XV


Wie es schwer zu erklären ist, warum und wozu die Ameisen nach Zerstörung ihres Haufens umherrennen, die einen von dem Haufen weg, Körnchen, Eier und Leichname mit sich schleppend, die andern nach dem Haufen zurück, warum sie sich stoßen, einander überholen, sich miteinander schlagen: ebenso schwer würde es sein, die Ursachen zu erklären, durch welche die Russen nach dem Abzug der Franzosen veranlaßt wurden, sich an jener Stelle wieder umherzudrängen, die vorher Moskau genannt worden war. Aber wie man bei Betrachtung der um einen zerstörten Haufen wimmelnden Ameisen trotz der vollständigen Vernichtung des Haufens dennoch aus der zähen Ausdauer, der Energie und der zahllosen Menge der sich eifrig tummelnden Insekten deutlich ersehen kann, daß bei aller sonstigen Zerstörung doch etwas Unzerstörbares, Immaterielles erhalten geblieben ist, worauf gerade die eigentliche Kraft des Ameisenhaufens beruht: so war auch Moskau im Oktober, trotzdem es dort keine Behörden, keine Kirchen, keine Reichtümer, keine Häuser mehr gab, immer noch dasselbe Moskau, das es im August gewesen war. Alles war zerstört außer jenem immateriellen, aber mächtigen und unzerstörbaren Bestandteil seines Wesens.

Die Beweggründe, durch die nach der Räumung Moskaus seitens des Feindes die Leute veranlaßt wurden, von allen Seiten dorthin zu strömen, waren sehr mannigfaltige persönliche und in der ersten Zeit großenteils solche von niederer, animalischer Art. Nur ein Beweggrund war allen gemeinsam: das Streben nach dem Ort, der früher Moskau geheißen hatte, um dort dies oder das zu tun.

Nach einer Woche waren in Moskau bereits fünfzehntausend Einwohner, nach zwei Wochen fünfundzwanzigtausend usw. Immer wachsend und wachsend erreichte diese Zahl im Herbst 1813 eine Höhe, welche noch über die Bevölkerungsziffer des Jahres 1812 hinausging.

Die ersten Russen, die wieder nach Moskau kamen, waren Kosaken des Wintzingerodeschen Korps, Bauern aus den Nachbardörfern und Einwohner, die aus Moskau geflüchtet waren und sich in der Umgegend verborgen gehalten hatten. Die Russen, die nach dem zerstörten Moskau kamen, fanden die Stadt geplündert und begannen nun gleichfalls zu plündern. Sie setzten fort, was die Franzosen getan hatten. Die Bauern kamen mit langen Reihen von Wagen nach Moskau, um alles nach ihren Dörfern hinauszuschaffen, was in Moskau auf den Straßen und in den zerstörten Häusern umherlag. Die Kosaken nahmen, was sie nur konnten, nach ihren Lagern mit; die Hausbesitzer suchten alles zusammen, was sie in andern Häusern fanden, und brachten es in ihre eigenen, unter dem Vorwand, es sei ihr Eigentum.

Aber nach den ersten Plünderern kamen andere und wieder andere, und das Plündern wurde mit jedem Tag, je mehr die Zahl der Plünderer zunahm, schwieriger und nahm festere Formen an.

Die Franzosen hatten Moskau zwar fast ohne Bewohner vorgefunden, aber doch ausgestattet mit dem gesamten Apparat einer Stadt, deren Organismus ordnungsmäßig funktioniert, mit den mannigfaltigen Einrichtungen des Handels, des Handwerks, des Luxus, der staatlichen Verwaltung, der Religion. Dieser Apparat war beim Einzug der Franzosen ohne Leben; aber er existierte noch. Da waren Budenreihen, Kaufläden, Magazine, Speicher, Basare, größtenteils mit Waren gefüllt; da waren Fabriken und Werkstätten; da waren Paläste und reiche Häuser, angefüllt mit Gegenständen des Luxus; da waren Krankenhäuser, Gefängnisse, Amtslokale, große und kleine Kirchen. Je länger die Franzosen blieben, um so mehr verschwand dieser Apparat des städtischen Lebens, und gegen das Ende ihres dortigen Aufenthalts war alles eine ununterbrochene, gleichmäßige, leblose Stätte der Plünderung geworden.

Die Plünderung durch die Franzosen verminderte, je länger sie dauerte, in um so höherem Grade die Reichtümer Moskaus und die Kräfte der Plünderer. Die Plünderung durch die Russen, mit welcher die Wiederbesetzung der Hauptstadt durch die Russen begann, stellte, je länger sie dauerte und je mehr Menschen sich daran beteiligten, um so schneller den Reichtum Moskaus und das regelmäßige Leben der Stadt wieder her.

Außer den Plünderern strömten von allen Seiten, wie das Blut zum Herzen, nach Moskau Menschen von mannigfaltigster Art, herbeigezogen teils durch Neugier, teils durch die Dienstpflicht, teils durch ihren Vorteil: Hausbesitzer, Geistliche, hohe und niedere Beamte, Handelsleute, Handwerker, Bauern.

Nach einer Woche wurden die Bauern, die mit leeren Wagen angefahren kamen, um Sachen fortzuschaffen, bereits von der Behörde angehalten und genötigt, Leichen aus der Stadt hinauszuschaffen. Andere Bauern, die von dem Mißgeschick ihrer Genossen gehört hatten, kamen in die Stadt mit Getreide, Hafer und Heu und unterboten einander mit dem geforderten Preis so, daß er niedriger war als vorher. Täglich kamen neue Genossenschaften von Zimmerleuten in der Hoffnung auf guten Verdienst nach Moskau, und überall wurden neue Häuser gebaut und alte, durch das Feuer beschädigte repariert. Die Kaufleute eröffneten wieder ihren Handel in den Buden. Garküchen und Herbergen wurden in nur angebrannten Häusern eingerichtet. Die Geistlichkeit nahm den Gottesdienst in vielen vom Feuer verschonten Kirchen wieder auf. Opferwillige brachten Ersatzstücke für die geraubten Kirchengegenstände. Die Beamten in ihren kleinen Bureaus bedeckten ihre Tische mit Tuch und füllten ihre Schränke mit Akten. Die höchste Behörde und die Polizei trafen Anordnungen darüber, wie mit der von den Franzosen zurückgelassenen Habe zu verfahren sei. Die Besitzer derjenigen Häuser, in denen sich viele von den Franzosen aus anderen Häusern zusammengetragene und dann dort zurückgelassene Sachen befanden, klagten, es sei eine Ungerechtigkeit, alle diese Sachen nach dem Facettenpalast im Kreml zu schaffen; andere wieder erklärten, da die Franzosen aus verschiedenen Häusern Sachen an einen Ort zusammengebracht hätten, so sei es ungerecht, nun dem Hauswirt alle die Sachen zuzusprechen, die in seinem Haus gefunden seien. Man schimpfte auf die Polizei; man bestach sie; man stellte für verbrannte fiskalische Gegenstände Kostenanschläge zum zehnfachen Wert auf; man forderte Unterstützungen. Graf Rastoptschin schrieb seine Proklamationen.

XVI


Ende Januar kam Pierre in Moskau an und nahm in dem unversehrt gebliebenen Seitengebäude Wohnung. Er besuchte den Grafen Rastoptschin und mehrere Bekannte, die nach Moskau zurückgekehrt waren, und beabsichtigte am dritten Tag nach Petersburg zu fahren. Alle jubelten über den Sieg; alles wimmelte in der zerstörten und wiederauflebenden Hauptstadt von neuem Leben. Alle freuten sich über Pierres Rettung; alle wünschten ihn zu sehen, und alle fragten ihn aus über das, was er erlebt hatte. Pierre fühlte sich gegen alle Menschen, mit denen er zusammenkam, außerordentlich freundlich gestimmt; aber unwillkürlich war er jetzt allen Menschen gegenüber auf der Hut, um sich in keiner Weise zu binden. Auf alle Fragen, die an ihn gerichtet wurden, wichtige oder ganz unwichtige (so wenn er gefragt wurde, wo er wohnen werde, oder ob er bauen werde, oder wann er seine Reise nach Petersburg anzutreten beabsichtige, oder ob er aus Gefälligkeit ein Kästchen mitnehmen wolle), auf alle solche Fragen antwortete er: »Ja vielleicht« oder »ich denke« usw.

Über die Familie Rostow hörte er, daß sie in Kostroma sei, und der Gedanke an Natascha kam ihm nur selten, und wenn er ihm kam, so nur als eine angenehme Erinnerung an etwas längst Vergangenes. Er fühlte sich frei, nicht nur von weltlichen Beschränkungen, sondern auch von diesem Gefühl, das, wie er jetzt meinte, nur etwas absichtlich Angenommenes gewesen war.

Am dritten Tag nach seiner Ankunft in Moskau erfuhr er von Drubezkois, daß Prinzessin Marja in Moskau sei. Der Gedanke an den Tod des Fürsten Andrei, an seine Leiden und letzten Tage hatte Pierre häufig beschäftigt und kam ihm jetzt mit neuer Lebendigkeit in den Sinn. Nachdem er beim Mittagessen erfahren hatte, daß Prinzessin Marja in Moskau sei und in ihrem nicht abgebrannten Haus in der Wosdwischenka-Straße wohne, fuhr er an demselben Abend zu ihr hin.

Auf dem Weg zu Prinzessin Marja dachte er unaufhörlich an den Fürsten Andrei, an seine Freundschaft mit ihm, an die verschiedenen Begegnungen, die er mit ihm gehabt hatte, und namentlich an die letzte in Borodino.

»Sollte er wirklich in der ingrimmigen Stimmung gestorben sein, in der er sich damals befand? Sollte sich ihm wirklich vor dem Tod nicht der Sinn des Lebens erschlossen haben?« dachte Pierre. Er erinnerte sich an Karatajew und dessen Tod und stellte unwillkürlich einen Vergleich zwischen diesen beiden Männern an, die voneinander so verschieden waren und doch auch zugleich einander so ähnlich in bezug auf die Liebe, die er zu beiden gehegt hatte, sowie darin, daß sie beide gelebt hatten und beide gestorben waren.

In der ernstesten Gemütsverfassung gelangte Pierre zu dem Haus des alten Fürsten. Dieses Haus war unversehrt geblieben. Man sah an ihm Spuren von Beschädigung; aber der Gesamtcharakter des Hauses war derselbe wie früher. Ein alter Diener empfing Pierre mit tiefernster Miene, wie wenn er dem Besucher zu verstehen geben wollte, daß der Tod des Fürsten in die Ordnung des Hauses keine Störung hineingebracht habe, und teilte ihm mit, die Prinzessin habe sich in ihre Gemächer zurückgezogen; sie empfange sonntags.

»Melde mich nur; vielleicht werde ich doch angenommen«, erwiderte Pierre.

»Zu Befehl«, antwortete der Diener. »Haben Sie die Güte, in das Porträtzimmer zu treten.«

Einige Minuten darauf kamen der Diener und Dessalles zu Pierre herein. Dessalles meldete ihm von der Prinzessin, sie freue sich sehr, ihn wiederzusehen, und bitte ihn, wenn er ihr diese Formlosigkeit nicht übelnehmen wolle, zu ihr nach oben in ihre Zimmer zu kommen.

In einem niedrigen Zimmerchen, das nur von einer einzigen Kerze erleuchtet war, saß die Prinzessin, und bei ihr noch eine schwarzgekleidete Dame. Pierre erinnerte sich, daß die Prinzessin sich immer Gesellschafterinnen gehalten habe; aber was für Personen diese Gesellschafterinnen gewesen waren, das wußte Pierre nicht, dafür hatte er keine Erinnerung. »Das ist eine Gesellschafterin«, dachte er bei einem Blick auf die Dame in Schwarz.

Die Prinzessin stand schnell auf, kam ihm entgegen und reichte ihm die Hand, die er küßte.

»Ja«, sagte sie, indem sie sein so verändertes Gesicht betrachtete, »so sehen wir uns nun wieder. Er hat auch in der letzten Zeit häufig von Ihnen gesprochen«, fuhr sie fort und ließ ihre Augen von Pierre zu der Gesellschafterin mit einer Verlegenheit hinübergleiten, die Pierre einen Augenblick stutzig machte.

»Ich habe mich so gefreut, als ich von Ihrer Rettung hörte«, fügte sie hinzu. »Das war die einzige freudige Nachricht, die wir seit langer Zeit erhalten hatten.«

Wieder blickte die Prinzessin noch unruhiger auf die Gesellschafterin hin und wollte etwas sagen; aber Pierre unterbrach sie.

»Sie können sich leicht denken, daß ich nichts von ihm wußte«, sagte er. »Ich glaubte, er wäre gefallen. Alles, was ich erfuhr, erfuhr ich von anderen, aus dritter Hand. Ich weiß nur, daß er zufällig zur Rostowschen Familie kam. Welch eine Fügung!«

Pierre sprach schnell und lebhaft. Als er einmal nach dem Gesicht der Gesellschafterin hinsah, bemerkte er, daß ihr Blick aufmerksam und freundlich auf ihn gerichtet war, und hatte, wie das oft während eines Gespräches vorkommt, aus nicht recht klarem Grund die Empfindung, daß diese schwarzgekleidete Gesellschafterin ein liebes, gutes, prächtiges Wesen sei, durch das er sich in seinem vertraulichen Gespräch mit Prinzessin Marja nicht stören zu lassen brauche.

Aber als er die letzten Worte über die Rostowsche Familie sagte, prägte sich die Verlegenheit noch stärker auf dem Gesicht der Prinzessin Marja aus. Sie ließ ihre Augen wieder von Pierres Gesicht zu dem der Dame in Schwarz hinüberwandern und sagte: »Sie erkennen sie wohl nicht?«

Pierre blickte noch einmal in das blasse, feine Gesicht der Gesellschafterin mit den schwarzen Augen und dem eigenartigen Mund. Etwas Liebes, längst Vergessenes und mehr als bloß Angenehmes schaute ihn aus diesen aufmerksamen Augen an.

»Aber nein, es ist nicht möglich«, dachte er. »Dieses ernste, hagere, blasse, alt aussehende Gesicht! Das kann sie nicht sein. Es ist nur eine Ähnlichkeit, die an sie erinnert.« Aber in diesem Augenblick sagte Prinzessin Marja: »Natascha.« Und das Gesicht mit den aufmerksamen Augen lächelte mit Mühe und Anstrengung, wie eine verrostete Tür sich öffnet, und aus dieser sich öffnenden Tür duftete ihm plötzlich jenes längst vergessene Glück entgegen, an das er nicht mehr gedacht hatte, und namentlich jetzt nicht. Dieser Duft umfing ihn und nahm ihn völlig in seinen Bann. Als sie lächelte, konnte kein Zweifel mehr sein: es war Natascha, und er liebte sie.

Gleich im ersten Augenblick gab Pierre unwillkürlich sowohl ihr als auch der Prinzessin Marja und vor allem sich selbst Kenntnis von diesem ihm selbst bisher unbekannten Geheimnis. Er errötete vor Freude und schmerzlichem Leid. Er wollte seine Erregung verbergen; aber je mehr er sie zu verbergen suchte, um so deutlicher, deutlicher selbst als durch die bestimmtesten Worte, sagte er sich und ihr und der Prinzessin Marja, daß er sie liebe.

»Nein, das hat keinen tieferen Grund, das kommt nur von der Überraschung her«, dachte Pierre. Aber kaum versuchte er, das begonnene Gespräch mit Prinzessin Marja fortzusetzen, da mußte er wieder Natascha ansehen, und eine noch stärkere Röte überzog sein Gesicht, und eine noch stärkere freudige und bange Aufregung nahm von seiner Seele Besitz. Er verwirrte sich in seinen Worten und verstummte mitten in der Rede.

Pierre hatte Natascha nicht beachtet, weil er in keiner Weise erwartet hatte, sie hier zu sehen; und er hatte sie nicht erkannt, weil die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war, seit er sie nicht mehr gesehen hatte, eine ganz gewaltige war. Sie war mager und blaß geworden. Aber nicht dies war es, was sie unkenntlich machte: er hatte sie im ersten Augenblick, als er eintrat, deswegen nicht erkennen können, weil auf diesem Gesicht, in dessen Augen früher immer ein verborgenes Lächeln der Lebenslust geleuchtet hatte, jetzt, als er eintrat und sie zum erstenmal ansah, auch nicht der geringste Schimmer eines Lächelns gelegen hatte; nur die Augen waren dagewesen, die aufmerksamen, guten, traurig fragenden Augen.

Pierres Verlegenheit rief bei Natascha nicht die gleiche Empfindung hervor, sondern nur ein Gefühl der Freude, das leise ihr ganzes Gesicht erhellte.

XVII


»Sie wohnt als mein Gast bei mir«, sagte Prinzessin Marja. »In den nächsten Tagen kommen auch der Graf und die Gräfin. Die Gräfin befindet sich in einem schrecklichen Zustand. Aber auch Natascha selbst muß sich ärztlich behandeln lassen. Die Eltern haben sie mit Gewalt mit mir hierhergeschickt.«

»Ja, gibt es wohl eine Familie, die nicht ihr eigenes Leid hätte?« sagte Pierre, zu Natascha gewendet. »Sie wissen, es geschah gerade an dem Tag, als wir befreit wurden. Ich habe ihn gesehen. Was war er für ein allerliebster Junge!«

Natascha sah ihn an; als Antwort auf seine Worte öffneten sich nur ihre Augen noch weiter und leuchteten auf.

»Was könnte man da zum Trost sagen oder ersinnen?« fuhr Pierre fort. »Nichts. Warum mußte ein so prächtiger, lebensfrischer Junge sterben?«

»Ja, ohne Glauben wäre es in unserer Zeit schwer, zu leben«, sagte Prinzessin Marja.

»Ja, ja. Das ist eine tiefe Wahrheit«, unterbrach Pierre sie schnell.

»Warum ist das schwer?« fragte Natascha und blickte Pierre aufmerksam in die Augen.

»Warum das schwer ist?« erwiderte Prinzessin Marja. »Schon der bloße Gedanke an das, was uns dort erwartet …«

Natascha hörte nicht zu Ende, was Prinzessin Marja sagen wollte, sondern richtete wieder einen fragenden Blick auf Pierre.

»Und auch deswegen«, fuhr Pierre fort, »weil nur derjenige, der an einen Gott glaubt, der über uns waltet, einen solchen Verlust tragen kann, wie der der Prinzessin und … der Ihrige.«

Natascha öffnete schon den Mund, in der Absicht, etwas zu sagen, hielt aber plötzlich inne. Pierre drehte sich hastig von ihr weg und wandte sich an Prinzessin Marja mit der Frage nach den letzten Lebenstagen seines Freundes.

Pierres Verlegenheit war jetzt fast ganz verschwunden; aber zugleich fühlte er, daß seine ganze frühere Freiheit verschwunden war. Er fühlte, daß es für jedes seiner Worte, für jede seiner Handlungen jetzt einen Richter gab, dessen Urteil ihm wertvoller war als das Urteil aller Menschen in der Welt. Wenn er jetzt sprach, so suchte er während des Sprechens sich über den Eindruck klarzuwerden, den seine Worte auf Natascha hervorbrachten. Er sprach nicht absichtlich so, daß es ihr gefallen sollte; aber bei allem, was er sagte, beurteilte er sich selbst von ihrem Gesichtspunkt aus.

Prinzessin Marja begann nur ungern, wie das immer so der Fall zu sein pflegt, von dem Zustand zu sprechen, in dem sie den Fürsten Andrei vorgefunden hatte. Aber Pierres Fragen und sein lebhafter, unruhiger Blick und sein vor Erregung zuckendes Gesicht brachten sie allmählich dazu, auf Einzelheiten einzugehen, die sie sich scheute, sich ins Gedächtnis zurückrufen, wenn sie mit ihren Gedanken allein war.

»Ja, ja, gut so, gut so …«, sagte Pierre, der sich mit seinem ganzen Körper zu Prinzessin Marja vorbeugte und mit gespannter Aufmerksamkeit ihrer Erzählung folgte. »Ja, ja; also er war ruhiger und milder geworden? Er hat stets mit aller Kraft seiner Seele so eifrig nach dem einen Ziel gestrebt, ein vollkommen guter Mensch zu sein, daß er den Tod nicht zu fürchten brauchte. Die Fehler, die er hatte, wenn er überhaupt solche hatte, entsprangen nicht aus seinem Wesen. Also er war milder geworden?« sagte Pierre »Welch ein Glück, daß er Sie wiedergesehen hat«, sagte er zu Natascha, indem er sich plötzlich zu ihr wandte und sie mit Augen, die voll Tränen standen, anblickte.

Nataschas Gesicht zuckte. Sie zog die Brauen zusammen und senkte einen Augenblick lang die Augen. Eine Weile schwankte sie, ob sie reden sollte oder nicht.

»Ja, es war ein Glück«, sagte sie mit leiser Bruststimme; »für mich war es sicherlich ein Glück.« Sie schwieg einen Augenblick. »Und er … er … er sagte, er habe es gerade in dem Augenblick gewünscht, als ich zu ihm gekommen wäre.«

Die Stimme versagte ihr. Sie errötete, preßte die Hände auf den Knien zusammen und hob dann auf einmal, sich augenscheinlich dazu zwingend, den Kopf in die Höhe und begann schnell zu sprechen.

»Ich wußte nichts, als wir aus Moskau wegfuhren. Ich hatte nicht gewagt, nach ihm zu fragen. Und auf einmal sagte mir Sonja, daß er mit uns zusammen führe. Ich hatte keinen klaren Gedanken und konnte mir nicht vorstellen, in welchem Zustand er sich befinden mochte; nur sehen mußte ich ihn und bei ihm sein«, sagte sie zitternd und nur mühsam atmend.

Und ohne sich unterbrechen zu lassen, erzählte sie, was sie noch nie jemandem erzählt hatte: alles, was sie in jenen drei Wochen ihrer Reise und des Aufenthalts in Jaroslawl durchlebt hatte.

Pierre hörte ihr mit offenem Mund zu und wandte die Augen, die ihm voll Tränen standen, nicht von ihr weg. Während er ihr zuhörte, dachte er weder an den Fürsten Andrei, noch an den Tod, noch an das, was sie erzählte. Er hörte ihr zu und bemitleidete sie nur wegen des Schmerzes, den sie jetzt beim Erzählen empfand.

Die Prinzessin runzelte die Stirn, um die Tränen zurückzuhalten, setzte sich neben Natascha und hörte zum erstenmal die Geschichte dieser letzten Tage der Liebe ihres Bruders und Nataschas.

Für Natascha war diese ihr zugleich qualvolle und freudenreiche Erzählung offenbar ein Bedürfnis.

Sie erzählte in buntem Durcheinander die unbedeutendsten Einzelheiten und die tiefsten Seelengeheimnisse und schien gar nicht enden zu können. Mehrmals wiederholte sie dasselbe.

Durch die Tür hindurch wurde die Stimme Dessalles’ vernehmbar, der fragte, ob Nikolenka hereinkommen dürfe, um gute Nacht zu sagen.

»Das ist alles, ja, das ist alles«, sagte Natascha.

Sie stand in dem Augenblick, als Nikolenka hereinkam, schnell auf, eilte fast laufend zur Tür, stieß sich mit dem Kopf an der Tür, die mit einer Portiere verhängt war, und stürzte mit einem Stöhnen halb des physischen Schmerzes, halb des Grames aus dem Zimmer.

Pierre blickte nach der Tür, durch die sie hinausgegangen war, und begriff nicht, woher es kam, daß er auf einmal in der ganzen Welt so allein geblieben war.

Prinzessin Marja weckte ihn aus seiner Zerstreutheit und lenkte seine Aufmerksamkeit auf ihren Neffen, der ins Zimmer getreten war.

Das Gesicht Nikolenkas, das mit dem seines Vaters Ähnlichkeit hatte, wirkte bei der weichen, gerührten Stimmung, in der sich Pierre in diesem Augenblick befand, auf ihn so stark, daß er, nachdem er den Knaben geküßt hatte, eilig aufstand, sein Taschentuch ergriff und zum Fenster trat. Er wollte sich der Prinzessin Marja empfehlen; aber sie hielt ihn zurück.

»Nicht doch; Natascha und ich, wir gehen oft erst um drei Uhr schlafen; bitte, bleiben Sie noch. Ich werde Abendbrot bringen lassen. Gehen Sie nach unten; wir kommen sogleich nach.«

Bevor Pierre das Zimmer verließ, sagte die Prinzessin noch zu ihm:

»Das ist das erste Mal, daß sie so von ihm gesprochen hat.«

XVIII


Pierre wurde in das erleuchtete, große Speisezimmer geführt; einige Minuten darauf hörte er Schritte, und die Prinzessin und Natascha traten ins Zimmer. Natascha war ruhig, obgleich jetzt wieder ein tiefernster Ausdruck, ohne die Spur eines Lächelns, auf ihrem Gesicht lag. Prinzessin Marja, Natascha und Pierre hatten alle drei in gleicher Weise jenes Gefühl der Unbehaglichkeit, das gewöhnlich auf ein beendetes ernstes, herzliches Gespräch folgt. Das vorige Gespräch fortzusetzen ist unmöglich; von unbedeutenden Dingen zu reden schämt man sich, und ganz zu schweigen ist einem unangenehm, weil man gern reden möchte und dieses Schweigen einem daher wie Verstellung vorkommt. Sie gingen schweigend zu Tisch. Die Diener rückten die Stühle ab und wieder heran. Pierre faltete die kalte Serviette auseinander, und entschlossen, das Stillschweigen zu brechen, blickte er Natascha und Prinzessin Marja an. Beide waren offenbar gleichzeitig mit ihm zu demselben Entschluß gekommen: in den Augen beider leuchtete ein Gefühl der Zufriedenheit mit dem Leben und das Geständnis, daß es außer dem Kummer auch Freude auf der Welt gibt.

»Trinken Sie ein Gläschen Branntwein, Graf?« sagte Prinzessin Marja, und diese Worte verscheuchten mit einemmal die Schatten der Vergangenheit. »Erzählen Sie uns doch etwas von sich«, fuhr sie fort. »Die Leute erzählen ja über Sie die unglaublichsten Wundergeschichten.«

»Ja«, erwiderte Pierre mit jenem mild spöttischen Lächeln, das ihm jetzt zur Gewohnheit geworden war. »Sogar mir selbst erzählen die Leute über mich Wundergeschichten, von denen ich mir nicht einmal etwas habe träumen lassen. Marja Abramowna hat mich zu sich eingeladen und mir in einem fort erzählt, was mir begegnet sei oder hätte begegnen sollen. Stepan Stepanowitsch hat mich ebenfalls belehrt, und zwar über die Art, wie ich erzählen müsse. Überhaupt habe ich bemerkt, daß es eine sehr gemächliche Situation ist, ein interessanter Mensch zu sein (ich bin nämlich jetzt ein interessanter Mensch): man lädt mich ein und erzählt mir etwas.«

Natascha lächelte und wollte etwas sagen; aber die Prinzessin ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Es ist uns erzählt worden«, sagte Prinzessin Marja, »Sie hätten in Moskau zwei Millionen Rubel verloren. Ist das wahr?«

»Ich bin vielmehr dreimal so reich geworden«, antwortete Pierre.

Obgleich die Schulden seiner Frau und die Notwendigkeit zu bauen seine Verhältnisse geändert hatten, so fuhr Pierre doch fort, auseinanderzusetzen, daß er dreimal so reich geworden sei.

»Daß ich gewonnen habe, ist zweifellos«, sagte er. »So gleich die Freiheit …«, begann er ganz ernst; aber er änderte seine Absicht und fuhr nicht fort, da es ihm vorkam, als sei dieses Gesprächsthema doch gar zu egoistisch.

