebel ein Schuß, ein zweiter; anfangs fielen die Schüsse unregelmäßig, in verschieden langen Zeitabständen: »Tratta … tat«, dann immer regelmäßiger und häufiger, und es entspann sich das Gefecht am Goldbach.
Da die Russen nicht damit gerechnet hatten, unten am Bach dem Feind zu begegnen, sondern im Nebel unvermutet auf ihn gestoßen waren, da von seiten der höheren Vorgesetzten keine ermunternden Worte an sie gerichtet wurden, da ferner unter den Truppen das Gefühl verbreitet war, sie seien schon zu spät gekommen, hauptsächlich aber, da sie in dem dichten Nebel nichts vor sich und um sich sahen: aus diesen Gründen erwiderten sie das Feuer des Feindes nur lässig und langsam; bald rückten sie vorwärts, bald blieben sie wieder stehen, weil sie nicht rechtzeitig die nötigen Weisungen von den höheren Vorgesetzten und Adjutanten erhielten, die sich bei dem Nebel in dem unbekannten Terrain verirrten und die betreffenden Truppenteile nicht fanden. So begann der Kampf für die erste, zweite und dritte Kolonne, die ins Tal hinabgestiegen waren. Die vierte Kolonne, bei der sich Kutusow selbst befand, stand auf den Höhen von Pratzen.
In der Tiefe, wo der Kampf begonnen hatte, herrschte überall noch dichter Nebel. Oben hatte es sich ja aufgeklärt, aber trotzdem konnte man nichts von dem sehen, was weiter vorn vorging. Ob wirklich alle Streitkräfte des Feindes, wie auf unserer Seite angenommen wurde, zehn Werst von uns entfernt waren, oder ob der Feind dort, in diesem Nebelstrich stand, das wußte vor neun Uhr niemand.
Jetzt war es neun Uhr. In der Tiefe lag der Nebel ausgebreitet wie ein zusammenhängender Meeresarm; aber bei dem Dorf Schlapanitz, auf der Anhöhe, auf welcher Napoleon, von seinen Marschällen umgeben, stand, war es völlig hell. Über ihm war klarer, blauer Himmel, und der gewaltige Sonnenball schien wie ein großer, hohler, dunkelroter Angelkorken auf der Oberfläche des milchweißen Nebelmeeres zu schaukeln. Die gesamten französischen Truppen und auch Napoleon selbst mit seinem Stab befanden sich nicht jenseits der Bäche und Täler der Dörfer Sokolnitz und Schlapanitz, d.h. der Dörfer, die wir erst hinter uns zu bringen beabsichtigten, um dort eine Position einzunehmen und den Kampf zu beginnen, sondern diesseits, und zwar so nahe an unseren Truppen, daß Napoleon mit bloßem Auge Reiter und Fußsoldaten voneinander unterscheiden konnte. Napoleon hielt, ein wenig vor seinen Marschällen, auf einem kleinen, grauen, arabischen Pferd, in einem blauen Mantel, demselben, in dem er den italienischen Feldzug durchgemacht hatte. Schweigend schaute er nach den Hügeln hin, welche inselartig aus dem Nebelmeer herausragten, und auf denen in der Ferne die russischen Truppen einherzogen, und horchte auf die Töne des Gewehrfeuers im Tal. In seinem damals noch mageren Gesicht bewegte sich kein Muskel; die blitzenden Augen waren starr nach einer Stelle hin gerichtet. Seine Voraussetzungen erwiesen sich als richtig. Die russischen Truppen waren teils schon in das Tal zu den Teichen und Seen hinabgezogen, teils hatten sie wenigstens schon die Pratzener Anhöhen verlassen, die er anzugreifen beabsichtigte, da er sie für die Schlüsselposition hielt. Er sah durch den Nebel, wie in einer Senkung, die bei dem Dorf Pratzen von zwei Bergen gebildet wird, die russischen Kolonnen mit ihren blitzenden Bajonetten sich immer in derselben Richtung nach dem Tal zu bewegten und eine nach der andern in dem Nebelmeer verschwand. Aus den Nachrichten, die ihm am Abend zugegangen waren, aus dem Geräusch von Rädern und Schritten, das die Vorposten in der Nacht gehört hatten, aus der unordentlichen Art, in der die russischen Kolonnen marschierten, aus alledem ersah er klar, daß die Verbündeten ihn weit vor sich glaubten, daß die Kolonnen, die sich in der Nähe von Pratzen bewegten, das Zentrum der russischen Armee bildeten, und daß das Zentrum bereits hinreichend geschwächt war, um es mit Erfolg angreifen zu können. Aber dennoch begann er den Kampf immer noch nicht.
Es war für ihn heute ein festlicher Tag: der Jahrestag seiner Krönung. Vor Tagesanbruch hatte er einige Stunden geschlafen und war dann, gesund, heiter, frisch und in jener glücklichen Gemütsverfassung, in der einem alles möglich scheint und alles gelingt, zu Pferd gestiegen und ins Feld hinausgeritten. Jetzt hielt er nun, ohne sich zu regen, und blickte nach den Anhöhen, die aus dem Nebel herausragten; und auf seinem kalten Gesicht lag jener besondere Ausdruck des Selbstgefühls und des Bewußtseins, sein Glück zu verdienen, wie er auf dem Gesicht eines verliebten, glücklichen, sehr jungen Menschen nicht selten anzutreffen ist. Die Marschälle hielten hinter ihm und wagten nicht, seine Aufmerksamkeit abzulenken. Er blickte bald nach den Anhöhen von Pratzen, bald nach der aus dem Nebel auftauchenden Sonne.
Als die Sonne sich völlig aus dem Nebel herausgehoben hatte und ihren blendenden Glanz über die Felder und über den Nebel ergoß, da zog er, wie wenn er nur auf diesen Moment gewartet hätte, um den Kampf zu beginnen, den Handschuh von seiner schönen weißen Rechten, gab den Marschällen einen Wink und erteilte den Befehl zur Eröffnung der Schlacht. Die Marschälle jagten, von ihren Adjutanten begleitet, nach verschiedenen Seiten davon, und einige Minuten darauf rückten die Hauptstreitkräfte der französischen Armee nach jenen Anhöhen von Pratzen vor, welche stetig von den russischen Truppen geräumt wurden, die nach links in das Tal hinunterzogen.
XV
Um acht Uhr ritt Kutusow nach Pratzen, an der Spitze des vierten, von Miloradowitsch kommandierten Kolonne, die an die Stelle der Przebyszewskischen und Langeronschen Kolonnen treten sollte, die schon bergab marschiert waren. Er begrüßte die Mannschaften des vordersten Regiments, erteilte das Kommando: »Marsch!« und gab damit zu verstehen, daß er diese Kolonne selbst zu führen beabsichtige. Als er zum Dorf Pratzen gelangt war, machte er halt. Zu der außerordentlich großen Zahl derjenigen, die die Suite des Oberkommandierenden bildeten, gehörte auch Fürst Andrei, welcher hinter ihm hielt. Fürst Andrei fühlte sich erregt und nervös, zeigte aber dabei doch die Ruhe und Selbstbeherrschung, wie sie beim Herannahen eines längst ersehnten Augenblicks nicht selten ist. Er war fest überzeugt, daß der heutige Tag ihm sein Toulon oder seine Brücke von Arcole bringen werde. Wie sich das zutragen werde, das wußte er nicht; aber daß es geschehen werde, davon war er fest überzeugt. Die Örtlichkeit und die Stellung unserer Truppen waren ihm soweit bekannt, wie sie überhaupt jemandem in unserer Armee bekannt sein konnten. An seinen eigenen strategischen Plan dachte er nicht mehr: von dessen Ausführung konnte offenbar unter den jetzigen Umständen gar nicht die Rede sein. Jetzt hatte sich Fürst Andrei in den Weyrotherschen Plan hineingedacht, überlegte die Eventualitäten, die sich ergeben konnten, und ersann neue Kombinationen, bei denen dann sein schneller Blick und seine Entschlossenheit zum guten Gelingen erforderlich sein würden.
Links unten, im Nebel, hörte man das Gewehrfeuer, das zwischen unsichtbaren Truppen stattfand. »Dort«, dachte Fürst Andrei, »wird sich der Kampf konzentrieren; dort wird es zu einer kritischen Situation kommen, und dorthin werde ich mit einer Brigade oder einer Division geschickt werden, und dort werde ich, eine Fahne in der Hand, meinen Leuten vorangehen und alles niederschmettern, was mir entgegensteht.«
Fürst Andrei war nicht imstande, die Fahnen der vorbeiziehenden Bataillone mit Gleichmut anzusehen. Sobald er eine Fahne erblickte, kam ihm jedesmal der Gedanke: »Vielleicht ist gerade dies die Fahne, mit der ich unseren Truppen vorangehen werde.«
Der nächtliche Nebel hatte am Morgen auf den Höhen nur Reif zurückgelassen, der dann in Tau übergegangen war; aber in den Tälern breitete sich der Nebel noch wie ein milchweißes Meer aus. Nichts war in jenem Tal zur Linken sichtbar, in welches unsere Truppen hinabstiegen, und von wo das Schießen herauftönte. Über den Höhen war tiefer, klarer Himmel, und zur Rechten stand der gewaltige Sonnenball. Vorn, in der Ferne, auf dem jenseitigen Ufer des Nebelmeeres, waren herausragende, bewaldete Hügel sichtbar, auf denen die feindliche Armee sich befinden mußte und auch wirklich irgend etwas Undeutliches zu erblicken war. Zur Rechten rückte gerade die Garde in den Bereich des Nebels ein: man hörte das Trappeln der Pferde und das Rollen von Rädern und sah ab und zu Bajonette blitzen; zur Linken, jenseits des Dorfes, rückte ebenfalls eine Kavalleriemasse heran und verschwand in dem Nebelmeer. Vorn und hinten marschierte Infanterie. Der Oberkommandierende hielt am Ausgang des Dorfes und ließ die Truppen an sich vorbeipassieren. Kutusow schien an diesem Morgen müde und reizbar zu sein. Die an ihm vorbeiziehende Infanterie blieb ohne Befehl stehen, offenbar weil sie vorn durch irgend etwas aufgehalten wurde.
