Nikolai saß ziemlich weit von Sonja neben Julja Karagina und unterhielt sich wieder mit ihr über irgend etwas mit demselben unwillkürlichen Lächeln. Sonja lächelte um der Etikette willen, wurde aber offenbar von arger Eifersucht gequält: sie wurde bald blaß, bald rot und strengte ihr Gehör aufs äußerste an, um etwas von dem aufzufangen, was Nikolai und Julja miteinander sprachen. Die Gouvernante blickte unruhig um sich, als ob sie sich zur Gegenwehr bereitmachte, falls jemand sich beikommen ließe, den Kindern etwas zuleide zu tun. Der deutsche Hauslehrer gab sich Mühe, die Namen der einzelnen Gerichte und Weine sowie der verschiedenen Arten von Dessert seinem Gedächtnis einzuprägen, um seinen Angehörigen in Deutschland brieflich alles recht genau schildern zu können, und fühlte sich sehr beleidigt, daß der Haushofmeister mit einer Flasche in der Serviette an ihm vorbeiging. Der Deutsche zog ein finsteres Gesicht und suchte durch seine Miene anzudeuten, es habe ihm eigentlich gar nichts daran gelegen, von diesem Wein zu bekommen; aber es war ihm ärgerlich, bei niemand ein Verständnis für seine Versicherung zu finden, daß er Wein überhaupt nicht trinke, um den Durst zu stillen, nicht aus Gierigkeit, sondern aus reiner Wißbegierde.
XIX
An demjenigen Ende des Tisches, wo die Herren saßen, wurde das Gespräch immer lebhafter. Der Oberst erzählte, daß das Manifest über die Kriegserklärung in Petersburg bereits erschienen und ein Exemplar, welches er selbst gesehen habe, heute durch einen Kurier dem Oberkommandierenden von Moskau zugestellt worden sei.
»Wozu plagt uns denn der Teufel, mit Bonaparte Krieg zu führen?« sagte Schinschin. »Er hat den Österreichern schon ihren Dünkel benommen, und ich fürchte, jetzt kommen wir an die Reihe.«
Der Oberst war ein großgewachsener, stämmiger, vollblütiger Deutscher, offenbar mit Leib und Seele Soldat und ein guter Patriot. Er fühlte sich durch Schinschins Worte verletzt.
»Warum wir das tun, mein Herr?« sagte er; man hörte seiner Aussprache des Russischen den Deutschen an. »Ganz einfach, weil unser Kaiser es will. Er hat in dem Manifest gesagt, er könne der Gefahr gegenüber, welche Rußland bedrohe, nicht gleichgültig bleiben, und durch die Rücksicht auf die Sicherheit und Würde des Reiches und auf die Heiligkeit der Bündnisse …« (er legte auf das Wort Bündnisse einen ganz besonderen Nachdruck, als ob darin der eigentliche Kern der Sache läge. Und mit seinem unfehlbaren Gedächtnis in Dienstsachen zitierte er den einleitenden Satz des Manifests weiter) »sowie durch den das einzige und unverrückbare Ziel Seiner Majestät des Kaisers bildenden Wunsch, den Frieden Europas auf feste Fundamente zu gründen, sehe er sich heute veranlaßt, einen Teil seiner Kriegsmacht über die Grenze rücken zu lassen und neue Anstrengungen zur Erreichung dieser seiner Absicht zu machen. Sehen Sie: darum, mein Herr!« schloß er, goß zu größerer Bekräftigung ein Glas Wein hinunter und blickte den Grafen an, um diesen zu einer Beifallskundgebung zu veranlassen.
»Kennen Sie das Sprichwort: ›Bleib zu Hause, dann passiert dir nichts‹?« erwiderte Schinschin, indem er die Stirn runzelte und zugleich lächelte. »Das paßt auf uns ganz ausgezeichnet. Ich denke da an Suworow: auch dem ist es schließlich schlimm genug gegangen, und wo haben wir jetzt Heerführer, wie er einer war, frage ich Sie?« sagte er, indem er unaufhörlich vom Russischen ins Französische und vom Französischen wieder ins Russische übersprang.
»Wir müssen kämpfen bis zum letzten Blutstropfen«, erwiderte der Oberst, kräftig auf den Tisch schlagend, »und ster-r-rben für unsern Kaiser; dann wird alles gut werden. Und mit unserm eigenen Kopf urteilen, sollen wir mö-ö-öglichst wenig«, er zog das Wort möglichst unnatürlich in die Länge und wandte sich beim Ende dieses Satzes wieder zum Grafen hin. »So denken wir alten Husaren, und damit basta! Und wie denken Sie darüber, Sie junger Mann und junger Husar?« fügte er, zu Nikolai gewendet, hinzu, der, sobald er hörte, daß vom Krieg die Rede war, das Gespräch mit seiner Nachbarin abgebrochen hatte und mit leuchtenden Augen den Oberst anschaute und jedes seiner Worte verschlang.
»Ich bin vollständig derselben Ansicht wie Sie«, antwortete Nikolai. Er war blutrot geworden, drehte an seinem Teller und stellte seine vier Gläser mit so grimmiger, entschlossener Miene in andere Ordnung, als ob er schon in diesem Augenblick einer großen Gefahr gegenüberstände. »Nach meiner Anschauung müssen die Russen siegen oder sterben«, sagte er, hatte aber, gleich nachdem er diese Worte gesprochen hatte, ebenso wie die Hörer, die Empfindung, daß dieser Satz unter den vorliegenden Umständen zu schwärmerisch und zu schwülstig und darum nicht recht angebracht war.
»Ganz vortrefflich! Was Sie soeben gesagt haben, ist ganz vortrefflich!« sagte die neben ihm sitzende Julja mit einem Seufzer der Bewunderung. Sonja hatte, während Nikolai sprach, zu zittern angefangen und war bis an die Ohren, hinter den Ohren und bis zum Hals und den Schultern rot geworden. Pierre hatte die Reden des Obersten aufmerksam mitangehört und beifällig mit dem Kopf genickt.
»Vorzüglich gesprochen«, bemerkte er.
»Nun, Sie sind ein echter Husar, junger Mann!« rief der Oberst und schlug wieder auf den Tisch.
»Worüber redet ihr denn da, daß ihr solchen Lärm macht?« erscholl plötzlich vom andern Ende des Tisches her Marja Dmitrijewnas tiefe Stimme. »Warum haust du so auf den Tisch?« wandte sie sich an den Husaren. »Auf wen bist du denn so grimmig? Du meinst wohl, du hättest hier schon die Franzosen vor dir?«
»Ich rede die Wahrheit«, erwiderte der Husar lächelnd.
»Wir reden hier immer nur vom Krieg!« rief der Graf über die ganze Länge des Tisches hin. »Mein Sohn geht ja auch in den Krieg, Marja Dmitrijewna, mein Sohn geht auch hin.«
»Ich habe vier Söhne bei der Armee; aber aufregen tue ich mich darüber dennoch nicht. Es geschieht alles nach Gottes Willen: man kann sterben, wenn man auf dem Ofen liegt, und umgekehrt kann Gott in der Schlacht Erbarmen mit einem haben«, so tönte Marja Dmitrijewnas kräftige Stimme ohne jede Anstrengung vom andern Ende des Tisches herüber.
»So ist es!«
Und dann bildeten sich in der Unterhaltung wieder zwei geschlossene Kreise; die Damen redeten unter sich an dem einen Ende des Tisches, die Herren unter sich am andern.
»Du wirst doch nicht fragen«, sagte der kleine Bruder zu Natascha, »du wirst doch nicht fragen.«
»Ich werde doch fragen«, antwortete Natascha.
Ihr Gesicht erglühte plötzlich, und es prägte sich auf ihm eine kühne, heitere Entschlossenheit aus. Sie erhob sich ein wenig, forderte durch einen Blick den ihr gegenübersitzenden Pierre auf, zuzuhören, und wandte sich an ihre Mutter.