»Sie bauen?«

»Ja, Saweljitsch will es so.«

»Sagen Sie doch: Sie wußten noch nichts von dem Tod der Gräfin, als Sie hier in Moskau blieben?« sagte Prinzessin Marja, errötete aber in demselben Augenblick, da sie sich bewußt wurde, daß, indem sie diese Frage so unmittelbar nach seiner Bemerkung über die von ihm wiedererlangte Freiheit an ihn richtete, sie seinen Worten einen Sinn beilegte, den sie vielleicht nicht hatten.

»Nein«, antwortete Pierre, den offenbar die Deutung nicht genierte, welche Prinzessin Marja dem gab, was er von seiner Freiheit gesagt hatte. »Ich erfuhr es in Orjol, und Sie können sich gar nicht vorstellen, einen wie starken Eindruck diese Nachricht auf mich machte. Wir waren keine musterhaften Gatten«, fügte er schnell hinzu, als er Natascha ansah und auf ihrem Gesicht eine neugierige Spannung bemerkte, wie er sich wohl über seine Frau äußern werde; »aber dieser Todesfall hat mich tief erschüttert. Wenn zwei Menschen miteinander in Zwietracht leben, tragen sie immer beide schuld daran. Und die eigene Schuld bekommt auf einmal ein furchtbares Gewicht, wenn der andere nicht mehr lebt. Und dann, ein solcher Tod … ohne Freunde, ohne Tröstung. Sie tut mir sehr, sehr leid«, schloß er und nahm mit Genuß eine freudige Zustimmung auf Nataschas Gesicht wahr.

»Ja, da sind Sie ja wieder Junggeselle und ein Heiratskandidat«, sagte Prinzessin Marja.

Pierre wurde plötzlich dunkelrot und bemühte sich lange Zeit, Natascha nicht anzusehen. Als er sich endlich wieder dazu entschloß, war ihr Gesicht kalt, streng und sogar, wie es ihm vorkam, verächtlich.

»Aber Sie haben doch wirklich Napoleon gesehen und mit ihm gesprochen, wie man uns erzählt hat?« fragte Prinzessin Marja.

Pierre lachte auf.

»Kein einziges Mal, niemals. Alle Leute bilden sich immer ein, gefangensein wäre dasselbe wie bei Napoleon zu Besuch sein. Ich habe ihn nicht gesehen, ja nicht einmal etwas von ihm gehört. Ich war in weit schlechterer Gesellschaft.«

Das Abendessen war beendet, und Pierre, der anfangs nicht hatte von seiner Gefangenschaft erzählen mögen, geriet nun doch allmählich ins Erzählen hinein.

»Aber das ist doch richtig, daß Sie hierblieben, um Napoleon zu töten?« fragte ihn Natascha mit leisem Lächeln. »Ich habe es mir damals gleich gedacht, als wir Sie beim Sucharew-Turm trafen; besinnen Sie sich?«

Pierre gestand, daß das richtig sei, und von dieser Frage an ließ er sich, durch weitere Fragen der Prinzessin Marja und namentlich Nataschas geleitet, allmählich und unvermerkt dazu bringen, eingehende Mitteilungen über seine Erlebnisse zu machen.

Anfangs erzählte er mit jener mild spöttischen Anschauungsweise, die er jetzt für die Menschen und insonderheit für sich selbst an sich hatte; als er aber dann zu der Schilderung der Greuel und Leiden kam, die er mitangesehen hatte, wurde er, ohne es selbst zu merken, warm und sprach mit der verhaltenen Erregung eines Menschen, der starke Eindrücke in der Erinnerung noch einmal durchlebt.

Prinzessin Marja blickte mit mildem Lächeln bald auf Pierre, bald auf Natascha. Sie sah in dieser ganzen Erzählung nur Pierre und seine Herzensgüte. Natascha hatte den Kopf in die Hand gestützt und folgte, ohne sich auch nur einen Augenblick ablenken zu lassen, der Erzählung Pierres, wobei ihr Gesichtsausdruck sich beständig im Einklang mit dem Gehörten änderte; sie durchlebte offenbar mit ihm in Gedanken alles, was er erzählte. Nicht nur ihr Blick, sondern auch ihre Ausrufe und die kurzen Fragen, die sie stellte, zeigten Pierre, daß sie aus dem, was er erzählte, gerade das heraushörte, was er sagen wollte. Augenscheinlich verstand sie nicht nur das, was er erzählte, sondern auch das, was er mit Worten gern ausgedrückt hätte, ohne es doch zu können. Sein Erlebnis mit dem kleinen Kind und der jungen Frau, bei dem er gefangengenommen worden, erzählte Pierre folgendermaßen: »Es war ein schreckliches Schauspiel: verlassene Kinder, manche im Feuer … In meiner Gegenwart wurde ein Kind gerettet … Frauen, denen Plünderer ihre Sachen raubten, den Schmuck vom Hals rissen …« Pierre errötete und stockte. »Da kam eine Patrouille und arretierte alle Männer, die nicht zu den Plünderern gehörten, auch mich.«

»Sie erzählen gewiß nicht alles; Sie haben gewiß etwas getan …«, sagte Natascha und schwieg einen Augenblick, »etwas Gutes.«

Pierre erzählte weiter. Bei der Schilderung der Hinrichtung wollte er über die furchtbaren Einzelheiten hinweggehen; aber Natascha verlangte, er solle nichts auslassen.

Pierre wollte anfangen von Karatajew zu erzählen (er war schon vom Tisch aufgestanden und ging auf und ab, wobei Natascha ihm mit den Augen folgte), hielt aber inne.

»Nein«, sagte er, »Sie können doch nicht begreifen, was ich von diesem närrischen Menschen, der nicht einmal lesen und schreiben konnte, alles gelernt habe.«

»Nicht doch, nicht doch, erzählen Sie nur«, sagte Natascha. »Wo ist er denn jetzt?«

»Er ist erschossen worden, fast vor meinen Augen.«

Und Pierre begann von der letzten Zeit ihres Rückzuges zu erzählen, von Karatajews Krankheit (seine Stimme zitterte hierbei fortwährend) und von seinem Tod.

Pierre erzählte seine Erlebnisse in einer Weise, wie er sie sich selbst noch nie in der Erinnerung wieder vergegenwärtigt hatte. Er fand jetzt in allem, was er durchlebt hatte, gewissermaßen einen neuen Sinn. Jetzt, wo er dies alles Natascha erzählte, empfand er jenen seltenen Genuß, welchen Frauen durch die Art ihres Zuhörens einem Mann gewähren können, nicht die sogenannten geistreichen Frauen, deren Streben beim Zuhören entweder danach geht, sich das Gehörte einzuprägen, um ihren Verstand zu bereichern und dasselbe bei Gelegenheit wieder vorzubringen, oder danach, das Erzählte gegen ihren eigenen geistigen Besitz zu halten und so schnell wie möglich kluge Äußerungen darüber von sich zu geben, die sie sich in ihrer kleinen Verstandeswirtschaft zurechtmachen; sondern Pierre empfand den Genuß, welchen echte Frauen gewähren können, Frauen, die mit der Fähigkeit begabt sind, das Beste, was in den Darlegungen eines Mannes enthalten ist, herauszufinden und in sich aufzunehmen. Natascha war, ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, ganz Ohr: es entging ihr kein Wort, kein Schwanken der Stimme, kein Blick, kein Zucken eines Gesichtsmuskels, keine Handbewegung Pierres. Im Flug fing sie das kaum ausgesprochene Wort auf und trug es geradewegs in ihr geöffnetes Herz; sie erriet den geheimen Sinn der ganzen seelischen Arbeit Pierres.

Prinzessin Marja folgte der Erzählung und interessierte sich für sie; aber sie sah jetzt etwas anderes, was ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm: sie sah für Natascha und Pierre die Möglichkeit der Liebe und des Glückes. Und dieser Gedanke, der ihr jetzt zum erstenmal kam, erfüllte ihre Seele mit Freude.

Es war drei Uhr nachts. Die Diener kamen mit traurig-ernsten Gesichtern, um die Kerzen zu wechseln; aber niemand beachtete sie.

Pierre hatte seine Erzählung beendet. Natascha blickte ihn immer noch mit lebhaften, glänzenden Augen unverwandt und aufmerksam an, als wünschte sie auch noch das übrige zu verstehen, das er vielleicht nur nicht ausgesprochen hatte. Pierre sah ab und zu mit verschämter, glückseliger Verlegenheit zu ihr hin und überlegte, was er jetzt sagen könnte, um das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu bringen. Prinzessin Marja schwieg. Keiner von ihnen dachte daran, daß es drei Uhr in der Nacht und Zeit zum Schlafengehen sei.

»Da reden nun die Menschen immer von Unglück und Leiden«, sagte Pierre. »Aber wenn jemand jetzt gleich, diesen Augenblick, zu mir sagte: ›Willst du bleiben, was du vor der Gefangenschaft warst, oder all dies noch einmal von Anfang an durchleben?‹, bei Gott, ich würde noch einmal Gefangenschaft und Pferdefleisch wählen. Wenn uns etwas aus dem gewohnten Geleise wirft, so denken wir, alles sei verloren; und dabei beginnt doch nur etwas Neues, Gutes. Solange Leben da ist, gibt es auch Glück. Die Zukunft kann noch viel, viel Gutes bringen. Das sage ich Ihnen«, schloß er, zu Natascha gewendet.

»Ja, ja«, sagte sie, auf etwas ganz anderes antwortend, »auch ich würde nichts anderes wünschen, als alles noch einmal von Anfang an zu durchleben.« Pierre blickte sie aufmerksam an.

»Ja, und weiter nichts!« fügte Natascha bekräftigend hinzu.

»Das kann nicht richtig sein, das kann nicht richtig sein«, rief Pierre. »Ich kann nichts dafür, daß ich lebe und leben will; und so ist es auch mit Ihnen.«

Auf einmal ließ Natascha den Kopf auf die Arme sinken und brach in Tränen aus.

»Was ist dir, Natascha?« fragte Prinzessin Marja.

»Nichts, nichts.« Sie lächelte durch ihre Tränen hindurch Pierre zu. »Gute Nacht, es ist Zeit, schlafen zu gehen.«

Pierre stand auf und empfahl sich.

Prinzessin Marja und Natascha redeten, wie immer, im Schlafzimmer noch eine Weile miteinander. Sie sprachen von dem, was Pierre erzählt hatte. Über Pierre selbst sprach Prinzessin Marja ihre Meinung nicht aus. Auch Natascha sprach nicht von ihm.

»Nun, gute Nacht, Marja«, sagte Natascha. »Weißt du, was ich oft fürchte? Wir reden nicht von ihm« (dem Fürsten Andrei), »als fürchteten wir, unserer Empfindung dadurch etwas von ihrer Erhabenheit zu nehmen, und gelangen dadurch schließlich dazu, ihn zu vergessen.«

Prinzessin Marja seufzte schwer und erkannte durch diesen Seufzer Nataschas Bemerkung als richtig an; aber mit Worten stimmte sie ihr nicht zu.

»Ist es denn möglich, ihn zu vergessen?« erwiderte sie.

»Mir hat es heute so wohl getan, alles zu erzählen«, sagte Natascha. »Es war mir peinlich und schmerzlich, tat mir aber doch wohl, sehr wohl. Ich bin überzeugt, daß er ihn wirklich geliebt hat. Darum habe ich es ihm auch erzählt … Es schadet doch nichts, daß ich es ihm erzählt habe?« fragte sie plötzlich errötend.

»Daß du es Pierre erzählt hast? O nein! Was ist das für ein prächtiger Mensch!« sagte Prinzessin Marja.

»Weißt du, Marja«, sagte Natascha auf einmal mit einem schelmischen Lächeln, das Prinzessin Marja auf ihrem Gesicht seit langer Zeit nicht gesehen hatte. »Er ist, ich möchte sagen, so rein und glatt und frisch geworden, wie wenn er aus dem Bad käme; verstehst du, wie ich es meine? Im geistigen Sinn. Nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte Prinzessin Marja. »Er hat sehr gewonnen.«

»Und der kurze Oberrock und das kurzgeschnittene Haar; wirklich, ganz wie aus dem Bad … wie Papa manchmal …«

»Ich begreife es, daß er« (Fürst Andrei) »niemand so sehr geliebt hat wie ihn«, sagte Prinzessin Marja.

»Ja, und dabei ist er von ihm so verschieden. Man sagt ja, Männer können nur dann miteinander befreundet sein, wenn sie voneinander ganz verschieden sind. Das muß wohl richtig sein. Er ist ihm doch ganz unähnlich, in allem, nicht wahr?«

»Ja, und doch ist er ein prächtiger Mensch.«

»Nun, gute Nacht«, antwortete Natascha.

Und das schelmische Lächeln blieb, wie in Selbstvergessenheit, noch lange auf ihrem Gesicht.

XIX


Pierre konnte in dieser Nacht lange nicht einschlafen. Er ging im Zimmer auf und ab, bald die Stirn runzelnd, wie wenn er irgend etwas Schwieriges überlegte, bald plötzlich die Achseln zuckend und zusammenfahrend, bald glückselig lächelnd.

Er dachte an den Fürsten Andrei, an Natascha, an die Liebe dieser beiden und war bald eifersüchtig auf Nataschas Vergangenheit, bald machte er sich wegen dieser Eifersucht Vorwürfe, bald verzieh er es sich. Es war schon sechs Uhr morgens, und er ging immer noch im Zimmer auf und ab.

»Nun, was ist da zu machen? Wenn es doch nun einmal nicht anders geht? Was ist da zu machen? Dann muß es also geschehen«, sagte er zu sich selbst, kleidete sich schnell aus und legte sich ins Bett, glückselig und aufgeregt, aber frei von Zweifeln und von Unentschlossenheit.

»Mag auch dieses Glück noch so seltsam, noch so unmöglich scheinen, ich muß alles tun, damit sie meine Frau wird«, sagte er sich.

Noch vor ein paar Tagen hatte Pierre seine Abreise nach Petersburg auf den Freitag angesetzt. Als er am Donnerstag aufwachte, trat Saweljitsch zu ihm, um sich Befehle wegen des Packens der Sachen für die Reise zu erbitten.

»Nach Petersburg? Was ist mit Petersburg? Wer soll nach Petersburg reisen?« fragte er sich unwillkürlich, wiewohl nur im stillen. »Ja, so etwas hatte ich ja vor längerer Zeit vor; ehe sich dies noch begab, hatte ich wirklich aus irgendeinem Grund vor, nach Petersburg zu reisen«, fiel ihm ein. »Weshalb auch nicht? Vielleicht fahre ich wirklich hin. Wie gut er ist, wie aufmerksam, wie er an alles denkt!« dachte er weiter, indem er Saweljitschs altes Gesicht ansah. »Und was für ein angenehmes Lächeln!« dachte er.

»Nun, wie ist’s? Willst du noch immer nicht frei werden, Saweljitsch?« fragte Pierre.

»Was hätte ich von der Freiheit, Euer Erlaucht? Ich habe bei dem alten Herrn Grafen (Gott schenke ihm das Himmelreich) ein gutes Leben gehabt, und Sie haben mir ja auch nie etwas zuleide getan.«

»Nun, und deine Kinder?«

»Die Kinder werden auch gern in demselben Stand bleiben, Euer Erlaucht; bei solchen Herren kann man schon leben.«

»Nun, und meine Erben?« fragte Pierre. »Ich könnte mich ja auf einmal verheiraten … Das wäre nicht unmöglich«, fügte er mit einem unwillkürlichen Lächeln hinzu.

»Ich bin so frei zu sagen: das wäre sehr gut, Euer Erlaucht.«

»Ja, das denkt er sich so leicht«, dachte Pierre. »Er weiß nicht, wie schrecklich und gefährlich das ist. Man handelt dabei entweder zu früh oder zu spät … Es ist schrecklich!«

»Wie befehlen Sie? Belieben Sie morgen zu reisen?« fragte Saweljitsch.

»Nein, ich möchte es noch eine Weile aufschieben. Ich werde es dir dann schon sagen. Nimm es mir nicht übel, daß ich dir unnütz Umstände gemacht habe«, sagte Pierre, und als er Saweljitschs Lächeln sah, dachte er: »Wie sonderbar ist es doch, daß er nicht weiß, daß mir jetzt Petersburg ganz gleichgültig ist und vor allen Dingen erst das Wichtigste zur Entscheidung gebracht werden muß. Übrigens weiß er es sicherlich und verstellt sich nur. Ob ich ihm wohl etwas davon sage? Wie mag er es auffassen?« dachte Pierre. »Nein, später einmal.«

Beim Frühstück teilte Pierre der Prinzessin mit, daß er gestern bei Prinzessin Marja gewesen sei. »Denken Sie sich nur, wen ich da getroffen habe: Natascha Rostowa.«

Die Prinzessin tat, als hielte sie diese Nachricht für etwas ebenso Gewöhnliches, wie wenn Pierre sagte, er habe Anna Semjonowna gesehen.

»Kennen Sie sie?« fragte Pierre.

»Ich habe die Prinzessin gelegentlich gesehen«, antwortete sie. »Ich habe gehört, sie sei dem jungen Rostow als Braut zugedacht. Das wäre für die Rostowsche Familie ein rechtes Glück; denn sie sollen ja völlig ruiniert sein.«

»Nein, ich meine, ob Sie die junge Gräfin Rostowa kennen.«

»Ich habe damals nur von einer Skandalgeschichte gehört. Sehr bedauerlich.«

»Nein«, dachte Pierre, »entweder versteht sie mich nicht, oder sie verstellt sich. Das beste ist schon, ich sage auch ihr nichts davon.«

Auch die Prinzessin hatte für Pierre gesorgt, indem sie ihm Reiseproviant zurechtgemacht hatte.

»Wie gut sie alle sind«, dachte Pierre, »daß sie jetzt, wo sie doch aller Wahrscheinlichkeit nach kein Interesse mehr dafür haben, sich noch mit all dergleichen abgeben. Und alles mir zuliebe; das ist doch erstaunlich.«

An demselben Tag kam der Polizeimeister zu Pierre und forderte ihn auf, er möchte doch einen Bevollmächtigten nach dem Facettenpalast schicken, um die Sachen in Empfang zu nehmen, die heute an die Eigentümer verteilt werden sollten.

»Na, und auch der hier«, dachte Pierre, als er dem Polizeimeister ins Gesicht sah, »was ist das für ein prächtiger, schöner Offizier und was für ein guter Mensch! Jetzt gibt er sich noch mit solchen Lappalien ab. Und da sagen die Leute, er sei nicht ehrenhaft und lasse sich etwas in die Hand drücken. Dummes Zeug! Übrigens, warum sollte er auch nicht etwas annehmen? Das hängt mit seiner ganzen Erziehung zusammen. Und es machen es ja auch alle so. Und so ein angenehmes, gutmütiges Gesicht hat er, und er lächelt, wenn er mich ansieht.«

Zum Mittagessen fuhr Pierre zur Prinzessin Marja.

Während er zwischen den Brandstätten der Häuser durch die Straßen fuhr, war er erstaunt über die Schönheit dieser Ruinen. Die Schornsteine der Häuser und die trümmerhaften Mauern, die in ihrem pittoresken Aussehen an den Rhein und das Kolosseum erinnerten, zogen sich in langen Reihen, einander bald so, bald anders verdeckend, durch die eingeäscherten Stadtteile hin. Alle Leute, bei denen er vorbeikam: die Droschkenkutscher und ihre Fahrgäste, die Zimmerleute, welche Fachwerk errichteten, die Hökerfrauen und Ladenbesitzer, alle sahen Pierre mit heiteren, strahlenden Gesichtern an und schienen zu sagen: »Aha, da ist er! Wollen mal sehen, was daraus wird.«

Beim Eintritt in das Haus der Prinzessin Marja überkam ihn ein Zweifel, ob es auch wirklich richtig sei, daß er gestern hier gewesen sei und Natascha gesehen und mit ihr gesprochen habe. »Vielleicht habe ich mir das nur so ausgesonnen. Vielleicht komme ich herein und bekomme niemanden zu sehen.« Aber kaum war er ins Zimmer getreten, als er auch schon in seinem ganzen Wesen, an dem sofortigen Verlust seiner Freiheit, ihre Gegenwart empfand. Sie trug dasselbe schwarze Kleid mit weichen Falten und dieselbe Frisur wie tags zuvor; aber doch war sie eine ganz andere. Hätte sie gestern, als er ins Zimmer trat, so ausgesehen, so hätte er sie auch nicht einen Augenblick verkennen können.

Sie sah ebenso aus, wie er sie gekannt hatte, als sie beinah noch ein Kind und dann die Braut des Fürsten Andrei war. Ein heiterer, fragender Glanz leuchtete aus ihren Augen; ihr Gesicht trug einen freundlichen und eigentümlich schelmischen Ausdruck.

Pierre speiste mit den Damen zu Mittag und hätte den ganzen Abend bei ihnen gesessen; aber Prinzessin Marja und Natascha fuhren zum Abendgottesdienst, und Pierre mit ihnen.

Am andern Tag kam Pierre schon früh, speiste wieder dort und blieb den ganzen Abend da. Obwohl Prinzessin Marja und Natascha über seinen Besuch augenscheinlich erfreut waren, und obwohl Pierres gesamtes Lebensinteresse sich jetzt auf dieses Haus konzentrierte, hatten sie doch gegen Abend alle Themata erschöpft, und das Gespräch ging fortwährend von einem nichtigen Gegenstand zu einem andern ebenso nichtigen über und stockte oft vollständig.

Pierre blieb an diesem Abend bis zu so später Stunde sitzen, daß Prinzessin Marja und Natascha einander Blicke zuwarfen und offenbar darauf warteten, ob er denn noch nicht bald gehen werde. Pierre sah das, war aber nicht imstande wegzugehen. Es war ihm peinlich, und er fühlte sich unbehaglich; aber doch saß und saß er, weil er schlechterdings nicht imstande war aufzustehen und wegzugehen.

Prinzessin Marja, die davon kein Ende absah, erhob sich zuerst, indem sie über Migräne klagte, und schickte sich an, gute Nacht zu sagen.

»Also Sie fahren morgen nach Petersburg?« fragte sie.

»Nein, ich fahre nicht«, erwiderte Pierre rasch im Ton der Verwunderung und gewissermaßen, als ob er sich gekränkt fühlte. »Ja, nein, nach Petersburg? Ja, morgen; aber ich nehme noch nicht Abschied. Ich komme noch einmal heran, wenn Sie mir etwa Aufträge mitgeben wollen.« Er stand vor der Prinzessin Marja und war ganz rot geworden; aber er ging nicht weg.

Natascha reichte ihm die Hand und ging hinaus. Prinzessin Marja dagegen, statt zu gehen, ließ sich auf einen Sessel nieder und schaute mit ihrem leuchtenden, tiefen Blick Pierre ernst und prüfend an. Die Müdigkeit, die sie vorher so deutlich zum Ausdruck gebracht hatte, war jetzt vollständig verschwunden. Sie stieß einen schweren, langen Seufzer aus, als wenn sie sich auf ein langes Gespräch vorbereitete.

Alle Verlegenheit und Unbehaglichkeit Pierres war mit Nataschas Entfernung sofort vergangen und eine aufgeregte Lebhaftigkeit an deren Stelle getreten. Hurtig rückte er seinen Sessel nahe zu Prinzessin Marja heran.

»Ja, ich wollte gern mit Ihnen reden«, sagte er, als ob er auf ihren Blick wie auf Worte antwortete. »Prinzessin, helfen Sie mir. Was soll ich tun? Darf ich hoffen? Prinzessin, liebe Freundin, hören Sie mich an. Ich weiß alles. Ich weiß, daß ich ihrer nicht würdig bin; ich weiß, daß es jetzt unmöglich ist, ihr davon zu sprechen. Aber ich will ihr Bruder sein. Nein, das nicht, das will ich nicht sein, das kann ich nicht …«

Er hielt inne und rieb sich mit den Händen Gesicht und Augen.

»Sehen Sie«, fuhr er fort und strengte sich offenbar gewaltsam an, zusammenhängend zu reden. »Ich weiß nicht, seit wann ich sie liebe. Aber ich habe nur sie, sie allein geliebt mein ganzes Leben lang und liebe sie so, daß ich mir ein Leben ohne sie nicht vorzustellen vermag. Sie jetzt um ihre Hand zu bitten, wage ich nicht; aber der Gedanke, daß sie vielleicht die meine werden könnte, und daß ich diese Möglichkeit … Möglichkeit … unbenutzt lasse, dieser Gedanke ist schrecklich. Sagen Sie, kann ich hoffen? Sagen Sie, was soll ich tun? Liebe Prinzessin!« sagte er nach einer kurzen Pause, indem er ihre Hand berührte, da sie nicht antwortete.

»Ich denke über das, was Sie mir gesagt haben, nach«, antwortete Prinzessin Marja. »Und da möchte ich Ihnen dies sagen: Sie haben ganz recht, daß jetzt mit ihr von Liebe zu reden …«

Die Prinzessin hielt inne. Sie hatte sagen wollen: »daß jetzt mit ihr von Liebe zu reden unmöglich ist«, aber sie hielt inne, weil sie seit zwei Tagen an der Veränderung, die plötzlich mit Natascha vorgegangen war, sah, daß Natascha sich ganz und gar nicht beleidigt fühlen würde, wenn Pierre zu ihr von seiner Liebe spräche, sondern vielmehr nichts sehnlicher wünschte.

»Jetzt mit ihr davon zu reden … geht nicht an«, sagte Prinzessin Marja aber trotzdem.

»Aber was soll ich denn tun?«

»Legen Sie die Sache in meine Hände«, erwiderte Prinzessin Marja. »Ich weiß …«

Pierre blickte ihr gespannt in die Augen.

»Nun? Nun?« sagte er.

»Ich weiß, daß sie Sie liebt … Sie liebgewinnen wird«, verbesserte sie sich.

Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als Pierre aufsprang und in größter Aufregung ihre Hand ergriff.

»Woher meinen Sie das? Sie meinen, daß ich hoffen darf? Sie meinen?!«

»Ja, das meine ich«, erwiderte Prinzessin Marja lächelnd. »Schreiben Sie an die Eltern und legen Sie die Sache in meine Hände. Ich werde es ihr sagen, sobald es tunlich ist. Ich selbst wünsche es, und mein Herz sagt mir, daß es zum guten Ende kommen wird.«

»Nein, es ist nicht möglich! Wie glücklich ich bin! Aber es ist nicht möglich … Wie glücklich ich bin! Nein, es ist nicht möglich!« rief Pierre und küßte der Prinzessin Marja die Hände.

»Reisen Sie nur nach Petersburg; das ist das beste. Und ich werde Ihnen dann schreiben«, sagte sie.

»Nach Petersburg reisen? Ja, gut, ich werde hinreisen. Aber morgen darf ich doch noch zu Ihnen kommen?«

Am nächsten Tag erschien Pierre, um Abschied zu nehmen. Natascha war weniger lebhaft als an den vorhergehenden Tagen; aber an diesem Tag hatte Pierre, wenn er ihr manchmal in die Augen sah, eine Empfindung, als ob er selbst verschwinde und weder er noch sie mehr daseien, sondern nichts dasei als ein einziges Gefühl des Glücks. »Ist es denn wahr? Nein, es ist nicht möglich«, sagte er sich bei jedem Blick, jeder Bewegung, jedem Wort von ihr, die seine Seele mit Freude erfüllten.

Als er ihr Lebewohl sagte und ihre schmale, magere Hand ergriff, hielt er sie unwillkürlich etwas länger in der seinigen.