»So ordnen Sie doch endlich an, daß sie sich in Bataillonskolonnen formieren und um das Dorf herumgehen«, sagte Kutusow zornig zu einem herbeireitenden General. »Begreifen Euer Exzellenz denn nicht, daß beim Anmarsch gegen den Feind die Truppen sich nicht in langer Linie durch dieses Defilee der Dorfstraße hindurchziehen dürfen!«
»Ich beabsichtigte, die Aufstellung vorzunehmen, sowie wir das Dorf hinter uns hätten, Euer hohe Exzellenz«, antwortete der General.
Kutusow lachte bitter auf.
»Das wird eine nette Geschichte werden, wenn Sie Ihre Front angesichts des Feindes entwickeln, eine sehr nette Geschichte!«
»Der Feind ist noch fern, Euer hohe Exzellenz. Nach der Disposition …«
»Was kümmert Sie die Disposition!« schrie Kutusow grimmig. »Wer hat Ihnen davon etwas gesagt? Tun Sie gefälligst, was ich Ihnen befehle!«
»Zu Befehl.«
»Mein Lieber«, flüsterte Neswizki dem Fürsten Andrei zu, »der Alte ist ja aber hundsschlechter Laune!«
Ein österreichischer Offizier, in weißer Uniform, mit grünem Federbusch, kam zu Kutusow herangejagt und fragte im Auftrag des Kaisers, ob sich die vierte Kolonne in den Kampf begeben habe.
Ohne ihm zu antworten, wandte sich Kutusow von ihm weg, und sein Blick fiel zufällig auf den hinter ihm haltenden Fürsten Andrei. Als er diesen sah, wurde der zornige, ingrimmige Ausdruck seines Blickes milder; Kutusow schien sich zu sagen, daß sein Adjutant ja doch an dem, was da vorging, keine Schuld habe. Und ohne dem österreichischen Adjutanten eine Antwort zu geben, wandte er sich an Bolkonski:
»Sieh doch einmal zu, mein Lieber, ob die dritte Kolonne schon das Dorf passiert hat. Sage ihr, sie solle haltmachen und auf meinen Befehl warten.«
Fürst Andrei war schon im Fortreiten, als er ihn noch zurückhielt.
»Und frage auch, ob Tirailleurs vorgeschickt sind«, fügte er hinzu. »Was da für Dinge gemacht werden, was da für Dinge gemacht werden!« redete er dann vor sich hin; dem Österreicher hatte er immer noch nicht geantwortet.
Fürst Andrei sprengte davon, um den Auftrag auszuführen.
Nachdem er die vor ihm marschierenden Bataillone überholt hatte, brachte er die dritte Kolonne zum Stehen und überzeugte sich, daß tatsächlich vor ihrer Spitze keine Tirailleurkette aufgestellt war. Der Kommandeur des vordersten Regiments war sehr erstaunt über den ihn vom Oberkommandierenden erteilten Befehl, Tirailleure ausschwärmen zu lassen. Der Regimentskommandeur, der nun dort haltgemacht hatte, war der festen Überzeugung, daß er noch andere russische Truppen vor sich habe, und daß der Feind noch mindestens zehn Werst entfernt sei. Und wirklich war vorn nichts zu sehen als ein menschenleeres Terrain, das sich nach vorn senkte und von dichtem Nebel bedeckt war. Nachdem Fürst Andrei ihm im Namen des Oberkommandierenden befohlen hatte, das Versäumte nachzuholen, ritt er eilig wieder zurück. Kutusow hielt noch immer an derselben Stelle; er hatte seinen alten, wohlgenährten Körper auf dem Sattel zusammensinken lassen und gähnte krampfhaft, wobei er die Augen schloß. Die Truppen bewegten sich nicht mehr, sondern standen Gewehr bei Fuß.
»Gut, gut«, sagte er zum Fürsten Andrei, der sich zurückmeldete, und wandte sich zu einem General, der mit der Uhr in der Hand bemerkte, es sei wohl Zeit, sich in Marsch zu setzen, da alle Kolonnen des linken Flügels bereits ins Tal hinabgestiegen seien.
»Wir haben noch Zeit, Euer Exzellenz«, antwortete Kutusow, der immerzu gähnte. »Wir haben noch Zeit!« sagte er noch einmal.
In diesem Augenblick erscholl hinter Kutusow in der Ferne das bekannte Geschrei, mit dem die Regimenter einen Vorgesetzten begrüßen, und dieses Geschrei, das sich durch die ganze, lang ausgedehnte Linie der heranrückenden russischen Kolonnen fortpflanzte, kam rasch näher. Es war deutlich, daß der, dem der Gruß galt, sehr schnell ritt. Als die Soldaten desjenigen Regiments zu schreien anfingen, vor welchem Kutusow hielt, ritt dieser ein wenig zur Seite und sah sich stirnrunzelnd um. Auf dem Weg von Pratzen kam anscheinend eine ganze Eskadron buntfarbiger Reiter herangejagt. Zwei von ihnen ritten in scharfem Galopp nebeneinander vor den übrigen. Der eine, in schwarzer Uniform mit weißem Federbusch, ritt einen anglisierten Fuchs; der andre, in weißer Uniform, saß auf einem Rappen. Es waren die beiden Kaiser mit ihrer Suite. Kutusow, die Manieren eines im Frontdienst alt gewordenen Offiziers annehmend, gab dem dastehenden Regiment das Kommando: »Stillgestanden!« und ritt salutierend dem Kaiser entgegen. Seine ganze Gestalt und sein gesamtes Benehmen hatten sich auf einmal verändert. Er gab sich das Aussehen eines Untergebenen, der sich jedes eigenen Urteils begibt. Mit besonders herausgekehrter Ehrerbietung, wovon Kaiser Alexander offenbar unangenehm berührt war, ritt er auf ihn zu und salutierte vor ihm.
Aber der unangenehme Eindruck lief nur, wie ein leichter Nebeldunst am klaren Himmel, über das jugendliche, glückliche Gesicht des Kaisers hin und verschwand schnell wieder. Er war, nach seinem Unwohlsein, an diesem Tag etwas magerer als auf dem Olmützer Feld, wo ihn Bolkonski zum erstenmal im Ausland gesehen hatte; aber seine schönen, grauen Augen wiesen dieselbe bezaubernde Vereinigung von majestätischer Würde und sanfter Güte auf, und seine feinen Lippen zeigten dieselbe Fähigkeit zum Ausdruck mannigfaltigster Empfindungen, wobei eine gutherzige, jugendliche Harmlosigkeit vorherrschte.
Bei der Olmützer Truppenschau war er majestätischer gewesen; hier war er heiterer und energischer. Durch einen Galopp über drei Werst war sein Gesicht etwas gerötet; nachdem er nun sein Pferd angehalten hatte, schöpfte er, sich erholend, tief Atem und blickte sich nach seiner Suite um, deren Gesichter ebenso jugendlich und ebenso lebhaft waren wie das seinige. Czartoryski und Nowosilzew und Fürst Wolkonski und Stroganow und andere, sämtlich reich gekleidete, heitere junge Männer auf schönen, gutgepflegten, frischen, nur wenig in Schweiß geratenen Pferden hielten, in lächelnder Unterhaltung miteinander begriffen, hinter dem Kaiser. Kaiser Franz, ein rotwangiger junger Mann mit einem langen Gesicht, saß in sehr gerader Haltung auf einem schönen Rappen und blickte, wie mit ernsten Gedanken beschäftigt, langsam um sich. Er rief einen seiner weißen Adjutanten herbei und fragte ihn etwas. »Er fragt gewiß, zu welcher Stunde sie ausgeritten sind«, dachte Fürst Andrei, der in Erinnerung an seine Audienz seinen alten Bekannten, den Kaiser, mit einem Lächeln betrachtete, das er nicht unterdrücken konnte. In der Suite der Kaiser befanden sich auserlesene, schneidig aussehende Ordonnanzoffiziere, Russen und Österreicher, aus Garde-und Linienregimentern. Dazwischen führten Reitknechte schöne kaiserliche Reservepferde mit gestickten Decken.
Wie wenn durch ein geöffnetes Fenster auf einmal die frische Luft der Felder und Wiesen in eine dumpfige Stube hineinweht, so brachte diese glänzende, junge Schar, die so munter herangaloppiert war, in die unfrohe Umgebung Kutusows einen Hauch von Jugendlichkeit, Energie und Vertrauen auf gutes Gelingen hinein.
»Warum fangen Sie denn nicht an, Michail Ilarionowitsch?« wandte sich Kaiser Alexander mit einer raschen Bewegung an Kutusow, blickte aber gleichzeitig höflich den Kaiser Franz an.
»Ich warte noch, Euer Majestät«, antwortete Kutusow, nachdem er sich zuvor ehrfurchtsvoll verbeugt hatte.
Der Kaiser beugte sich mit dem Ohr nach ihm hin, indem er ein wenig die Stirn runzelte und durch seine Miene andeutete, daß er nicht recht verstanden habe.