»Mama!« tönte ihre kindliche Bruststimme über den ganzen Tisch.
»Was hast du?« fragte die Gräfin erschrocken; aber da sie dann an dem Gesicht der Tochter merkte, daß diese nur einen ausgelassenen Streich vorhatte, so winkte sie ihr streng mit der Hand und machte eine drohende, verbietende Bewegung mit dem Kopf.
Das Gespräch verstummte überall.
»Mama, was gibt es heute als süße Speise?« rief Nataschas helles Stimmchen in noch entschlossenerem, festerem Ton.
Die Gräfin wollte ein finsteres Gesicht machen, aber es gelang ihr nicht. Marja Dmitrijewna drohte der Kleinen mit ihrem dicken Finger.
»Ei, ei, Kosak!« rief sie tadelnd.
Die meisten Gäste wußten nicht recht, wie sie diese Keckheit aufnehmen sollten, und blickten nach den älteren und vornehmeren hin.
»Na, warte du nur!« sagte die Gräfin.
»Mama! Was gibt es als süße Speise?« rief Natascha nun schon ganz kühn und mit lustigem Eigensinn, da sie vorhersah, daß ihre Keckheit gut aufgenommen werden würde.
Sonja und der kleine dicke Peter versteckten ihre Gesichter, weil sie das Lachen nicht unterdrücken konnten.
»Siehst du wohl, ich habe doch gefragt!« flüsterte Natascha ihrem kleinen Bruder und ihrem Gegenüber Pierre zu, auf den sie wieder ihren Blick richtete.
»Es wird wohl Eis geben; aber du wirst nichts davon bekommen«, sagte Marja Dmitrijewna. Natascha sah, daß sie keine Angst zu haben brauchte, und fürchtete sich darum auch vor Marja Dmitrijewna nicht.
»Marja Dmitrijewna! Was für Eis? Sahneeis mag ich nicht!«
»Mohrrübeneis!«
»Nein, was für welches? Marja Dmitrijewna, was für welches?« wiederholte Natascha fast schreiend. »Ich will es wissen!«
Marja Dmitrijewna und die Gräfin fingen an zu lachen, und ihrem Beispiel folgten alle Gäste. Alle lachten nicht über Marja Dmitrijewnas Antwort, sondern über die unbegreifliche Keckheit und Gewandtheit dieses kleinen Mädchens, das so mit Marja Dmitrijewna umzugehen verstand und umzugehen wagte.
Natascha hörte erst dann mit ihren hartnäckigen Fragen auf, als man ihr sagte, es werde Ananaseis geben.
Vor dem Eis wurde Champagner gereicht. Die Musik setzte wieder ein; der Graf und die Gräfin küßten sich, und die Gäste standen auf, gratulierten der Gräfin und stießen über den Tisch weg mit dem Grafen, mit den Kindern und miteinander an. Wieder kamen die Diener herbeigelaufen, die Stühle wurden gerückt, und in derselben Reihenfolge, aber mit röteren Gesichtern, kehrten die Gäste in den Salon und in das Herrenzimmer zurück.
XX
Die Bostontische wurden ausgezogen, die einzelnen Partien fanden sich zusammen, und die Gäste des Grafen verteilten sich in die beiden Salons, das Sofazimmer und die Bibliothek.
Der Graf, dem es recht schwerfiel, sich das gewohnte Schläfchen nach Tisch versagen zu müssen, breitete auf den Spieltischen die Karten fächerartig aus und lachte über alles mögliche. Das junge Volk versammelte sich auf Anregung der Gräfin um das Klavier und die Harfe. Zuerst trug auf allgemeines Bitten Julja auf der Harfe ein Musikstück mit Variationen vor und richtete dann ihrerseits im Verein mit den andern jungen Mädchen an Natascha und Nikolai, die als sehr musikalisch bekannt waren, die Bitte, etwas zu singen. Natascha, an die sie sich mit dieser Aufforderung wie an eine Erwachsene wandten, war offenbar darauf sehr stolz, zugleich aber doch auch ein wenig ängstlich.
»Was wollen wir singen?« fragte sie.
»Den ›Quell‹«, antwortete Nikolai.
»Nun, dann wollen wir gleich anfangen. Boris, kommen Sie hierher, an diesen Platz«, sagte Natascha. »Aber wo ist denn Sonja?« Sie blickte sich nach allen Seiten um, und als sie sah, daß ihre Freundin nicht im Zimmer war, lief sie weg, um sie zu suchen.
Natascha lief zuerst in Sonjas Zimmer und, als sie ihre Freundin dort nicht fand, in das Kinderzimmer; aber auch dort war Sonja nicht. Da sagte sie sich, Sonja würde wohl im Korridor sein, auf dem Schlafkasten. Dieser Schlafkasten auf dem Korridor war der Ort, wo die jüngere weibliche Generation des Rostowschen Hauses immer ihr Leid hintrug. Und wirklich lag Sonja in ihrem leichten rosa Kleid, das dabei arg verdrückt wurde, mit dem Gesicht nach unten auf dem schmutzigen gestreiften Federbett der Kinderfrau auf dem Schlafkasten; die Hände vor das Gesicht haltend, weinte sie unter lautem Schluchzen, und ihre kleinen entblößten Schultern zuckten krampfhaft. Nataschas Gesicht, das heute im ganzen Verlauf ihres Namenstages so lebhaft und heiter gewesen war, veränderte sich plötzlich: ihre Augen wurden starr; dann ging ein Zucken über ihren breiten Hals, und ihre Mundwinkel zogen sich nach unten.
»Sonja! Was hast du denn …? Was fehlt dir? Hu-hu-hu!« Und Natascha machte ihren großen Mund weit auf, wodurch sie ganz häßlich wurde, und heulte los wie ein kleines Kind, ohne selbst einen Grund dazu zu wissen, lediglich weil Sonja weinte. Sonja wollte den Kopf aufheben und ihr antworten; aber sie war dazu nicht imstande und versteckte ihr Gesicht nur noch mehr. Natascha kauerte sich weinend auf dem blauüberzogenen Bett nieder und umarmte ihre Freundin. Sonja nahm nun alle Kraft zusammen, richtete sich ein wenig auf und begann ihre Tränen abzuwischen und zu erzählen.
»Nikolai reist in acht Tagen ab, seine … Order … ist gekommen … er hat es mir selbst gesagt. Trotzdem würde ich nicht weinen; aber du kannst dir gar nicht vorstellen« (sie zeigte der Freundin ein Blatt Papier, das sie in der Hand hielt: es waren die Verse, die Nikolai ihr aufgeschrieben hatte) »… und niemand kann sich vorstellen … was er für eine herrliche Seele hat …«
Und nun fing sie von neuem an darüber zu weinen, daß Nikolai eine so herrliche Seele hatte.
»Bei dir ist alles in bester Ordnung … ich bin nicht neidisch … ich liebe dich und deinen Boris auch«, sagte sie, nachdem sie einigermaßen wieder zu Kräften gekommen war, »er ist ein sehr liebenswürdiger Mensch … für euch gibt es keine Hindernisse. Aber Nikolai ist mein Vetter … da würde es nötig sein … daß der Metropolit selbst … und auch dann geht es nicht. Und dann, wenn es unserer lieben Mama« (Sonja betrachtete die Gräfin als ihre Mutter und nannte sie auch so) »… sie wird sagen, daß ich Nikolais Karriere verderbe, und daß ich kein Herz habe, und daß ich undankbar bin; aber wahrhaftig … bei Gott …« (sie bekreuzte sich), »ich habe Mama so lieb, und euch alle; bloß Wjera ist immer so zu mir … Warum eigentlich? Was habe ich ihr getan? Ich bin euch so dankbar, daß ich mit Freuden alles für euch hingeben möchte; aber ich habe ja nichts …«
Sonja war nicht mehr imstande weiterzusprechen und verbarg wieder ihren Kopf in den Händen und in dem Bett. Natascha begann zwar schon etwas ruhiger zu werden; aber an ihrem Gesicht war deutlich zu sehen, daß sie den Kummer ihrer Freundin in seiner ganzen Größe zu würdigen wußte.