»Soll wirklich diese Hand, dieses Gesicht, diese Augen, dieser ganze mir noch fremde Schatz weiblicher Reize, soll das alles wirklich fürs ganze Leben mein sein, mein gewohntes Besitztum, ebenso wie ich selbst es für mich bin? Nein, es ist nicht möglich …!«

»Leben Sie wohl, Graf«, sagte sie laut zu ihm. Und flüsternd fügte sie hinzu: »Ich werde Ihrer Rückkehr gern entgegensehen.«

Und diese einfachen Worte und der Blick und der Gesichtsausdruck, von denen sie begleitet waren, bildeten zwei Monate lang für Pierre den Gegenstand unerschöpflicher Erinnerungen, Ausdeutungen und Zukunftsträumereien. »›Ich werde Ihrer Rückkehr gern entgegensehen …‹ Ja, ja, wie hat sie doch gesagt? ›Ich werde Ihrer Rückkehr gern entgegensehen.‹ Ach, was bin ich glücklich! Was ist das für ein Zustand! Was bin ich glücklich!« sagte Pierre zu sich selbst.

XX


In Pierres Seele ging jetzt nichts dem Ähnliches vor, was in ihr unter ganz ähnlichen Umständen bei seiner Bewerbung um Helene vorgegangen war.

Er wiederholte jetzt nicht wie damals mit einem schmerzlichen Gefühl der Beschämung in Gedanken die Worte, die er gesprochen hatte; er sagte nicht bei sich: »Ach, warum habe ich nicht lieber das gesagt, und warum, ja warum habe ich gesagt: ›Ich liebe Sie‹?« Jetzt dagegen wiederholte er sich in der Erinnerung jedes Wort, das sie und er gesagt hatten, und vergegenwärtigte sich dabei alle Einzelheiten des Gesichtsausdruckes und des Lächelns und wollte nichts hinzufügen oder davon abnehmen: er wollte es sich nur wiederholen. Von einem Zweifel, ob sein Vorhaben gut oder schlecht sei, war in seiner Seele jetzt auch nicht die leiseste Spur vorhanden. Nur ein furchtbarer Zweifel kam ihm mitunter in den Sinn: »Träume ich auch nicht etwa das alles nur? Hat sich Prinzessin Marja auch nicht geirrt? Bin ich auch nicht zu stolz und zu selbstgewiß? Ich glaube jetzt an einen guten Ausgang, und da wird nun auf einmal (wie das ja auch nach der Abrede geschehen soll) Prinzessin Marja mit ihr davon reden, und sie wird lächelnd antworten: ›Wie sonderbar! Er hat sich offenbar geirrt. Weiß er denn nicht, daß er nur ein Mensch, weiter nichts als ein Mensch ist, und ich? … Ich bin ja etwas ganz anderes, Höheres.‹«

Das war der einzige Zweifel, der ihm häufig aufstieg. Auch Pläne machte er jetzt keine. Das bevorstehende Glück erschien ihm so unglaublich groß, daß, wenn dieses in Erfüllung ging, nichts mehr weiter kommen konnte. Dann war alles erreicht.

Eine fröhliche Verrücktheit, deren sich Pierre nicht für fähig gehalten hatte, war in überraschender Weise über ihn gekommen. Es kam ihm vor, als liege der ganze Sinn und Zweck des Lebens nicht nur für ihn allein, sondern für die ganze Welt ausschließlich in seiner Liebe und in der Möglichkeit ihrer Gegenliebe. Manchmal kam es ihm vor, als interessierten sich alle Menschen nur für einen Gegenstand: für sein künftiges Glück. Manchmal kam es ihm vor, als freuten sich alle ebenso, wie er selbst, und gäben sich nur Mühe, diese Freude zu verbergen und sich zu stellen, wie wenn sie mit anderen Interessen beschäftigt wären. In jedem Wort und in jeder Bewegung sah er eine Anspielung auf sein Glück. Oft setzte er die Menschen, denen er begegnete, in Verwunderung durch seine bedeutsamen, auf ein geheimes Einverständnis hinweisenden, glücklichen Blicke und lächelnden Mienen. Wenn er aber dann einsah, daß die Menschen von seinem Glück ja nichts wissen konnten, so bedauerte er sie von ganzer Seele und empfand den Wunsch, ihnen irgendwie klarzumachen, daß alles das, womit sie sich abgäben, vollständiger Unsinn und lauter dummes Zeug sei, nicht wert, daß sich jemand darum kümmere.

Wenn ihn jemand dazu anregen wollte, ein Amt zu übernehmen, oder wenn die Leute irgendwelche allgemeinen Staatsangelegenheiten erörterten oder über den Gang des Krieges debattierten, wobei sie der Ansicht waren, daß von einem glücklichen oder unglücklichen Ausgang dieses geschichtlichen Ereignisses das Glück aller Menschen abhinge: dann hörte er mit einem milden, mitleidigen Lächeln zu und setzte die Leute, die mit ihm sprachen, durch seine seltsamen Bemerkungen in Erstaunen. Aber sowohl diejenigen, die ihm den wahren Sinn und Zweck des Lebens, d.h. sein Liebesgefühl, zu verstehen schienen, als auch jene Unglücklichen, die augenscheinlich kein Verständnis dafür hatten: alle Menschen standen während dieser Periode seines Lebens so hell durch das in ihm strahlende Gefühl beleuchtet vor ihm, daß er ohne die geringste Mühe sofort, wenn er mit irgend jemand zusammenkam, an ihm alles wahrnahm, was er Gutes und Liebenswürdiges besaß.

Während er die finanziellen Angelegenheiten seiner verstorbenen Frau ordnete und ihre Papiere durchsah, empfand er für ihr Gedächtnis kein anderes Gefühl als das des Mitleids, weil sie das Glück nicht kennengelernt hatte, das er jetzt kannte. Fürst Wasili, der jetzt besonders stolz war, da er ein neues Amt und einen neuen Orden erhalten hatte, erschien ihm als ein rührender, gutherziger, bedauernswerter alter Mann.

Pierre erinnerte sich später oft an diese Zeit glückseliger Verrücktheit. An allen Urteilen, die er sich über Menschen und Dinge in dieser Periode gebildet hatte, hielt er nachher für immer fest. Nicht nur, daß er sich in der Folgezeit von diesen Anschauungen über Menschen und Dinge nicht lossagte; er griff sogar, wenn sich einmal in seinem Innern Zweifel und Widerspruch regte, vertrauensvoll auf die Anschauungen zurück, die er in dieser Zeit der Verrücktheit gehabt hatte, und diese Anschauungen erwiesen sich immer als die richtigen.

»Vielleicht«, dachte er, »machte ich damals den Eindruck eines sonderbaren, lächerlichen Menschen; aber ich war damals nicht so verrückt, wie ich zu sein schien. Im Gegenteil, ich war damals klüger und scharfsinniger als sonst je und verstand alles, was zu verstehen im Leben der Mühe wert ist, weil … ja weil ich glücklich war.«

Pierres Verrücktheit bestand darin, daß er nicht wie früher auf persönliche Gründe wartete, um einzelne Menschen zu lieben, d.h. auf bestimmte gute Eigenschaften der Betreffenden, sondern ein Herz voll Liebe hatte und, indem er die Menschen ohne solche besonderen Gründe liebte, nun völlig ausreichende Gründe fand, um derentwillen sie geliebt zu werden verdienten.

XXI


Seit jenem ersten Abend, an dem Natascha nach Pierres Weggang mit vergnügtem, etwas spöttischem Lächeln zu Prinzessin Marja gesagt hatte, er sehe ganz aus, wie wenn er aus dem Bad käme, und eine Bemerkung über seinen kurzen Oberrock und sein kurzgeschnittenes Haar gemacht hatte, seit diesem Augenblick war etwas bis dahin Verborgenes und ihr selbst Unbekanntes, aber Unüberwindliches in Nataschas Seele erwacht.

Alles: ihr Gesicht, ihr Gang, ihr Blick, ihre Stimme, alles hatte sich auf einmal an ihr verändert. Eine ihr selbst unerwartete Lebenskraft und frohe Hoffnungen auf Glück waren emporgetaucht und verlangten befriedigt zu werden. Seit dem ersten Abend schien Natascha alles vergessen zu haben, was sie bekümmert hatte. Sie hatte seitdem nicht ein einziges Mal mehr über ihren Zustand geklagt, kein Wort mehr über die Vergangenheit gesagt und scheute sich nicht mehr, heitere Pläne für die Zukunft zu entwerfen. Sie redete wenig von Pierre; aber sobald Prinzessin Marja seiner Erwähnung tat, flammte ein längst erloschener Glanz in ihren Augen auf und ein eigenartiges Lächeln spielte um ihre Lippen.

Die Veränderung, die mit Natascha vorgegangen war, hatte anfangs Prinzessin Marja in Erstaunen versetzt; aber als sie die Bedeutung derselben erkannt hatte, fühlte sie sich durch diese Veränderung gekränkt. »Hat sie meinen Bruder wirklich so wenig geliebt, daß sie ihn so schnell hat vergessen können?« dachte Prinzessin Marja, wenn sie für sich allein über die eingetretene Veränderung nachdachte. Aber sobald sie mit Natascha zusammen war, zürnte sie ihr nicht und machte ihr keine Vorwürfe. Die neuerwachte Lebenskraft, die Nataschas Wesen erfüllte, war offenbar so wenig einzudämmen und war ihr selbst so unerwartet gekommen, daß Prinzessin Marja in Nataschas Gegenwart die Empfindung hatte, sie sei nicht berechtigt, ihr Vorwürfe zu machen, auch nicht einmal in Gedanken.

Natascha überließ sich so völlig und mit solcher Offenherzigkeit diesem neuen Gefühl, daß sie gar kein Hehl daraus machte, daß sie jetzt nicht traurig, sondern freudig und heiter gestimmt sei.

Als Prinzessin Marja nach der nächtlichen Aussprache mit Pierre zum Schlafzimmer kam, hatte Natascha sie an der Schwelle erwartet.

»Hat er gesprochen? Ja? Hat er gesprochen?« fragte sie einmal über das andere.

Auf Nataschas Gesicht lag ein freudiger und zugleich rührender Ausdruck, der wegen ihrer Freude um Verzeihung bat.

»Ich wollte an der Tür horchen; aber ich wußte ja, daß du es mir sagen würdest.«

Wie verständlich und rührend auch für Prinzessin Marja der Blick war, mit dem Natascha sie ansah, und wie leid es ihr auch tat, sie in solcher Aufregung zu sehen, so hatten doch Nataschas Worte im ersten Augenblick für Prinzessin Marja etwas Verletzendes. Sie dachte an ihren Bruder und seine Liebe.

»Aber was ist zu tun? Sie kann nicht anders«, sagte sich Prinzessin Marja.

Und mit trauriger, etwas strenger Miene teilte sie Natascha alles mit, was Pierre ihr gesagt hatte. Als Natascha hörte, daß er vorhabe nach Petersburg zu reisen, war sie darüber erstaunt.

»Nach Petersburg!« rief sie, als könnte sie das gar nicht verstehen.

Aber als sie den traurigen Gesichtsausdruck der Prinzessin Marja sah, erriet sie den Grund ihrer Betrübnis und brach plötzlich in Tränen aus.

»Marja«, sagte sie, »unterweise mich, was ich tun soll; ich möchte nicht schlecht sein. Was du mir sagen wirst, das werde ich tun; unterweise mich …«

»Liebst du ihn?«

»Ja«, flüsterte Natascha.

»Worüber weinst du denn? Ich nehme an deinem Glück von Herzen teil«, sagte Prinzessin Marja, die um dieser Tränen willen ihrer Freundin schon ihre Freude ganz verziehen hatte.

»Es wird nicht so bald geschehen, erst später. Denke nur, welches Glück, wenn ich seine Frau sein werde und du Nikolai heiratest!«

»Natascha, ich habe dich schon früher gebeten, davon nicht zu reden. Wir wollen von dir sprechen.«

Beide schwiegen eine kleine Weile.

»Aber warum fährt er denn nur nach Petersburg?« sagte Natascha auf einmal und gab sich schnell selbst die Antwort darauf: »Gewiß, gewiß, es wird so sein müssen … Nicht wahr, Marja? Es muß so sein …«

Epilog


I

Sieben Jahre waren vergangen. Das aufgeregte Meer der europäischen Geschichte war in seine Ufer zurückgetreten und schien still geworden zu sein; aber die geheimnisvollen Kräfte, die die Menschheit in Bewegung setzen (geheimnisvoll deshalb, weil die Gesetze, durch die ihre Bewegung bestimmt wird, uns unbekannt sind), fuhren in ihrer Tätigkeit fort.

Trotzdem die Oberfläche des Meeres der Geschichte regungslos dazuliegen schien, bewegte sich dennoch die Menschheit weiter, ebenso ununterbrochen, wie sich die Zeit bewegt. Mannigfaltige Gruppierungen innerhalb der Menschheit bildeten sich und zerfielen; es bereiteten sich Ursachen vor, die zur Neubildung und zum Zerfall von Staaten und zu Verschiebungen von Nationen führten.

Das Meer der Geschichte strömte nicht wie früher stoßweise von einem Ufer zum andern, sondern tobte in der Tiefe. Die historischen Persönlichkeiten wurden nicht wie früher von den Wellen von einem Ufer zum andern getragen; jetzt schienen sie auf einem und demselben Fleck herumgewirbelt zu werden. Die historischen Persönlichkeiten, die früher die Bewegung der Massen an der Spitze von Heeren durch Befehle zu Kriegen, Märschen und Schlachten widergespiegelt hatten, taten dies jetzt durch politische und diplomatische Erörterungen, Gesetze und Verträge.

Diese Tätigkeit der historischen Persönlichkeiten nennen die Geschichtsschreiber Restauration.

Wenn sie die Tätigkeit dieser historischen Persönlichkeiten schildern, die nach ihrer Meinung die Ursache von dem waren, was sie Restauration nennen, so fallen die Geschichtsschreiber über sie ein strenges Verdammungsurteil. Alle bekannten Persönlichkeiten jener Zeit, von Alexander und Napoleon bis zu Madame de Staël, Photius, Schelling, Fichte, Chateaubriand usw., müssen vor diesem strengen Gerichtshof vorbeipassieren und werden freigesprochen oder verurteilt, je nachdem sie an dem »Fortschritt« oder an der »Restauration« mitgewirkt haben.

Auch in Rußland hat, nach der Darstellung dieser Historiker, in dieser Periode der Geschichte eine Restauration stattgefunden, und als den Haupturheber dieser Restauration bezeichnen sie Alexander I., eben den Alexander I., der, nach der Darstellung derselben Historiker, der Haupturheber der liberalen Ära zu Anfang seiner Regierung und der Haupturheber der Rettung Rußlands war.

In der jetzigen russischen Literatur gibt es, vom Gymnasiasten bis zum gelehrten Historiker, keinen Menschen, der nicht auf Alexander wegen seiner ungerechten Handlungen in dieser Periode seiner Regierung einen Stein würfe.

»Er hätte so und so handeln müssen. In jenem Fall hat er gut gehandelt, aber in jenem andern schlecht. Am Anfang seiner Regierung und im Jahre 1812 hat er sich vortrefflich benommen; aber er hat schlecht gehandelt, als er Polen eine Verfassung gab, die Heilige Allianz aufrichtete, Araktschejew mit einer solchen Macht ausstattete, Golizyn und den Mystizismus und nachher Schischkow und Photius begünstigte. Er hat schlecht gehandelt, indem er sich mit dem Dienstbetrieb des Heeres abgab und indem er das Semjonower Regiment kassierte« usw.

Man müßte zehn Bogen vollschreiben, um alle die Vorwürfe aufzuzählen, die die Historiker, gestützt auf ihre Kenntnis vom wahren Wohl der Menschheit, gegen ihn richten.

Welchen Wert haben diese Vorwürfe?

Jene Handlungen, für welche die Historiker Alexander I. loben, als da sind: die liberalen Anfänge seiner Regierung, der Kampf mit Napoleon, die von ihm im Jahre 1812 bewiesene Festigkeit, entspringen sie nicht denselben Quellen (nämlich der Eigenart des Blutes, der Erziehung und des Lebens, wodurch die Persönlichkeit Alexanders zu dem gemacht wurde, was sie war), aus denen auch diejenigen Handlungen entspringen, um derentwillen die Historiker ihn tadeln, als da sind: die Heilige Allianz, die Wiederherstellung Polens, die Restauration der zwanziger Jahre?

Worin besteht denn der eigentliche Kern dieser Vorwürfe?

Darin, daß eine solche geschichtliche Persönlichkeit wie Alexander I., eine Persönlichkeit, die auf der höchsten überhaupt möglichen Stufe menschlicher Macht stand, gleichsam im Brennpunkt des blendenden Lichtes aller auf ihn konzentrierten Strahlen der Geschichte; eine Persönlichkeit, die jenen von der Macht nun einmal unzertrennlichen Einwirkungen der Intrigen, der Täuschungen, der Schmeichelei, der Selbstverblendung im denkbar stärksten Grad ausgesetzt war; eine Persönlichkeit, die in jedem Augenblick ihres Lebens fühlte, daß die Verantwortung für alles, was in Europa geschah, auf ihr lastet; und eine nicht erdichtete Persönlichkeit, sondern eine Persönlichkeit von Fleisch und Blut wie jeder Mensch, mit eigenen persönlichen Gewohnheiten, Leidenschaften und Bestrebungen nach dem Guten, Schönen und Wahren – der Kern jener Vorwürfe liegt darin, daß diese Persönlichkeit vor fünfzig Jahren nicht etwa sittlich schlecht war (diesen Vorwurf erheben die Historiker nicht), sondern über das Wohl der Menschheit nicht diejenigen Anschauungen hatte, die heutzutage ein Professor besitzt, der sich von Jugend auf mit der Wissenschaft beschäftigt, d.h. mit dem Lesen von Büchern, dem Anhören von Vorlesungen und dem Eintragen des Inhalts dieser Bücher und Vorlesungen in ein Heft, aus dem er dann selbst Vorlesungen hält.

Aber selbst wenn wir annehmen, daß Alexander vor fünfzig Jahren sich mit seinen Ansichten über das, worin das Wohl der Völker besteht, im Irrtum befunden habe, so müssen wir notgedrungen annehmen, daß nach Verlauf einiger Zeit auch der Historiker, welcher über Alexander den Stab bricht, sich mit seiner Ansicht über das, was das Wohl der Menschheit bildet, genau ebenso als im Irrtum befangen erweisen wird. Diese Annahme ist um so natürlicher und notwendiger, da wir bei Durchmusterung der Weltgeschichte sehen, daß die Ansicht über das, worin das Wohl der Menschheit besteht, sich mit jedem Jahr, mit jedem neuen Schriftsteller ändert, so daß das, was zu gewisser Zeit als ein Segen betrachtet worden ist, zehn Jahre darauf als ein Unheil erscheint, und umgekehrt. Und damit noch nicht genug; wir finden in der Geschichte gleichzeitig ganz entgegengesetzte Ansichten darüber, was ein Segen und was ein Unheil war: die einen rechnen die Verleihung einer Konstitution an Polen und die Errichtung der Heiligen Allianz Alexander zum Verdienst an, die andern machen ihm beides zum Vorwurf.

Von der Tätigkeit Alexanders und Napoleons dürfen wir nicht sagen, daß sie nützlich oder schädlich gewesen sei, da wir nicht sagen können, wofür sie nützlich und wofür sie schädlich war. Wenn diese Tätigkeit jemandem nicht gefällt, so gefällt sie ihm nur deswegen nicht, weil sie mit seinem beschränkten Begriff über das, was das Heil der Menschen ausmacht, nicht zusammenfällt. Ob mir nun die unversehrte Erhaltung meines Vaterhauses in Moskau im Jahre 1812 als das wahre Heil erscheint, oder der Ruhm der russischen Waffen, oder die Blüte der Petersburger Universität und anderer Universitäten, oder die Freiheit Polens, oder die Machtstellung Rußlands, oder das europäische Gleichgewicht, oder eine gewisse Art von europäischer Aufklärung, der sogenannte Fortschritt: in jedem Fall muß ich bekennen, daß die Tätigkeit einer jeden historischen Persönlichkeit außer diesen Zielen noch andere, allgemeinere und mir unfaßbare Ziele hatte.

Aber nehmen wir an, die sogenannte Wissenschaft fände eine Möglichkeit, alle Gegensätze miteinander zu versöhnen, und besäße für die historischen Persönlichkeiten und Ereignisse einen unveränderlichen Maßstab des Guten und Schlechten.

Nehmen wir an, Alexander hätte in jeder Hinsicht anders verfahren können. Nehmen wir an, er hätte gemäß der Vorschrift seiner jetzigen Tadler, der Leute, die in ihrem Professorendünkel das Endziel der Entwicklung der Menschheit zu kennen meinen, alles nach jenem Programm von Nationalität, Freiheit, Gleichheit und Fortschritt einrichten können (ein anderes Programm scheint es ja gar nicht zu geben), das ihm seine jetzigen Tadler an die Hand gegeben hätten. Nehmen wir an, dieses Programm läge im Bereich der Möglichkeit und wäre bis ins einzelne ausgearbeitet und Alexander hätte nach ihm gehandelt. Was wäre dann aus der Tätigkeit aller der Männer geworden, die die damalige Richtung der Regierung bekämpften, aus dieser Tätigkeit, die nach der Meinung der Historiker eine gute und nützliche war? Diese Tätigkeit wäre überhaupt nicht vorhanden gewesen; es wäre kein Leben vorhanden gewesen; nichts wäre vorhanden gewesen.

Wenn man annimmt, das menschliche Leben könne durch den Verstand regiert werden, so wird damit die Möglichkeit des Lebens aufgehoben.

II


Nimmt man an, wie es die Historiker tun, daß die großen Männer die Menschheit zur Erreichung bestimmter Ziele hinleiten, welche entweder in der Größe Rußlands oder Frankreichs oder im europäischen Gleichgewicht oder in der Verbreitung revolutionärer Ideen oder im allgemeinen Fortschritt oder in sonst etwas bestehen, so ist es unmöglich, die Erscheinungen der Geschichte ohne die Begriffe »Zufall« und »Genie« zu erklären.

Wenn das Ziel der europäischen Kriege zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts in der Größe Rußlands bestand, so konnte dieses Ziel ohne jeden vorhergehenden Krieg und ohne Invasion erreicht werden. Wenn das Ziel die Größe Frankreichs war, so ließ sich dieses Ziel ohne Revolution und ohne Kaiserreich erreichen. Wenn das Ziel die Verbreitung von Ideen war, so hätte das die Buchdruckerkunst weit besser ausgeführt als die Soldaten. Wenn das Ziel in dem Fortschritt der Zivilisation bestand, so liegt die Vermutung nahe, daß es außer der Vernichtung von Menschen und ihrer Habe noch andere, zweckmäßigere Wege zur Verbreitung der Zivilisation gibt.

Warum hat sich denn alles so begeben und nicht anders? Weil es sich so begeben hat.

»Der Zufall hat die Lage geschaffen, das Genie hat sie benutzt«, sagt die Geschichte. Aber was ist Zufall? Was ist Genie?

Die Worte »Zufall« und »Genie« bezeichnen nichts wirklich Existierendes und lassen sich darum auch nicht definieren. Diese Worte bezeichnen nur einen gewissen Grad des Verständnisses der Erscheinungen. Ich weiß nicht, warum diese oder jene Erscheinung eintritt, und bin der Meinung, daß ich es nicht wissen kann; daher verzichte ich darauf, es zu wissen, und sage: Zufall. Ich sehe eine Kraft, die eine Wirkung hervorbringt, die zu den gewöhnlichen menschlichen Fähigkeiten in keinem Verhältnis steht; ich verstehe nicht, woher das kommt, und sage: Genie.

Einer Hammelherde muß derjenige Hammel, der vom Schäfer jeden Abend zur Fütterung in eine besondere Hürde getrieben wird und noch einmal so dick wird wie die anderen, als ein Genie erscheinen. Und der Umstand, daß allabendlich gerade dieser Hammel nicht in den gemeinsamen Schafstall, sondern in eine besondere Hürde kommt und dort seinen Hafer erhält, und daß dieser, gerade dieser von Fett strotzende Hammel zum Essen geschlachtet wild, muß als eine merkwürdige Vereinigung der Genialität mit einer ganzen Reihe außerordentlicher Zufälligkeiten erscheinen.

Aber die Hammel brauchen sich nur von der Vorstellung freizumachen, daß alles, was mit ihnen vorgeht, lediglich zur Erreichung der Zwecke geschieht, welche ihnen selbst vorschweben; sie brauchen nur anzunehmen, daß die mit ihnen sich zutragenden Begebnisse auch andere, ihnen unverständliche Zwecke haben können: und sie werden sofort in dem, was mit dem besonders gemästeten Hammel vorgeht, die Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit erkennen. Und wenn sie auch nicht verstehen werden, zu welchem Zweck er gemästet wurde, so werden sie doch wenigstens einsehen, daß alles, was mit dem Hammel vorging, nicht ohne eine leitende Absicht geschah, und werden weder den Begriff »Zufall« noch den Begriff »Genie« mehr nötig haben.

Erst wenn wir darauf verzichten, einen nahen, begreifbaren Zweck erkennen zu wollen, und zugeben, daß der Endzweck für uns unfaßbar ist, erst dann werden wir die Zweckmäßigkeit in dem Leben der weltgeschichtlichen Persönlichkeiten erkennen, und es wird uns die Ursache jener von ihnen hervorgebrachten Wirkung, die zu den gewöhnlichen menschlichen Fähigkeiten in keinem Verhältnis steht, klar werden, und wir werden der Worte »Zufall« und »Genie« entraten können.

Wir brauchen nur anzuerkennen, daß uns der Zweck des Hin- und Herwogens der europäischen Völker unbekannt ist und wir nur die Tatsachen kennen, welche in einem vielfachen Morden bestanden, zuerst in Frankreich, dann in Italien, in Afrika, in Preußen, in Österreich, in Spanien, in Rußland, und daß die Bewegung von Westen nach Osten und wieder von Osten nach Westen den Kern und Zweck dieser Ereignisse bildet: und wir werden nicht mehr nötig haben, in den Charakteren Napoleons und Alexanders eine alles überragende Ausnahme und eine Genialität zu sehen, ja, wir werden uns diese Persönlichkeiten sogar als ganz ebensolche Menschen vorstellen müssen wie alle übrigen; und wir werden nicht mehr nötig haben, die kleinen Ereignisse, durch welche diese Männer zu dem gemacht wurden, was sie waren, für Zufälligkeiten zu erklären, sondern es wird uns vielmehr deutlich sein, daß alle diese kleinen Ereignisse notwendig waren.

Haben wir so auf eine Erkenntnis des Endzwecks verzichtet, so werden wir klar einsehen, daß, wie man zu keiner Pflanze andere, besser zu ihr passende Blüten und Samen ersinnen kann als die, welche sie wirklich hervorbringt, man ebensowenig zwei andere Menschen ersinnen kann, deren ganze Vergangenheit in solchem Grad, bis in die kleinsten Einzelheiten hinein, der Bestimmung entspräche, die zu erfüllen ihnen oblag.

III


Die eigentliche fundamentale Idee der europäischen Ereignisse zu Anfang dieses Jahrhunderts ist die kriegerische Massenbewegung der europäischen Völker von Westen nach Osten und dann von Osten nach Westen. Den Anfang machte die Bewegung von Westen nach Osten. Damit die Völker des Westens jene kriegerische Bewegung nach Moskau ausführen konnten, die sie wirklich ausgeführt haben, war mehreres notwendig: 1. daß sie sich zu einer kriegerischen Gruppe von solcher Größe zusammentaten, daß sie imstande war, den Zusammenstoß mit der kriegerischen Gruppe des Ostens auszuhalten, 2. daß sie sich von allen hergebrachten Traditionen und Bräuchen lossagten, und 3. daß sie bei Ausführung ihrer kriegerischen Bewegung einen Mann an ihrer Spitze hatten, der all die Betrügereien, Räubereien und Mordtaten, die diese Bewegung notwendigerweise begleiten mußten, sowohl für seine eigene Person als auch für sie auf sein Gewissen nehmen konnte.