»Ich warte noch, Euer Majestät«, sagte Kutusow noch einmal. (Fürst Andrei bemerkte, daß Kutusows Oberlippe in dem Augenblick, als er dieses »Ich warte noch« sprach, in seltsamer Weise zuckte.) »Es sind noch nicht alle Kolonnen zusammen, Euer Majestät.«
Der Kaiser hatte jetzt deutlich verstanden; aber diese Antwort gefiel ihm offenbar nicht; er zuckte die vorgebeugten Schultern und blickte den neben ihm haltenden Nowosilzew an, wie wenn er sich mit diesem Blick über Kutusow beklagen wollte.
»Wir sind ja doch nicht auf der Zarizyn-Wiese, Michail Ilarionowitsch, wo man die Parade nicht eher anfängt, als bis alle Regimenter angekommen sind«, sagte der Kaiser und blickte wieder nach dem Gesicht des Kaisers Franz, als ob er ihn auffordern wolle, an dem Gespräch teilzunehmen, oder doch wenigstens anzuhören, was er sage; aber Kaiser Franz fuhr fort sich umzusehen und hörte nicht.
»Eben darum fange ich nicht an, Euer Majestät«, erwiderte Kutusow mit kräftiger Stimme, als wollte er der Möglichkeit, nicht verstanden zu werden, vorbeugen, und wieder zuckte etwas in seinem Gesicht. »Eben darum fange ich nicht an, Euer Majestät, weil wir nicht bei einer Parade und nicht auf der Zarizyn-Wiese sind.« Er hatte klar und deutlich gesprochen.
In der Suite des Kaisers blickte man sich wechselseitig einen Augenblick an, und auf allen Gesichtern konnte man Mißbilligung und Unwillen lesen. »Wenn er auch ein alter Mann ist, aber so durfte er denn doch nicht reden; das durfte er unter keinen Umständen«, besagten die Mienen aller.
Der Kaiser blickte dem Oberkommandierenden unverwandt und aufmerksam ins Gesicht und wartete, ob er noch etwas sagen werde. Aber Kutusow hielt den Kopf respektvoll geneigt und schien ebenfalls zu warten. Dieses Schweigen dauerte etwa eine Minute lang.
»Indessen, wenn Euer Majestät befehlen«, sagte Kutusow endlich aufblickend, jetzt wieder in dem früheren Ton eines stumpfsinnigen Generals, der ohne eigenes Denken mechanisch gehorcht.
Er setzte sein Pferd in Gang, rief den Kommandeur der Kolonne, Miloradowitsch, zu sich und erteilte ihm den Befehl zum Angriff.
Die Truppen setzten sich wieder in Bewegung, und zwei Bataillone des Nowgoroder Regiments und ein Bataillon des Apscheroner Regiments marschierten in der Richtung auf den Feind zu am Kaiser vorüber.
Während dieses Apscheroner Bataillon vorbeimarschierte, sprengte der rotwangige Miloradowitsch, ohne Mantel, im bloßen Uniformrock, mit vielen Orden geschmückt, auf dem Kopf einen schräggesetzten Hut mit aufgeschlagener Krempe und gewaltigem Federbusch, im Galopp vor und parierte, stramm salutierend, sein Pferd vor dem Kaiser.
»Mit Gott, General«, sagte der Kaiser zu ihm.
»Euer Majestät, ich versichere, daß wir tun werden, was in unseren Kräften steht«, antwortete er in heiterem Ton, rief aber trotzdem bei den Herren der Suite des Kaisers durch seine schlechte französische Aussprache ein spöttisches Lächeln hervor.
Miloradowitsch warf sein Pferd kurz herum und nahm ein wenig hinter dem Kaiser Aufstellung. Die Apscheroner, durch die Gegenwart des Kaisers angefeuert, marschierten in strammem, flottem Schritt an den Kaisern und ihrer Suite vorbei.
»Kinder!« rief Miloradowitsch laut in selbstbewußtem, vergnügtem Ton; der Schall der Schüsse, die Erwartung des Kampfes und der Anblick der kraftvollen, mutigen Apscheroner, die noch unter Suworow seine Kameraden gewesen waren und nun in so prächtiger Haltung an den Kaisern vorbeimarschierten, dies alles hatte ihn offenbar dermaßen begeistert, daß er die Anwesenheit des Kaisers völlig vergaß. »Kinder! Ihr werdet heute nicht zum erstenmal ein Dorf zu stürmen haben!« rief er.
»Mit Freuden bemühen wir uns!« schrien die Soldaten.
Das Pferd des Kaisers scheute bei dem unerwarteten Geschrei. Dieses Pferd, das den Kaiser schon bei den Truppenschauen in Rußland getragen hatte, trug ihn auch hier auf dem Schlachtfeld von Austerlitz; ruhig ertrug das Tier es, wenn sein Reiter es in der Zerstreuung mit dem linken Fuß stieß, und spitzte die Ohren bei dem Schall der Schüsse, so wie es das auf der Zarizyn-Wiese getan hatte; es verstand weder, was die Schüsse, die es hörte, bedeuteten, noch, warum der Rappe des Kaisers Franz sein Nachbar war, noch, was der, welcher auf ihm ritt, an diesem Tag redete, dachte und fühlte.
Der Kaiser wandte sich lächelnd zu einem der Herren in seiner Umgebung und sagte etwas zu ihm, indem er auf die wackeren Apscheroner zeigte.
XVI
Kutusow, von seinen Adjutanten begleitet, ritt im Schritt hinter den Karabiniers her.
Nachdem er ungefähr eine halbe Werst an der Queue der Kolonne zurückgelegt hatte, machte er bei einem einzeln stehenden, verfallenen Haus, wahrscheinlich einem ehemaligen Wirtshaus, halt. Dort gabelte sich der Weg; beide Fortsetzungen führten bergab, und auf beiden marschierten Truppen.
Der Nebel begann sich zu zerteilen, und man konnte bereits, wenn auch nur undeutlich, in einer Entfernung von zwei Werst feindliche Truppen auf den gegenüberliegenden Höhen sehen. Links unten wurde das Schießen vernehmlicher. Kutusow hielt und redete mit einem österreichischen General. Fürst Andrei, der ein wenig dahinter hielt, beobachtete die beiden; dann wandte er sich an einen Adjutanten und bat diesen, ihm sein Fernrohr zu leihen.
»Sehen Sie nur, sehen Sie nur«, sagte dieser Adjutant und blickte dabei nicht nach den fernen Truppen, sondern vor sich nach dem nahen Fuß des Berges. »Da sind Franzosen!«
Die beiden Generale und die Adjutanten griffen nach dem Fernrohr und rissen es einander beinah aus den Händen. Alle Gesichter waren auf einmal verändert, und auf allen malte sich Schrecken und Bestürzung. Man hatte angenommen, die Franzosen seien zwei Werst von uns entfernt, und nun erschienen sie auf einmal unerwartet ganz nah vor uns.
»Ist das der Feind …? Nein …! Ja, sehen Sie nur, er ist es … wahrhaftig … Wie geht das zu?« riefen viele durcheinander.
Fürst Andrei sah mit bloßem Auge, wie unten rechts eine dichte Kolonne Franzosen den Apscheronern entgegen bergauf marschierte, nicht weiter als fünfhundert Schritte von dem Ort entfernt, wo Kutusow hielt.
»Da ist der entscheidende Augenblick; nun ist er gekommen! Jetzt ist’s an mir!« dachte Fürst Andrei, versetzte seinem Pferd einen Schlag und ritt an Kutusow heran.
»Die Apscheroner müssen zurückgehalten werden, Euer hohe Exzellenz!« rief er.
Aber in demselben Augenblick bedeckte sich alles mit Rauch; nahes Gewehrfeuer erscholl, und zwei Schritte vom Fürsten Andrei entfernt schrie ein Soldat in naivem Entsetzen: »Alles ist verloren, Brüder!« Und dieser Ruf wirkte wie ein Kommando. Auf diesen Ruf hin warfen sich alle in die Flucht.
Verwirrte, immer wachsende Scharen liefen zurück nach dem Platz, wo die Truppen fünf Minuten vorher vor den Kaisern vorbeigezogen waren. Es war nicht nur unmöglich, diese Menge zurückzuhalten, es war sogar schwer, selbst stehenzubleiben und nicht von ihr mit fortgerissen zu werden. Bolkonski blickte bestürzt um sich; er vermochte gar nicht zu fassen, was da vor seinen Augen vorging. Neswizki, dessen Gesicht ganz rot geworden war und arg entstellt aussah, rief in erregtem Ton dem Oberkommandierenden zu, wenn er sich nicht sogleich von dort entferne, werde er mit Sicherheit gefangengenommen werden. Aber Kutusow blieb an derselben Stelle stehen und zog, ohne zu antworten, sein Taschentuch heraus. Aus seiner Wange tröpfelte Blut. Fürst Andrei drängte sich zu ihm durch.
»Sie sind verwundet?« fragte er; er konnte kaum das Zittern seines Unterkiefers hemmen.
»Die Wunde ist nicht hier, sondern dort!« antwortete Kutusow, indem er das Tuch gegen die verwundete Wange drückte und auf die Fliehenden wies.
»Haltet sie auf!« schrie er, versetzte gleichzeitig, da er wahrscheinlich sah, daß ein Aufhalten unmöglich war, seinem Pferd einen Schlag und ritt nach rechts.
Eine neu heranflutende Schar von Fliehenden erfaßte ihn und zog ihn mit sich.