»Sonja«, sagte sie auf einmal, wie wenn sie nun die wahre Ursache der Traurigkeit ihrer Kusine erraten hätte, »gewiß hat Wjera nach dem Diner mit dir gesprochen, ja?«
»Ja, diese Verse hat mir Nikolai selbst aufgeschrieben, und ich hatte mir noch andere abgeschrieben; und Wjera hat sie in meiner Stube auf dem Tisch gefunden und hat gesagt, sie würde es Mama sagen; und dann hat sie noch gesagt, ich wäre undankbar, und Mama würde ihm niemals erlauben, mich zu heiraten, sondern er werde Julja heiraten. Du siehst ja auch, daß er den ganzen Tag über mit ihr zusammen ist … Natascha! Womit habe ich das verdient …?«
Sie begann wieder zu weinen, noch bitterlicher als vorher. Natascha richtete sie in die Höhe, umarmte sie und suchte, unter Tränen lächelnd, sie zu beruhigen.
»Sonja, glaube ihr kein Wort, mein Herzchen, glaube ihr kein Wort. Erinnerst du dich noch, wie wir beide und Nikolai im Sofazimmer über die Sache gesprochen haben? Erinnerst du dich wohl? Es war einmal nach dem Abendessen. Da haben wir ja doch alle drei festgesetzt, wie es werden soll. Wie es im einzelnen war, das weiß ich nicht mehr recht; aber du besinnst dich wohl noch, daß alles wunderschön war und alles ganz leicht ging. Sieh mal, ein Bruder von Onkel Schinschin ist ja doch auch mit seiner Kusine verheiratet, und Nikolai ist ja gar nicht einmal dein richtiger Vetter. Boris sagt auch, es würde gewiß gehen. Weißt du nämlich, ich habe ihm alles gesagt. Und der ist ein so kluger Mensch und ein so guter Mensch«, sagte Natascha. »Und nun weine nur nicht mehr, Sonja, du meine liebe, süße Sonja!« (Sie küßte sie lachend.) »Wjera ist ein Ekel; Gott verzeihe es ihr! Und es wird schon alles gut werden, und sie wird nichts zu Mama sagen. Nikolai wird es ihr selbst sagen, und an Julja hat er überhaupt nie gedacht.«
Sie küßte Sonja auf den Kopf. Sonja richtete sich in die Höhe, und das Kätzchen wurde wieder ganz lebendig, seine Äuglein glänzten, und es war, wie es schien, jeden Augenblick wieder bereit, mit dem Schwänzchen hin und her zu schlagen, auf die weichen Pfötchen zu springen und das Spiel mit dem Wollknäuel von neuem zu beginnen, wie das so in seiner Art lag.
»Meinst du? Wirklich? Glaubst du das wahrhaftig?« sagte sie und brachte schnell ihr Kleid und ihr Haar in Ordnung.
»Wirklich und wahrhaftig!« antwortete Natascha und schob ihrer Freundin eine kleine widerspenstige Haarsträhne unter den Zopf. Und beide brachen in ein helles Gelächter aus.
»Nun komm, wir wollen den ›Quell‹ singen.«
»Ja, komm.«
»Weißt du, dieser dicke Pierre, der mir gegenübersaß, ist so furchtbar komisch«, sagte Natascha auf einmal und blieb stehen. »Ach, ich bin so vergnügt!« Und sie rannte den Korridor entlang.
Sonja schüttelte sich die Federchen vom Kleid, schob sich das Blatt mit den Versen oben beim Hals mit den hervorstehenden Schlüsselbeinen in den Kleiderausschnitt und lief mit leichten, munteren Schritten, das Gesicht freudig gerötet, hinter Natascha her den Korridor entlang nach dem Sofazimmer. Auf die Bitte der Gäste sangen die jungen Leute ein Quartett »Der Quell«, welches allgemeinen Beifall fand; darauf sang Nikolai noch ein anderes Lied, das er neu eingeübt hatte:
»In tiefer Nacht, beim Schein der Sterne,
Bin ich mit Wonne mir bewußt:
Jetzt denket mein in weiter Ferne
Ein edles Herz in treuer Brust;
Jetzt stimmen holde Lippen leise
Ein Lied wohl an zum Harfenklang:
›Komm heim!‹ so tönt die süße Weise,
Mich rufend, ach, so sehnsuchtsbang.
Doch eh’ des Glückes Stunde schlägt,
Hat mich der Tod ins Grab gelegt.«
Er hatte noch nicht die letzten Worte gesungen, als im Saal die Jugend sich schon zum Tanzen anschickte und die Musikanten mit Gepolter auf die Galerie gingen und sich räusperten.
Pierre saß im Salon, wo Schinschin, veranlaßt dadurch, daß Pierre erst vor kurzem aus dem Ausland zurückgekommen war, mit ihm ein für Pierre recht langweiliges Gespräch über Politik führte, an dem sich auch andere beteiligten. Sowie jedoch die Musik zu spielen begann, trat Natascha in den Salon, ging geradewegs auf Pierre zu und sagte lachend und errötend:
»Mama hat mir befohlen, Sie zum Tanz zu bitten.«
»Ich fürchte nur, daß ich Unordnung in die Figuren bringen werde«, erwiderte Pierre. »Aber wenn Sie meine Lehrerin sein wollen …« Damit reichte er dem kleinen, zierlich gebauten Mädchen seinen dicken Arm, den er tief herunterhalten mußte.
Während sich die Paare aufstellten und die Musikanten ihre Instrumente stimmten, setzte sich Pierre mit seiner kleinen Dame hin. Natascha war selig: sie tanzte mit einem Erwachsenen, und noch dazu mit einem, der eben aus dem Ausland zurückgekommen war. Sie saß vor aller Augen da und unterhielt sich mit ihm wie eine erwachsene Dame. In der Hand hatte sie einen Fächer, den ihr eine der tanzenden jungen Damen zum Halten gegeben hatte. Sie nahm eine elegante Pose an, die durchaus den Regeln der feinsten Etikette entsprach (Gott mochte wissen, wo und wann sie das gelernt hatte), gestikulierte mit dem Fächer, lächelte über ihn hinweg und machte mit ihrem Kavalier Konversation.
»Was sagen Sie nur zu der hier? Sehen Sie nur, sehen Sie nur!« sagte die alte Gräfin, die mit ein paar andern Damen durch den Saal ging, und zeigte dabei auf Natascha. Natascha wurde rot und lachte.
»Nun, aber was denn, Mama? Was meinen Sie denn eigentlich? Was ist denn hier so Wunderbares?«
Während die dritte Ecossaise getanzt wurde, wurden in dem Salon, wo Marja Dmitrijewna und der Graf Karten spielten, die Stühle gerückt, und die meisten der vornehmen und älteren Gäste erhoben sich, reckten nach dem langen Sitzen die Glieder, steckten die Brieftaschen und Geldbörsen in die Tasche und begaben sich nach dem Saal, in dem getanzt wurde. Voran gingen Marja Dmitrijewna und der Graf, beide mit vergnügten Gesichtern. Der Graf bot mit scherzhafter Höflichkeit, etwa wie beim Ballett, Marja Dmitrijewna seinen rundgebogenen Arm. Er richtete sich ganz gerade auf; sein Gesicht leuchtete ordentlich von einem eigenartig schlauen, unternehmenden Lächeln, und sowie die letzte Figur der Ecossaise zu Ende getanzt war, klatschte er in die Hände, um sich den Musikanten bemerkbar zu machen, und rief, sich an die erste Violine wendend, zur Galerie hinauf: »Semjon, den Danilo Kupor! Weißt du wohl?«
Dies war des Grafen Lieblingstanz; er hatte ihn getanzt, als er noch ein junger Mann gewesen war. Der Danilo Kupor war eigentlich nur eine einzelne Figur der Anglaise.