Die Französische Revolution bildet den Ausgangspunkt: nun zerfällt die alte Gruppierung, deren Größe nicht ausreichend war; die alten Bräuche und Traditionen schwinden; Schritt für Schritt bilden sich neue Maßstäbe und neue Bräuche heraus, und es entwickelt sich der Mann, der dazu bestimmt ist, an der Spitze der kommenden Bewegung zu stehen und die ganze Verantwortung für alles, was sich vollziehen soll, auf seinen Schultern zu tragen.

Ein Mann ohne Überzeugungen, ohne feste Gewohnheiten, ohne Traditionen, ohne Namen, nicht einmal von französischer Herkunft, wird durch die, wie es scheinen möchte, seltsamsten Zufälle zwischen allen Parteien, welche Frankreich in Aufruhr versetzten, hindurch vorwärtsgeschoben und, ohne daß er sich einer von ihnen anschlösse, an eine hervorragende Stelle befördert.

Die Unwissenheit seiner Kameraden, die Schwäche und Geringwertigkeit der Gegner, die wie Aufrichtigkeit aussehende Lügenhaftigkeit und die glänzende, selbstbewußte Beschränktheit dieses Menschen bringen ihn an die Spitze einer Armee. Die vortreffliche Zusammensetzung der Truppen der italienischen Armee, die Unlust der Gegner, sich auf einen Kampf einzulassen, seine knabenhafte Dreistigkeit und Zuversichtlichkeit verhelfen ihm zu kriegerischem Ruhm. Eine zahllose Menge sogenannter Zufälle kommt ihm überall zustatten. Die Ungnade, in die er bei den Regierenden in Frankreich fällt, dient ihm zum Vorteil. Seine Versuche, dem Weg, für den er prädestiniert ist, untreu zu werden, gelingen nicht: er wird nicht nach Rußland in den Dienst übernommen, auch eine Anstellung in der Türkei erreicht er nicht. Während der Kämpfe in Italien befindet er sich mehrmals am Rand des Verderbens und wird jedesmal auf unerwartete Weise gerettet. Die russischen Truppen, also gerade diejenigen, die seinen Ruhm zu vernichten imstande sind, betreten infolge verschiedener diplomatischer Erwägungen Westeuropa nicht, solange er dort ist.

Bei seiner Rückkehr aus Italien findet er die Regierung in Paris in einem Zersetzungsprozeß begriffen, bei welchem die Männer, die in eine solche Regierung hineingeraten, unausbleiblich zerrieben werden und zugrunde gehen. Und ganz von selbst zeigt sich ihm ein Ausweg aus dieser gefährlichen Lage: dieser Ausweg besteht in der sinnlosen, jedes Grundes entbehrenden Expedition nach Afrika. Und wieder kommen ihm dieselben sogenannten Zufälle zustatten. Das unzugängliche Malta ergibt sich ohne einen Kanonenschuß; die unvorsichtigsten Anordnungen werden von Erfolg gekrönt. Die feindliche Flotte, die später nicht einmal einen Kahn durchläßt, läßt eine ganze Armee hindurchfahren. In Afrika wird gegen die fast waffenlosen Einwohner eine ganze Reihe von Schändlichkeiten begangen. Und die Menschen, die diese Schändlichkeiten begehen, und besonders ihr Anführer, sind der Überzeugung, das sei schön, das sei ein Ruhm, das gleiche den Taten Cäsars und Alexanders von Mazedonien, und das sei gut.

Jenes Ideal von Ruhm und Größe, das darin besteht, daß man keine der eigenen Taten für sittlich schlecht hält, sondern im Gegenteil auf jedes Verbrechen, das man begangen hat, stolz ist, indem man ihm eine unbegreifliche, übernatürliche Bedeutung beilegt, dieses Ideal, das in Zukunft für diesen Menschen und seine Gefolgsleute der Leitstern sein soll, gelangt in Afrika zu schrankenloser Ausbildung. Alles, was er tut, gelingt ihm. Von der ansteckenden Pest bleibt er verschont. Die Grausamkeit der Ermordung der Gefangenen wird ihm nicht als Schuld angerechnet. Seine knabenhaft unvorsichtige, unbegründete, ehrlose Abfahrt aus Afrika, wo er seine Kameraden in der Not zurückläßt, wird ihm als ein Verdienst ausgelegt, und wieder läßt ihn die feindliche Flotte zweimal entschlüpfen. Als er, schon völlig betäubt von den Verbrechen, die er mit solchem Glück begangen hat, auf seine Rolle wohl vorbereitet, ohne jeden sichtbaren Zweck nach Paris kommt, hat jene Zersetzung der republikanischen Regierung, die ihn ein Jahr vorher hätte vernichten können, nun gerade den höchsten Grad erreicht, und seine Anwesenheit kann, da er dem Parteitreiben fernsteht, ihm jetzt nur zu weiterem Aufsteigen behilflich sein.

Er hat keinen bestimmten Plan; er fürchtet alles; aber die Parteien klammern sich an ihn und verlangen seine Mitwirkung.

Er allein mit seinem Ideal von Ruhm und Größe, wie es sich in Italien und Ägypten herausgebildet hat, mit seiner unsinnigen Selbstvergötterung, mit seiner Dreistigkeit im Begehen von Verbrechen, mit seiner wie Aufrichtigkeit aussehenden Lügenhaftigkeit, er allein ist imstande, das, was geschehen soll, auf sein Gewissen zu nehmen.

Er ist nötig für den Platz, der seiner wartet, und darum wird er, fast ohne daß er es gewollt hätte, trotz seiner Unentschlossenheit, trotz aller Fehler, die er begeht, und trotzdem es ihm an einem Plan mangelt, in eine Verschwörung hineingezogen, deren Zweck die Usurpation der höchsten Macht ist, und diese Verschwörung wird von Erfolg gekrönt.

Man drängt ihn in eine Sitzung der Machthaber. Erschrocken will er fliehen, da er sich für verloren hält; er fingiert eine Ohnmacht; er redet sinnlose Dinge, die ihn hätten ins Verderben stürzen müssen. Aber die Machthaber Frankreichs, früher so scharfsinnig und stolz, sind jetzt, in dem Bewußtsein, daß ihre Rolle ausgespielt ist, noch verlegener als er und reden in ganz anderer Weise, als wie sie hätten reden müssen, um die Macht in Händen zu behalten und ihn zu vernichten.

Ein »Zufall«, Millionen von »Zufällen« legen die Macht in seine Hände, und alle Menschen wirken, wie wenn sie sich verschworen hätten, zur Befestigung dieser Macht mit. »Zufälle« machen die Charaktere der damaligen Machthaber Frankreichs ihm gefügig; »Zufälle« gestalten den Charakter Pauls I. so, daß dieser seine hohe Stellung anerkennt; ein »Zufall« ruft eine Verschwörung gegen die ihn hervor, die, statt ihm zu schaden, im Gegenteil zur Befestigung seiner Macht dient. Ein »Zufall« gibt ihm Enghien in die Hände und veranlaßt ihn ohne vorhergehenden Plan dazu, diesen zu töten und eben dadurch, wirkungsvoller als durch alle andern Mittel, die Menge zu überzeugen, daß er das Recht auf seiner Seite habe, da er die Macht hat. Ein »Zufall« bewirkt, daß er zu einer Expedition nach England, die offenbar sein Verderben herbeigeführt hätte, zwar all seine Kraft anstrengt, diese Absicht aber doch niemals ausführt, sondern unversehens Mack und seine Österreicher überfällt, die sich ohne Kampf ergeben. »Zufall« und »Genialität« verleihen ihm den Sieg bei Austerlitz, und alle Menschen, nicht nur die Franzosen, sondern auch das ganze übrige Europa mit Ausnahme Englands, welches auch an den kommenden Ereignissen sich nicht beteiligt, alle Menschen erkennen nun »zufällig«, trotz ihres früheren Entsetzens und Abscheus vor seinen Verbrechen, seine hohe Stellung und den Titel, den er sich gegeben hat, und sein Ideal von Größe und Ruhm an, ein Ideal, das allen als etwas Schönes und Vernünftiges erscheint.

Als wollten sie einen Vorversuch machen und sich auf die bevorstehende Bewegung vorbereiten, streben die Westmächte zu wiederholten Malen in den Jahren 1805, 1806, 1807, 1809 nach dem Osten, mit immer stärkerer Wucht und wachsender Masse. Im Jahre 1811 fließt die Menschengruppe, die sich in Frankreich gebildet hat, mit den mitteleuropäischen Völkern zu einer einzigen, gewaltigen Gruppe zusammen. Gleichzeitig mit der Vergrößerung dieser Menschengruppe entwickelt sich die Kraft des an der Spitze dieser Bewegung stehenden Mannes, alles zu verantworten. In der zehnjährigen Vorbereitungszeit, die der großen Bewegung vorangeht, kommt dieser Mann mit allen gekrönten Häuptern Europas zusammen. Die gedemütigten Herren der Welt können dem sinnlosen napoleonischen Ideal von Ruhm und Größe kein vernünftiges Ideal gegenüberstellen. Wetteifernd suchen sie ihm ihre Nichtigkeit zu zeigen. Der König von Preußen schickt seine Gemahlin hin, damit sie die Gnade des großen Mannes erschmeichle; der Kaiser von Österreich erachtet es als eine besondere Huld, daß dieser Mensch die Kaisertochter in sein Ehebett nimmt; der Papst, der Hüter des Heiligtums der Völker, wirkt dienstbereit mit seiner Religion zur Erhöhung des großen Mannes mit. Nicht sowohl Napoleon selbst bereitet sich auf die Durchführung seiner Rolle vor, als vielmehr bereitet ihn seine ganze Umgebung darauf vor, die ganze Verantwortung für alles, was geschieht und noch geschehen soll, zu übernehmen. Jede seiner Handlungen, Übeltaten und unwürdigen Betrügereien, was er nur tut, alles nimmt in der Darstellung seiner Umgebung sofort die Form einer Großtat an. Das schönste Fest, das die Deutschen für ihn ersinnen können, ist die Feier der Schlacht von Jena und Auerstedt. Und nicht nur er ist groß, sondern groß sind auch seine Vorfahren, seine Brüder, seine Stiefsöhne und Schwäger. Es geschieht alles, um ihn der letzten Verstandeskraft zu berauben und ihn zu seiner furchtbaren Rolle vorzubereiten. Und da er selbst bereit ist, sind auch seine Streitkräfte bereit.

Das Invasionsheer strebt nach Osten und erreicht sein Endziel, Moskau. Die Hauptstadt ist eingenommen, das russische Heer schlimmer zugerichtet als jemals die feindlichen Heere in den früheren Kriegen von Austerlitz bis Wagram. Aber an Stelle jener »Zufälle« und jener »Genialität«, die ihn bisher so konsequent in einer ununterbrochenen Reihe von Erfolgen zu dem vorherbestimmten Ziel geführt haben, erscheint nun auf einmal eine zahllose Menge entgegengesetzter »Zufälle«, von dem Schnupfen bei Borodino bis zu den Frösten und dem Funken, der Moskau in Brand setzt, und an Stelle der »Genialität« erscheinen beispiellose Dummheit und Gemeinheit.

Das Invasionsheer flieht, kehrt wieder zurück, flieht wieder, und alle »Zufälle« sind jetzt beständig nicht mehr zu seinen Gunsten, sondern zu seinen Ungunsten.

Nun vollzieht sich eine Gegenbewegung von Osten nach Westen, die mit der vorhergehenden Bewegung von Westen nach Osten eine merkwürdige Ähnlichkeit hat. Dieselben Versuche einer Bewegung von Osten nach Westen gehen in den Jahren 1805, 1807 und 1809 der großen Bewegung voraus; dieselbe Bildung einer Gruppe von gewaltigen Dimensionen; derselbe Anschluß der in der Mitte wohnenden Völker an die Bewegung; dasselbe Schwanken in der Mitte des Weges und dieselbe Beschleunigung der Geschwindigkeit, je mehr man sich dem Ziel nähert.

Paris, das äußerste Ziel, ist erreicht. Napoleons Herrschaft und Heer ist vernichtet. Napoleon selbst hat keinen gesunden Verstand mehr; alle seine Handlungen sind offenbar kläglich und widerlich; aber wieder tritt ein unerklärlicher »Zufall« ein: die Verbündeten hassen Napoleon, in dem sie den Urheber ihrer Leiden sehen; der Macht und Herrschaft beraubt, arger Übeltaten und schändlicher Ränke überführt, hätte er von ihnen ebenso angesehen werden sollen wie zehn Jahre vorher und ein Jahr nachher: als ein außerhalb des Gesetzes stehender Räuber. Aber infolge eines seltsamen »Zufalls« sieht ihn niemand so an. Seine Rolle ist noch nicht ausgespielt. Den Menschen, den sie zehn Jahre vorher und ein Jahr nachher für einen außerhalb des Gesetzes stehenden Räuber erachten, schicken sie nach einer nur zwei Tagesreisen von Frankreich entfernten Insel, die sie ihm als Besitztum überweisen, geben ihm eine Leibwache und zahlen ihm, niemand weiß wofür, Millionen Geldes aus.

IV


Die Bewegung der Völker beginnt in ihre Ufer zurückzutreten. Die Wogen der großen Bewegung haben sich gelegt, und auf dem still gewordenen Meer bilden sich Strudel, in denen die Diplomaten herumgetrieben werden; dabei bilden sie sich ein, daß gerade sie es sind, die die Bewegung zur Ruhe gebracht haben.

Aber das still gewordene Meer erhebt sich plötzlich von neuem. Die Diplomaten meinen, daß sie, ihre Mißhelligkeiten, die Ursache dieses neuen Andranges der Kräfte seien; sie erwarten einen Krieg zwischen ihren Herrschern; die Lage scheint ihnen in unlösbarer Weise verwickelt. Aber die Woge, deren Annäherung sie fühlen, kommt nicht von der Seite, von der sie sie erwarten. Es erhebt sich noch einmal dieselbe Woge, mit demselben Ausgangspunkt der Bewegung, Paris. Es findet von Westen her ein letzter Rückschlag der Bewegung statt, ein Rückschlag, der dazu bestimmt ist, die unlösbar scheinenden diplomatischen Schwierigkeiten zu lösen und der kriegerischen Bewegung dieser Periode ein Ende zu machen.

Der Mann, der Frankreich verödet hat, kommt allein, ohne Verschworene, ohne Soldaten nach Frankreich. Jeder Polizist kann ihn verhaften; aber infolge eines seltsamen »Zufalls« tut dies niemand, im Gegenteil empfangen alle mit Begeisterung den Menschen, den sie einen Tag vorher verflucht haben und einen Monat später wieder verfluchen werden.

Dieser Mensch ist noch notwendig, um die Verantwortung für den letzten Akt des Zusammenspiels zu tragen.

Der Akt ist beendet.

Die Rolle ist endgültig ausgespielt. Der Schauspieler erhält die Weisung, sich auszukleiden und die Schminke von den Backen und den Spießglanz aus den Augenbrauen zu waschen: man bedarf seiner nicht mehr.

Und nun vergehen mehrere Jahre, während deren dieser Mensch auf seiner Insel in der Einsamkeit sich selbst eine klägliche Komödie vorspielt und intrigiert und lügt, um seine Handlungen zu rechtfertigen, wo diese Rechtfertigung doch nicht mehr nötig ist, und der ganzen Welt zeigt, was das für ein Ding war, das die Menschen für eine lebendige Kraft hielten, während in Wirklichkeit eine unsichtbare Hand es leitete.

Nachdem das Drama zu Ende gespielt war und der Schauspieler sein Kostüm abgelegt hatte, zeigte ihn uns der Leiter der Aufführung.

»Seht nun, woran ihr geglaubt habt! Das ist er! Seht ihr jetzt, daß nicht er euch in Bewegung gesetzt hat, sondern ich?«

Aber lange Zeit haben die Menschen dies nicht verstanden, da ihre Augen sich durch die Kraft der Bewegung hatten täuschen lassen.

Eine noch größere Konsequenz und innere Notwendigkeit weist das Leben Alexanders I. auf, derjenigen Persönlichkeit, die an der Spitze der Gegenbewegung von Osten nach Westen stand.

Welcher Eigenschaften bedurfte der Mann, der, alle andern in den Schatten stellend, an der Spitze dieser Bewegung von Osten nach Westen stehen sollte?

Er mußte Gerechtigkeitsgefühl besitzen; er mußte Interesse haben für die Angelegenheiten Europas, ein Interesse, das nicht durch andere, kleinliche Interessen abgelenkt und getrübt wurde; er mußte an sittlicher Größe seine Standesgenossen, die Herrscher jener Zeit, überragen; er mußte ein mildes, anziehendes Wesen haben; er mußte einen persönlichen Groll gegen Napoleon hegen. Und dies alles findet sich bei Alexander I.; dies alles ist durch zahllose sogenannte »Zufälle« in seinem vorhergehenden Leben vorbereitet; durch seine Erziehung und durch die liberalen Anfänge seiner Regierung und durch die ihn umgebenden Ratgeber und durch Austerlitz und Tilsit und Erfurt.

Während des nationalen Krieges bleibt diese Persönlichkeit untätig, da sie nicht erforderlich ist. Aber sowie sich die Notwendigkeit eines allgemeinen europäischen Krieges zeigt, erscheint diese Persönlichkeit im gegebenen Augenblick auf ihrem Platz, vereinigt die Völker Europas und führt sie zum Ziel.

Das Ziel ist erreicht. Nach dem letzten Krieg von 1815 befindet sich Alexander auf dem höchsten Gipfel menschlicher Macht. Welchen Gebrauch macht er von dieser Macht?

Alexander I., er, der Europa den Frieden wiedergegeben hat, der Mann, dessen Streben von seiner Jugend an nur auf das Glück seiner Völker gerichtet ist, der erste Urheber liberaler Neuerungen in seinem Vaterland, erkennt jetzt, wo er anscheinend die allergrößte Macht und damit die Möglichkeit besitzt, seine Völker glücklich zu machen, zu gleicher Zeit, wo Napoleon in der Verbannung kindische, lügenhafte Pläne entwirft, wie er die Menschheit beglücken würde, wenn er die Macht hätte – Alexander I. erkennt, nachdem er seinen Beruf erfüllt und die Hand Gottes an sich gefühlt hat, plötzlich die Nichtigkeit dieser vermeintlichen Macht, wendet sich von ihr ab, legt sie in die Hände von Leuten, die er verachtet und die verächtlich sind, und sagt nur: »Nicht uns, nicht uns, sondern Deinem Namen sei die Ehre! Ich bin auch nur ein Mensch wie ihr; laßt mich wie ein Mensch leben und an meine Seele und an Gott denken.«


Wie die Sonne und jedes Ätheratom eine in sich abgeschlossene Kugel und zugleich nur ein Atom des in seiner Riesenhaftigkeit für den Menschen unfaßbaren Alls ist, so trägt auch jede Persönlichkeit ihren Zweck in sich selbst, muß aber gleichzeitig den allgemeinen Zwecken dienen, die den Menschen unfaßbar sind.

Eine auf einer Blume sitzende Biene hat ein Kind gestochen. Und das Kind fürchtet nun die Biene und sagt, der Zweck der Bienen bestehe darin, die Menschen zu stechen. Der Dichter erfreut sich an dem Anblick der Biene, die aus einem Blütenkelch trinkt, und sagt, der Zweck der Bienen bestehe darin, den Blütenduft einzusaugen. Der Imker, welcher sieht, daß die Biene Blütenstaub sammelt und in den Korb trägt, sagt, der Zweck der Biene bestehe in der Bereitung des Honigs. Ein andrer Imker, der das Leben des Bienenschwarmes genauer studiert, sagt, die Biene sammle den Blütenstaub zur Ernährung der jungen Bienen und zur Hervorbringung einer Königin, und ihr Zweck bestehe in der Fortpflanzung der Art. Der Botaniker bemerkt, daß die Biene, die mit dem Blütenstaub einer zweihäusigen Pflanze auf einen Stempel hinüberfliegt, diesen befruchtet, und der Botaniker sieht darin den Zweck der Biene. Ein anderer, der die Wanderung der Pflanzen beobachtet, sieht, daß die Biene zu dieser Wanderung mitwirkt; dieser neue Beobachter kann sagen, daß der Zweck der Biene hierin bestehe. Aber der Endzweck der Biene wird weder durch jenen ersten noch durch den zweiten, noch durch den dritten Zweck, noch durch sonst einen erschöpft, den der menschliche Geist zu entdecken imstande ist. Zu je größerer Höhe der menschliche Geist bei der Entdeckung dieser Zwecke sich erhebt, um so deutlicher wird ihm die Unfaßbarkeit des Endzwecks.

Der Mensch kann es über die Beobachtung der wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Leben der Biene und anderen Lebenserscheinungen nicht hinausbringen. Und dasselbe gilt von den Zwecken der historischen Persönlichkeiten und der Völker.

V


Die Hochzeit Nataschas, die im Jahre 1813 den Grafen Besuchow heiratete, war das letzte freudige Ereignis in der alten Familie Rostow. In demselben Jahr starb Graf Ilja Andrejewitsch, und wie das meist so zu gehen pflegt, zerfiel mit seinem Tod die frühere Familie.

Die Ereignisse des letzten Jahres: der Brand von Moskau und die Flucht aus dieser Stadt, der Tod des Fürsten Andrei und Nataschas Verzweiflung, der Tod Petjas, der Gram der Gräfin, alles dies war Schlag auf Schlag auf das Haupt des alten Grafen gefallen. Es hatte den Anschein, daß er die volle Bedeutung aller dieser Ereignisse nicht begriff und sich nicht imstande fühlte sie zu begreifen; er beugte in geistigem Sinn sein altes Haupt, als ob er neue Schläge erwartete und erbäte, die ihn vollends vernichten sollten. Er schien bald ängstlich und zerstreut, bald in unnatürlicher Weise lebhaft und unternehmend.

Nataschas Hochzeit hatte ihn durch die damit verbundenen Äußerlichkeiten eine Zeitlang beschäftigt. Er bestellte die Diners und Soupers und wollte offenbar heiter erscheinen; aber seine Heiterkeit teilte sich nicht wie früher anderen mit, sondern erweckte im Gegenteil nur Mitleid bei denen, die ihn kannten und liebten.

Nachdem Pierre mit seiner jungen Frau abgereist war, wurde der alte Graf still und begann über innere Unruhe zu klagen. Einige Tage darauf wurde er krank und mußte sich zu Bett legen. Gleich in den ersten Tagen seiner Krankheit merkte er trotz aller Tröstungen seitens der Ärzte, daß er nicht wieder aufstehen werde. Die Gräfin brachte, ohne sich auszukleiden, zwei Wochen in einem Lehnstuhl am Kopfende seines Bettes zu. Jedesmal, wenn sie ihm seine Arznei reichte, küßte er ihr schluchzend, ohne ein Wort zu sagen, die Hand. Am letzten Tag bat er unter heißen Tränen seine Frau und seinen abwesenden Sohn um Verzeihung wegen der Zerrüttung der Vermögensverhältnisse – die größte Schuld, deren er sich bewußt war. Nachdem er das Abendmahl und die Letzte Ölung empfangen hatte, verschied er still, und am folgenden Tag füllte sich die Rostowsche Mietwohnung mit einer Schar von Bekannten, welche kamen, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Alle diese Bekannten, die so oft in seinem Haus diniert und getanzt und sich so oft über ihn lustig gemacht hatten, sagten jetzt mit der gleichen Empfindung eines inneren Selbstvorwurfes und der Rührung, wie wenn sie sich vor jemand rechtfertigen wollten: »Ja, mag man sagen, was man will, aber ein prächtiger Mensch war er doch. Solche Leute findet man heutzutage gar nicht mehr … Und wer hat nicht seine Schwächen?«

Gerade zu der Zeit, als die Angelegenheiten des Grafen dermaßen in Verwirrung waren, daß man sich keine Vorstellung davon machen konnte, wie das alles enden würde, wenn es noch ein Jahr so fortginge, gerade zu der Zeit war er nun plötzlich gestorben.

Nikolai befand sich mit den russischen Truppen in Paris, als die Nachricht vom Tod seines Vaters zu ihm gelangte. Er reichte sofort seinen Abschied ein, nahm, ohne diesen abzuwarten, Urlaub und reiste nach Moskau. Der Vermögensstand war einen Monat nach dem Tod des Grafen völlig klargestellt, und alle waren erstaunt über den riesigen Gesamtbetrag der verschiedenen kleinen Schulden, von deren Existenz niemand auch nur eine Ahnung gehabt hatte. Die Schulden waren doppelt so groß als das Vermögen.

Die Verwandten und Freunde rieten Nikolai, auf die Erbschaft zu verzichten. Aber Nikolai sah in dem Verzicht auf die Erbschaft eine Art von Vorwurf gegen den Vater, dessen Andenken ihm heilig war, und wollte darum von einem Verzicht nichts hören, sondern übernahm die Erbschaft mit der Verpflichtung, die Schulden zu bezahlen.

Die Gläubiger hatten so lange geschwiegen, da sie sich bei Lebzeiten des Grafen durch jene undefinierbare, aber starke Einwirkung gebunden fühlten, die seine maßlose Herzensgüte auf sie ausübte; nun aber reichten sie auf einmal sämtlich ihre Forderungen ein. Es entstand, wie das meistens so geht, geradezu eine Art von Wettrennen, wer zuerst Geld bekäme, und gerade diejenigen Leute, die, wie der Geschäftsführer Dmitri und andre, Wechsel in den Händen hatten, die ihnen ohne Äquivalent geschenkt waren, bestanden jetzt am hartnäckigsten auf schneller Befriedigung. Sie wollten Nikolai keine Frist geben, ihm keine Zeit zur finanziellen Erholung vergönnen; und diejenigen, die den alten Mann geschont hatten, der an ihrem Verlust schuld war, falls überhaupt ein Verlust in Frage kam, die fielen jetzt mitleidslos über den jungen Erben her, der doch zweifellos keine Schuld ihnen gegenüber trug und die Bezahlung der Schulden nur aus gutem Herzen auf sich genommen hatte.

Keine einzige der finanziellen Unternehmungen Nikolais gelang; das Gut wurde bei der Subhastation für den halben Wert verkauft, und ein großer Teil der Schulden blieb unbezahlt. Nikolai nahm von seinem Schwager Besuchow dreißigtausend Rubel, die dieser ihm anbot, an, um davon diejenigen Schulden zu bezahlen, die er als aus wirklichen Leistungen herrührende anerkannte. Und um für die verbleibenden Schulden nicht ins Gefängnis gesetzt zu werden, womit ihm die Gläubiger drohten, trat er wieder in den Dienst.

Zur Armee, wo er bei der ersten eintretenden Vakanz Regimentskommandeur geworden wäre, konnte er deswegen nicht wieder gehen, weil die Mutter sich jetzt an den Sohn als an das Letzte klammerte, das ihr im Leben noch Freude machte; daher zog er die ihm so liebgewordene Uniform aus und nahm in Moskau eine Stelle bei der Zivilverwaltung an, obwohl er nur ungern in dieser Stadt im Kreis der Menschen blieb, die ihn von früher her kannten, und gegen den Zivildienst eine Abneigung hatte. Mit seiner Mutter und Sonja zog er in eine kleine Wohnung in der Siwzew-Wraschek-Straße.