Die Truppen flohen in so dichtem Schwarm, daß, wer einmal in diesen Schwarm hineingeraten war, sich nur schwer wieder herausarbeiten konnte. Der eine schrie: »So mach doch, daß du weiterkommst! Was hältst du uns auf?« Ein andrer wandte sich um und schoß sein Gewehr in die Luft ab. Ein dritter versetzte dem Pferd, auf dem Kutusow saß, einen Schlag. Mit der größten Anstrengung arbeitete sich Kutusow aus dem Strom der Fliehenden nach links hinaus und ritt mit seiner um mehr als die Hälfte zusammengeschmolzenen Suite dahin, von wo nahes Geschützfeuer ertönte.
Fürst Andrei, der sich gleichfalls durch die Masse der Flüchtlinge hindurchgedrängt hatte und bemüht war, nicht hinter Kutusow zurückzubleiben, sah, wie am Abhang des Berges im Pulverrauch eine russische Batterie noch feuerte und die Franzosen gegen sie heranstürmten. Etwas höher hinauf stand russische Infanterie, die weder vorrückte, um der Batterie zu Hilfe zu kommen, noch in gleicher Richtung mit den Fliehenden zurückging. Ein General zu Pferd löste sich von dieser Truppe und ritt zu Kutusow heran. Von Kutusows Suite waren nur noch vier Personen übriggeblieben; alle waren blaß und sahen einander an.
»Halten Sie diese Halunken auf!« sagte, vor Wut fast erstickend, Kutusow zu dem Regimentskommandeur und zeigte auf die Fliehenden; aber in demselben Augenblick kam, gleichsam zur Strafe für diese Worte, wie ein Vogelschwarm eine Menge Kugeln pfeifend auf das Regiment und Kutusows Suite zugeflogen.
Die Franzosen hatten die Batterie angegriffen und, als sie Kutusow erblickten, auf diesen geschossen. Bei dieser Salve griff der Regimentskommandeur nach seinem Bein; mehrere Soldaten fielen, und der Fähnrich, der mit der Fahne dagestanden hatte, ließ sie aus den Händen sinken; die Fahne schwankte und fiel, wobei sie an den Gewehren der nächststehenden Soldaten hängenblieb. Die Soldaten begannen zu schießen, ohne ein Kommando abzuwarten.
»O-o-oh!« stöhnte Kutusow mit einer Miene der Verzweiflung und blickte um sich. »Bolkonski«, flüsterte er, und seine Stimme bebte in dem niederdrückenden Bewußtsein der Kraftlosigkeit des Alters, »Bolkonski«, flüsterte er und wies auf das in Auflösung begriffene Bataillon und auf die Feinde, »wie ist das möglich?«
Aber bevor er diese Worte zu Ende gesprochen hatte, war schon Fürst Andrei, welcher fühlte, wie ihm Tränen der Scham und des Zornes in die Kehle kamen, vom Pferd gesprungen und lief zur Fahne hin.
»Vorwärts, Kinder!« rief er; seine Stimme gellte schrill wie die eines Knaben.
»Nun ist es da!« dachte Fürst Andrei, ergriff die Fahnenstange und horchte mit Wonne auf das Pfeifen der Kugeln, die offenbar ganz besonders auf ihn gerichtet waren. Mehrere Soldaten fielen.
»Hurra!« rief Fürst Andrei, der die schwere Fahne kaum mit den Händen halten konnte, und lief vorwärts, in der festen Überzeugung, daß das ganze Bataillon ihm folgen werde.
Und wirklich brauchte er nur wenige Schritte allein zu laufen. Es setzte sich ein Soldat in Bewegung, dann ein zweiter, und mit dem Ruf: »Hurra!« lief das ganze Bataillon vorwärts und überholte ihn. Ein Unteroffizier kam herbeigelaufen und ergriff die Fahne, die infolge ihres Gewichtes in den Händen des Fürsten Andrei schwankte, wurde aber sofort erschossen. Fürst Andrei erfaßte die Fahne wieder und lief mit dem Bataillon, indem er die Fahnenstange am Boden nachschleifen ließ. Vor sich sah er unsere Artilleristen, von denen die einen kämpften, andere aber die Kanonen im Stich ließen und ihm entgegenliefen; er sah auch französische Infanteristen, welche die Artilleriepferde am Zügel faßten und die Kanonen umdrehten. Fürst Andrei war mit dem Bataillon schon bis auf zwanzig Schritte an die Geschütze herangekommen. Er hörte über seinem Kopf das beständige Pfeifen der Kugeln, und fortwährend stöhnten rechts und links von ihm Soldaten auf und fielen zu Boden. Aber er sah nicht zu ihnen hin; er blickte nur auf das, was vor ihm vorging, bei der Batterie. Er sah schon deutlich die Gestalt eines rothaarigen Artilleristen mit schiefsitzendem Tschako; der Artillerist hielt einen Stückwischer an dem einen Ende gepackt und zog ihn an sich, während ein Franzose am andern Ende zog. Fürst Andrei sah schon deutlich den ratlosen und zugleich ingrimmigen Gesichtsausdruck der beiden Soldaten, die sich offenbar nicht recht klar darüber waren, was sie taten.
»Was tun die beiden?« dachte Fürst Andrei, nach ihnen hinblickend. »Warum läuft der rothaarige Artillerist nicht weg, wenn er doch keine Waffen hat? Warum sticht ihn der Franzose nicht nieder? Sowie er anfängt wegzulaufen, wird dem Franzosen einfallen, daß er ja ein Gewehr mit einem Bajonett hat, und er wird ihn niederstechen.«
Wirklich kam ein anderer Franzose mit gefälltem Bajonett zu den beiden Ringenden hingelaufen, und das Schicksal des rothaarigen Artilleristen, der immer noch nicht begriff, was ihm bevorstand, und triumphierend seinem Gegner den Stückwischer aus den Händen riß, mußte sich jetzt entscheiden. Aber Fürst Andrei sah nicht, wie die Sache endete. Er hatte die Empfindung, als ob einer von den zunächst befindlichen Soldaten ihn mit einem starken Knüttel mit voller Wucht auf den Kopf schlüge.
Der Schmerz war nicht besonders groß; das Unangenehmste dabei war, daß dieser Schmerz seine Gedanken in Anspruch nahm und ihn hinderte, das zu sehen, wonach er soeben hingeblickt hatte.
»Was ist das? Falle ich? Die Knie knicken mir ja ein!« dachte er und fiel rücklings auf die Erde. Dann öffnete er wieder die Augen, in der Hoffnung, zu sehen, welchen Ausgang der Kampf der beiden Franzosen mit dem Artilleristen genommen habe, ob der rothaarige Artillerist getötet sei oder nicht; auch hätte er gern gewußt, ob die Kanonen genommen oder gerettet waren. Aber er sah nichts mehr als über sich den Himmel, den hohen Himmel, der jetzt nicht klar, aber doch unermeßlich hoch war, mit ruhig über ihn hingleitenden grauen Wolken. »Wie still und ruhig und feierlich das ist«, dachte Fürst Andrei. »Das hat so gar keine Ähnlichkeit mit unserm Laufen, Schreien und Kämpfen; das stille Dahingleiten der Wolken an diesem hohen, unendlichen Himmel hat so gar nichts gemein mit dem Ringen des Franzosen und des Artilleristen, die mit erregten, grimmigen Gesichtern einander den Stückwischer zu entreißen suchten. Wie ist es nur zugegangen, daß ich diesen hohen Himmel früher nie gesehen habe? Und wie glücklich bin ich, daß ich ihn endlich kennengelernt habe. Ja, alles ist nichtig, alles ist Irrtum und Lug, außer diesem unendlichen Himmel. Es gibt nichts, nichts außer ihm. Aber auch er ist nicht vorhanden; es gibt nichts als Stille und Ruhe. Und dafür sei Gott Dank …!«
XVII
Auf dem rechten Flügel, welchen Bagration kommandierte, hatte um neun Uhr der Kampf noch nicht begonnen. Da Bagration einerseits dem Verlangen Dolgorukows, daß er den Kampf beginnen solle, nicht willfahren und andrerseits jede Verantwortlichkeit von sich abwälzen wollte, so schlug er dem Fürsten Dolgorukow vor, zu dem Oberkommandierenden hinzuschicken und diesen zu befragen. Bagration wußte, daß bei dem fast zehn Werst betragenden Abstand des einen Flügels vom andern der Abgesandte, wenn er nicht erschossen wurde (was sehr wahrscheinlich war), und selbst wenn er den Oberkommandierenden fand (was sehr schwer war), nicht vor dem Nachmittag zurück sein konnte.
Bagration musterte seine Suite mit seinen großen, ausdruckslosen, schläfrigen Augen, und unwillkürlich erregte Rostows kindliches, vor Aufregung und Hoffnung starres Gesicht zuerst seine Aufmerksamkeit. Es bestimmte ihn für diese Sendung.
»Aber wenn ich Seine Majestät früher treffe als den Oberkommandierenden, Euer Durchlaucht?« fragte Rostow, die Hand am Mützenschirm.
»Dann können Sie Seiner Majestät die Anfrage vorlegen«, sagte Dolgorukow eilig, ohne Bagration zu Wort kommen zu lassen.
Rostow hatte, nach seiner Ablösung vom Vorpostendienst, vor Tagesanbruch noch die Möglichkeit gehabt, ein paar Stunden zu schlafen; er fühlte sich jetzt munter, unternehmungslustig und energisch; dank der Elastizität seiner Bewegungen, dem Vertrauen auf sein Glück und seiner frohen Gemütsstimmung schien ihm alles leicht, vergnüglich und ausführbar.