»Nein, sehen Sie nur unsern Papa!« rief Natascha durch den ganzen Saal hin; sie hatte ganz vergessen, daß sie mit einem Erwachsenen tanzte, bog ihr Lockenköpfchen bis zu den Knien herunter und brach in ein helles weitschallendes Lachen aus. Und wirklich, alle, die im Saal anwesend waren, blickten mit fröhlichem Lächeln nach dem vergnügten alten Herrn, der da neben seiner Dame, der stattlichen Marja Dmitrijewna, die ihn an Größe überragte, sich gar wunderlich gebärdete. Er krümmte die Arme bogenförmig, schüttelte sie nach dem Takt, reckte die Schultern, stellte die Füße auswärts, stampfte ein wenig mit ihnen und bereitete durch ein Lächeln, das immer glänzender sein rundliches Gesicht überzog, die Zuschauer auf das, was nun kommen sollte, vor. Sowie die heiteren auffordernden Klänge des Danilo Kupor ertönten, die eine große Ähnlichkeit mit der Melodie des lustigen Bauerntanzes Trepak hatten, erschienen auf einmal in allen Saaltüren die lächelnden Gesichter auf der einen Seite des männlichen, auf der andern des weiblichen Hausgesindes, welches herbeigelaufen war, um zu sehen, wie fidel der Herr des Hauses tanzte.
»Nein, unser Väterchen! Wie ein Hirsch!« sagte laut von der einen Tür her die Kinderfrau.
Der Graf tanzte gut und war sich dessen bewußt; seine Dame hingegen konnte nicht gut tanzen und strebte auch gar nicht danach, etwas Besonderes zu leisten. Ihr kolossaler Körper stand gerade, während die mächtigen Arme schlaff herabhingen (ihren Ridikül hatte sie der Gräfin übergeben); es tanzte eigentlich nur ihr ernstes, aber hübsches Gesicht. Was bei dem Grafen in seiner ganzen rundlichen Figur zum Ausdruck kam, sprach sich bei Marja Dmitrijewna nur in dem allmählich immer deutlicher lächelnden Gesicht und in der sich immer mehr in die Höhe hebenden Nase aus. Aber wenn der Graf, der immer mehr in Zug kam, die Zuschauer durch die überraschende Gewandtheit seiner Fußstellungen und die behenden Sprünge seiner geschmeidigen Beine entzückte, so brachte demgegenüber Marja Dmitrijewna trotz des nur sehr geringen Eifers, den sie in den Bewegungen der Schultern oder in der runden Haltung der Arme bei Umdrehungen und beim Aufstampfen bewies, doch einen nicht minderen Eindruck hervor, indem ein jeder bei der Würdigung ihrer Leistungen verdientermaßen ihre Beleibtheit und ihr sonst so ernstes Wesen berücksichtigte. Der Tanz wurde immer lebhafter. Ein den beiden vis-à-vis tanzendes Paar konnte auch nicht für einen Augenblick die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und versuchte es nicht einmal. Das allgemeine Interesse konzentrierte sich auf den Grafen und Marja Dmitrijewna. Natascha zupfte alle in der Nähe Stehenden an den Ärmeln und Kleidern, obgleich diese auch so schon kein Auge von den Tanzenden wandten, und verlangte, sie sollten doch ihr Papachen ansehen. In den kurzen Pausen des Tanzes schöpfte der Graf mit Anstrengung wieder Luft, aber er winkte den Musikanten und rief ihnen zu, sie sollten schneller spielen. Immer schneller und schneller, immer kunstvoller und kunstvoller drehte und schwenkte sich der Graf; bald tanzte er auf den Fußspitzen, bald auf den Hacken um Marja Dmitrijewna herum. Endlich drehte er seine Dame so um, daß sie wieder auf ihren ursprünglichen Platz zu stehen kam, und führte den letzten Pas aus, indem er sein geschmeidiges Bein nach hinten in die Höhe hob, den von Schweiß bedeckten Kopf mit dem lächelnden Gesicht tief hinabbeugte und mit dem rechten Arm eine große runde Bewegung machte – unter lautschallendem Händeklatschen und Lachen der Zuschauer, wobei sich Natascha besonders hervortat. Die beiden Tanzenden standen still, rangen mühsam nach Atem und trockneten sich mit ihren Batisttüchern das Gesicht.
»Ja, ja, so tanzte man zu unserer Zeit, meine Teuerste!« sagte der Graf.
»Ein famoser Tanz, dieser Danilo Kupor!« erwiderte Marja Dmitrijewna, indem sie schwer und langsam aus- und einatmete, und streifte sich die Ärmel in die Höhe.
XXI
Während im Sall bei Rostows nach den Klängen der vor Ermattung falsch spielenden Musikanten die sechste Anglaise getanzt wurde und die müden Diener und Köche das Abendessen herrichteten, erlitt Graf Besuchow einen sechsten Schlaganfall. Die Ärzte erklärten, es bestände keine Hoffnung auf Genesung mehr. Dem Kranken wurde die Beichte in der Weise abgenommen, daß er dem Geistlichen nur durch Zeichen antwortete, und darauf das Abendmahl gereicht; dann traf man die nötigen Vorbereitungen zur Letzten Ölung, und es herrschte im Haus ein geschäftiges Treiben und eine erwartungsvolle Unruhe, wie sie eben in solchen Augenblicken das Gewöhnliche sind. Außerhalb des Hauses, vor dem Torweg, drängten sich, vor den heranrollenden Equipagen sich verbergend, die Sargmacher, welche eine gewinnbringende Bestellung für das Begräbnis des reichen Grafen erwarteten. Der Oberkommandierende von Moskau, der sonst immer seine Adjutanten geschickt hatte, um sich nach dem Befinden des Kranken erkundigen zu lassen, kam an diesem Abend persönlich, um von dem berühmten Würdenträger aus der Zeit der Kaiserin Katharina, dem Grafen Besuchow, Abschied zu nehmen.
Das prächtige Wartezimmer war voller Menschen. Alle standen respektvoll auf, als der Oberkommandierende, nachdem er ungefähr eine halbe Stunde allein bei dem Kranken gewesen war, von dort wieder herauskam; er erwiderte die Verbeugungen nur durch ein leises Neigen des Kopfes und bemühte sich, möglichst schnell an den auf ihn gerichteten Blicken der Ärzte, Geistlichen und Verwandten vorbeizukommen. Fürst Wasili, der in diesen Tagen recht blaß und mager geworden war, gab dem Oberkommandierenden das Geleit und sagte einige Male leise etwas zu ihm.
Nachdem er den Oberkommandierenden hinausbegleitet hatte, setzte Fürst Wasili sich im Saal ganz allein auf einen Stuhl, legte das eine Bein hoch über das andere, stützte den Ellbogen auf das Knie und bedeckte die Augen mit der Hand. Nachdem er so eine Zeitlang gesessen hatte, stand er auf und ging mit ungewöhnlich raschen Schritten, sich mit ängstlichen Augen nach allen Seiten umsehend, den langen Korridor hinunter nach den hinteren Zimmern des Hauses, zu der ältesten Prinzessin.
Die Personen, die in dem schwach beleuchteten Wartezimmer anwesend waren, sprachen in ungleichem Flüsterton miteinander, verstummten aber jedesmal und blickten mit fragenden, erwartungsvollen Augen nach der Tür, die in das Zimmer des Sterbenden führte und einen schwachen Ton vernehmen ließ, sooft jemand durch sie herauskam oder hineinging.