Natascha und Pierre lebten damals in Petersburg, ohne von Nikolais Lage eine klare Vorstellung zu haben. Nikolai, der von seinem Schwager Geld geliehen hatte, bemühte sich, ihm seine ärmlichen Verhältnisse zu verheimlichen. Nikolais Lage war namentlich darum eine so üble, weil er mit seinen zwölfhundert Rubeln Gehalt nicht nur sich, Sonja und die Mutter erhalten mußte, sondern auch die Mutter so erhalten mußte, daß sie nicht merkte, daß sie arm waren. Die Gräfin hatte kein Verständnis dafür, daß es möglich sei, ohne den Luxus zu leben, an den sie seit ihrer Kindheit gewöhnt war; und ohne zu begreifen, wie schwer das ihrem Sohn wurde, verlangte sie bald einen Wagen, den sie nicht hatten, um eine Bekannte holen zu lassen, bald ein teures Gericht für sich und Wein für den Sohn, bald Geld, um Natascha, Sonja und Nikolai selbst mit Geschenken zu überraschen.

Sonja führte die Hauswirtschaft, pflegte ihre Tante, las ihr vor, ertrug ihre Launen und ihre versteckte Abneigung, und half Nikolai dabei, der alten Gräfin die dürftige Lage zu verheimlichen, in der sie sich befanden. Nikolai fühlte sich tief, tief in Sonjas Schuld für alles, was sie an seiner Mutter tat, und bewunderte ihre Geduld und Hingebung; aber er suchte sich von ihr fernzuhalten.

Er machte es ihr im Herzen gewissermaßen zum Vorwurf, daß sie gar zu vollkommen war und er gar keinen Grund fand, ihr Vorwürfe zu machen. Sie besaß alles, weswegen man Menschen hochschätzt, aber nur wenig von dem, was ihn hätte dazu bringen können, sie zu lieben. Und er fühlte, daß seine Liebe zu ihr um so geringer wurde, je mehr seine Hochachtung für sie stieg. Er betrachtete jenen Brief als maßgebend für sich, in welchem sie ihm seine Freiheit zurückgegeben hatte, und verhielt sich jetzt ihr gegenüber so, als wäre das, was zwischen ihnen geschehen war, schon längst vergessen und könne sich unter keinen Umständen erneuern.

Nikolais Lage wurde immer schlechter. Der Gedanke, von seinem Gehalt etwas zu erübrigen, erwies sich als eine Schimäre. Statt etwas zu erübrigen, geriet er vielmehr dadurch, daß er die Wünsche seiner Mutter befriedigte, in eine Menge von kleinen Schulden hinein. Und er sah keinen Ausweg aus dieser Lage. Der Gedanke an eine Heirat mit einer reichen Erbin, wozu ihm seine weiblichen Verwandten zuredeten, war ihm zuwider. An eine zweite Art, in der seine Lage sich vielleicht bald bessern konnte, nämlich durch den Tod seiner Mutter, dachte er überhaupt nicht. Er hatte keinen Wunsch mehr, keine Hoffnung mehr und empfand im tiefsten Innern seiner Seele eine Art von bitterem, düsterem Genuß dabei, seine traurige Lage ohne Murren zu ertragen. Seine früheren Bekannten mit ihren Ausdrücken des Bedauerns und ihren Anerbietungen von Hilfe, die für ihn etwas Beleidigendes hatten, suchte er zu vermeiden; er gönnte sich keine Zerstreuung und Aufheiterung; selbst zu Hause nahm er keine ordentliche Beschäftigung vor, sondern legte nur in Gemeinschaft mit seiner Mutter Karten, ging schweigend im Zimmer auf und ab und rauchte eine Pfeife nach der andern. Er schien geflissentlich in seiner Seele die düstere Stimmung zu nähren, in welcher allein er sich fähig fühlte, seine Lage zu ertragen.

VI


Zu Anfang des Winters kam Prinzessin Marja nach Moskau. Durch die in der Stadt umgehenden Gerüchte erfuhr sie von der bedrängten Lage der Familie Rostow, sowie daß »der Sohn sich für die Mutter aufopfere«, wie in der Stadt gesagt wurde.

»Ich habe auch nichts anderes von ihm erwartet«, sagte Prinzessin Marja bei sich selbst und empfand eine große Freude darüber, daß ihr Urteil über den von ihr geliebten Mann eine neue Bestätigung fand. In Erinnerung an ihre freundschaftlichen und beinahe verwandtschaftlichen Beziehungen zu der ganzen Familie hielt sie es für ihre Pflicht, ihnen einen Besuch zu machen. Aber wenn sie dann an ihre Beziehungen zu Nikolai in Woronesch dachte, so scheute sie sich wieder, es zu tun. Endlich tat sie sich doch mit großer Anstrengung Gewalt an und fuhr einige Wochen nach ihrer Ankunft in der Stadt zu Rostows hin.

Nikolai war der erste, den sie in der Wohnung zu sehen bekam, da man zu der Gräfin nur durch sein Zimmer gelangen konnte. Sowie Nikolai die Prinzessin erblickte, nahm sein Gesicht statt eines Ausdrucks der Freude, den sie zu sehen erwartet hatte, einen Ausdruck von Kälte, Förmlichkeit und Stolz an, den sie auf ihm früher noch nie wahrgenommen hatte. Nikolai erkundigte sich nach ihrem Befinden, geleitete sie zu seiner Mutter, saß dort etwa fünf Minuten bei ihnen und verließ dann das Zimmer.

Als die Prinzessin aus dem Zimmer der Gräfin wieder herauskam, trat ihr Nikolai wieder entgegen und gab ihr mit besonderer Feierlichkeit und Förmlichkeit das Geleit in das Vorzimmer. Auf eine Bemerkung, die sie über das Befinden der Gräfin machte, erwiderte er kein Wort. »Was geht Sie das an? Lassen Sie mich in Ruhe!« sagte sein Blick.

»Und wozu läuft sie überall umher? Was will sie bei uns? Ich kann diese Damen und all diese Liebenswürdigkeiten nicht ausstehen!« sagte er, offenbar außerstande, seinen Ärger zu unterdrücken, laut in Sonjas Gegenwart, sobald die Equipage der Prinzessin vom Haus weggefahren war.

»Aber wie können Sie nur so reden, Nikolai!« sagte Sonja, die ihre Freude kaum verbergen konnte. »Sie ist doch so gut, und Mama hat sie so gern.«

Nikolai antwortete nichts und hätte am liebsten überhaupt nicht wieder von der Prinzessin gesprochen. Aber seit diesem Besuch begann die alte Gräfin alle Tage ein paarmal von ihr zu sprechen.

Die Gräfin lobte sie, verlangte von ihrem Sohn, daß er ihr einen Gegenbesuch mache, und sprach den Wunsch aus, sie häufiger zu sehen; aber dabei wurde sie doch jedesmal übler Laune, wenn sie von ihr redete.

Nikolai gab sich Mühe zu schweigen, sooft die Mutter von der Prinzessin sprach; aber durch sein Schweigen geriet sie in gereizte Stimmung.

»Sie ist ein höchst achtbares, vortreffliches Mädchen«, sagte sie, »und du mußt ihr einen Gegenbesuch machen. Auf die Art bekommst du doch wenigstens einmal einen Menschen zu sehen; sonst langweilst du dich ja doch nur hier bei uns, meine ich.«

»Aber ich habe ja gar nicht den Wunsch, Menschen zu sehen, liebe Mama.«

»Früher warst du gern mit Menschen zusammen, und jetzt heißt es nun: ›Ich habe gar nicht den Wunsch!‹ Ich verstehe dich wahrhaftig nicht, lieber Sohn. Bald langweilst du dich, bald willst du auf einmal niemand sehen.«

»Aber ich habe ja gar nicht gesagt, daß ich mich langweile.«

»Gewiß tust du das, und du hast selbst gesagt, daß du die Prinzessin nicht einmal sehen möchtest. Sie ist ein höchst achtbares Mädchen und hat dir immer gefallen; aber jetzt kommen nun auf einmal irgendwelche Ideen zum Vorschein. Aber mir wird ja aus allem ein Geheimnis gemacht.«

»Ganz und gar nicht, liebe Mama.«

»Wenn ich dich noch bäte, irgend etwas Unangenehmes zu tun; aber ich bitte dich ja doch nur, eine Visite zu machen. Das erfordert schon die bloße Höflichkeit, sollte man meinen … Nun, ich habe dich darum gebeten und werde mich jetzt nicht mehr in die Sache hineinmischen, wenn du Geheimnisse vor deiner Mutter hast.«

»Na, wenn Sie es denn wünschen, werde ich den Besuch machen.«

»Mir für meine Person ist es ganz gleichgültig; ich wünsche es nur um deinetwillen.«

Nikolai seufzte, biß sich auf den Schnurrbart und begann Karten zu legen, in der Absicht, die Aufmerksamkeit der Mutter auf einen andern Gegenstand abzulenken.

Am nächsten, am dritten und am vierten Tag wiederholte sich immer dasselbe Gespräch.

Nach ihrem Besuch bei Rostows und dem unerwartet kühlen Empfang, den sie bei Nikolai gefunden hatte, gestand sich Prinzessin Marja, daß sie recht gehabt hatte, wenn sie nicht hatte als die erste bei Rostows einen Besuch machen wollen.

»Ich habe auch nichts anderes erwartet«, sagte sie zu sich selbst, indem sie ihren Stolz zu Hilfe rief: »Ich habe mit ihm nichts zu schaffen und hatte nur die alte Dame sehen wollen, die immer gut gegen mich gewesen ist und der ich zu großem Dank verpflichtet bin.«

Aber sie war nicht imstande, sich durch diese Erwägungen Beruhigung zu verschaffen: ein Gefühl, das mit Reue Ähnlichkeit hatte, quälte sie, sooft sie sich an ihren Besuch erinnerte. Trotzdem sie fest entschlossen war, Rostows nicht mehr zu besuchen und diesen ganzen Vorfall zu vergessen, fühlte sie sich dauernd in einer unbestimmten Situation. Und wenn sie sich fragte, was es denn eigentlich sei, was sie quäle, so mußte sie bekennen, daß dies ihr Verhältnis zu Rostow war. Sein kühler, höflicher Ton entsprang nicht seiner wahren Empfindung gegen sie (das wußte sie); sondern dieser Ton verbarg etwas. Was das war, darüber mußte sie zur Klarheit gelangen, und sie fühlte, daß sie vorher nicht werde ruhig sein können.

Gegen die Mitte des Winters saß sie einmal im Unterrichtszimmer und hörte bei dem Unterricht ihres Neffen zu, als ihr der Besuch Rostows gemeldet wurde. Mit dem festen Entschluß, ihr Geheimnis nicht zu verraten und ihre Verlegenheit nicht merken zu lassen, ließ sie Mademoiselle Bourienne rufen und betrat mit ihr zugleich den Salon.

Beim ersten Blick auf Nikolais Gesicht sah sie, daß er nur gekommen war, um eine Pflicht der Höflichkeit zu erfüllen, und nahm sich fest vor, sich desselben Tones zu bedienen, in welchem er mit ihr verkehrt hatte.

Sie sprachen über das Befinden der Gräfin, über gemeinsame Bekannte, über die letzten Kriegsnachrichten, und als die vom Anstand erforderten zehn Minuten vorbei waren, nach denen ein Gast aufstehen darf, erhob sich Nikolai, um sich zu empfehlen.

Die Prinzessin hatte unter Mademoiselle Bouriennes Beihilfe das Gespräch sehr gut im Gange gehalten; aber gerade im letzten Augenblick, als er aufstand, war sie so müde davon, über Dinge zu reden, die ihr ganz gleichgültig waren, und der Gedanke, warum doch ihr allein so wenig Freude im Leben beschieden sei, beschäftigte sie dermaßen, daß sie in einem Anfall von Zerstreutheit, die leuchtenden Augen gerade vor sich hin gerichtet, dasaß, ohne sich zu bewegen, und gar nicht bemerkte, daß er aufstand.

Nikolai sah sie an, und in der Absicht, so zu tun, als bemerke er ihre Zerstreutheit nicht, sprach er ein paar Worte mit Mademoiselle Bourienne und blickte dann wieder nach der Prinzessin hin. Sie saß noch ebenso regungslos da, und auf ihrem zarten Gesicht prägte sich ihr inneres Leid aus. Ein warmes Mitleid mit ihr wurde auf einmal in ihm rege, und er hatte die unklare Empfindung, daß er vielleicht selbst die Ursache des Kummers sei, den ihr Gesicht erkennen ließ. Er wollte ihr behilflich sein, ihr etwas Angenehmes sagen; aber er mochte nichts zu ersinnen, was er ihr sagen könnte.

»Leben Sie wohl, Prinzessin«, sagte er.

Sie kam zu sich, wurde dunkelrot und seufzte schwer.

»Ach, verzeihen Sie«, sagte sie, wie aus einem Traum erwachend. »Wollen Sie schon aufbrechen, Graf? Nun, leben Sie wohl! Aber das Kissen für die Gräfin?«

»Warten Sie einen Augenblick; ich will es sogleich holen«, sagte Mademoiselle Bourienne und verließ das Zimmer.

Beide schwiegen und blickten einander von Zeit zu Zeit an.

»Ja, Prinzessin«, sagte Nikolai endlich mit trübem Lächeln, »es ist, als wäre es gestern gewesen, und doch, wieviel Wasser ist seitdem den Berg hinuntergeflossen, seit wir uns zum erstenmal in Bogutscharowo sahen. In welcher unglücklichen Lage glaubten wir damals alle zu sein; aber ich würde viel darum geben, wenn ich jene Zeit wieder zurückbringen könnte; indes, sie ist unwiederbringlich dahin.«

Die Prinzessin schaute ihm, während er das sagte, mit ihrem leuchtenden Blick unverwandt in die Augen. Es war, als gäbe sie sich Mühe, einen geheimen Sinn seiner Worte zu verstehen, der ihr über sein Gefühl für sie Aufschluß geben sollte.

»Ja, ja«, erwiderte sie. »Aber Sie haben keinen Grund, Graf, um die Vergangenheit zu trauern. Wie ich Ihr Leben jetzt kenne, werden Sie sich seiner stets mit Freuden erinnern können, da die Selbstaufopferung, die Sie jetzt betätigen …«

»Ich kann Ihr Lob nicht annehmen«, unterbrach er sie hastig. »Im Gegenteil, ich mache mir fortwährend Vorwürfe … Aber das ist ein uninteressantes, unerfreuliches Thema.«

Und sein Blick nahm wieder den früheren förmlichen, kühlen Ausdruck an. Aber die Prinzessin sah jetzt bereits wieder in ihm denselben Mann, den sie kannte und liebte, und redete jetzt nur mit diesem Mann.

»Ich meinte, Sie würden mir erlauben, Ihnen das zu sagen«, erwiderte sie. »Ich bin in so nahe Beziehung zu Ihnen gekommen … zu Ihnen und Ihrer Familie gekommen, und daher meinte ich, Sie würden den Ausdruck meiner Teilnahme nicht für unschicklich ansehen; aber ich habe mich geirrt.« Ihre Stimme begann plötzlich zu zittern. »Ich weiß nicht, warum«, fuhr sie fort, nachdem sie wieder etwas Kraft gesammelt hatte, »aber Sie waren früher anders und …«

»Warum?« (Er legte auf dieses Wort einen besonderen Nachdruck.) »Dafür gibt es tausend Gründe. Ich danke Ihnen, Prinzessin«, sagte er leise. »Es wird mir manchmal recht schwer.«

»Also deshalb! Also deshalb!« sagte in der Seele der Prinzessin Marja eine innere Stimme. »Nein, ich habe an ihm nicht nur diese heitere, gute, offene Miene, nicht nur das schöne Äußere liebgewonnen; ich habe sein edles, festes, selbstloses Herz erkannt«, sagte sie zu sich selbst. »Ja, er ist jetzt arm, und ich bin reich … Ja, nur deshalb … Ja, wenn das nicht wäre …« Und indem sie seiner früheren Zärtlichkeit gedachte und jetzt in sein gutes, trauriges Gesicht blickte, verstand sie auf einmal den Grund seiner Kälte.

»Warum denn, Graf? Warum?« rief sie plötzlich ganz laut und trat unwillkürlich auf ihn zu. »Warum? Sagen Sie es mir. Sie müssen es mir sagen.« (Er schwieg.) »Ich verstehe Ihren Beweggrund nicht, Graf«, fuhr sie fort. »Aber es bedrückt mich und … Ich bekenne es Ihnen. Sie wollen mich aus irgendeinem Grund Ihrer früheren Freundschaft berauben. Und das ist mir schmerzlich.« (Die Tränen standen ihr in den Augen, und auch ihrer Stimme war es anzuhören, wie nahe ihr das Weinen war.) »Ich habe so wenig Glück in meinem Leben gehabt, daß jeder Verlust ein schwerer Schlag für mich ist … Verzeihen Sie mir, leben Sie wohl.« Sie brach plötzlich in Tränen aus und eilte zur Tür.

»Prinzessin! Bleiben Sie, um Gottes willen!« rief er, bemüht, sie zurückzuhalten. »Prinzessin!«

Sie wandte sich um. Einige Sekunden lang blickten sie schweigend einander in die Augen, und was ihnen vorher so fern, so unmöglich erschienen war, wurde jetzt plötzlich etwas Nahes und Mögliches und Notwendiges.

VII


Im Herbst des Jahres 1814 heiratete Nikolai Prinzessin Marja und zog mit seiner jungen Frau, mit seiner Mutter und mit Sonja nach Lysyje-Gory, um dort dauernd zu wohnen.

In vier Jahren hatte er, ohne das Gut seiner Frau zu verkaufen, die noch verbliebenen Schulden getilgt und, da ihm eine kleine Erbschaft von einer Kusine zugefallen war, auch seinem Schwager Pierre das Darlehen zurückbezahlt.

Nach weiteren zwei Jahren, im Jahre 1820, hatte Nikolai seine finanziellen Verhältnisse derart gebessert, daß er noch ein kleines, neben Lysyje-Gory gelegenes Gut hinzukaufte und in Unterhandlungen wegen des Rückkaufes des väterlichen Gutes Otradnoje stand, was ein Lieblingswunsch von ihm war.

Nachdem er notgedrungen angefangen hatte sich mit der Landwirtschaft abzugeben, war er bald in eine solche Leidenschaft für diese Tätigkeit hineingeraten, daß sie seine liebste und beinahe einzige Beschäftigung wurde. Nikolai war ein einfacher Landwirt; Neuerungen liebte er nicht, namentlich nicht die englischen, die damals Mode wurden; über theoretische Schriften, die die Landwirtschaft behandelten, machte er sich lustig; von Fabriken, kostspieligen Produktionsweisen, Aussaat teurer Getreidearten mochte er nichts wissen und beschäftigte sich überhaupt nicht mit einem einzelnen Teil der Landwirtschaft besonders. Er hatte immer einzig und allein das ganze Gut im Auge und nicht irgendeinen besonderen Teil desselben. Auf dem Gut aber bildete für ihn den Hauptgegenstand des Interesses nicht der Stickstoff und Sauerstoff, die sich im Boden und in der Luft befinden, auch nicht ein besonderer Pflug und Dünger, sondern das wichtigste Werkzeug, vermittels dessen der Stickstoff und der Sauerstoff und der Dünger und der Pflug wirken, das heißt der Arbeiter, der Bauer. Als Nikolai sich der Landwirtschaft widmete und in ihre einzelnen Gebiete einzudringen begann, zog der Bauer seine besondere Aufmerksamkeit auf sich; der Bauer erschien ihm nicht nur als ein Werkzeug, sondern als der Zweck und gewissermaßen als der zuverlässigste Richter. Er begann damit, den Bauer zu studieren, indem er zu verstehen suchte, was dieser für Bedürfnisse habe, und was er für schlecht und für gut halte, und er stellte sich nur so, als ob er Anordnungen träfe und Befehle erteilte, während er in Wirklichkeit nur von den Bauern deren Methoden und ihre Ausdrucksweise und ihre Urteile über das, was gut und was schlecht sei, lernte. Und erst als er die Neigungen und Bestrebungen der Bauern begriffen hatte, erst als er gelernt hatte in ihrer Weise zu reden und den geheimen Sinn ihrer Rede zu verstehen, erst als er sich mit ihnen verwandt fühlte, erst dann begann er sie dreist zu regieren, d.h. in bezug auf die Bauern eben die Pflicht zu erfüllen, deren Erfüllung von ihm verlangt wurde. Und Nikolais Wirtschaft brachte die glänzendsten Resultate.

Als Nikolai die Verwaltung des Gutes übernahm, machte er gleich von vornherein, ohne darin Fehler zu begehen, durch eine Art von Instinkt zu Vögten, Schulzen und Schulzengehilfen gerade diejenigen Leute, welche die Bauern selbst gewählt haben würden, wenn sie hätten wählen dürfen, und er brauchte seine Beamten nie zu wechseln. Bevor er die chemischen Eigenschaften des Düngers studierte und bevor er sich auf Debet und Kredit einließ (wie er spöttisch zu sagen pflegte), verschaffte er sich Kenntnis von der Größe des Viehstandes bei den Bauern und vergrößerte ihn mit allen möglichen Mitteln. Die Bauernfamilien unterstützte er in weitgehendster Art, gestattete aber nicht, daß sie sich teilten. Die Trägen, die Liederlichen sowie in gleicher Weise die Schwächlinge verfolgte er und suchte sie aus der Bauernschaft wegzutreiben.

Bei der Aussaat und bei der Heu- und Getreideernte paßte er in ganz gleicher Weise auf seine eigenen Felder und auf die der Bauern auf. Und bei wenigen Landwirten waren die Felder so früh und so gut gesät und abgeerntet und der Ertrag so groß wie bei Nikolai.

Mit den Gutsleuten hatte er nicht gern zu schaffen; er nannte sie Schmarotzer, und wie allgemein gesagt wurde, ließ er ihnen zuviel Willen und verwöhnte sie; sobald irgendeine Anordnung in betreff eines Gutsknechtes zu treffen war, namentlich wenn eine Bestrafung notwendig wurde, zeigte er sich unentschlossen und fragte alle Leute im Haus um Rat; nur wenn sich die Möglichkeit bot, statt eines Bauern einen Gutsknecht zu den Soldaten zu geben, tat er dies ohne jedes Schwanken. Dagegen lag ihm bei allen Anordnungen, die sich auf die Bauern bezogen, jeder Zweifel stets fern; er wußte, daß jede seiner Anordnungen den Beifall all seiner Bauern mit Ausnahme vielleicht eines oder einiger weniger finden werde.

Er erlaubte sich ebensowenig, lediglich deshalb jemandem eine Arbeit aufzubürden oder ihn zu bestrafen, weil ihm das so beliebt hätte, wie ihn deshalb zu erleichtern und zu belohnen, weil das sein eigener persönlicher Wunsch gewesen wäre. Er hätte nicht zu sagen gewußt, worin der Maßstab dessen, was er tun und nicht tun mußte, eigentlich bestand; aber dieser Maßstab war in seiner Seele fest und unwandelbar vorhanden.

Oftmals sagte er, wenn er sich über einen Mißerfolg oder über eine Unordnung ärgerte: »Mit unserm russischen Volk ist doch aber auch gar nichts anzufangen«, und bildete sich ein, er könne den Bauer nicht leiden.

Aber dabei liebte er dieses »unser russisches Volk« und sein Wesen und Leben mit aller Kraft seiner Seele, und nur darum vermochte er jene einzig richtige Betriebsart und Methode der Landwirtschaft zu verstehen und sich anzueignen, durch die er so gute Resultate erzielte.

Gräfin Marja war eifersüchtig auf ihren Mann wegen dieser seiner Liebe zur Landwirtschaft und bedauerte, daß sie an dieser Liebe nicht teilnehmen konnte; aber sie hatte nun einmal kein Verständnis für die Freuden und Verdrießlichkeiten, die ihm diese ihr fernliegende, fremde Welt bereitete. Sie konnte nicht begreifen, warum er so außerordentlich lebhaft und glücklich war, wenn er beim Tagesgrauen aufgestanden war, den ganzen Morgen auf dem Feld oder auf der Tenne zugebracht hatte und nun vom Säen oder von der Heu- oder Getreideernte zu ihr heimkehrte, um mit ihr Tee zu trinken. Sie begriff nicht, worüber er so entzückt war, wenn er mit Begeisterung von dem reichen, wirtschaftlich tüchtigen Bauern Matwjei Jermischin erzählte, der die ganze Nacht über mit seiner Familie Garben gefahren habe, und daß noch bei keinem andern das Getreide geerntet sei, bei ihm aber schon die fertigen Schober daständen. Sie begriff nicht, weshalb er, vom Fenster zum Balkon hin und her gehend, so vergnügt unter dem Schnurrbart lächelte und die Augen zusammenkniff, wenn auf die aufgegangene, trocken dastehende Hafersaat ein warmer, dichter Regen niederfiel, oder warum er, wenn bei der Heu- oder Getreideernte eine drohende Gewitterwolke vom Wind weggetrieben wurde, mit rotem, glühendem, schweißtriefendem Gesicht und mit einem Geruch von Wermut und Bitterkraut im Haar von der Wiese oder Tenne nach Hause kam, sich vergnügt die Hände rieb und sagte: »Na, nun noch ein schöner Tag, dann ist meines und das der Bauern alles drin.«

Noch weniger konnte sie es begreifen, warum er trotz seines guten Herzens und trotz seiner steten Bereitwilligkeit, ihren Wünschen entgegenzukommen, fast in Verzweiflung geriet, wenn sie ihm Bitten von Bauersfrauen oder Bauern übermittelte, die sich an sie gewandt hatten, um Befreiung von diesen und jenen Arbeiten zu erlangen, warum er, der gutherzige Nikolai, es ihr hartnäckig abschlug und sie ärgerlich bat, sich nicht in Dinge zu mischen, von denen sie nichts verstehe. Sie fühlte, daß er eine besondere Welt für sich hatte, die er leidenschaftlich liebte, eine Welt mit Gesetzen, für die sie kein Verständnis hatte.

Wenn sie manchmal in dem Bemühen, ihn zu verstehen, sich ihm gegenüber in dem Sinn äußerte, er erwerbe sich doch ein großes Verdienst dadurch, daß er seinen Untergebenen so viel Gutes tue, dann wurde er ärgerlich und antwortete: »Das ist grundfalsch. So etwas ist mir nie in den Sinn gekommen. Um ihres Wohles willen tue ich nicht das geringste. Das ist alles poetische Verstiegenheit und Weibergeschwätz, dieses ganze Wohl des Nächsten. Was ich will, ist, daß unsere Kinder nicht betteln zu gehen brauchen; ich muß für unser Vermögen sorgen, solange ich noch das Leben habe; das ist die ganze Sache. Und dazu ist Ordnung nötig, ist Strenge nötig … So steht’s!« sagte er und ballte in lebhaftem Affekt die Faust. »Und Gerechtigkeit, versteht sich«, fügte er hinzu. »Denn wenn der Bauer nichts anzuziehen hat und hungert und nur ein einziges kümmerliches Pferd besitzt, dann kann er weder für sich noch für mich etwas erarbeiten.«

Und wahrscheinlich gerade deswegen, weil Nikolai nicht im entferntesten glaubte, daß er etwas um anderer willen, aus Tugend tue, brachte alles, was er unternahm, gute Frucht: sein Vermögen wuchs schnell; Bauern aus der Nachbarschaft kamen zu ihm mit der Bitte, er möchte sie kaufen, und noch lange nach seinem Tod behielt die Bauernschaft seine Verwaltung des Gutes in gutem Andenken. »Das war ein Gutsherr! Zuerst kamen bei ihm immer die Bauern und dann erst er selbst. Na, und Unordnung duldete er keine. Kurz: ein Gutsherr, wie er sein muß!«

VIII


Das einzige, worüber Nikolai bei seiner Tätigkeit als Gutsherr mitunter eine peinliche, quälende Empfindung hatte, war sein Jähzorn im Verein mit seiner alten Husarengewohnheit, ohne weiteres zuzuschlagen. In der ersten Zeit hatte er darin nichts Anstößiges gefunden; aber im zweiten Jahr seiner Ehe änderte sich auf einmal seine Ansicht über diese Art der Bestrafung.