Alle seine Wünsche waren an diesem Morgen in Erfüllung gegangen: es wurde eine Entscheidungsschlacht geliefert, und er nahm an ihr teil; und damit nicht genug, war er auch Ordonnanzoffizier bei einem hervorragend tapferen General; und endlich ritt er mit einem Auftrag zu Kutusow, vielleicht sogar zum Kaiser selbst. Der Morgen war klar, das Pferd, das er ritt, tüchtig. Ihm war froh und glückselig zumute. Nachdem er den Auftrag erhalten hatte, trieb er sein Pferd an und sprengte an der Schlachtlinie entlang. Anfangs ritt er an der Front der Truppen Bagrations hin, die noch nicht in den Kampf eingetreten waren und dastanden, ohne sich zu rühren; dann kam er zu derjenigen Strecke, die von Uwarows Kavallerie ausgefüllt wurde, und hier bemerkte er schon eine gewisse Bewegung und Anzeichen von Vorbereitungen auf den Kampf; als er aber an der Uwarowschen Kavallerie vorbei war, da hörte er schon deutlich den Ton von Geschütz- und Gewehrfeuer vor sich. Und das Schießen nahm immer mehr zu.
In der frischen Morgenluft ertönten jetzt nicht mehr, wie vorher, in unregelmäßigen Zwischenräumen je zwei oder je drei Flintenschüsse und dann ein oder zwei Kanonenschüsse; sondern auf den Bergabhängen vor Pratzen erscholl ein unaufhörliches Geknatter von Gewehrfeuer, welches von so häufigen Kanonenschüssen unterbrochen wurde, daß manchmal mehrere Kanonenschüsse nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren, sondern in ein einziges allgemeines Dröhnen zusammenflossen.
Man konnte sehen, wie die kleinen Rauchwölkchen der Gewehre an den Bergabhängen gleichsam hinliefen, einander jagten und einholten, und wie die großen Rauchwolken der Geschütze wirbelnd aufstiegen, sich ausbreiteten und miteinander zusammenflossen. Man konnte in den Lücken des Rauches marschierende Infanteriemassen sehen, die an dem Blitzen der Bajonette kenntlich waren, und die schmalen Streifen der Artillerie mit den grünen Munitionswagen.
Rostow hielt auf einem Bergvorsprung sein Pferd einen Augenblick an, um das, was da vorging, zu betrachten; aber wie sehr er auch seine Aufmerksamkeit anstrengte, er konnte die Vorgänge nicht verstehen und nicht daraus klug werden: es bewegten sich da im Rauch allerlei Menschen, es bewegten sich allerlei Truppenkolonnen vorwärts und rückwärts; aber wozu? wer? wohin? Das war nicht zu begreifen. Aber dieser Anblick und diese Töne riefen bei ihm nicht etwa ein Gefühl der Niedergeschlagenheit oder der Angst hervor, sondern sie steigerten vielmehr seine Energie und Entschlossenheit.
»Nun, immer noch mehr, immer kräftiger!« sagte er in Gedanken zu diesen Tönen und sprengte wieder an der Linie entlang, wobei er immer weiter in den Bereich derjenigen Truppen kam, die bereits in den Kampf eingetreten waren.
»In welcher Weise sich die Sache abspielen wird, das weiß ich nicht«, dachte Rostow; »aber jedenfalls wird alles gut werden.«
Nachdem Rostow an einigen österreichischen Truppenteilen vorbeigeritten war, bemerkte er, daß der darauffolgende Teil der Schlachtlinie (es war die Garde) bereits im Kampf stand.
»Um so besser! Dann sehe ich es mir aus der Nähe an«, dachte er.
Er ritt fast an der vordersten Linie entlang. Eine Anzahl von Reitern kam, in der Richtung auf ihn zu, angejagt. Es waren unsere Leibulanen, die in aufgelösten Reihen von der Attacke zurückkehrten. Rostow kam nahe an ihnen vorbei, bemerkte unwillkürlich, daß einer von ihnen blutig war, und sprengte weiter.
»Das kümmert mich nicht!« dachte er. Er war nach dieser Begegnung noch nicht ein paar hundert Schritte weitergeritten, als sich links von ihm über die ganze Ausdehnung des Feldes hin eine gewaltige Masse Kavallerie, auf Rappen, in weißen, glänzenden Uniformen, zeigte, welche eine auf der seinigen senkrecht stehende Richtung verfolgte und im Trab gerade auf ihn zukam. Rostow ließ sein Pferd die schnellste Gangart anschlagen, um diesen Reitern aus dem Weg zu kommen, und dies wäre ihm auch gelungen, wenn sie immer in demselben Tempo weitergeritten wären; aber sie steigerten ihre Geschwindigkeit fortwährend, so daß manche Pferde schon galoppierten. Immer deutlicher und deutlicher hörte Rostow die Hufschläge der Pferde und das Klirren der Waffen; immer genauer sah er die Pferde und die Gestalten der Reiter und sogar ihre Gesichter. Es waren unsere Chevaliergardisten, die zur Attacke auf die französische Kavallerie vorgingen, welche gegen sie heranrückte.
Die Chevaliergardisten ritten in scharfem Tempo, verhielten aber ihre Pferde noch. Rostow sah schon ihre Gesichter und hörte das Kommando: »Marsch, marsch!«, das ein Offizier erteilte, indem er sein Vollblut in vollen Galopp versetzte. Rostow, der in Gefahr war, überritten oder in die Attacke auf die Franzosen mit hineingezogen zu werden, jagte vor der Front entlang, was sein Pferd nur laufen konnte; aber dennoch schien es, daß es ihm nicht gelingen werde, an ihnen vorbeizukommen.
Der Flügelmann der Chevaliergardisten, ein riesenhaft großer, pockennarbiger Kerl, runzelte grimmig die Stirn, als er Rostow vor sich sah, mit dem er unfehlbar zusammenstoßen mußte. Dieser Chevaliergardist hätte Rostow mitsamt seinem »Beduinen« zweifellos über den Haufen gerannt (Rostow selbst kam sich gar so klein und schwach vor im Vergleich mit diesen gewaltigen Männern und Pferden), wenn Rostow nicht auf den Gedanken gekommen wäre, mit der Kosakenpeitsche dem Pferd des Chevaliergardisten auf die Augen zu schlagen. Der schwere, große Rappe legte die Ohren zurück und bäumte sich; aber der pockennarbige Chevaliergardist stieß ihm, weit ausholend, die gewaltigen Sporen in die Seite, und das Pferd, mit dem Schweife schlagend und den Hals ausstreckend, stürmte noch schneller dahin. Kaum waren die Chevaliergardisten an Rostow vorbei, als er ihren Ruf: »Hurra!« hörte; er blickte sich um und sah, daß ihre vordersten Reihen sich mit fremden, also doch gewiß französischen Kavalleristen mit roten Epauletten vermengt hatten. Weiter aber konnte er nichts sehen, da unmittelbar darauf irgendwo in der Nähe eine heftige Kanonade begann und alles von Rauch bedeckt wurde.
Als Rostow die Chevaliergardisten, die an ihm vorbeigeritten waren, in dem Rauch aus den Augen verloren hatte, schwankte er, ob er ihnen nachjagen oder dahin reiten sollte, wohin seine Order lautete. Es war dies jene glänzende Attacke der Chevaliergardisten, die selbst den Franzosen imponierte. Für Rostow war es einige Zeit nachher eine furchtbare Empfindung, als er hörte, daß von diesem gesamten, nur aus großen, schönen Leuten bestehenden Regiment und von all diesen vornehmen, reichen, jungen Offizieren und Junkern, auf Pferden für tausend Rubel, daß von diesem ganzen Regiment, das an ihm vorbeigeritten war, nach der Attacke nur achtzehn Mann übriggeblieben waren.
»Ich brauche sie nicht zu beneiden; die Stunde des Kampfes wird auch für mich kommen. Und vielleicht sehe ich jetzt gleich den Kaiser!« dachte Rostow und jagte weiter.
Als er zur Gardeinfanterie gelangte, bemerkte er, daß über sie hinweg und um sie herum Kanonenkugeln flogen; und zwar wurde er darauf nicht dadurch aufmerksam, daß er den Ton der Kugeln hörte, sondern weil er auf den Gesichtern der Soldaten eine gewisse Unruhe und auf den Gesichtern der Offiziere einen gekünstelten, martialischen Ernst wahrnahm.
Während er hinter einem der in der Schlachtlinie stehenden Gardeinfanterie-Regimenter vorbeiritt, hörte er, daß ihn jemand beim Namen rief.
»Rostow!«
»Was gibt es?« rief er zurück, ohne Boris zu erkennen.
»Was sagst du dazu? Wir sind in die erste Linie gekommen! Unser Regiment ist zur Attacke vorgegangen!« sagte Boris und lächelte so glückselig, wie das junge Männer, die zum erstenmal ins Feuer gekommen sind, zu tun pflegen.
Rostow hatte sein Pferd angehalten.
»Nun sieh einmal an!« sagte er. »Nun, wie ist es denn gegangen?«
»Wir haben den Feind zurückgeschlagen!« erwiderte Boris lebhaft und wurde nun sehr redselig. »Stell dir nur vor …«
Und Boris begann zu erzählen, wie die Garde, die ruhig auf ihrem Platz gestanden und vor sich Truppen gesehen habe, diese für Österreicher gehalten habe und plötzlich durch Kanonenkugeln, die von diesen Truppen her zu ihr herübergeflogen seien, belehrt worden sei, daß sie in der vordersten Linie stehe, und wie sie nun unerwarteterweise habe in den Kampf eintreten müssen. Rostow ließ Boris seine Erzählung nicht zu Ende bringen, sondern trieb sein Pferd wieder an.
»Wohin willst du?« fragte Boris.
»Zu Seiner Majestät, mit einem Auftrag.«
»Da ist er«, sagte Boris, der verstanden hatte, Rostow wolle zu Seiner Hoheit, statt zu Seiner Majestät.