»Jedem Menschenleben«, sagte ein bejahrter Geistlicher zu einer Dame, die sich neben ihn gesetzt hatte und ihm kindlich-gläubig zuhörte, »jedem Menschenleben ist seine Grenze gesetzt, die man nicht überschreiten kann.«
»Hoffentlich ist es noch nicht zu spät, um ihm die Letzte Ölung zu geben?« fragte die Dame mit Hinzufügung des geistlichen Titels des Angeredeten, als ob sie darüber keine eigene Meinung hätte.
»Das Sakrament, meine Liebe, ist etwas Hohes und Großes«, erwiderte der Geistliche und strich sich mit der Hand über die Glatze, auf der einige zurückgekämmte, halbergraute Haarsträhnen lagen.
»Wer war denn das? War das nicht der Oberkommandierende selbst?« wurde am andern Ende des Zimmers gefragt. »Was er für ein jugendliches Aussehen hat!«
»Und dabei ist er doch schon in den Sechzigern. Ob das wahr ist: es heißt, daß der Graf niemand mehr erkennt? Man wollte ihm schon die Letzte Ölung geben.«
»Ich habe einen gekannt, der siebenmal die Letzte Ölung erhalten hat.«
Die zweite Prinzessin kam mit verweinten Augen aus dem Zimmer des Kranken und setzte sich neben den Doktor Lorrain, der in einer graziösen Pose, mit dem Ellbogen auf den Tisch gestützt, unter dem Porträt der Kaiserin Katharina saß.
»Sehr gut«, antwortete der Arzt auf die Frage, wie ihm das Moskauer Wetter gefalle. »Es ist ein vorzügliches Wetter, ein ganz vorzügliches Wetter, Prinzessin, und dazu kommt noch, daß man hier in Moskau die Empfindung hat, man wäre auf dem Land.«
»Nicht wahr?« sagte die Prinzessin mit einem Seufzer. »Darf er jetzt trinken?«
Doktor Lorrain überlegte.
»Hat er die Medizin eingenommen?«
»Ja.«
Der Arzt sah nach seiner Breguetschen Uhr.
»Nehmen Sie ein Glas abgekochtes Wasser, und tun Sie eine Prise« (er zeigte mit seinen schlanken Fingern, was das Wort Prise bedeutete) »Cremor tartari hinein.«
»Es ist mir noch nie ein Fall vorgekommen«, sagte der deutsche Arzt in sehr mangelhaftem Russisch zu einem Adjutanten, »daß jemand nach dem dritten Schlaganfall am Leben geblieben wäre.«
»Er ist aber auch ein außerordentlich lebenskräftiger Mann gewesen«, erwiderte der Adjutant. »Wem wird nun dieser Reichtum zufallen?« fügte er flüsternd hinzu.
»Dazu wird sich schon ein Liebhaber finden«, antwortete der Deutsche lächelnd.
Alle blickten wieder nach der Tür, die ihren knarrenden Ton hören ließ: die zweite Prinzessin, welche das von Doktor Lorrain verordnete Getränk bereitet hatte, trug es dem Kranken hin. Der deutsche Arzt trat zu Doktor Lorrain.
»Vielleicht zieht es sich doch noch bis morgen vormittag hin?« fragte der Deutsche auf französisch, aber mit schlechter Aussprache.
Doktor Lorrain zog die Lippen in den Mund und bewegte mit strenger Miene den Zeigefinger vor seiner Nase hin und her.
»Heute nacht, nicht später!« sagte er leise mit einem wohlanständigen Lächeln der Selbstzufriedenheit darüber, daß er den Zustand des Kranken so klar erkenne und sich mit solcher Bestimmtheit darüber äußern könne. Darauf verließ er das Zimmer.
Inzwischen öffnete Fürst Wasili die Tür, welche in das Zimmer der ältesten Prinzessin führte.
In dem Zimmer war es halbdunkel; es brannten nur zwei Lämpchen vor den Heiligenbildern, und es roch schön nach Räucherpapier und Blumen. Das ganze Zimmer war mit kleinen Möbelstücken vollgestellt: Chiffonnieren, Schränkchen und Tischchen. Hinter einem Bettschirm waren die weißen Decken eines hohen Federbettes sichtbar. Ein Hündchen fing an zu bellen.
»Ah, Sie sind es, Kusin!«
Sie stand auf und strich sich über das Haar, das bei ihr immer, auch jetzt, so außerordentlich glatt anlag, als wäre es mit dem Kopf aus einem Stück gemacht und dann überlackiert.
»Nun, ist etwas vorgefallen?« fragte sie. »Ich habe einen solchen Schreck bekommen.«
»Nein, es ist nichts geschehen; der Zustand bleibt unverändert. Ich bin nur hergekommen, Catiche1, um mit dir über die vorliegende wichtige Angelegenheit zu sprechen«, sagte der Fürst und ließ sich müde auf den Lehnstuhl nieder, von dem sie aufgestanden war. »Wie warm du ihn gesessen hast«, fuhr er fort. »Nun, setze dich hin und laß uns miteinander reden.«
»Ich glaubte schon, es wäre etwas vorgefallen«, sagte die Prinzessin, setzte sich mit ihrer unveränderlichen Miene steinernen Ernstes dem Fürsten gegenüber und schickte sich an zu hören. »Ich hatte schlafen wollen, Kusin, aber ich bin nicht dazu imstande.«
»Nun, wie steht’s, meine Liebe?« sagte Fürst Wasili, ergriff die Hand der Prinzessin und zog sie, wie er sich das nun einmal angewöhnt hatte, nach unten.
Es war klar, daß sich dieses »Wie steht es?« auf mancherlei Dinge bezog, von denen sie beide auch ohne nähere Bezeichnung wußten, daß sie gemeint waren.
Die Prinzessin mit ihrer im Verhältnis zu den Beinen unförmlich langen, hageren, geraden Taille blickte mit ihren vorstehenden grauen Augen den Fürsten offen und ohne Aufregung an. Sie wiegte den Kopf hin und her und schaute mit einem Seufzer nach den Heiligenbildern hin. Man konnte ihre Gebärde sowohl als Ausdruck des Leidens und der Ergebung als auch als Ausdruck der Müdigkeit und der Sehnsucht nach baldiger Erholung auffassen. Fürst Wasili nahm diese Gebärde nur als Ausdruck der Müdigkeit.
»Meinst du etwa, daß ich es leichter habe?« sagte er. »Ich bin abgehetzt wie ein Postpferd; aber ich muß doch mit dir sprechen, Catiche, und zwar sehr ernsthaft.«
Fürst Wasili schwieg; seine Wangen fingen nervös zu zucken an, bald auf der einen, bald auf der andern Seite, und verliehen seinem Gesicht einen unangenehmen Ausdruck, den es sonst niemals trug, wenn er in einem Salon war. Auch seine Augen sahen anders aus als gewöhnlich: bald blickten sie dreist und spöttisch, bald scheu und ängstlich umher.
Die Prinzessin, die mit ihren dürren, mageren Händen das Hündchen auf dem Schoß festhielt, blickte dem Fürsten Wasili aufmerksam in die Augen; aber es war klar, daß sie das Schweigen nicht durch eine Frage unterbrechen würde, und wenn sie bis zum Morgen schweigen müßte.
»Also siehst du, meine liebe Prinzessin und Kusine Katerina Semjonowna«, fuhr Fürst Wasili fort, der sich offenbar nicht ohne einen inneren Kampf dazu entschloß, seine angefangene Rede wiederaufzunehmen, »in solchen Momenten, wie die jetzigen, muß man alles erwägen. Wir müssen an die Zukunft denken, an euch denken. Ich liebe euch alle wie meine eigenen Kinder, das weißt du.«
Die Prinzessin blickte ihn ebenso trübe und starr an wie vorher.