Eines Tages im Sommer war der Dorfschulze aus Bogutscharowo gekommen, der Nachfolger des verstorbenen Dron; Nikolai hatte ihn rufen lassen, weil ihm an allerlei Betrügereien und Nachlässigkeiten die Schuld gegeben wurde. Nikolai ging zu ihm vor die Haustür hinaus, und schon nach den ersten Antworten des Schulzen hörte man im Flur Schreien und den Schall von Schlägen. Als Nikolai zum Frühstück nach Hause zurückkehrte, trat er auf seine Frau zu, die an ihrem Stickrahmen saß und den Kopf tief auf ihre Arbeit hinabbeugte, und begann ihr, wie das seine Gewohnheit war, alles zu erzählen, was ihn an diesem Morgen beschäftigt hatte, unter anderm auch die Geschichte mit dem Schulzen von Bogutscharowo. Gräfin Marja, die die Lippen zusammenpreßte und abwechselnd rot und blaß wurde, saß immer noch in der gleichen Haltung mit gesenktem Kopf da und antwortete nichts auf die Mitteilungen ihres Mannes.

»So ein frecher Schurke«, sagte dieser, indem er bei der bloßen Erinnerung von neuem hitzig wurde. »Na, er hätte mir sagen sollen, daß er betrunken war; denn ich hatte es nicht gesehen. Aber was ist dir, Marja?« fragte er plötzlich.

Gräfin Marja hob den Kopf in die Höhe und wollte etwas sagen; aber hastig ließ sie ihn wieder sinken und schloß die Lippen.

»Was ist dir? Was hast du, liebes Kind?«

Die unschöne Gräfin wurde jedesmal schön, wenn sie weinte. Sie weinte nie vor Schmerz oder vor Ärger, sondern immer nur aus Traurigkeit und Mitleid. Und wenn sie weinte, bekamen ihre leuchtenden Augen einen unwiderstehlichen Reiz.

Sobald Nikolai sie an der Hand faßte, war sie nicht mehr imstande sich zu beherrschen und brach in Tränen aus.

»Nikolai, ich habe es gesehen … Er hat sich ja vergangen; aber du.. warum hast du … Nikolai!« Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Nikolai erwiderte nichts, wurde dunkelrot, trat von ihr zurück und begann schweigend im Zimmer auf und ab zu gehen. Er verstand, worüber sie weinte; aber er vermochte ihr nicht so auf der Stelle in seinem Herzen zuzugeben, daß eine Handlungsweise, an die er von Kindheit gewöhnt war und die er für etwas allgemein Übliches hielt, schlecht sein sollte. »Das ist Weichlichkeit, Weibergerede; oder hat sie doch recht?« fragte er sich selbst. Bevor er sich selbst auf diese Frage eine Antwort gegeben hatte, blickte er noch einmal in ihr schmerzerfülltes, liebevolles Gesicht und sah nun auf einmal ein, daß sie recht hatte; ja, er hatte die Vorstellung, als sei er sich seines Unrechtes schon längst bewußt gewesen.

»Marja«, sagte er leise, indem er zu ihr hinging, »das soll nie wieder vorkommen; ich gebe dir mein Wort. Nie wieder«, sagte er noch einmal mit zitternder Stimme wie ein Knabe, der um Verzeihung bittet.

Die Tränen strömten der Gräfin noch reichlicher aus den Augen. Sie ergriff die Hand ihres Mannes und küßte sie.

»Nikolai, wann hast du denn die Kamee entzweigemacht?« fragte sie, um das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu bringen, und betrachtete seine Hand, an der ein Ring mit einem Laokoonskopf steckte.

»Heute; auch bei dieser Geschichte. Ach, Marja, erinnere mich nicht mehr daran.« Er wurde wieder ganz rot. »Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß es nicht wieder vorkommen wird. Und dies hier«, fügte er hinzu, indem er auf den zerbrochenen Ring wies, »soll mir eine Erinnerung für das ganze Leben sein.«

Jedesmal wenn ihm von da an bei scharfen Auseinandersetzungen mit Dorfschulzen und Verwaltern das Blut in den Kopf stieg und die Hände sich zur Faust ballen wollten, drehte Nikolai den zerschlagenen Ring an seinem Finger und schlug die Augen vor dem Menschen nieder, der ihn zornig gemacht hatte. Aber ein paarmal im Jahre vergaß er sich doch, und dann ging er zu seiner Frau, legte ein Geständnis ab und gab ihr von neuem das Versprechen, daß es nun das letztemal gewesen sein sollte.

»Marja, du verachtest mich gewiß«, sagte er zu ihr. »Ich verdiene es.«

»Geh doch weg, geh so schnell wie möglich weg, wenn du dich außerstande fühlst, dich zu beherrschen«, sagte die Gräfin Marja traurig, indem sie ihren Mann zu trösten suchte.

In der adligen Gesellschaft der Gouvernements achtete man Nikolai zwar, mochte ihn aber nicht besonders leiden. Für die Standesangelegenheiten des Adels interessierte er sich nicht, und deswegen hielten ihn manche für stolz, andere für dumm. Im Sommer verging ihm die ganze Zeit von der Frühlingsaussaat bis zur Ernte in der Tätigkeit für seine Wirtschaft. Im Herbst widmete er sich mit demselben geschäftlichen Ernst, mit dem er seine Wirtschaft besorgte, der Jagd und zog mit seinen Hunden und Jägern auf ein, zwei Monate von Hause fort. Im Winter reiste er auf den andern Dörfern umher oder beschäftigte sich mit Lektüre. Seine Lektüre bildeten Bücher, vorzugsweise geschichtliche, deren er sich jährlich eine Anzahl für eine bestimmte Summe schicken ließ. Er stellte sich, wie er sich ausdrückte, eine ernste Bibliothek zusammen und hatte es sich zur Regel gemacht, alle die Bücher, die er kaufte, durchzulesen. Mit wichtiger Miene saß er in seinem Zimmer bei dieser Lektüre, die er sich ursprünglich gleichsam wie eine Pflicht auferlegt hatte, die ihm aber dann eine gewohnte Beschäftigung geworden war, ihm eine besondere Art von Vergnügen gewährte und ihm das angenehme Bewußtsein verlieh, daß er sich mit ernsten Dingen beschäftige. Mit Ausnahme der Reisen, die er in geschäftlichen Angelegenheiten unternahm, brachte er im Winter die meiste Zeit zu Hause zu, im engen Zusammenleben mit seiner Familie und voll eifrigen Interesses für all die kleinen Beziehungen zwischen der Mutter und den Kindern. Seiner Frau trat er immer näher und entdeckte in ihr täglich neue geistige Schätze.

Sonja lebte seit Nikolais Verheiratung mit in seinem Haus. Noch vor der Hochzeit hatte Nikolai seiner Frau alles erzählt, was zwischen ihm und Sonja vorgekommen war, und zwar in der Weise, daß er sich selbst als schuldig hinstellte und Sonja lobte. Er hatte Prinzessin Marja gebeten, gegen seine Kusine freundlich und gut zu sein. Gräfin Marja erkannte in vollem Umfang die Schuld, die ihr Mann auf sich geladen hatte; auch hatte sie die Empfindung, daß sie selbst Sonja gegenüber sich schuldig gemacht habe; sie glaubte, ihr Vermögen habe auf Nikolais Wahl Einfluß gehabt, konnte Sonja in keiner Hinsicht einen Vorwurf machen und hatte die beste Absicht, sie zu lieben; aber trotzdem liebte sie sie nicht, ja, sie fand sogar häufig in ihrer Seele gegen Sonja böse Gefühle vor, die sie nicht zu unterdrücken vermochte.

Eines Tages sprach sie mit ihrer Freundin Natascha über Sonja und über ihre eigene Ungerechtigkeit gegen dieselbe.

»Weißt du was?« sagte Natascha. »Du hast ja soviel im Evangelium gelesen; da gibt es eine Stelle, die akkurat auf Sonja paßt.«

»Welche denn?« fragte Gräfin Marja erstaunt.

»›Wer hat, dem wird gegeben; wer aber nicht hat, dem wird genommen‹, besinnst du dich? Sonja ist so eine, die nicht hat; warum? das weiß ich nicht. Es fehlt ihr vielleicht an Egoismus, ich weiß das nicht; aber es wird ihr genommen, und so ist ihr denn alles genommen worden. Sie tut mir manchmal schrecklich leid; ich habe früher lebhaft gewünscht, Nikolai möchte sie heiraten; aber ich hatte immer so eine Art Ahnung, daß nichts daraus werden würde. Sie ist eine taube Blüte; weißt du, wie an einer Erdbeerstaude. Manchmal tut sie mir leid; aber manchmal denke ich, daß sie es nicht so empfindet, wie wir es empfinden würden.«

Gräfin Marja setzte ihr zwar auseinander, daß diese Worte im Evangelium anders zu verstehen seien, stimmte aber, wenn sie Sonja ansah, der von Natascha gegebenen Erklärung bei. Auch schien es wirklich, daß Sonja sich durch ihre Lage nicht bedrückt fühlte und sich mit ihrer Bestimmung als taube Blüte völlig ausgesöhnt habe. Sie schätzte, wie es schien, nicht sowohl die Menschen als vielmehr die ganze Familie. Wie eine Katze hatte sie sich nicht in die Menschen eingelebt, sondern in das Haus. Sie pflegte die alte Gräfin, liebkoste und hätschelte die Kinder und war stets bereit, die kleinen Dienste zu leisten, zu denen sie befähigt war; aber man nahm das alles unwillkürlich mit wenig Dank hin.

Das Gutshaus von Lysyje-Gory war neu gebaut worden, aber keineswegs so großartig, wie es bei dem verstorbenen Fürsten gewesen war.

Das Bauwerk selbst, noch in der Zeit der Not begonnen, war mehr als einfach. Das gewaltige Gebäude, das auf dem alten Steinfundament errichtet war, war von Holz, nur von innen mit Kalk beworfen. Geräumig war es ja; aber die Fußböden bestanden nur aus ungestrichenen Dielen und das Mobiliar aus ganz einfachen, harten Sofas und Sesseln, aus Stühlen und Tischen; die von den eigenen Tischlern aus eigenen Birken gearbeitet waren. Das Haus enthielt auch Stuben für die Dienerschaft und Abteilungen für Gäste. Rostowsche und Bolkonskische Verwandte kamen manchmal nach Lysyje-Gory zu Besuch, und zwar mit den ganzen Familien, mit sechzehn Pferden und einem vielköpfigen Dienstpersonal, und wohnten dort monatelang. Außerdem stellten sich viermal im Jahr, zu den Namens- und Geburtstagen des Hausherrn und der Hausfrau, Gäste bis zu hundert Personen auf einen bis zwei Tage ein. Während der übrigen Zeit des Jahres nahm das Leben seinen ungestörten, regelmäßigen Verlauf mit den gewöhnlichen Beschäftigungen und Mahlzeiten: Tee, Frühstück, Mittagessen und Abendessen, alles aus den häuslichen Vorräten.

IX


Es war am Tag vor dem Winter-Nikolausfest, am 5. Dezember 1820. In diesem Jahr war Natascha mit ihren Kindern und ihrem Mann seit dem Anfang des Herbstes bei ihrem Bruder zu Besuch. Pierre war jedoch in besonderen persönlichen Angelegenheiten nach Petersburg gefahren; er hatte gesagt, auf drei Wochen, war aber jetzt schon die siebente Woche dort. Man erwartete ihn jeden Augenblick zurück.

Am 5. Dezember war, außer der Familie Besuchow, bei Rostows auch noch ein alter Freund Nikolais zu Besuch, der General a.D. Wasili Fedorowitsch Denisow.

Nikolai wußte, was ihm am 6., seinem Namenstag, bevorstand, zu welchem die Gäste von allen Seiten eintreffen würden: er mußte sein gestepptes Jackett ablegen, den Oberrock sowie enge Stiefel mit schmalen Spitzen anziehen, in die neue Kirche fahren, die er hatte bauen lassen, dann die Glückwünsche entgegennehmen, den Gästen einen Imbiß anbieten und eine Unterhaltung über die Adelswahlen und den Erdrutsch führen. Aber den vorhergehenden Tag hielt er sich für berechtigt, noch in gewohnter Weise zu verleben. Vor dem Mittagessen revidierte er die Rechnungen des Vogtes aus dem Dorf im Rjasanschen über das Gut des Neffen seiner Frau, schrieb zwei Geschäftsbriefe und machte einen Inspektionsgang nach der Tenne und dem Vieh- und Pferdehof. Nachdem er noch vorbeugende Anordnungen gegen eine allgemeine Betrunkenheit getroffen hatte, die für morgen aus Anlaß des hohen Festtages zu erwarten war, ging er zum Mittagessen und nahm, ohne daß er Zeit gehabt hätte noch mit seiner Frau ein paar Worte allein zu sprechen, an dem langen Tisch mit zwanzig Gedecken Platz, an dem bereits alle Hausgenossen versammelt waren. An dem Tisch saßen seine Mutter, das alte Fräulein Bjelowa, das mit dieser zusammen wohnte, seine Frau, seine drei Kinder, die Gouvernante, der Erzieher, der Neffe mit seinem Erzieher, Sonja, Denisow, Natascha, ihre drei Kinder, deren Gouvernante und der alte Michail Iwanowitsch, der bei dem verstorbenen Fürsten Baumeister gewesen war und nun in Lysyje-Gory im Ruhestand lebte.

Gräfin Marja saß am entgegengesetzten Ende des Tisches. Sowie ihr Mann sich an seinen Platz setzte, merkte sie an der Gebärde, mit der er die Serviette ergriff und hastig die vor ihm stehenden Gläser anders rückte, sofort, daß er verstimmt war, wie das oft bei ihm vorkam, namentlich vor der Suppe, und wenn er unmittelbar aus der Wirtschaft zum Essen kam. Gräfin Marja kannte diese Stimmung an ihm sehr wohl, und wenn sie selbst guter Laune war, so wartete sie ruhig, bis er seine Suppe gegessen hatte, begann dann erst mit ihm zu reden und brachte ihn zu dem Eingeständnis, daß seine üble Stimmung keinen vernünftigen Grund gehabt habe. Aber heute vergaß sie das sonst von ihr beobachtete Verfahren vollständig; es war ihr schmerzlich, daß er ohne Anlaß auf sie böse war, und sie fühlte sich unglücklich. Sie fragte ihn, wo er gewesen sei. Er antwortete. Sie fragte weiter, ob er in der Wirtschaft alles in Ordnung gefunden habe. Er runzelte wegen ihres gekünstelten Tones unfreundlich die Stirn und gab eine hastige Antwort.

»Ich habe mich also nicht geirrt«, dachte Gräfin Marja. »Und warum mag er nur böse auf mich sein?« Aus dem Ton, in dem er ihr geantwortet hatte, hörte Gräfin Marja eine Mißstimmung gegen sich heraus, sowie den Wunsch, das Gespräch abzubrechen. Sie fühlte selbst, daß ihre Worte unnatürlich klangen; aber sie konnte sich nicht enthalten, noch ein paar Fragen zu tun.

Das Tischgespräch wurde bald ein allgemeines und lebhaftes, wozu besonders Denisow beitrug, und Gräfin Marja sprach nicht mehr mit ihrem Mann. Als sie vom Tisch aufstanden und zu der alten Gräfin hingingen, um ihr zu danken, reichte Gräfin Marja ihrem Mann die Hand, küßte ihn und fragte ihn, weswegen er auf sie böse sei.

»Du hast immer so sonderbare Ideen; es fällt mir gar nicht ein, böse zu sein«, erwiderte er.

Aber aus dem Wort »immer« hörte Gräfin Marja die Antwort heraus: »Ja, ich bin böse und will es nicht sagen.«

Nikolai lebte mit seiner Frau so einträchtig, daß selbst Sonja und die alte Gräfin, die aus Eifersucht Mißhelligkeiten zwischen den beiden ganz gern gesehen hätten, keinen Vorwand zu einem Vorwurf finden konnten; aber auch zwischen diesen Gatten kamen Augenblicke von Feindseligkeit vor. Manchmal, und zwar gerade nach Zeiten glücklicher Harmonie, überkam sie beide auf einmal ein Gefühl der Entfremdung und Feindseligkeit; dieses Gefühl zeigte sich am häufigsten während der Schwangerschaften der Gräfin Marja. Jetzt befanden sie sich gerade in einem solchen Zeitabschnitt.

»Nun, messieurs et mesdames«, sagte Nikolai laut und, wie es schien, heiter (Gräfin Marja hatte die Empfindung, als spräche er absichtlich in dieser Weise, um sie zu kränken). »Ich bin seit sechs Uhr auf den Beinen. Morgen werde ich ja freilich aushalten müssen; aber heute möchte ich mich noch ein wenig zurückziehen, um mich auszuruhen.«

Und ohne noch weiter mit Gräfin Marja zu sprechen, begab er sich in das kleine Sofazimmer und legte sich dort nieder.

»Ja, so macht er es immer«, dachte Gräfin Marja. »Mit allen redet er, nur mit mir nicht. Ich sehe, sehe klar, daß ich ihm zuwider bin. Besonders in diesem Zustand.« Sie betrachtete ihren hohen Unterleib und im Spiegel ihr gelblich blasses, mager gewordenes Gesicht, in welchem die Augen größer erschienen als sonst je.

Und alles wurde ihr widerwärtig: Denisows Schreien und Lachen und Nataschas Gespräche und ganz besonders der Blick, den Sonja ihr eilig zuwarf. Wenn Gräfin Marja sich in gereizter Stimmung befand, suchte sie immer zuerst irgendwelche Schuld bei Sonja.

Nachdem sie noch ein Weilchen bei den Gästen gesessen hatte, ohne von dem, was diese sprachen, etwas zu verstehen, ging sie leise hinaus und begab sich in das Kinderzimmer.

Die Kinder fuhren auf Stühlen nach Moskau und forderten sie auf mitzufahren. Sie setzte sich hin und spielte für kurze Zeit mit; aber der Gedanke an ihren Mann und dessen grundlose Verstimmung quälte sie ohne Unterlaß. Sie stand auf und ging, mühsam nur mit den Fußspitzen auftretend, nach dem kleinen Sofazimmer.

»Vielleicht schläft er nicht, und ich kann mich mit ihm aussprechen«, sagte sie zu sich selbst. Der kleine Andrei, ihr ältester Knabe, ging, ihren Gang nachahmend, auf den Fußspitzen hinter ihr her. Gräfin Marja bemerkte ihn nicht.

»Liebe Marja, ich glaube, er schläft; er ist so angegriffen«, sagte Sonja zu ihr im großen Sofazimmer; Gräfin Marja hatte die Empfindung, Sonja müsse ihr aber auch überall begegnen. »Daß ihn Andrei nur nicht aufweckt.«

Gräfin Marja sah sich um und bemerkte hinter sich den kleinen Andrei. Sie fühlte, daß Sonja recht hatte; und gerade darum stieg ihr das Blut in den Kopf, und es kostete ihr Mühe, ein scharfes Wort zu unterdrücken. Sie erwiderte nichts, und um ihr nicht zu gehorchen, machte sie mit der Hand dem Kleinen ein Zeichen, er solle keinen Lärm machen, dürfe aber doch hinter ihr hergehen, und näherte sich der Tür. Sonja ging durch die andre Tür hinaus. Aus dem Zimmer, in welchem Nikolai schlief, ertönte sein gleichmäßiges Atmen, das seine Frau bis in die kleinsten Nuancen kannte. Während sie so sein Atmen hörte, glaubte sie seine glatte, schöne Stirn vor sich zu sehen und seinen Schnurrbart und sein ganzes Gesicht, das sie so oft in der Stille der Nacht, wenn er schlief, lange betrachtet hatte. Plötzlich regte sich Nikolai und räusperte sich. Und in demselben Augenblick rief der kleine Andrei durch die ein wenig geöffnete Tür: »Papachen, hier steht Mamachen!« Gräfin Marja wurde blaß vor Schreck und machte dem Knaben ein Zeichen, daß er still sein solle. Er schwieg, und dieses für Gräfin Marja furchtbare Schweigen dauerte ungefähr eine Minute. Sie wußte, wie unangenehm es ihrem Mann war, wenn man ihn weckte. Da ließ sich hinter der Tür ein neues Räuspern und eine Bewegung vernehmen, und Nikolais Stimme sagte in mißvergnügtem Ton:

»Nicht eine Minute Ruhe wird einem gegönnt. Bist du da, Marja? Warum hast du ihn denn hergebracht?«

»Ich war nur hergekommen, um nachzusehen … Ich hatte nicht bemerkt, daß er … Verzeih …«

Nikolai hustete eine Weile und schwieg. Gräfin Marja ging von der Tür weg und führte ihr Söhnchen nach dem Kinderzimmer. Fünf Minuten darauf lief die kleine, schwarzäugige, dreijährige Natascha, des Vaters Liebling, die von ihrem Bruder gehört hatte, Papa schlafe und Mama sei im Sofazimmer, zu dem Vater hin, ohne daß die Mutter es merkte. Die schwarzäugige Kleine knarrte dreist mit der Tür, ging auf ihren dicken Beinchen mit energischen, kleinen Schritten zum Sofa hin, und nachdem sie die Lage des Vaters betrachtet hatte, der, ihr den Rücken zuwendend, schlief, hob sie sich auf den Zehen in die Höhe und küßte die Hand des Vaters, die unter seinem Kopf lag. Nikolai drehte sich um; sein Gesicht zeigte ein Lächeln liebevoller Zärtlichkeit.

»Natascha, Natascha!« flüsterte Gräfin Marja erschrocken von der Tür her. »Papachen will schlafen.«

»Nein, Mama, er will nicht schlafen«, antwortete die kleine Natascha im Ton fester Überzeugung. »Er lacht ja.«

Nikolai nahm die Beine vom Sofa herunter, richtete sich auf und nahm sein Töchterchen auf den Arm.

»Komm doch herein, Marja«, sagte er zu seiner Frau.

Gräfin Marja kam ins Zimmer und setzte sich neben ihren Mann.

»Ich hatte vorhin gar nicht bemerkt, daß Andrei hinter mir herlief«, sagte sie schüchtern. »Ich war nur so ohne eigentlichen Zweck hergekommen.«

Nikolai, der auf dem einen Arm seine Tochter hielt, blickte seine Frau an, und als er auf ihrem Gesicht einen Ausdruck von Schuldbewußtsein wahrnahm, umschlang er sie mit dem andern Arm und küßte ihn auf das Haar.

»Darf ich Mama küssen?« fragte er Natascha.

Natascha lächelte verschämt.

»Noch mal!« sagte sie mit befehlender Gebärde und zeigte auf die Stelle, wo Nikolai seine Frau geküßt hatte.

»Ich weiß nicht, weswegen du meinst, daß ich schlechter Laune wäre«, sagte Nikolai als Antwort auf die Frage, die, wie er wußte, seine Frau innerlich beschäftigte.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unglücklich und vereinsamt ich mir vorkomme, wenn du so bist. Ich denke immer …«

»Marja, hört auf, das sind ja Torheiten. Schämen solltest du dich«, sagte er heiter.

»Ich denke immer, du kannst mich nicht lieben; ich bin so häßlich … immer schon … und nun jetzt … in diesem Zu …«

»Ach, was bist du komisch! Man pflegt doch zu sagen: man liebt einen nicht, weil er schön ist, sondern weil man ihn liebt, ist er einem der Schönste. Nur leichtfertige Weiber liebt man deswegen, weil sie schön sind. Und liebe ich denn überhaupt meine Frau? Das ist nicht Liebe, sondern so etwas, ich weiß nicht, wie ich es dir verdeutlichen soll. Wenn du nicht bei mir bist und wenn wir etwas miteinander haben, dann fühle ich mich wie verloren und bin zu nichts fähig. Sieh mal, liebe ich etwa meinen Finger? Lieben tue ich ihn nicht; aber versuche einmal, ihn mir abzuschneiden.«

»Nein, mit mir ist es anders; aber ich verstehe dich. Also du bist nicht böse auf mich?«

»Furchtbar böse«, antwortete er lächelnd, stand auf, strich sich die Haare zurecht und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Weiß du, Marja, woran ich gedacht habe?« sagte er; jetzt, wo die Versöhnung vollzogen war, fing er sofort an in Gegenwart seiner Frau laut zu denken. Er fragte nicht erst, ob sie auch bereit sei, ihn anzuhören; das war ihm ganz gleich. Es war ihm ein Gedanke gekommen, also mußte er ihn auch ihr mitteilen. Und so erzählte er ihr denn, er beabsichtige, Pierre zuzureden, daß er doch bis zum Frühling bei ihnen bleiben möchte.

Gräfin Marja hörte ihn an, machte ihre Bemerkungen dazu und begann nun auch ihrerseits laut zu denken. Ihre Gedanken bezogen sich auf die Kinder.

»Wie doch schon das Weib in ihr zu erkennen ist«, sagte sie auf französisch, indem sie auf die kleine Natascha wies. »Ihr werft uns Frauen immer Mangel an Logik vor. Da siehst du nun unsere Logik. Ich sage: ›Papa will schlafen‹, und sie antwortet: ›Nein, er lacht.‹ Und sie hatte recht«, sagte die Gräfin Marja, glücklich lächelnd.

»Jawohl, jawohl!«

Und Nikolai nahm sein Töchterchen auf seinen starken Arm, hob sie hoch in die Höhe, setzte sie auf seine Schulter, indem er ihre Beinchen mit dem Arm umschlang, und ging so mit ihr im Zimmer auf und ab. Die Gesichter des Vaters und der Tochter hatten beide den gleichen Ausdruck glückseliger Gedankenlosigkeit.

»Weißt du, du kannst doch auch ungerecht sein; du liebst dieses Kind zu sehr«, sagte Gräfin Marja flüsternd auf französisch.

»Ja, aber was ist da zu tun? Ich gebe mir Mühe, es nicht merken zu lassen …«

In diesem Augenblick wurde vom Flur und vom Vorzimmer her das Geräusch der Rolle an der Haustür und der Schall von Schritten vernehmbar; es klang gerade, wie wenn jemand ankäme.

»Es ist jemand gekommen.«

»Ich glaube bestimmt, daß es Pierre ist. Ich will hingehen und nachsehen«, sagte Gräfin Marja und verließ das Zimmer.

In ihrer Abwesenheit erlaubte sich Nikolai, sein Töchterchen im Galopp rings im Zimmer herumreiten zu lassen. Als er außer Atem gekommen war, hob er das lachende Kind schnell herunter und drückte es an seine Brust. Seine Sprünge erinnerten ihn an das Tanzen, und beim Anblick des runden, glückseligen Kindergesichtchens dachte er daran, wie die jetzige kleine Natascha wohl dann aussehen werde, wenn er als schon älterer Mann sie in die Gesellschaft führen und (wie manchmal sein verstorbener Vater mit seiner Tochter den Danilo Kupor vorgeführt hatte) mit ihr eine Mazurka tanzen werde.

»Er ist es, er ist es, Nikolai«, sagte Gräfin Marja, als sie einige Minuten darauf ins Zimmer zurückkehrte. »Jetzt ist aber Frau Natascha lebendig geworden. Du hättest ihr Entzücken sehen sollen, und wie er sogleich seine Schelte dafür bekam, daß er so lange weggeblieben war. Nun komm schnell, komm! Trennt euch endlich einmal voneinander«, sagte sie und blickte lächelnd das kleine Mädchen an, das sich an den Vater schmiegte.

Nikolai ging hinaus, sein Töchterchen an der Hand führend. Gräfin Marja blieb noch einen Augenblick im Sofazimmer zurück.