Er zeigte ihm mit der Hand den hochschultrigen Großfürsten, der hundert Schritt von ihnen, im Koller der Chevaliergardisten, den Helm auf dem Kopf, mit zusammengezogenen Brauen einem weißgekleideten österreichischen Offizier, der ganz blaß aussah, etwas zurief.
»Aber das ist ja der Großfürst, und ich muß zum Oberkommandierenden oder zum Kaiser«, sagte Rostow und wollte sein Pferd wieder antreiben.
»Graf, Graf!« rief da Berg, der von einer andern Seite herbeigelaufen kam und in ebenso lebhafter Erregung zu sein schien wie Boris, »Graf, ich bin an der rechten Hand verwundet worden« (er zeigte seine blutige Hand, die mit einem Taschentuch verbunden war), »aber ich bin doch bei der Truppe geblieben. Graf, ich halte nun den Degen in der linken Hand; in meiner Familie, in der Familie von Berg, Graf, hat es von jeher nur tüchtige Kriegsleute gegeben.«
Berg sagte noch etwas; aber Rostow ritt schon, ohne zu Ende zu hören, weiter.
Nachdem Rostow bei der Garde vorbei und dann durch einen leeren Zwischenraum geritten war, nahm er, um nicht wieder wie bei der Attacke der Chevaliergardisten in die erste Linie hineinzugeraten, seinen Weg an der Linie der Reserven entlang, in weiter Entfernung von der Gegend, wo das stärkste Gewehr-und Geschützfeuer ertönte. Plötzlich hörte er vor sich und hinter unseren Truppen, in einer Gegend, wo er in keiner Weise Feinde vermuten konnte, nahes Gewehrfeuer.
»Was kann das sein?« dachte Rostow. »Feinde im Rücken unserer Truppen? Unmöglich!« Aber auf einmal überkam ihn eine Angst für seine eigene Person und um den Ausgang der ganzen Schlacht. »Was es auch sein mag«, sagte er sich, »Umwege zu machen, dazu habe ich jetzt keine Zeit. Ich muß hier den Oberkommandierenden suchen, und wenn alles verloren ist, dann will auch ich mit zugrunde gehen.«
Die böse Ahnung, die ihn auf einmal befallen hatte, bestätigte sich immer mehr und mehr, je weiter er in das hinter dem Dorf Pratzen gelegene Terrain hineinkam, das von unordentlichen Haufen verschiedenartiger Truppenteile angefüllt war.
»Was gibt es hier? Was bedeutet das? Auf wen wird geschossen? Wer schießt da?« fragte Rostow, als er auf russische und österreichische Soldaten stieß, die in buntgemischtem Schwarm quer zu seiner eigenen Wegrichtung dahinliefen.
»Weiß der Teufel! Alle sind erschossen! Alles ist verloren!« wurde ihm auf russisch, auf deutsch und auf tschechisch aus den Haufen der Fliehenden geantwortet; diese verstanden ebensowenig wie er selbst, was hier vorging.
»Schlagt die Deutschen tot!« schrie einer.
»Hol sie der Teufel, die Verräter!«
»Zum Henker diese Russen …!« brummte ein Deutscher vor sich hin.
Auch einige Verwundete kamen auf demselben Weg vorüber. Ihr Stöhnen floß mit dem Schimpfen und Schreien zu einem allgemeinen, wirren Getöse zusammen. Das Schießen war verstummt; wie Rostow später erfuhr, hatten russische und österreichische Soldaten aufeinander geschossen.
»Mein Gott! Wie ist es nur möglich, daß sie so fliehen?« dachte Rostow. »Und noch dazu hier, wo sie jeden Augenblick der Kaiser sehen kann …! Aber nein, es sind gewiß nur einige Lumpen. Das ist eine vorübergehende Erscheinung; das ist kein wahres Bild der Sache; es ist nicht möglich!« dachte er. »Ich will nur recht schnell, recht schnell an ihnen vorbeireiten!«
Sein ganzes Wesen sträubte sich gegen den Gedanken an Niederlage und Flucht des Heeres. Obgleich er französische Geschütze und französische Truppen auf den Höhen von Pratzen erblickte, also gerade da, wo er den Oberkommandierenden aufsuchen sollte, konnte und wollte er nicht daran glauben.
XVIII
Rostow hatte Befehl, Kutusow und den Kaiser in der Nähe des Dorfes Pratzen zu suchen. Aber dort war keiner von beiden und überhaupt kein höherer Offizier, sondern nur buntscheckige Haufen, Reste aufgelöster Truppenteile. Er trieb sein bereits müde werdendes Pferd an, um möglichst schnell an diesen Haufen vorbeizukommen; aber je weiter er kam, um so ärger wurde der Zustand der Zerrüttung. Auf der breiten Landstraße, auf die er nun gelangte, drängten sich Fuhrwerke aller Art, russische und österreichische Soldaten aller Waffengattungen, Verwundete und Unversehrte. Alles das drängte in wildem Durcheinander und mit lautem Getöse vorwärts, unter der schrecklichen Begleitmusik der Kanonenkugeln, die von den Batterien auf den Höhen von Pratzen herübergeflogen kamen.
»Wo ist der Kaiser? Wo ist Kutusow?« fragte Rostow alle, deren er habhaft werden konnte; aber er erhielt von niemand Antwort.
Endlich hielt er einen Soldaten am Rockkragen fest und zwang ihn, ihm zu antworten.
»Ach, Bruder! Die sind alle schon lange nach da zu; die sind zuerst ausgerissen!« antwortete ihm der Soldat lachend und riß sich los.
Rostow ließ von diesem offenbar betrunkenen Soldaten ab, hielt das Pferd eines Offiziersburschen (es mochte auch der Reitknecht irgendeiner hohen Persönlichkeit sein) an und fragte diesen aus. Der Bursche erzählte ihm, der Kaiser sei vor einer Stunde in einem Wagen, was die Pferde nur laufen konnten, auf dieser selben Landstraße davongefahren; er sei gefährlich verwundet.
»Das ist unmöglich«, sagte Rostow. »Es ist gewiß irgendein anderer gewesen.«
»Ich habe ihn selbst gesehen«, erwiderte der Bursche mit einem selbstbewußten Lächeln. »Ich werde doch den Kaiser kennen; wie oft habe ich ihn nicht in Petersburg aus nächster Nähe gesehen. Ganz blaß, ganz blaß saß er in seiner Kutsche. Er jagte nur so an uns vorbei; Donnerwetter, was griffen die vier Rappen aus! Ich werde doch die Pferde des Zaren und Ilja Iwanowitsch kennen; mit einem andern als mit dem Zaren fährt der Kutscher Ilja überhaupt nicht.«
Rostow ließ das Pferd des Burschen, das er bis dahin festgehalten hatte, los und wollte weiterreiten. Ein vorbeigehender verwundeter Offizier redete ihn an.
»Zu wem wollen Sie?« fragte der Offizier. »Zu dem Oberkommandierenden? Der ist von einer Kanonenkugel getötet worden; in die Brust hat sie ihn getroffen, in der Nähe unseres Regiments.«
»Er ist nicht getötet, sondern nur verwundet«, verbesserte ihn ein andrer Offizier.
»Wer denn? Kutusow?« fragte Rostow.
»Nein, Kutusow nicht, sondern … wie heißt er doch gleich? Na, es ist ja ganz gleich; am Leben sind überhaupt nicht viele geblieben. Reiten Sie nur dorthin, sehen Sie, dort nach dem Dorf; da haben sich alle Kommandeure zusammengefunden«, sagte dieser zweite Offizier, auf das Dorf Hostieradek weisend, und ging vorbei.
Rostow ritt jetzt im Schritt; er wußte nicht, zu wem er jetzt reiten sollte, und was es noch für Zweck habe. Der Kaiser war verwundet, die Schlacht verloren. Es schien unmöglich, daran noch zu zweifeln. Rostow ritt nach der Richtung, die ihm gezeigt worden war, und in der er schon in der Ferne eine Kirche mit Turm sah. Wozu sollte er sich jetzt noch beeilen? Was sollte er jetzt noch zum Kaiser oder zu Kutusow sagen, selbst wenn sie noch am Leben und unverwundet waren?
»Reiten Sie auf diesem Weg hier, Euer Wohlgeboren!« rief ihm ein Soldat zu. »Auf dem da geradeaus werden Sie totgeschossen. Jawohl, totgeschossen!«
»Ach, was redst du da!« sagte ein andrer. »Warum soll er denn hier reiten? Dort ist es näher.«
Rostow überlegte einen Augenblick lang und ritt dann absichtlich auf dem Weg, von dem ihm gesagt war, daß er dort totgeschossen werden würde.
»Jetzt ist schon alles gleich«, dachte er. »Wenn der Kaiser verwundet ist, wozu soll ich mich dann noch in acht nehmen?« Er gelangte jetzt an einen freien Platz, auf welchem eine ganz besonders große Anzahl derjenigen, die sich auf der Flucht aus Pratzen befunden hatten, vom Verderben ereilt worden war. Die Franzosen hatten diesen Platz noch nicht besetzt, und diejenigen Russen, die am Leben geblieben oder nur leicht verwundet waren, hatten ihn schon längst verlassen. Auf dem Feld lagen, wie Getreidemandel auf einem guten Acker, zehn, fünfzehn Tote oder Verwundete auf jedem Hektar Landes. Die Verwundeten krochen zu Gruppen von zweien oder dreien zusammen, und man hörte ihr schreckliches, mitunter, wie es Rostow schien, übertriebenes Schreien und Stöhnen. Rostow setzte sein Pferd in Trab, damit er nicht alle diese leidenden Menschen länger zu sehen brauche, und es wurde ihm beklommen zumute. Er fürchtete nicht für sein Leben, sondern für seine Mannhaftigkeit, deren er jetzt so dringend bedurfte, und die (das fühlte er) bei dem Anblick aller dieser Unglücklichen ihm untreu zu werden drohte.