»Schließlich muß ich doch auch an meine Familie denken«, redete Fürst Wasili, ohne die Prinzessin anzusehen, weiter und stieß ingrimmig ein neben ihm stehendes Tischchen von sich weg. »Du weißt, Catiche, daß ihr drei Schwestern Mamontow und dazu noch meine Frau, daß ihr vier die einzigen rechtmäßigen Erben des Grafen seid. Ich weiß, ich weiß, wie schwer es dir wird, von derartigen Dingen zu reden oder auch nur daran zu denken. Und mir wird das wahrlich nicht leichter. Aber, meine Beste, ich bin ein hoher Fünfziger; da muß man auf alles gefaßt sein. Weißt du wohl, daß ich Pierre habe rufen lassen müssen, weil der Graf geradezu auf sein Bild gezeigt und verlangt hat, er solle zu ihm kommen?«
Fürst Wasili blickte die Prinzessin fragend an, konnte aber nicht ins klare darüber kommen, ob sie über das, was er ihr gesagt hatte, nachdachte oder ihn, ohne etwas zu denken, ansah.
»Ich bitte Gott unablässig nur um das eine, Kusin«, antwortete sie, »daß er sich seiner erbarmen und seine herrliche Seele ruhig aus dieser Zeitlichkeit hinscheiden lassen wolle …«
»Jawohl, ganz gewiß«, fuhr Fürst Wasili ungeduldig fort, indem er sich die Glatze rieb und ärgerlich das vorhin weggestoßene Tischchen wieder zu sich heranzog. »Aber schließlich … es handelt sich schließlich darum … du weißt ja selbst, daß der Graf im vorigen Winter ein Testament abgefaßt hat, in dem er mit Übergehung der rechtmäßigen Erben, die wir doch sind, sein ganzes Vermögen diesem Pierre vermacht.«
»Er hat ja eine ganze Menge Testamente gemacht!« antwortete die Prinzessin mit aller Seelenruhe. »Aber Pierre konnte er nichts vermachen; Pierre stammt nicht aus einer richtigen Ehe.«
»Meine Liebe«, sagte Fürst Wasili und drückte das Tischchen fest an sich; er wurde lebhafter und begann schneller zu sprechen, »wie aber, wenn der Graf eine Eingabe an den Kaiser abgefaßt hat und ihn bittet, Pierre zu legitimieren? Du kannst dir wohl denken, daß mit Rücksicht auf die Verdienste des Grafen diese Bitte Beachtung finden würde …«
Die Prinzessin lächelte wie jemand, der überzeugt ist, eine Sache besser zu verstehen als der, mit dem er redet.
»Ich will dir noch mehr sagen«, fuhr Fürst Wasili fort und ergriff sie bei der Hand. »Geschrieben ist die Eingabe, aber nicht abgeschickt, und der Kaiser hat von ihr erfahren. Die Frage ist nur, ob diese Eingabe wieder vernichtet worden ist oder nicht. Wenn nicht, so wird, sobald alles zu Ende ist« (hier seufzte Fürst Wasili und gab dadurch zu verstehen, was er mit den Worten »sobald alles zu Ende ist« meinte) »und die Papiere des Grafen untersucht worden sind, das Testament mit der Eingabe dem Kaiser zugestellt werden, und das Gesuch des Grafen wird dann unfehlbar erfüllt. Dann erhält Pierre als legitimer Sohn das ganze Vermögen.«
»Aber kann ihm denn unser Anteil zufallen?« fragte die Prinzessin ironisch lächelnd, als ob alles andere passieren könne, nur das nicht.
»Aber, liebe Catiche, das ist doch alles sonnenklar. Er allein ist dann der legitime Erbe der ganzen Hinterlassenschaft, und ihr bekommt auch nicht so viel! Du wirst ja wissen, meine Liebe, ob das Testament und die Eingabe nach ihrer Abfassung wieder vernichtet sind. Und wenn sie aus irgendeinem Grund in Vergessenheit geraten sein sollten, so wirst du ja wissen, wo sie sich befinden, und mußt sie heraussuchen, da …«
»Das sollte mir fehlen!« unterbrach ihn die Prinzessin spöttisch lächelnd, ohne daß sich der Ausdruck ihrer Augen geändert hätte. »Ich bin eine Frau, und ihr Männer glaubt ja, daß wir Frauen alle dumm sind; aber so viel weiß ich denn doch, daß ein unnatürlicher Sohn nicht erben kann … Un bâtard!« fügte sie hinzu, in dem Glauben, durch diese Übersetzung dem Fürsten die Unrichtigkeit seiner Anschauung zwingend zu beweisen.
»Aber wie ist es nur möglich, Catiche, daß du das nicht verstehst! Du bist doch so klug; du mußt das doch begreifen: wenn der Graf eine Eingabe an den Kaiser geschrieben hat, in der er ihn bittet, seinen Sohn als legitim anzuerkennen, dann wird infolgedessen Pierre nicht mehr Pierre, sondern Graf Besuchow sein und erbt dann aufgrund des Testaments das ganze Vermögen. Wenn nun das Testament und die Eingabe nicht vernichtet sind, so bleibt dir außer dem tröstlichen Bewußtsein, an dem Grafen ein gutes Werk getan zu haben, und andern schönen Dingen von gleichem Wert nichts, aber auch rein gar nichts. Das ist völlig sicher.«
»Ich weiß, daß das Testament abgefaßt ist; aber ich weiß auch, daß es ungültig ist; Sie scheinen mich ja für eine vollständige Idiotin zu halten, Kusin«, sagte die Prinzessin mit der Miene, mit welcher Frauen zu sprechen pflegen, wenn sie etwas recht Scharfsinniges und Kränkendes zu sagen glauben.
»Meine liebe Prinzessin Katerina Semjonowna!« begann Fürst Wasili ungeduldig von neuem. »Ich bin nicht zu dir gekommen, um mich mit dir herumzustreiten, sondern um mit dir als meiner Verwandten, einer guten, trefflichen, echten Verwandten, über deine eigenen Interessen zu sprechen. Ich sage dir zum zehntenmal: wenn die Eingabe an den Kaiser und das zu Pierres Gunsten abgefaßte Testament in den Papieren des Grafen vorhanden sind, so erbst du, meine Beste, mit deinen Schwestern gar nichts. Wenn du mir nicht glaubst, so glaube sachverständigen Männern: ich habe soeben mit Dmitri Onufriitsch« (dies war der Advokat des Hauses) »gesprochen; er hat genau dasselbe gesagt.«
Offenbar ging jetzt plötzlich irgendeine Veränderung in dem Denkapparat der Prinzessin vor. Ihre schmalen Lippen wurden blaß (die Augen dagegen blieben wie sie gewesen waren), und als sie zum Sprechen ansetzte, klang ihre Stimme so rauh und zornig, wie sie es anscheinend selbst nicht erwartet hatte.
»Das wäre ja noch schöner!« rief sie. »Ich habe nichts für mich gewollt und will nichts für mich.« Sie warf das Hündchen vom Schoß herunter und strich sich den Rock ihres Kleides glatt. »Das ist also sein Dank und seine Erkenntlichkeit Leuten gegenüber, die für ihn alles geopfert haben! Vortrefflich! Sehr schön! Ich verlange für mich nichts, Fürst!«
»Gewiß, aber du bist nicht allein, du hast Schwestern«, antwortete Fürst Wasili. Aber die Prinzessin hörte nicht auf ihn.
»Ich habe es schon längst gewußt, aber ich hatte es wieder vergessen, daß ich in diesem Haus nichts anderes als Gemeinheit, Betrug, Neid, Intrigen und Undank, schwärzesten Undank zu erwarten hatte …«
»Weißt du oder weißt du nicht, wo sich dieses Testament befindet?« fragte Fürst Wasili mit noch stärkerem Zucken der Wangen als vorher.