»Nie, nie hätte ich geglaubt«, flüsterte sie vor sich hin, »daß ich so glücklich sein könnte.« Auf ihrem Gesicht lag ein strahlendes Lächeln; aber in demselben Augenblick seufzte sie, und eine stille Traurigkeit prägte sich in ihrem tiefen Blick aus, als gäbe es außer dem Glück, das sie jetzt empfand, noch ein anderes, in diesem Leben unerreichbares Glück, an das sie in diesem Augenblick unwillkürlich denken mußte.

X


Natascha hatte sich im Jahre 1813 zu Beginn des Frühlings verheiratet und hatte im Jahre 1820 schon drei Töchter und einen Sohn, den sie sich sehr gewünscht hatte und jetzt selbst nährte. Sie war voller und breiter geworden, so daß man in dieser kräftigen Mutter nur schwer die frühere schlanke, bewegliche Natascha wiedererkannte. Ihre Gesichtszüge waren bestimmter geworden und trugen den Ausdruck ruhiger Milde und Klarheit. Auf ihrem Gesicht lag nicht wie früher dieses beständig brennende Feuer der Lebhaftigkeit, das ihren besonderen Reiz gebildet hatte. Jetzt sah man bei ihr oft nur Gesicht und Leib, und von der Seele war nichts zu sehen. Man sah nur das kräftige, schöne, fruchtbare Weib. Sehr selten flammte jetzt bei ihr das frühere Feuer wieder auf. Das geschah nur dann, wenn, wie jetzt, ihr Mann zurückkehrte, oder wenn eines der Kinder wieder gesund wurde, oder wenn sie im Gespräch mit Gräfin Marja des Fürsten Andrei gedachte (mit ihrem Mann sprach sie nie von ihm, da sie vermutete, daß er auf das Andenken des Fürsten Andrei eifersüchtig sei), und sehr selten, wenn irgend etwas sie zufällig dazu verlockte, wieder einmal zu singen, was sie seit ihrer Verheiratung fast ganz aufgegeben hatte. Und in diesen seltenen Augenblicken, wo das frühere Feuer in ihrem voll erblühten, schönen Körper wieder aufflammte, war sie noch anziehender als ehemals.

Seit ihrer Verheiratung lebte Natascha mit ihrem Mann bald in Moskau, bald in Petersburg, bald auf dem Land in der Nähe von Moskau, bald bei ihrer Mutter, d.h. bei Nikolai. In der Gesellschaft sah man die junge Gräfin Besuchowa wenig, und diejenigen, die sie dort sahen, waren nicht sonderlich von ihr entzückt. Sie zeigte sich nicht freundlich und liebenswürdig. Nicht eigentlich, daß Natascha die Einsamkeit geliebt hätte (sie wußte nicht recht, ob sie sie liebte oder nicht, es schien ihr aber eher, daß sie sie nicht liebte); aber da sie mit den Schwangerschaften, den Entbindungen und dem Nähren der Kinder viel zu tun hatte und an jedem Augenblick des Lebens ihres Mannes Anteil nahm, so konnte sie diesen Anforderungen nur durch einen Verzicht auf das gesellschaftliche Leben gerecht werden. Alle, die Natascha vor ihrer Verheiratung gekannt hatten, wunderten sich über die mit ihr vorgegangene Veränderung wie über etwas Außerordentliches. Nur die alte Gräfin begriff mit ihrem mütterlichen Instinkt, daß Nataschas ganzes früheres temperamentvolles Benehmen seinen Ursprung nur in dem Verlangen gehabt hatte, einen Mann und eine Familie zu besitzen (wie sie das in Otradnoje einmal nicht sowohl im Scherz als vielmehr in vollem Ernst laut ausgesprochen hatte), und wunderte sich über die Verwunderung der Leute, die für Nataschas Wesen kein Verständnis hatten, und erklärte wiederholentlich, sie habe immer gewußt, daß Natascha ein Muster von einer Gattin und Mutter werden würde.

»Sie geht nur zu weit in ihrer Liebe zu ihrem Mann und zu ihren Kindern«, sagte die Gräfin. »Das wird ja geradezu töricht.«

Natascha befolgte nicht jene goldene Regel, die von klugen Leuten, namentlich von den Franzosen gepredigt wird und besagt, ein Mädchen, das sich verheiratet, dürfe sich nicht vernachlässigen, dürfe seine Talente nicht brachliegen lassen, müsse sich noch mehr als in seiner Mädchenzeit mit seinem Äußern beschäftigen und müsse den Mann ebenso an sich zu fesseln suchen wie vor der Ehe. Natascha dagegen hatte sofort alle ihre Reizmittel beiseite geworfen, von denen bei ihr das wirkungsvollste der Gesang war. Und eben deswegen, weil dieser ein so starkes Reizmittel war, hatte sie ihn aufgegeben. Sie verwendete weder auf ihr äußeres Benehmen Achtsamkeit, noch auf taktvolle Ausdrucksweise beim Reden, noch darauf, sich ihrem Mann in den vorteilhaftesten Stellungen zu zeigen, noch auf ihre Toilette, noch darauf, ihren Mann nicht durch ihre Ansprüche zu beschränken. Sie tat das volle Gegenteil von diesen Regeln. Sie hatte das Gefühl, daß die Reizmittel, zu deren Anwendung sie früher der Instinkt hingeleitet hatte, jetzt nur lächerlich sein würden in den Augen ihres Mannes, dem sie sich vom ersten Augenblick an völlig hingegeben hatte, d.h. mit ganzer Seele, ohne ihm auch nur in ein Winkelchen derselben den Einblick zu versagen. Sie hatte das Gefühl, daß ihre Verbindung mit ihrem Mann nicht durch jene poetischen Empfindungen unverbrüchlich bewahrt werde, die ihn zu ihr hingezogen hatten, sondern durch etwas anderes, das sich nicht recht definieren ließ, aber fest war wie die Verbindung ihrer eigenen Seele mit dem Körper.

Sich Locken zu brennen, eine moderne robe ronde anzuziehen und Liebeslieder zu singen, um ihren Mann zu sich heranzuziehen, das wäre ihr ebenso seltsam vorgekommen, wie wenn sie sich hätte schmücken wollen, um ihr eigenes Wohlgefallen zu erregen. Sich zu schmücken, um anderen zu gefallen, das hätte ihr vielleicht wirklich Freude gemacht (sie wußte es nicht); aber sie hatte schlechterdings keine Zeit dazu. Und der Hauptgrund, weshalb sie sich weder mit dem Gesang, noch mit ihrer Toilette, noch mit dem sorgsamen Abwägen ihrer Worte beschäftigte, lag eben darin, daß sie absolut keine Zeit hatte, sich damit zu beschäftigen.

Bekanntlich besitzt der Mensch die Fähigkeit, sich ganz in einen Gegenstand zu versenken, mag dieser auch noch so unbedeutend erscheinen, und es gibt keinen so unbedeutenden Gegenstand, der, wenn man ihm seine gesamte Aufmerksamkeit zuwendet, nicht ins Grenzenlose wüchse.

Der Gegenstand, in den sich Natascha vollständig versenkte, war die Familie, d.h. ihr Mann, den sie so festhalten mußte, daß er ungeteilt ihr und dem Haus gehörte, sowie ihre Kinder, die sie tragen, gebären, nähren und erziehen mußte.

Und je mehr sie, nicht mit dem Verstand, sondern mit ihrer ganzen Seele und ihrem ganzen Wesen, in den Gegenstand eindrang, der sie beschäftigte, um so mehr wuchs dieser Gegenstand unter ihrer Aufmerksamkeit und um so geringer und schwächer erschienen ihr ihre Kräfte, so daß sie sie alle auf ein und dieselbe Aufgabe konzentrierte und es ihr trotzdem nicht gelang, alles das auszuführen, was ihr notwendig schien.

Dispute und Debatten über die Rechte der Frauen, über das Verhältnis der Ehegatten, über die Freiheit und Rechte derselben, gab es damals gerade ebenso wie heutzutage, wenn man diese Dinge auch noch nicht, wie jetzt, »Fragen« nannte; aber für diese Fragen interessierte sich Natascha nicht, ja, sie verstand nicht das geringste von ihnen.

Diese Fragen existierten damals, wie es auch jetzt der Fall ist, nur für diejenigen Leute, die in der Ehe lediglich ein Vergnügen sehen, das die Ehegatten einander bereiten, d.h. nur den Ausgangspunkt der Ehe, aber nicht ihre ganze Bedeutung, die in der Familie besteht.

Diese Erörterungen und die heutigen »Fragen« haben eine gewisse Ähnlichkeit mit der Frage, wie man vom Mittagessen einen möglichst großen Genuß haben kann: für Menschen, denen der Zweck des Mittagessens die Ernährung und der Zweck der Ehe die Familie ist, existierten sie damals nicht und existieren sie jetzt nicht.

Wenn der Zweck des Mittagessens die Ernährung des Körpers ist, so wird derjenige, der zwei Mittagessen mit einemmal verzehrt, vielleicht ein größeres Vergnügen erzielen, aber den Zweck nicht erreichen, da der Magen die beiden Mittagessen nicht zu verdauen vermag.

Wenn der Zweck der Ehe die Familie ist, so wird derjenige, der viele Frauen und Männer zu haben begehrt, vielleicht viel Vergnügen erlangen, in keinem Fall aber wird er eine Familie haben.

Ist der Zweck des Mittagessens die Ernährung und der Zweck der Ehe die Familie, so gibt es nur eine Lösung der ganzen Frage, nämlich diese: man darf nicht mehr essen, als der Magen verdauen kann, und man darf nicht mehr Frauen und Männer haben, als für die Familie erforderlich ist, d.h. eine Frau und einen Mann. Natascha hatte das dringende Verlangen nach einem Mann gehabt. Ein solcher war ihr zuteil geworden. Und durch den Mann erlangte sie eine Familie. Und sich einen andern, besseren Mann zu wünschen, dazu sah sie gar keine Veranlassung; sondern da alle Kraft ihrer Seele darauf gerichtet war, diesem Mann und dieser Familie zu dienen, so konnte sie sich nicht vorstellen, was sein würde, wenn es anders wäre, und sah auch gar nicht, was für ein Interesse sie hätte, sich dergleichen vorzustellen.

Natascha liebte im allgemeinen den gesellschaftlichen Verkehr nicht; aber um so mehr Wert legte sie auf den Verkehr mit ihren Angehörigen: der Gräfin Marja, ihrem Bruder, ihrer Mutter und Sonja. Sehr gern verkehrte sie mit den Menschen, zu denen sie ungekämmt, im Negligé, mit ihren großen Schritten aus dem Kinderzimmer hingelaufen kommen konnte, um ihnen mit hocherfreutem Gesicht eine Windel mit einem gelben Fleck statt eines grünen zu zeigen und die tröstliche Versicherung zu hören, daß es jetzt mit dem Kind weit besser gehe.

Natascha gab auf ihr Verhalten so wenig acht, daß ihre Kleider, ihre Haartracht, ihre unbedacht hingesprochenen Worte und ihre Eifersucht (sie war eifersüchtig auf Sonja, auf die Gouvernante, auf jedes schöne und unschöne weibliche Wesen) ein gewöhnlicher Stoff zu Scherzen für alle ihre Angehörigen waren. Die allgemeine Anschauung war die, daß Pierre unter dem Pantoffel seiner Frau stehe, und dies war auch tatsächlich der Fall. Gleich in den ersten Tagen ihrer Ehe hatte Natascha ihre Forderungen formuliert. Pierre war sehr erstaunt gewesen über diese ihm ganz neue Auffassung seiner Frau, daß jede Minute seines Lebens ihr und der Familie gehöre. Pierre war erstaunt gewesen über diese Forderung, hatte sich aber dadurch geschmeichelt gefühlt und sich ihr gefügt.

Pierres Unterwürfigkeit bestand darin, daß er nicht wagte, einer andern Frau den Hof zu machen oder auch nur lächelnd mit ihr zu reden, nicht wagte, ohne besonderen Anlaß, nur um die Zeit auszufüllen, zum Diner in einen Klub zu fahren, nicht wagte, für Launen Geld auszugeben, nicht wagte, für längere Zeit zu verreisen, außer in geschäftlichen Angelegenheiten, zu denen seine Frau auch seine Beschäftigung mit den Wissenschaften rechnete, von denen sie nichts verstand, denen sie aber einen hohen Wert beimaß. Zum Entgelt dafür hatte Pierre das Recht, bei sich zu Hause nicht nur über sich selbst, sondern auch über die ganze Familie nach seinem Belieben zu verfügen. Natascha hatte sich im Haus ihrem Mann gegenüber die Stellung einer Sklavin angewiesen; und das ganze Haus ging auf den Fußspitzen, wenn Pierre arbeitete, d.h. in seinem Zimmer las oder schrieb. Pierre brauchte nur eine Vorliebe für irgend etwas zum Ausdruck zu bringen, und das, was er gern hatte, wurde dauernd beobachtet. Er brauchte nur einen Wunsch merken zu lassen, und Natascha sprang auf und lief weg, um ihn zu erfüllen.

Das ganze Haus wurde nur von den angeblichen Befehlen des Mannes regiert, d.h. von Pierres Wünschen, die Natascha zu erraten suchte. Die Lebensweise, der Wohnort, die Bekanntschaften, die gesellschaftlichen Beziehungen, Nataschas Beschäftigungen, die Erziehung der Kinder, das alles richtete sich nicht nur nach Pierres ausgesprochenem Willen, sondern Natascha bemühte sich auch das zu erraten, was die Konsequenz der Gedanken sein konnte, die Pierre gesprächsweise geäußert hatte. Und sie traf mit großer Sicherheit das, worin der eigentliche Kern von Pierres Wünschen bestand, und hatte sie es einmal erraten, so hielt sie an dem einmal gewählten standhaft fest. Wenn dann Pierre selbst einmal seinem Wunsch untreu werden wollte, so bekämpfte sie ihren Mann mit seinen eigenen Waffen.

Ein Beispiel: in einer schweren Zeit, die in Pierres Gedächtnis für immer als denkwürdig haftete, nämlich nach der Geburt des ersten, schwächlichen Kindes, als sie nacheinander drei Ammen hatten nehmen müssen und Natascha vor Verzweiflung krank geworden war, da hatte ihr Pierre einmal von einem ihm völlig einleuchtenden Gedanken Rousseaus über die Widernatürlichkeit und Schädlichkeit der Ammen Mitteilung gemacht. Beim folgenden Kind setzte nun Natascha trotz des Widerspruchs ihrer Mutter, der Ärzte und ihres Mannes selbst, welche ihr das Selbstnähren als ein damals unerhörtes und für schädlich angesehenes Verfahren verwehren wollten, ihren Willen durch und nährte seitdem alle ihre Kinder selbst.

Recht häufig kam es in Augenblicken der Erregung vor, daß Mann und Frau sich stritten; aber wenn der Streit vorbei war, dann begegnete Pierre noch lange nachher zu seinem freudigen Erstaunen nicht nur in den Worten seiner Frau, sondern auch in ihren Handlungen eben jenem Gedanken, gegen den sie angekämpft hatte. Und er begegnete nicht nur diesem Gedanken wieder, sondern fand ihn auch gereinigt von all den überflüssigen Zutaten, mit denen er selbst ihn entstellt hatte, als er ihn in der Hitze des Streites aussprach.

Jetzt nach sieben Jahren des Ehelebens hatte Pierre das frohe, festbegründete Bewußtsein, daß er kein schlechter Mensch war, und er hegte diese Überzeugung deswegen, weil er sich selbst in seiner Frau widergespiegelt sah. In seinem eigenen Innern war nach seiner Empfindung alles Gute und Schlechte miteinander vermischt und verdunkelte sich gegenseitig. Aber in seiner Frau spiegelte sich nur das wider, das wahrhaft gut war; alles nicht völlig Gute kam in Wegfall. Und diese Widerspiegelung vollzog sich nicht mittels des logischen Denkens, sondern auf einem andern, geheimnisvollen, direkten Weg.

XI


Vor zwei Monaten hatte Pierre, der damals schon bei Rostows zu Besuch war, einen Brief vom Fürsten Fjodor erhalten, worin dieser ihn bat, nach Petersburg zu kommen zum Zweck der Beratung wichtiger Fragen, welche die Mitglieder eines Vereins in Petersburg beschäftigten, bei dessen Gründung Pierre in hervorragender Weise mitgewirkt hatte.

Als Natascha diesen Brief gelesen hatte, wie sie denn alle Briefe ihres Mannes las, redete sie ihm selbst zu, nach Petersburg zu fahren, so schwer es ihr auch fallen mußte, von ihm getrennt zu sein. Allem, was mit der geistigen, abstrakten Tätigkeit ihres Mannes zusammenhing, legte sie, ohne ein Verständnis dafür zu besitzen, eine gewaltige Wichtigkeit bei und befürchtete beständig, ihrem Mann bei dieser Tätigkeit ein Hemmnis zu sein. Auf Pierres schüchternen, fragenden Blick nach dem Durchlesen dieses Briefes antwortete sie mit der Bitte, er möchte doch hinfahren und ihr nur sicher die Zeit seiner Rückkehr angeben. Und so wurde ihm denn auf vier Wochen Urlaub erteilt.

Von der Zeit an, wo Pierres Urlaub abgelaufen war (es war jetzt zwei Wochen her), befand sich Natascha in steter Angst, Bekümmernis und Aufregung.

Denisow, der aus Unzufriedenheit mit den derzeitigen Zuständen als General den Abschied genommen hatte, war in diesen letzten zwei Wochen zu Besuch gekommen und betrachtete Natascha mit Staunen und Betrübnis, wie man das unähnliche Porträt eines einstmals geliebten Menschen betrachtet. Eine niedergeschlagene, müde Miene, schiefe, unpassende Antworten, Gespräche über die Kinderstube, das war alles, was er von der ehemaligen Zauberin sah und hörte.

Natascha war diese ganze Zeit über traurig und reizbar, namentlich wenn ihre Mutter, ihr Bruder, Sonja oder Gräfin Marja, um sie zu trösten, sich bemühten, Pierre zu entschuldigen und Gründe für sein langes Ausbleiben zu ersinnen.

»Alle seine hohen Ideen, die zu nichts führen, und alle diese törichten Vereine, das sind lauter Dummheiten, lauter Possen«, so sprach Natascha von denselben Dingen, an deren große Wichtigkeit sie doch sonst so fest glaubte.

Und dann ging sie in das Kinderzimmer, um ihr einziges Söhnchen Petja zu nähren. Niemand war imstande ihr soviel Beruhigendes, Vernünftiges zu sagen wie dieses drei Monate alte kleine Wesen, wenn es an ihrer Brust lag und sie die Bewegungen seines Mündchens fühlte und das Schnaufen seines Näschens hörte. Dieses kleine Wesen sagte ihr: »Du bist ärgerlich, du bist eifersüchtig, du möchtest dich an ihm rächen, du ängstigst dich; aber ich hier bin ja er selbst. Ich hier bin er selbst …« Und darauf war nichts zu erwidern. Das war die Wahrheit, die volle Wahrheit.

Natascha nahm in diesen zwei Wochen der Unruhe so oft ihre Zuflucht zu dem Kleinen, um dort Beruhigung zu finden, und sie machte sich so viel mit ihm zu schaffen, daß sie ihm ein Übermaß von Nahrung gab und er krank wurde. Sie bekam einen großen Schreck über seine Krankheit; gleichzeitig aber war es gerade dies, was sie nötig hatte. Während sie das Kind pflegte, ertrug sie die Unruhe um ihren Mann leichter.

Sie war gerade dabei, den Kleinen zu nähren, als das Geräusch von Pierres Reiseschlitten an der Haustür hörbar wurde und die Kinderfrau, die schon wußte, womit sie ihrer gnädigen Frau eine Freude machen konnte, mit strahlendem Gesicht in die Tür trat.

»Ist er gekommen?« fragte Natascha schnell im Flüsterton; sie scheute sich, eine Bewegung zu machen, um nicht das Kind, das eingeschlafen war, zu wecken.

»Ja, er ist gekommen, Mütterchen«, flüsterte die Kinderfrau.

Das Blut stieg Natascha ins Gesicht, und ihre Füße machten unwillkürlich eine Bewegung; aber aufspringen und weglaufen, das durfte sie nicht. Der Kleine öffnete wieder seine Äuglein und sah sie an. »Da bist du ja«, schien er zu sagen und schmatzte wieder träge mit den Lippen.

Nachdem Natascha ihm sachte die Brust entzogen hatte, schaukelte sie ihn ein wenig hin und her, übergab ihn der Kinderfrau und ging mit schnellen Schritten zur Tür. Aber an der Tür blieb sie noch einmal stehen, als empfände sie Gewissensbisse darüber, in ihrer Freude das Kind zu schnell verlassen zu haben, und sah sich um. Die Kinderfrau hob gerade mit hochgehobenen Ellbogen das Kind über das Bettgeländer.

»Gehen Sie nur, gehen Sie nur, Mütterchen, seien Sie ganz beruhigt, gehen Sie nur«, flüsterte die Kinderfrau lächelnd mit der Vertraulichkeit, die zwischen ihr und ihrer gnädigen Frau herrschte.

Und Natascha lief mit leichten Schritten nach dem Vorzimmer.

Denisow, der gerade, eine kurze Pfeife rauchend, aus Nikolais Zimmer in den Saal kam, erkannte jetzt zum erstenmal Natascha wieder. Ein helles, glänzendes, freudiges Licht schien sich in Strömen von ihrem verklärten Gesicht zu ergießen.

»Er ist gekommen!« rief sie ihm im Vorbeilaufen zu, und Denisow hatte die Empfindung, daß er selbst über Pierres Ankunft entzückt sei, obwohl er ihn nicht besonders leiden konnte.

Als Natascha in das Vorzimmer hineingestürzt kam, erblickte sie eine hohe Gestalt in einem Pelz, die sich den Gurt abband. »Er ist es, er ist es! Wahrhaftig! Da ist er!« sagte sie bei sich, flog auf ihn zu, umarmte ihn und drückte seinen Kopf an ihre Brust. Dann hielt sie ihn von sich ab und blickte ihm in das bereifte, rote, glückliche Gesicht. »Ja, er ist es, glücklich und zufrieden …«

Da fielen ihr plötzlich alle die Qualen des Wartens ein, die sie in den letzten zwei Wochen durchgemacht hatte; die auf ihrem Gesicht strahlende Freude verschwand; sie runzelte die Stirn, und ein Strom von Vorwürfen und bösen Worten ergoß sich über Pierre.

»Ja, dir geht es wohl, du bist höchst vergnügt, du hast dich amüsiert … Aber wie ist es mir gegangen? Wenn du doch wenigstens mit den Kindern Mitleid hättest; ich nähre, und da ist mir vor Aufregung die Milch verdorben. Petja war todkrank. Aber du bist höchst vergnügt. Ja, du bist vergnügt …«

Pierre wußte, daß er sich nichts vorzuwerfen hatte, da es ihm nicht möglich gewesen war, früher zu kommen; er wußte, daß dieser Zornesausbruch von ihrer Seite ungehörig war, und wußte, daß er in zwei Minuten vorüber sein werde; und was die Hauptsache war, er wußte, daß er selbst froh und vergnügt war. Er hätte lächeln mögen, wagte aber gar nicht daran zu denken. Er machte ein klägliches, erschrockenes Gesicht und krümmte sich zusammen.

»Ich konnte nicht eher. Wirklich nicht. Aber wie geht es Petja?«

»Jetzt ist es ja leidlich, komm nur. Daß du so gar kein Gewissen hast! Wenn du hättest sehen können, wie es mir ging, als du fort warst, was ich für Pein ausgestanden habe …«

»Du bist doch gesund?«

»Komm, komm«, sagte sie, ohne seine Hand loszulassen. Und sie gingen in ihre Zimmer.

Als Nikolai und seine Frau kamen, um Pierre aufzusuchen, war er im Kinderzimmer, hielt den Säugling, der aufgewacht war, auf seiner gewaltig großen rechten Hohlhand und tätschelte ihn. Auf dem breiten Gesicht des Kindes mit dem offenstehenden, zahnlosen Mündchen lag ein fröhliches Lächeln. Der Sturm hatte sich schon längst gelegt, und heller, heiterer Sonnenschein glänzte auf dem Gesicht Nataschas, die mit inniger Rührung ihren Mann und ihr Söhnchen betrachtete.

»Und hast du mit dem Fürsten Fjodor alles zu deiner Zufriedenheit besprochen?« fragte Natascha.

»Ja, ganz nach Wunsch.«

»Sieh nur, wie er ihn gerade hält.« (Natascha meinte den Kopf des Kindes.) »Aber einen schönen Schreck hat er mir mit seiner Krankheit eingejagt … Und hast du die Fürstin gesehen? Ist es wahr, daß sie eine Liebschaft mit diesem (du weißt schon) hat?«

»Ja, kannst du dir das vorstellen …«

In diesem Augenblick traten Nikolai und Gräfin Marja ins Zimmer. Ohne seinen Sohn aus den Händen zu lassen, beugte Pierre sich nieder, um beide zu küssen, und antwortete auf ihre Fragen. Aber obwohl im Gespräch viele interessante Mitteilungen von der einen und von der andern Seite zu machen waren, war es doch zweifellos, daß das Kind in dem Mützchen, mit dem wackelnden Köpfchen, Pierres ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

»Wie allerliebst!« sagte Gräfin Marja, indem sie das Kind betrachtete und mit ihm spielte. »Siehst du, das verstehe ich nicht, Nikolai«, wandte sie sich an ihren Mann, »daß du für das Entzückende dieser allerliebsten kleinen Wesen so gar kein Verständnis hast.«

»Ich verstehe es einmal nicht, ich bringe es nicht fertig«, erwiderte Nikolai und sah das Kind mit einem kalten Blick an. »Ein Stück Fleisch, weiter nichts. Komm, Pierre.«

»Die Hauptsache bleibt doch, daß er ein so überaus zärtlicher Vater ist«, sagte Gräfin Marja, um ihren Mann zu entschuldigen, »aber erst, wenn sie schon so ungefähr ein Jahr alt sind …«

»Nein, Pierre gibt eine vorzügliche Kinderfrau ab«, sagte Natascha. »Er sagt, seine Hand wäre geradezu für das Gesäß eines kleinen Kindes geschaffen. Seht sie nur einmal an.«

»Na, nur nicht allein dazu«, sagte Pierre lachend, faßte das Kind anders und übergab es der Kinderfrau.

XII


Wie in jeder richtigen Familie, so lebten auch im Gutshaus von Lysyje-Gory mehrere völlig verschiedene Elemente zusammen, die, indem ein jedes, ohne seine Besonderheit aufzugeben, den andern mancherlei Konzessionen machte, zu einem harmonischen Ganzen verschmolzen. Jedes Ereignis, das sich im Haus zutrug, war in Freude oder Leid für alle diese Elemente in gleicher Weise wichtig; aber jedes Element hatte seine völlig eigenen, von den andern unabhängigen Gründe, über irgendein Ereignis froh oder betrübt zu sein.

So war auch Pierres Ankunft ein frohes, wichtiges Ereignis und übte in diesem Sinn auf alle seine Wirkung aus.

Die Dienstboten, die die zuverlässigsten Richter der Herrschaft sind, weil sie nicht nach Reden und Gefühlsäußerungen, sondern nach den Handlungen und der gesamten Lebensweise urteilen, freuten sich über Pierres Ankunft, weil sie wußten, daß während seiner Anwesenheit Graf Rostow nicht mehr täglich durch die Wirtschaft gehen und heiterer und gutmütiger sein werde, und dann auch deshalb, weil jeder von ihnen reiche Geschenke zum Festtag erwarten durfte.