Die Franzosen hatten aufgehört gehabt, dieses mit Toten und Verwundeten übersäte Feld zu beschießen, weil kein unverletzter Gegner auf ihm mehr vorhanden war; aber als sie den darüber hinreitenden Adjutanten erblickten, richteten sie die Geschütze auf ihn und schossen ein paar Kugeln herüber. Diese furchtbaren, pfeifenden Töne und der Anblick der ihn umgebenden Leichen wirkten zusammen, um in Rostows Seele ein Gefühl des Schreckens und des Mitleides mit sich selbst wachzurufen. Es fiel ihm der letzte Brief seiner Mutter ein. »Wie würde ihr zumute sein«, dachte er, »wenn sie mich jetzt hier auf diesem Feld sähe, wie die Geschütze auf mich gerichtet sind?«
In dem Dorf Hostieradek befanden sich die russischen Truppen, die vom Kampfplatz abgezogen waren, zwar gleichfalls in Verwirrung, aber doch in etwas besserer Ordnung. Die französischen Geschütze reichten noch nicht bis hierher, und der Schall des Schießens klang nur von fern herüber. Hier waren sich alle bereits darüber klar und sprachen es auch aus, daß die Schlacht verloren war. Aber Rostow mochte sich wenden, an wen er wollte, niemand konnte ihm sagen, wo der Kaiser oder wo Kutusow wäre. Die einen behaupteten, das Gerücht von einer Verwundung des Kaisers sei zutreffend; andere dagegen bestritten es und suchten die Entstehung des unwahren Gerüchtes, das sich verbreitet habe, so zu erklären: der Oberhofmarschall Graf Tolstoi, der mit den anderen Herren der kaiserlichen Suite auf das Schlachtfeld hinausgeritten sei, sei tatsächlich in dem Wagen des Kaisers mit blassem, verstörtem Gesicht von dort in größter Eile wieder zurückgefahren. Von einem Offizier hörte Rostow, er habe hinter dem Dorf links einen der höheren Kommandeure gesehen, und Rostow ritt dorthin, nicht weil er noch gehofft hätte, jemand zu finden, sondern nur zur Beruhigung seines eigenen Gewissens. Nachdem er drei Werst geritten war und die letzten russischen Truppen hinter sich gelassen hatte, erblickte er in der Nähe eines Obstgartens, der mit einem Graben umgeben war, zwei Reiter, die nicht weit von dem Graben, diesem zugewendet, hielten. Der eine, mit einem weißen Federbusch auf dem Hut, kam Rostow bekannt vor, ohne daß er eigentlich wußte warum; der andere ihm unbekannte Reiter, der auf einem schönen Fuchs saß (hier glaubte Rostow nun wieder das Pferd zu kennen), ritt an den Graben heran, gab dem Pferd die Sporen, ließ ihm die Zügel und setzte leicht und behend über den Graben. Nur etwas Erde stießen die Hinterhufe des Pferdes von der Böschung hinunter. Dann warf er sein Pferd kurz herum, sprang wieder über den Graben zurück und wandte sich respektvoll an den Reiter mit dem weißen Federbusch; offenbar forderte er ihn auf, dasselbe zu tun. Der erste Reiter, dessen Gestalt Rostow bekannt vorgekommen war und unwillkürlich seine Aufmerksamkeit fesselte, machte mit dem Kopf und der Hand eine verneinende Gebärde, und an dieser Gebärde erkannte Rostow augenblicklich seinen beweinten, angebeteten Kaiser.
»Aber er kann es nicht sein, hier so ganz allein mitten auf diesem menschenleeren Feld!« dachte Rostow. In diesem Augenblick wendete Alexander den Kopf, und Rostow erblickte die geliebten Züge, die sich so tief seinem Gedächtnis eingeprägt hatten. Der Kaiser war blaß; seine Wangen waren eingefallen; die Augen lagen tief in ihren Höhlen; aber um so milder und anziehender erschienen seine Züge. Rostow war glücklich, sich überzeugt zu haben, daß das Gerücht von einer Verwundung des Kaisers unzutreffend war. Er war glücklich, ihn zu sehen. Er wußte: er durfte, ja mußte sich unmittelbar an ihn wenden und an ihn ausrichten, was Fürst Dolgorukow ihm auszurichten befohlen hatte.
Aber wie ein verliebter Jüngling zittert und bangt, wenn der lang ersehnte Augenblick endlich gekommen ist und er »ihr« unter vier Augen gegenübersteht, und wie er nicht wagt, das auszusprechen, was er sich in schlaflosen Nächten zurechtgelegt hat, sondern erschrocken um sich blickt und Hilfe oder eine Möglichkeit des Aufschubs und der Flucht sucht: so wußte auch Rostow jetzt, wo er das erreicht hatte, was sein größter Wunsch auf der Welt gewesen war, nicht, wie er sich dem Kaiser nähern sollte, und es traten ihm tausend Gründe entgegen, weshalb dies unangemessen, unpassend und unmöglich sei.
»Nein! Es würde ja scheinen, als freute ich mich, diese Gelegenheit benutzen zu können, wo er allein und niedergeschlagen ist. Die Anwesenheit jeder fremden Person muß ihm in diesem Augenblick des Kummers unangenehm und peinlich sein; und dann: was könnte ich jetzt zu ihm sagen, wo mir schon bei seinem bloßen Anblick der Herzschlag aussetzt und Lippen und Gaumen trocken werden?« Von all den zahllosen Ansprachen an den Kaiser, die er sich in Gedanken zurechtgelegt hatte, kam ihm jetzt keine einzige ins Gedächtnis. Diese Ansprachen sollten unter ganz anderen Verhältnissen gehalten werden; sie sollten größtenteils in Augenblicken des Sieges und Triumphes gesprochen werden, und ganz besonders, wenn er infolge der empfangenen Wunden auf dem Sterbebett liegen und der Kaiser ihm für sein heldenhaftes Verhalten danken würde; dann wollte er ihm sterbend seine durch die Tat bekräftigte Liebe aussprechen.
»Und dann: wie könnte ich jetzt noch den Kaiser nach seinen Befehlen für den rechten Flügel fragen, wo es doch schon drei Uhr vorbei und die Schlacht verloren ist? Nein, ich darf unter keinen Umständen zu ihm heranreiten. Ich darf ihn in seinen trüben Gedanken nicht stören. Lieber tausendmal sterben als einen zürnenden Blick von ihm erhalten und eine üble Meinung bei ihm erwecken!« sagte sich Rostow und ritt mit Trauer und Verzweiflung im Herzen fort, indem er sich beständig nach dem Kaiser umblickte, der noch immer in derselben unentschlossenen Haltung bei dem Graben zu Pferd saß.
Während Rostow diese Erwägungen anstellte und dann traurigen Herzens von dem Kaiser fortritt, kam zufällig der Hauptmann von Toll zu Pferd in dieselbe Gegend, ritt, sobald er den Kaiser erblickte, geradewegs auf ihn zu, bot ihm seine Dienste an und war ihm behilflich, den Graben zu Fuß zu überschreiten. Der Kaiser, der sich unwohl fühlte und sich zu erholen wünschte, setzte sich unter einen Apfelbaum, und Toll blieb neben ihm stehen. Rostow sah von weitem mit Neid und Reue, wie von Toll lange und eifrig zum Kaiser sprach, und wie der Kaiser, der offenbar in Tränen ausbrach, die Augen mit der Hand bedeckte und dem Hauptmann die Hand drückte.
»Und ich hätte an seiner Stelle sein können!« dachte Rostow bei sich, und kaum imstande, die Tränen des Mitleids mit dem Schicksal des Kaisers zurückzuhalten, ritt er in voller Verzweiflung weiter, ohne zu wissen, wohin er ritt, und was sein Ritt jetzt noch für einen Zweck hatte.
Seine Verzweiflung war um so heftiger, da er fühlte, daß lediglich seine eigene Schwachmütigkeit an seinem Kummer schuld war.
Er hätte zum Kaiser heranreiten können … er hätte es nicht nur tun können, nein, es wäre sogar seine Pflicht gewesen. Dies war nun die einzige Gelegenheit gewesen, dem Kaiser seine Ergebenheit zu bezeigen, und diese Gelegenheit hatte er nicht benutzt … »Was habe ich getan?« dachte er. Er wendete sein Pferd und jagte wieder nach der Stelle zurück, wo er den Kaiser gesehen hatte; aber es war niemand mehr jenseits des Grabens. Nur Militärfuhrwerke und Equipagen fuhren auf der Landstraße. Von dem Lenker eines der ersteren erfuhr Rostow, daß Kutusows Stab sich nicht weit davon in dem Dorf befinde, wohin die Fuhrwerke fahren würden. Rostow ritt hinter ihnen her.
Vor ihm ging ein Reitknecht Kutusows, der mehrere mit Decken versehene Pferde führte. Hinter dem Reitknecht fuhr ein Fuhrwerk, und hinter dem Fuhrwerk ging ein alter Leibeigener, mit krummen Beinen, in einem Halbpelz, eine Mütze auf dem Kopf.
»Tit, he, Tit!« sagte der Reitknecht.
»Was willst du?« erwiderte der Alte gedankenlos.