»Ja, ich bin dumm gewesen; ich glaubte noch an Menschen und liebte sie und opferte mich für sie auf. Aber Erfolg haben in der Welt nur diejenigen, die schändlich und nichtswürdig sind. Ich weiß, wessen Intrigen dahinterstecken.«
Die Prinzessin wollte aufstehen, aber der Fürst hielt sie an der Hand zurück. Die Prinzessin hatte das Aussehen eines Menschen, der sieht, daß er sich im ganzen Menschengeschlecht getäuscht hat; voll Ingrimm blickte sie den Fürsten an.
»Es ist noch nichts verloren, meine Beste. Bedenke doch, Catiche, daß er dies alles in der Übereilung getan hat, in einem Augenblick des Zornes, in einem Augenblick körperlicher Zerrüttung; und nachher hat er es vergessen. Unsere Pflicht ist es, meine Liebe, den von ihm begangenen Fehler wiedergutzumachen und ihm seine letzten Augenblicke dadurch zu erleichtern, daß wir ihn nicht bei dieser Ungerechtigkeit verbleiben lassen, daß wir ihn nicht sterben lassen mit dem schrecklichen Bewußtsein, diejenigen unglücklich gemacht zu haben, die …«
»Die alles für ihn zum Opfer gebracht haben«, fiel die Prinzessin ein und wollte wieder aufspringen; jedoch der Fürst hinderte sie daran. »Aber er hat dieses Opfer nie zu schätzen gewußt. Nein, Kusin«, fügte sie mit einem Seufzer hinzu, »nun weiß ich, daß man auf dieser Welt keinen Lohn für gute Taten zu erwarten hat, und daß es auf dieser Welt keine Ehrenhaftigkeit und keine Gerechtigkeit gibt. Auf dieser Welt muß man listig und schlecht sein.«
»Nun, nun, so beruhige dich doch nur; ich weiß ja, was du für ein gutes, edles Herz hast.«
»Nein, ich habe ein böses Herz.«
»Ich kenne dein Herz«, widersprach der Fürst, »und lege hohen Wert auf deine Freundschaft und wünsche lebhaft, daß du gegen mich die gleiche Gesinnung hegen mögest. Beruhige dich und laß uns vernünftig miteinander reden, solange es noch Zeit ist – vielleicht haben wir noch einen Tag lang Zeit, vielleicht auch nur eine Stunde. Teile mir alles mit, was du von dem Testament weißt, und namentlich, wo es sich befindet; du mußt das doch wissen. Wir wollen es dann nehmen und dem Grafen zeigen. Er hat es sicher schon ganz vergessen und wird den Wunsch haben, es zu vernichten. Du wirst mich ja verstehen: mein einziger Wunsch ist, seinen Willen gewissenhaft zu erfüllen; nur deshalb bin ich ja auch hergekommen. Der einzige Zweck meines Hierseins ist ihm und euch zu helfen.«
»Jetzt habe ich alles durchschaut. Ich weiß, wessen Intrigen dahinterstecken; jetzt weiß ich es«, sagte die Prinzessin.
»Darum handelt es sich doch aber nicht, meine Teure!«
»Es ist Ihr Protegé, Ihre liebe Fürstin Anna Michailowna Drubezkaja, ein Frauenzimmer, das ich nicht als Stubenmädchen haben möchte, diese garstige, widerwärtige Person!«
»Wir wollen doch keine Zeit verlieren.«
»Ach, es ist gar nicht zu sagen! Im vorigen Winter hat sie sich hier eingedrängt und dem Grafen so schändliche, abscheuliche Dinge über uns alle gesagt, besonders über Sofja – wiederholen kann ich es gar nicht –, daß der Graf ganz krank wurde und uns zwei Wochen lang nicht sehen wollte. Ich weiß, daß er in dieser Zeit jenes schändliche, unwürdige Schriftstück abgefaßt hat; aber ich habe gedacht, dieses Schriftstück hätte weiter keine Bedeutung.«
»Das ist gerade der Kernpunkt; warum hast du mir denn nicht schon früher davon gesagt?«
»In dem Mosaikportefeuille ist es, das er unter seinem Kopfkissen liegen hat; jetzt weiß ich es«, sagte die Prinzessin, ohne auf die Frage zu antworten. Dann fuhr sie mit ganz verändertem Wesen beinahe schreiend fort: »Ja, wenn eine Sünde, eine große Sünde an mir ist, so ist es der Haß gegen dieses abscheuliche Weib! Warum drängt sie sich hier ein? Aber ich werde ihr schon noch einmal die Wahrheit sagen; das werde ich tun. Es wird schon der richtige Zeitpunkt dafür kommen!«
Fußnoten
1 = Katerina.
Anm. des Übers.
XXII
Während solche Gespräche im Wartezimmer und in dem Zimmer der Prinzessin geführt wurden, fuhr der Wagen mit Pierre, nach welchem geschickt worden war, und mit Anna Michailowna, die für nötig erachtete, mit ihm zu fahren, in den Hof des Besuchowschen Hauses ein. Als die Räder der Equipage weich in dem Stroh raschelten, das unter den Fenstern ausgebreitet war, wandte sich Anna Michailowna mit tröstenden Worten an ihren Begleiter, mußte sich aber überzeugen, daß er in seiner Wagenecke eingeschlafen war, und weckte ihn auf. Wieder zu sich gekommen, stieg Pierre hinter Anna Michailowna aus dem Wagen, und jetzt erst fiel ihm das Wiedersehen mit dem sterbenden Vater wieder ein, das ihn erwartete. Er bemerkte, daß sie nicht bei dem Hauptportal, sondern bei dem hinteren Eingang vorgefahren waren. In dem Augenblick, wo er vom Wagentritt stieg, liefen zwei Männer in Handwerkerkleidung eilig von der Haustür weg und stellten sich in den Schatten der Mauer. Pierre blieb stehen und unterschied rechts und links im Schatten des Hauses noch mehrere Männer von ähnlichem Aussehen. Aber weder Anna Michailowna noch der Diener noch der Kutscher, die diese Männer doch auch gesehen haben mußten, schenkten ihnen irgendwelche Beachtung. Es wird also wohl so in der Ordnung sein, dachte Pierre und ging hinter Anna Michailowna her. Anna Michailowna stieg mit schnellen Schritten die schwach beleuchtete, schmale Steintreppe hinan und forderte auch den etwas zurückbleibenden Pierre zur Eile auf. Pierre begriff zwar nicht, wozu es überhaupt nötig sei, daß er zum Grafen gehe, und noch weniger, warum er die Hintertreppe hinaufgehen mußte; aber angesichts der Energie und Raschheit der Fürstin Anna Michailowna sagte er sich, das werde wohl unumgänglich nötig sein. Auf der Mitte der Treppe wurden sie beinahe von ein paar Dienern mit Eimern umgerannt, die, mit den schweren Stiefeln polternd, ihnen entgegen heruntergelaufen kamen. Die Leute drückten sich an die Wand, um Pierre und Anna Michailowna vorbeizulassen, und zeigten sich bei ihrem Anblick nicht im mindesten verwundert.
»Kommen wir hier zu den Zimmern der Prinzessinnen?« fragte Anna Michailowna einen von ihnen.
»Jawohl«, antwortete der Diener mit dreister, lauter Stimme, als ob er sich jetzt schon alles mögliche erlauben dürfte. »Die Tür links, Mütterchen!«
»Vielleicht hat der Graf mich gar nicht rufen lassen«, sagte Pierre, als er auf den Vorplatz gelangte. »Ich möchte lieber nach meinem eigenen Zimmer gehen.«
Anna Michailowna blieb stehen, um ihn ganz herankommen zu lassen.
»Ach, mein Freund«, sagte sie mit derselben Gebärde wie am Morgen zu ihrem Sohn. »Glauben Sie mir, mein Schmerz ist nicht geringer als der Ihrige; aber seien Sie ein Mann.«
»Soll ich wirklich zu ihm hingehen?« fragte Pierre und blickte Anna Michailowna freundlich durch seine Brille an.