Die Kinder und Gouvernanten freuten sich über Besuchows Ankunft, weil niemand sie so zu dem gemeinsamen geselligen Leben mit heranzog wie Pierre. Er allein konnte auf dem Klavier jene berühmte Ekossaise spielen (übrigens sein einziges Stück), nach der man, wie er versicherte, alle möglichen Tänze tanzen konnte; und dann hatte er gewiß auch Geschenke für alle mitgebracht.

Nikolenka, jetzt ein fünfzehnjähriger, magerer, kränklicher, kluger Knabe mit blondem, lockigem Haar und schönen Augen, freute sich, weil Onkel Pierre, wie er ihn nannte, der Gegenstand seiner Bewunderung und leidenschaftlichen Liebe war. Niemand hatte dem Knaben eine besondere Liebe zu Pierre einzuprägen gesucht, und er hatte ihn nur selten gesehen. Seine Erzieherin, Gräfin Marja, wandte alle Mittel, die in ihrer Macht standen, an, um Nikolenka dahin zu bringen, daß er ihren Mann ebenso liebhaben möchte, wie sie ihn liebte; und Nikolenka hatte seinen Onkel ja auch wirklich lieb, aber doch mit einer ganz leisen Nuance von Geringschätzung. Pierre dagegen vergötterte er. Er wollte nicht Husar werden und das Georgskreuz bekommen wie Onkel Nikolai; er wollte gelehrt, klug und gut werden wie Pierre. Sobald Pierre zugegen war, lag auf dem Gesicht des Knaben immer ein freudiger Glanz, und er errötete und konnte kaum atmen, wenn Pierre ihn anredete. Er ließ sich kein Wort von dem, was Pierre sagte, entgehen und rief sich dann nachher mit Dessalles oder auch für sich allein jedes Wort Pierres ins Gedächtnis zurück und suchte sich über den Sinn desselben klarzuwerden. Pierres früheres Leben, sein Unglück vor dem Jahr 1812 (wovon er sich aus einzelnen Äußerungen, die er gehört hatte, eine unklare, poetische Vorstellung zurechtgemacht hatte), seine Abenteuer in Moskau, seine Gefangenschaft, Platon Karatajew (über den er von Pierre manches gehört hatte), seine Liebe zu Natascha (zu der der Knabe gleichfalls eine ganz besondere Liebe hegte) und vor allen Dingen seine Freundschaft mit seinem Vater, auf den Nikolenka sich nicht mehr besinnen konnte, alles dies machte Pierre für ihn zu einem Helden und zu einem Gegenstand heiliger Scheu.

Aus abgerissenen Reden über seinen Vater und Natascha, aus der besonderen Erregung, mit welcher Pierre über den Verstorbenen sprach, aus der vorsichtigen, ehrfurchtsvollen Zärtlichkeit, mit der Natascha seiner Erwähnung tat, hatte sich der Knabe, der soeben anfing etwas von Liebe zu ahnen, eine Vorstellung zurechtgemacht, daß sein Vater Natascha geliebt und, als er starb, seinem Freund vermacht habe. Dieser Vater aber, für den der Knabe keine Erinnerung mehr hatte, erschien ihm wie eine Gottheit, von der er sich kein Bild machen dürfe und an die er nur mit stockendem Herzschlag und mit Tränen der Trauer und des Entzückens dachte. Und auch er war glücklich über Pierres Ankunft.

Die Gäste freuten sich, daß Pierre wieder da war, weil er jede Gesellschaft zu beleben und in ihr das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu erwecken verstand.

Die erwachsenen Hausgenossen, von seiner Frau ganz zu schweigen, waren froh über die Heimkehr des Freundes, bei dessen Anwesenheit man leichter und behaglicher lebte.

Die alten Damen freuten sich sowohl über die Geschenke, die er mitbringen werde, als auch ganz besonders darüber, daß Natascha nun wieder werde frischer und lebendiger sein.

Pierre kannte diese verschiedenen Gesichtspunkte recht wohl, von denen aus die verschiedenen Elemente ihn betrachteten, und beeilte sich, einem jeden zukommen zu lassen, was derselbe erwartete.

Pierre, der zerstreuteste, vergeßlichste Mensch auf der Welt, hatte diesmal nach einem von seiner Frau zusammengestellten Verzeichnis alles gekauft und nichts vergessen, weder die Aufträge ihrer Mutter und ihres Bruders, noch die Geschenke zum Feiertag, noch das Kleid für Fräulein Bjelowa, noch das Spielzeug für die Neffen und Nichten. In der ersten Zeit seiner Ehe war ihm diese Forderung seiner Frau, das, was er einzukaufen übernommen hatte, auch wirklich alles zu besorgen, ohne etwas zu vergessen, recht sonderbar vorgekommen, und ihr ernstlicher Verdruß, als er bei seiner ersten Reise alles vergessen hatte, hatte ihn höchlichst überrascht. Aber in der Folge hatte er sich daran gewöhnt. Da er wußte, daß Natascha ihm für ihre eigene Person keine Aufträge gab und für andere nur dann, wenn er sich selbst dazu anbot, so fand er jetzt zu seiner eigenen Überraschung ein kindliches Vergnügen an diesen Einkäufen von Geschenken für das ganze Haus und vergaß dabei nie jemanden. Wenn er sich Vorwürfe Nataschas zuzog, so war es nur dafür, daß er Überflüssiges gekauft und zu hohe Preise bezahlt hatte. Die Mehrzahl der Hausgenossen war der Ansicht, daß zu allen bisherigen Fehlern Pierres, wie Unordnung und Nachlässigkeit (Pierre selbst hielt dies freilich für Vorzüge), Natascha noch den Geiz hinzuzugesellen suche.

Von dem Tag an, wo Pierre angefangen hatte, einen großen Haushalt zu führen und eine Familie zu unterhalten, die große Ausgaben erforderte, bemerkte er zu seiner Verwunderung, daß er nur halb soviel verbrauchte wie früher und daß seine finanziellen Verhältnisse, die in der letzten Zeit, namentlich durch die Schulden seiner ersten Frau, stark zerrüttet gewesen waren, sich wieder zu bessern anfingen.

Das Leben kam ihm jetzt billiger zu stehen, weil es an eine bestimmte Ordnung gebunden war: den teuren Luxus, der darin bestand, so zu leben, daß man seine Lebensweise jeden Augenblick ändern konnte, erlaubte sich Pierre nicht mehr, und er hatte auch nicht die geringste Sehnsucht danach. Er fühlte, daß seine Lebensweise jetzt ein für allemal bis zu seinem Tod fest geregelt sei, und daß es gar nicht in seiner Macht stehe, sie zu ändern, und daß deshalb diese Lebensweise billiger sei.

Pierre packte mit vergnügtem, lachendem Gesicht seine Einkäufe aus.

»Was sagst du hierzu?« sagte er, während er, wie ein Kommis, ein Stück Zeug auseinanderschlug.

Natascha saß ihm gegenüber; sie hatte ihr ältestes Töchterchen auf dem Schoß und ließ ihre glänzenden Augen schnell zwischen ihrem Mann und dem, was er vorzeigte, hin und her gehen.

»Das ist für Fräulein Bjelowa? Wunderschön.« (Sie befühlte die Qualität.) »Das kostet wohl einen Rubel die Elle?«

Pierre nannte den Preis.

»Das ist teuer«, sagte Natascha. »Wie sich die Kinder freuen werden, und Mama! Aber für mich hättest du das nicht kaufen sollen«, fügte sie hinzu, vermochte aber doch nicht ein Lächeln zu unterdrücken, als sie den goldenen, mit Perlen besetzten Kamm betrachtete, wie sie damals gerade Mode wurden.

»Adele wollte mir abreden: ›Sie kaufen und kaufen!‹ sagte sie«, berichtete Pierre.

»Wann werde ich denn den tragen?« Natascha steckte ihn sich ins Haar. »Wenn wir unsere kleine Marja in Gesellschaft führen werden; vielleicht trägt man dann wieder solche. Nun, dann komm.«

Sie faßten ihre Geschenke zusammen und gingen zuerst in das Kinderzimmer, dann zu der alten Gräfin.

Die Gräfin war schon über sechzig Jahre alt. Sie hatte graues Haar und trug eine Haube, die ihr ganzes Gesicht mit einer Rüsche umrahmte. Ihr Gesicht war runzlig, die Oberlippe eingeschrumpft, die Augen blickten trübe.

Nachdem ihr Sohn und ihr Mann so schnell hintereinander gestorben waren, hatte sie die Empfindung, sie sei ein Wesen, das nur so zufällig auf der Welt vergessen sei und keinen Sinn und Zweck mehr habe. Sie aß und trank, schlief und wachte; aber sie lebte eigentlich nicht. Das Leben machte ihr keinen Eindruck. Sie verlangte vom Leben nichts als Ruhe, und diese Ruhe konnte sie nur im Tod finden. Aber bis der Tod kam, mußte sie leben, d.h. ihre Lebenskräfte gebrauchen. Es trat bei ihr im höchsten Grad eine Eigenheit hervor, die man bei sehr kleinen Kindern und sehr alten Leuten wahrnehmen kann. Es war in ihrem Leben kein äußerer Zweck zu sehen; sichtbar war bei ihr nur das Bedürfnis, ihre mancherlei Neigungen und Fähigkeiten zu üben. Sie mußte essen, schlafen, denken, reden, weinen, arbeiten, sich ärgern usw., lediglich weil sie einen Magen, ein Gehirn, Muskeln, Nerven und eine Leber hatte. Alles dies tat sie, ohne durch eine äußere Einwirkung dazu veranlaßt zu sein, nicht so, wie das Menschen tun, die in voller Lebenskraft stehen, wo man über dem Zweck, den sie selbst verfolgen, den andern Zweck, der in dem Gebrauch der vorhandenen Kräfte besteht, nicht wahrnimmt. Sie redete nur, weil es ihr ein physisches Bedürfnis war, mit der Lunge und der Zunge zu arbeiten. Sie weinte wie ein Kind, weil es ihr ein Bedürfnis war, die Flüssigkeit aus den Augen und der Nase loszuwerden, usw. Wo Leute, die in voller Lebenskraft stehen, einen Zweck haben, da benutzte sie offenbar nur eine Gelegenheit.

So zeigte sich bei ihr morgens, namentlich wenn sie am vorhergehenden Abend etwas Fettes gegessen hatte, das Bedürfnis, sich zu ärgern, und dann wählte sie sich dazu als die nächste Gelegenheit Fräulein Bjelowas Taubheit.

Sie sagte zu ihr irgend etwas leise vom andern Ende des Zimmers her.

»Heute scheint es etwas wärmer zu sein, meine Liebe«, sagte sie flüsternd.

Und wenn dann Fräulein Bjelowa antwortete: »Gewiß, sie sind angekommen«, so brummte sie ärgerlich vor sich hin: »Mein Gott, wie taub und dumm!«

Eine andre Gelegenheit bot sich durch ihren Schnupftabak, der ihr bald zu trocken, bald zu feucht, bald schlecht gerieben vorkam. Nach diesen Gemütserregungen ergoß sich ihr die Galle ins Gesicht, und ihre Stubenmädchen wußten schon an sicheren Vorzeichen voraus, wann Fräulein Bjelowa wieder taub und der Tabak wieder zu feucht und das Gesicht der alten Gräfin wieder gelb sein werde. Ebenso wie es ihr ab und zu Bedürfnis war, ihre Galle ein wenig arbeiten zu lassen, so mußte sie auch von Zeit zu Zeit die ihr noch verbliebenen Fähigkeiten in Tätigkeit setzen, z.B. die Denkfähigkeit, und dazu bot die Patience eine geeignete Gelegenheit. Wenn sie das Bedürfnis hatte zu weinen, so war der verstorbene Graf ein passender Gegenstand. Wenn sie das Bedürfnis hatte sich zu beunruhigen, so fand sie dazu Gelegenheit bei Nikolai und seiner Gesundheit. Verlangte es sie, spitze, giftige Reden zu führen, so war dazu Gräfin Marja ein stets bereiter Anlaß. Verspürte sie das Bedürfnis, ihr Sprechorgan zu üben (dies war meist gegen sieben Uhr abends der Fall, nachdem sie zum Zweck der Verdauung sich in der dunklen Stube eine Weile ausgeruht hatte), so zog sie die Gelegenheit an den Haaren herbei, immer dieselben Geschichten denselben Zuhörern zu erzählen.

Über diesen Zustand der alten Dame waren alle Hausgenossen sich klar, wiewohl nie jemand darüber sprach und alle sich aufs eifrigste bemühten, diese ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Nur selten fand dieses gemeinsame Verständnis für den Zustand der alten Gräfin seinen Ausdruck in einem traurigen, leise lächelnden Blick, den Nikolai, Pierre, Natascha und Gräfin Marja miteinander wechselten.

Aber diese Blicke sagten außerdem noch etwas anderes. Sie sagten, daß die alte Gräfin ihre Lebensarbeit bereits beendet habe, daß das, was man jetzt von ihr sehe, nur eine Ruine sei, daß auch sie selbst alle einmal so sein würden, und daß sie sich ihr gern fügten, sich gern überwänden, um diesem teuren Wesen gefällig zu sein, das einstmals ebenso lebensvoll gewesen sei, wie sie selbst, und jetzt ein so klägliches Schauspiel biete. »Memento mori«, sagten diese Blicke.

Unter allen Hausbewohnern waren es nur ganz schlechte und dumme Menschen und die kleinen Kinder, die das nicht verstanden und sich von der alten Gräfin fernhielten.

XIII


Als Pierre und seine Frau in den Salon kamen, befand sich die Gräfin in jenem gewohnheitsmäßigen Zustand, in dem es ihr ein Bedürfnis war, sich mit geistiger Arbeit, d.h. mit der grande patience, zu beschäftigen. Sie sagte zwar gewohnheitsmäßig die Worte, die sie immer sagte, wenn Pierre oder ihr Sohn zurückkamen: »Endlich, endlich, mein Lieber; wir haben dich ungeduldig erwartet. Nun, Gott sei Dank, daß du wieder da bist!«, und auch als ihr die Geschenke überreicht wurden, gebrauchte sie andere, ebenso gewohnheitsmäßige Redewendungen: »Noch mehr als über das Geschenk freue ich mich über die Gesinnung des Gebers. Ich danke dir, daß du mich alte Frau so bedacht hast«; aber trotzdem war es augenscheinlich, daß Pierres Kommen ihr in diesem Augenblick unangenehm war, weil es ihre Aufmerksamkeit von der noch nicht fertig gelegten grande patience ablenkte. Sie beendete die Patience und machte sich dann erst an die Geschenke. Diese Geschenke bestanden aus einem schön gearbeiteten Futteral für Spielkarten, aus einer hellblauen, mit einem Deckel versehenen Sevrestasse, auf welcher Hirtinnen dargestellt waren, und aus einer goldenen Tabaksdose mit einem Porträt des Grafen, das Pierre in Petersburg von einem Miniaturmaler hatte malen lassen. (Dies hatte sich die Gräfin schon lange gewünscht.) Sie hatte jetzt keine Lust zu weinen, und daher sah sie das Porträt gleichgültig an und beschäftigte sich mehr mit dem Futteral.

»Ich danke dir, mein Lieber; du hast mir eine große Freude gemacht«, sagte sie, wie sie immer sagte. »Aber das beste ist doch, daß du dich selbst wieder mitgebracht hast. Es war hier auch schon eine ganz tolle Wirtschaft; schelte nur deine Frau ordentlich aus. Was das nur vorstellen sollte? Wie eine Irrsinnige hat sie sich benommen, während du weg warst. Sie sah nichts und hörte nichts«, sagte sie, auch dies waren gewohnheitsmäßige Wendungen. »Sieh nur, Anna Timofjejewna, was für ein schönes Futteral uns mein Schwiegersohn mitgebracht hat.«

Fräulein Bjelowa rühmte die Geschenke und zeigte sich entzückt von dem Kleiderstoff.

Pierre, Natascha, Nikolai, Gräfin Marja und Denisow hatten allerdings den Wunsch, vieles miteinander zu besprechen, was sie in Gegenwart der Gräfin nicht wohl besprechen konnten, nicht weil sie ihr etwas hätten verheimlichen wollen, sondern weil sie mit ihren Kenntnissen auf vielen Gebieten so zurückgeblieben war, daß, wenn man anfing in ihrer Gegenwart über irgend etwas zu reden, man ihre störend eingeschobenen Fragen beantworten und ihr von neuem auseinandersetzen mußte, was ihr schon ein paarmal auseinandergesetzt worden war: daß der und der gestorben sei, der und der sich verheiratet habe, was ihr immer wieder entfiel. Aber trotz dieses Wunsches saßen sie wie gewöhnlich im Salon beim Tee um den Samowar herum, und Pierre antwortete auf die Fragen der Gräfin, die für sie selbst keinen Zweck hatten und auch sonst niemand interessierten: daß Fürst Wasili recht gealtert aussehe und Gräfin Marja Alexejewna ihm Grüße und Empfehlungen aufgetragen habe usw.

Ein derartiges Gespräch, das für niemand Interesse hatte, aber sich doch nicht vermeiden ließ, wurde während der ganzen Zeit des Teetrinkens geführt. Um den runden Tisch mit dem Samowar, bei welchem Sonja saß, hatten sich alle erwachsenen Mitglieder der Familie versammelt. Die Kinder, ihre Erzieher und Gouvernanten waren schon mit dem Teetrinken fertig, und ihre Stimmen klangen aus dem anstoßenden Zimmer herüber. Beim Tee saßen alle auf ihren gewohnten Plätzen: Nikolai hatte sich beim Ofen an einem kleinen Tischchen niedergelassen, wohin ihm sein Tee gebracht wurde. Die alte Jagdhündin Milka, eine Tochter der ersten Milka, mit vollständig ergrautem Gesicht, aus dem die großen, schwarzen Augen noch schärfer hervortraten, lag auf einem Stuhl neben ihm. Denisow, dessen krauses Kopfhaar, Schnurrbart und Backenbart schon zur Hälfte grau geworden waren, saß in seinem aufgeknöpften Generalsrock neben Gräfin Marja. Pierre saß zwischen seiner Frau und der alten Gräfin. Er erzählte allerlei Dinge, von denen er wußte, daß sie die alte Dame interessieren konnten und ihr verständlich waren. Er sprach von äußerlichen Ereignissen in der Gesellschaft und von Leuten, die ehemals den Kreis der Altersgenossen der alten Gräfin gebildet hatten, Leute, die ehemals ein wirklicher, lebendiger, besonderer Kreis gewesen waren, die aber jetzt, größtenteils in der Welt zerstreut, ebenso wie die alte Gräfin, ihren Lebensrest mit einer Ährenlese von dem, was sie im Leben gesät hatten, hinbrachten. Aber gerade diese Leute, ihre Altersgenossen, und nur sie, erschienen der alten Gräfin als die wahre und wirkliche Welt. An Pierres Lebhaftigkeit merkte Natascha, daß seine Reise interessant gewesen war und er Lust hatte, viel zu erzählen, aber in Gegenwart der Gräfin nicht zu reden wagte. Denisow, der kein Mitglied der Familie war und darum für Pierres Vorsicht kein Verständnis besaß, außerdem aber, als Mißvergnügter, sich sehr für die Vorgänge in Petersburg interessierte, suchte Pierre fortwährend zu allerlei Mitteilungen zu veranlassen, bald über die Geschichte mit dem Semjonower Regiment, die sich soeben zugetragen hatte, bald über Araktschejew, bald über die Bibelgesellschaft. Manchmal ließ sich Pierre hinreißen und begann zu erzählen; aber jedesmal lenkten Nikolai und Natascha ihn wieder zurück zu Berichten über das Befinden des Fürsten Iwan und der Gräfin Marja Antonowna.

»Na, wie steht es denn? Dauert denn dieser ganze Unfug mit Goßner und der Frau Tatarinowa immer noch fort?« fragte Denisow.

»Ob er noch fortdauert?« rief Pierre. »Er steht in vollerer Blüte als jemals. Die Bibelgesellschaft hat jetzt die ganze Regierungsgewalt in Händen!«

»Was soll das heißen, lieber Freund?« fragte die Gräfin, die mit ihrem Tee fertig war und nun augenscheinlich einen Anlaß suchte, um sich nach dem Imbiß ein wenig zu ärgern. »Was sagst du da: die Regierungsgewalt? Das verstehe ich nicht.«

»Ja, wissen Sie, Mama«, mischte sich Nikolai hinein, welcher wußte, wie man so etwas in die Sprache der Mutter übersetzen mußte, »da hat Fürst Alexander Nikolajewitsch Golizyn eine Gesellschaft gegründet und besitzt dadurch einen großen Einfluß, wie man sagt.«

»Araktschejew und Golizyn«, sagte Pierre unvorsichtig, »die stellen jetzt die ganze Regierung dar. Eine nette Regierung! Überall sieht sie Verschwörung, vor allem und jedem hat sie Furcht.«

»Wie? Dem Fürsten Alexander Nikolajewitsch soll etwas vorzuwerfen sein? Das ist ein höchst achtungswerter Mann. Ich bin ihm damals bei Marja Antonowna begegnet«, sagte die Gräfin in einem Ton, als ob sie sich beleidigt fühlte; und noch mehr beleidigt dadurch, daß alle schwiegen, fuhr sie fort: »Heutzutage ist es Mode geworden, einen jeden zu kritisieren. Eine christliche Gesellschaft, was ist daran Schlechtes?« Damit stand sie auf (alle andern erhoben sich gleichfalls) und schritt mit strenger Miene in das Sofazimmer zu ihrem Tisch.

In das peinliche Schweigen, das hierauf eingetreten war, tönten aus dem Nachbarzimmer das Gelächter und die munteren Reden der Kinder herein. Offenbar befanden sich die Kinder in einer besonderen freudigen Erregung.

»Fertig, fertig!« hörte man aus allen Stimmen heraus das lustige Kreischen der kleinen Natascha.

Pierre wechselte mit Gräfin Marja und Nikolai einen Blick (seine Frau sah er fortwährend an) und lächelte glückselig.

»Das ist eine prächtige Musik!« sagte er.

»Da wird wohl Anna Makarowna mit einem Strumpf fertiggeworden sein«, bemerkte Gräfin Marja.

»Ach, da geh ich hin und seh zu«, rief Pierre, indem er aufsprang. »Weißt du«, sagte er, an der Tür stehenbleibend, zu seiner Frau, »warum ich diese Musik so besonders gern habe? Das ist das erste, woraus ich ersehe, daß alles gut steht. Da kam ich also heute an, und je näher ich dem Haus kam, um so größer wurde meine Beklommenheit. Als ich in das Vorzimmer kam, hörte ich, wie der kleine Andrei über irgend etwas aus vollem Hals lachte; na also, da wußte ich, daß alles in Ordnung war …«

»Ich kenne dieses Gefühl, ich kenne es«, bestätigte Nikolai. »Aber ich für meine Person darf nicht hineingehen; denn die Strümpfe werden ja ein Geschenk, mit dem ich überrascht werden soll.«

Pierre ging zu den Kindern, und das Lachen und Schreien wurde noch stärker.

»Nun, Anna Makarowna«, hörte man Pierre sagen, »stellen Sie sich hier in die Mitte, und dann werde ich kommandieren: eins, zwei, und wenn ich sage: drei … Du, stell du dich hierher! Warte, du kriegst auf die Hände! Nun, eins, zwei …«, rief Pierre; es war ganz still geworden. »Drei!« Und ein entzücktes Durcheinanderschreien der Kinderstimmen erhob sich in dem Zimmer. »Zwei, zwei Strümpfe!« riefen die Kinder.

Die Kinderfrau Anna Makarowna pflegte nach einer ihr bekannten geheimen Methode immer zwei Strümpfe zugleich zu stricken und, wenn sie fertig waren, in Gegenwart der Kinder einen aus dem andern herauszuziehen.

XIV


Bald darauf kamen die Kinder, um gute Nacht zu sagen. Nachdem die Kinder jedem einen Kuß gegeben, die Erzieher und Gouvernanten sich verbeugt hatten, verließen sie das Zimmer. Nur Dessalles und sein Zögling blieben zurück. Der Erzieher forderte seinen Zögling flüsternd auf, mit nach unten zu kommen.

»Nein, Monsieur Dessalles, ich möchte meine Tante um die Erlaubnis bitten, noch bleiben zu dürfen«, antwortete Nikolenka Bolkonski, gleichfalls flüsternd.

»Liebe Tante«, sagte der Knabe, indem er zu Gräfin Marja hintrat, »erlauben Sie mir, noch hierzubleiben.«

Auf seinem Gesicht lag der Ausdruck inständiger Bitte und schwärmerischer Erregung. Gräfin Maria sah ihn an und wandte sich zu Pierre.

»Wenn Sie hier sind, kann er sich immer gar nicht losreißen«, sagte sie zu ihm.

»Ich werde ihn Ihnen sogleich nach unten bringen, Monsieur Dessalles. Gute Nacht!« sagte Pierre, reichte dem Schweizer die Hand und wandte sich lächelnd an den Knaben: »Wir beide haben einander noch gar nicht recht gesehen. Marja, wie ähnlich er wird«, fügte er, zu Gräfin Marja gewendet, hinzu.

»Dem Vater?« fragte der Knabe, der dunkelrot geworden war und Pierre von unten herauf mit begeisterten, glänzenden Augen anblickte.

Pierre nickte ihm zu und fuhr in der Erzählung fort, die die Kinder vorhin unterbrochen hatten. Gräfin Marja arbeitete an einer Kanevasstickerei; Natascha blickte ihren Mann an, ohne ein Auge von ihm abzuwenden. Nikolai und Denisow standen auf, forderten Pfeifen, rauchten, ließen sich Tee von Sonja geben, die demütig und geduldig beim Samowar saß, und fragten Pierre aus. Der lockige, kränkliche Knabe mit seinen glänzenden Augen saß, von niemand beachtet, in einem Winkel; er wandte seinen lockigen Kopf auf dem schlanken Hals, der aus dem zurückgeschlagenen Hemdkragen hervorkam, nach der Seite hin, wo Pierre saß, zuckte mitunter zusammen und flüsterte etwas vor sich hin: offenbar befand er sich in dem Bann einer neuen, starken Empfindung.

Das Gespräch drehte sich um jenen Klatsch über die derzeitigen höchsten Persönlichkeiten der Regierung, in welchem die meisten Menschen das wichtigste Interesse der inneren Politik sehen. Denisow, der wegen des Mißerfolges in seiner dienstlichen Laufbahn mit der Regierung unzufrieden war, hörte mit Vergnügen von all den Dummheiten, die seiner Meinung nach jetzt in Petersburg begangen wurden, und machte zu Pierres Mitteilungen in starken, scharfen Ausdrücken seine Bemerkungen.

»Früher mußte man ein Deutscher sein, jetzt muß man mit Frau Tatarinowa und mit Frau Krüdener tanzen und Eckartshausen und die Bruderschaft lesen! Oh! Am liebsten würde ich unsern schneidigen Bonaparte wieder loslassen; dann sollten ihnen wohl alle diese Dummheiten vergehen. Na, das ist denn doch unerhört, daß dem Gemeinen Schwarz das Semjonower Regiment gegeben wird!« rief er.

Nikolai war zwar frei von Denisows Neigung, alles schlecht zu finden, hielt es aber gleichfalls für ein sehr verdienstvolles, wichtiges Werk, die Regierung zu kritisieren, und war der Ansicht, die Ernennung des Herrn A. zum Minister des und des Ressorts und die Entsendung des Herrn B. als Generalgouverneur da und dahin und die und die Äußerung des Kaisers und die und die Erklärung des Ministers, das seien alles sehr wichtige Dinge. Und er hielt es für erforderlich, sein Interesse dafür an den Tag zu legen, und befragte Pierre über all dergleichen. Und infolge der Fragen, die Nikolai und Denisow stellten, kam das Gespräch aus dem Geleise des gewöhnlichen Klatsches über die höchsten Regierungskreise nicht heraus.

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