»Tit, Tit, Tit! Hast du Appetit, tit, tit?«
»Schäm dich was, du Dummrian, pfui!« sagte der Alte und spuckte ärgerlich aus. Es verging einige Zeit, in der sie schweigend weiterzogen; dann wiederholte sich derselbe Spaß.
Um fünf Uhr war die Schlacht überall verloren. Mehr als hundert Geschütze der Verbündeten befanden sich bereits in der Gewalt der Franzosen.
Przebyszewski mit seinem Korps hatte die Waffen gestreckt. Die anderen Abteilungen hatten ungefähr die Hälfte ihrer Leute verloren und zogen sich in ungeordneten, buntgemischten Haufen zurück.
Die durcheinandergeratenen Überreste der Truppen Langerons und Dochturows drängten sich auf den Dämmen und an den Ufern der Teiche bei dem Dorf Aujesd.
Nach fünf Uhr war nur noch bei dem Damm von Aujesd eine heftige, unbeantwortete Kanonade der Franzosen zu hören, welche eine aus vielen Geschützen bestehende Batterie auf dem Abhang der Pratzener Höhen aufgestellt hatten und von dort unsere auf dem Rückzug befindlichen Truppen beschossen.
In der Arrieregarde sammelten Dochturow und andere Führer ihre Bataillone und verteidigten sich durch Gewehrfeuer gegen die französische Kavallerie, welche die Unsrigen verfolgte. Die Abenddämmerung senkte sich herab. Auf dem schmalen Damm bei Aujesd, auf welchem so viele Jahre lang friedlich der alte Müller, die Zipfelmütze auf dem Kopf, mit seiner Angel gesessen hatte, während sein Enkel mit aufgestreiften Hemdsärmeln in der Gießkanne unter den silberglänzenden, zappelnden Fischen umhergriff, auf diesem Damm, auf dem so viele Jahre lang friedlich die mährischen Bauern, in blauen Jacken, mit zottigen Mützen auf ihren zweispännigen, mit Weizen beladenen Fuhrwerken zur Mühle gefahren und, mit Mehl bepudert, mit weißer Ladung von der Mühle weggefahren waren: auf diesem schmalen Damm drängten sich jetzt zwischen Wagen und Kanonen, unter den Pferden und zwischen den Rädern eine Menge Menschen, die Gesichter von Todesangst entstellt, erdrückten einander, starben, schritten über Sterbende hinweg und töteten einander, nur um nach wenigen Schritten selbst in gleicher Weise getötet zu werden.
Alle zehn Sekunden fühlte man, wie die Luft zusammengedrückt wurde, und es fiel entweder eine klatschende Kanonenkugel oder eine platzende Granate mitten in diese dichtgedrängte Menschenmasse hinein, tötete einen oder mehrere und bespritzte die Nächststehenden mit Blut. Dolochow, der an der Hand verwundet war, ging mit etwa einem Dutzend Soldaten seiner Kompanie (er war bereits wieder Offizier) zu Fuß; sie und der Regimentskommandeur, der zu Pferd saß, bildeten den gesamten Rest des Regiments. Von dem Gewühl mit fortgezogen, hatten sie sich in den Eingang zum Damm hineingedrängt und mußten jetzt, von allen Seiten gepreßt, stehenbleiben, weil weiter vorn ein Pferd von der Bespannung einer Kanone gefallen war und die Menge sich bemühte, es aus dem Weg zu ziehen. Eine Kanonenkugel tötete jemand hinter ihnen; eine andere schlug vor ihnen ein, so daß Dolochow mit Blut bespritzt wurde. Die Menge drängte wie rasend vorwärts, preßte sich zusammen, rückte einige Schritte vor und mußte dann wieder stehenbleiben.
»Komme ich noch diese hundert Schritte vorwärts, so bin ich wahrscheinlich gerettet; bleibe ich hier noch zwei Minuten stehen, so ist mein Untergang so gut wie sicher«, dachte ein jeder.
Dolochow, der mitten in der Menschenmasse stand, drängte sich, zwei Soldaten umstoßend, an den Rand des Dammes und lief auf das glatte Eis, das den Teich bedeckte.
»Lenkt hierher!« schrie er, auf dem Eis in die Höhe springend, das unter ihm knisterte. »Lenkt hierher!« schrie er der Mannschaft des Geschützes zu. »Es hält …!«
Das Eis trug ihn; aber es bog sich und knisterte, und es war klar, daß es bald unter ihm brechen werde und nun gar für ein Geschütz oder eine größere Menschenmenge bei weitem nicht stark genug war. Die Leute blickten zu ihm hin und drängten sich an das Ufer, mochten sich aber noch nicht entschließen, auf das Eis zu gehen. Der Regimentskommandeur, der zu Pferd am Eingang zum Damm hielt, hob den Arm in die Höhe und öffnete den Mund, um Dolochow etwas zuzurufen. Plötzlich pfiff eine Kanonenkugel so niedrig über die Menge hin, daß alle sich duckten. Es klatschte etwas in eine feuchte, weiche Masse, und der General mit seinem Pferd sank in eine sich sofort bildende Blutlache nieder. Niemand sah zu ihm hin, niemand kam es in den Sinn, ihn aufzuheben.
»Geht doch aufs Eis! Geht doch übers Eis! Vorwärts! Lenk doch aufs Eis! Hörst du denn nicht! Vorwärts!« riefen auf einmal, nachdem die Kanonenkugel den General getroffen hatte, zahllose Stimmen, ohne daß die Leute selbst wußten, was und warum sie schrien.
Eines der hinten befindlichen Geschütze machte, als es auf den Damm kam, Anstalten, auf das Eis zu lenken. Die Soldaten begannen scharenweise vom Damm auf den zugefrorenen Teich zu laufen. Unter einem der vordersten von ihnen brach das Eis, und er fuhr mit dem einen Bein in das Wasser; bei dem Versuch, wieder zurechtzukommen, sank er bis an den Gürtel ein. Die nächsten Soldaten schraken zurück, und der Vorderreiter des Geschützes hielt sein Pferd an; aber von hinten her wurde immer noch geschrien: »Geht doch aufs Eis! Was steht ihr? Vorwärts! Vorwärts!« Schreckensrufe wegen der Kanonenkugeln ertönten aus der Menge. Die Artilleristen, die das Geschütz umgaben, schwenkten die Arme gegen die Pferde und schlugen sie, damit sie seitwärts abbögen und dann leichter vorwärts kämen. Die Pferde gingen vom Ufer hinunter. Das Eis, das die Fußgänger noch getragen hatte, brach in weiter Ausdehnung ein; etwa vierzig Menschen, die sich an dieser Stelle auf dem Eis befanden, stürzten, um sich zu retten, teils vorwärts, teils zurück, zogen sich gegenseitig ins Wasser und ertranken.
Die Kanonenkugeln kamen fortwährend mit vollständiger Regelmäßigkeit pfeifend herangeflogen und fielen klatschend auf das Eis, ins Wasser und am häufigsten in die Menschenmenge, die den Damm, den Teich und das Ufer bedeckte.
XIX
Auf der Höhe von Pratzen, an derselben Stelle, wo er mit der Fahne in der Hand gefallen war, lag Fürst Andrei Bolkonski; er verlor viel Blut und stöhnte, ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, leise und kläglich nach Art eines Kindes.
Gegen Abend hörte er auf zu stöhnen und wurde vollständig still. Er wußte nicht, wie lange dieser Zustand der Bewußtlosigkeit gedauert hatte; aber plötzlich fühlte er wieder, daß er lebte und daß ihn ein brennender Schmerz quälte; es war ihm, als wäre ihm etwas im Kopf zerrissen.
»Wo ist er, dieser hohe Himmel, den ich bisher nicht gekannt hatte und heute zum erstenmal gesehen habe?« Das war sein erster Gedanke. »Auch diesen Schmerz hatte ich bisher nicht gekannt«, dachte er. »Ja, ich habe bisher nichts gekannt, gar nichts. Aber wo bin ich?«
Er begann zu horchen und vernahm das Geräusch sich nähernder Hufschläge und Stimmen, die Französisch sprachen. Er öffnete die Augen. Über ihm war wieder derselbe hohe Himmel mit den Wolken, die sich noch höher hinaufgezogen hatten und leise dahinzogen, und zwischen denen er hineinblickte in die blaue Unendlichkeit. Er drehte den Kopf nicht um und sah die Menschen nicht, die, nach dem Klang der Hufschläge und der Stimmen zu urteilen, zu ihm herangeritten kamen und in der Nähe anhielten.
Die herbeigekommenen Reiter waren Napoleon und zwei ihn begleitende Adjutanten. Bonaparte, der das Schlachtfeld beritt, gab die letzten Befehle über die Verstärkung der Batterien, die den Damm von Aujesd beschossen, und besichtigte die Gefallenen und Verwundeten, die auf dem Schlachtfeld geblieben waren.
»Prächtige Leute!« sagte Napoleon, indem er einen getöteten russischen Grenadier betrachtete, der, das Gesicht in die Erde gedrückt, den sonnengebräunten Nacken nach oben, auf dem Bauch dalag und den einen Arm, der schon starr geworden war, weit von sich streckte.
»Die Munition der Positionsgeschütze ist erschöpft, Sire!« meldete in diesem Augenblick ein Adjutant, der von den Batterien herübergeritten kam, welche die Gegend von Aujesd beschossen.
»Lassen Sie die von der Reserve herbeischaffen«, antwortete Napoleon, ritt einige Schritte weiter und hielt dicht vor dem Fürsten Andrei, der auf dem Rücken dalag mit der hingesunkenen Fahnenstange neben sich (die Fahne selbst hatten die Franzosen schon als Trophäe mitgenommen).