»Vergessen Sie, mein Freund, worin man Ihnen gegenüber nicht recht gehandelt hat; bedenken Sie: er ist Ihr Vater … und vielleicht seinem Ende nahe.« Sie seufzte. »Ich habe Sie sogleich so liebgewonnen wie ich meinen eigenen Sohn liebe. Haben Sie zu mir Vertrauen, Pierre. Ich werde mich Ihrer Interessen eifrig annehmen.«
Pierre verstand von alledem nichts; aber er hatte wieder, und in noch stärkerem Maß, das Gefühl, es müsse wohl alles notwendigerweise so sein, und so ging er denn gehorsam hinter Anna Michailowna her, die bereits die Tür geöffnet hatte.
Diese Tür führte in das zu dem hinteren Korridor gehörige Vorzimmer. In einer Ecke saß der alte Diener der Prinzessinnen und strickte an einem Strumpf. Pierre war noch nie in diesem Teil des Hauses gewesen und hatte von dem Vorhandensein dieser Zimmer überhaupt keine Ahnung gehabt. Anna Michailowna erkundigte sich bei einem Stubenmädchen, das, ein Tablett mit einer Wasserkaraffe in der Hand, sie überholte, nach dem Befinden der Prinzessinnen, wobei sie sie mit »Meine Liebe« und »Täubchen« anredete, und zog Pierre weiter den steinernen Korridor entlang. Aus diesem Korridor führte die erste Tür links in die Wohnzimmer der Prinzessinnen. Das Stubenmädchen mit der Wasserkaraffe hatte in der Eile (wie denn in dieser Zeit alles in diesem Haus in Eile geschah) die Tür nicht zugemacht und Pierre und Anna Michailowna blickten im Vorbeigehen unwillkürlich in das Zimmer hinein, wo die älteste Prinzessin und Fürst Wasili dicht beieinander saßen und angelegentlich zusammen sprachen. Als Fürst Wasili die beiden Vorübergehenden sah, machte er eine Bewegung des Unwillens und lehnte sich nach hinten zurück; die Prinzessin aber sprang auf und warf mit wütender Miene aus Leibeskräften mit lautem Knall die Tür zu.
Dieses Benehmen paßte so wenig zu der sonstigen steten Ruhe der Prinzessin, und die ängstliche Verlegenheit, die sich auf dem Gesicht des Fürsten Wasili malte, stand in einem solchen Widerspruch zu der ihm eigenen vornehmen Würde, daß Pierre stehenblieb und seine Führerin fragend durch die Brille anblickte. Anna Michailowna jedoch zeigte sich ganz und gar nicht erstaunt; sie lächelte nur leise und seufzte, wie um anzudeuten, daß sie das alles erwartet habe.
»Seien Sie ein Mann, mein Freund; ich werde jetzt über Ihre Interessen wachen«, sagte sie als Antwort auf seinen Blick und schritt noch schneller den Korridor entlang.
Pierre verstand nicht, um was es sich handelte, und noch weniger, was es bedeutete, daß Anna Michailowna »über seine Interessen wachen« wollte; aber er meinte wieder im stillen, das müsse eben wohl alles so sein. Auf dem Korridor gelangten sie zu dem halberleuchteten Saal, der an das Wartezimmer des Grafen stieß. Dieser Saal war einer jener kalt aussehenden, luxuriös eingerichteten Räume, die Pierre von dem Hauptportal her kannte. Aber auch dieser Saal bot jetzt einen eigenartigen Anblick: mitten darin stand eine leere Badewanne, und auf dem Teppich war Wasser verschüttet. In der Tür begegneten ihnen, auf den Fußspitzen gehend, ohne sie zu beachten, ein Lakai und ein Kirchendiener mit einem Räucherfaß. Pierre und Anna Michailowna gingen durch den Saal in das dem ersteren wohlbekannte Wartezimmer mit den zwei italienischen Fenstern, einem Ausgang nach dem Wintergarten, einer großen Büste der Kaiserin Katharina und einem Porträt derselben in ganzer Figur. Hier im Wartezimmer saßen noch dieselben Personen wie vorher, fast in derselben Haltung, und flüsterten miteinander. Aber nun verstummten alle plötzlich und blickten nach der eintretenden Anna Michailowna mit ihrem vergrämten, blassen Gesicht hin und nach dem dicken, großen Pierre, der mit gesenktem Kopf ihr gehorsam folgte.
Auf Anna Michailownas Gesicht prägte sich das Bewußtsein aus, daß der entscheidende Augenblick gekommen sei; mit dem Benehmen einer in Dingen des praktischen Lebens gewandten Petersburgerin trat sie, ohne Pierre aus ihrer Nähe wegzulassen, ins Zimmer, noch kühner und mutiger als am Nachmittag. Sie war überzeugt, daß, da sie in Begleitung des jungen Mannes kam, den der Sterbende zu sehen gewünscht hatte, auch sie mit Sicherheit zu ihm gelassen werden würde. Mit einem schnellen Blick musterte sie alle im Zimmer Anwesenden, und als sie unter ihnen den Beichtvater des Grafen bemerkte, trippelte sie (ohne sich eigentlich zu bücken, war ihre Gestalt plötzlich bedeutend kleiner geworden) mit kleinen, eiligen Schritten zu ihm hin und nahm ehrerbietig zuerst seinen Segen, dann den Segen eines andern neben ihm stehenden geistlichen Herrn in Empfang.
»Gott sei Dank«, sagte sie zu dem Beichtvater, »daß Sie noch zur Zeit gekommen sind, hochwürdiger Herr. Wir Verwandten waren alle schon so voll Sorge. Dieser junge Mann hier ist der Sohn des Grafen«, fügte sie leiser hinzu. »Ein schrecklicher Augenblick!«
Nachdem sie das zu dem Geistlichen gesagt hatte, trat sie zu dem Arzt.
»Lieber Doktor«, sagte sie zu ihm, »dieser junge Mann ist der Sohn des Grafen. Ist noch Hoffnung vorhanden?«
Der Arzt zog schweigend mit einer schnellen Bewegung die Schultern in die Höhe und richtete die Augen nach der Zimmerdecke. Anna Michailowna machte mit Schultern und Augen genau das gleiche, wobei sie die Augen fast gänzlich schloß; dann seufzte sie und trat von dem Arzt weg wieder zu Pierre. Sie benahm sich gegen ihn besonders respektvoll und mit einer Art von wehmütiger Zärtlichkeit.
»Vertrauen Sie auf Gottes Barmherzigkeit«, sagte sie. Dann wies sie ihm ein Sofa an, wo er sich hinsetzen und auf sie warten sollte, und ging selbst geräuschlos zu der Tür hin, nach welcher alle hinblickten; nach einem kaum vernehmbaren, leisen Knarren dieser Tür verschwand sie hinter ihr.
Pierre, der sich vorgenommen hatte, seiner Ratgeberin in allen Stücken zu gehorchen, ging nach dem Sofa hin, das sie ihm angewiesen hatte. Sowie Anna Michailowna verschwunden war, bemerkte er, daß die Blicke aller im Zimmer Anwesenden mit einem Interesse auf ihn gerichtet waren, das über die gewöhnliche Neugier und Teilnahme weit hinausging. Er bemerkte, daß alle miteinander flüsterten und dabei mit den Augen zu ihm hindeuteten, mit einer Art von ängstlicher Scheu, die sogar etwas von kriecherischer Unterwürfigkeit an sich hatte. Sie legten einen Respekt vor ihm an den Tag, wie er dem jungen Mann noch nie entgegengebracht worden war. Eine ihm unbekannte Dame, die auf dem Sofa saß und mit dem Geistlichen sprach, stand von ihrem Platz auf und bot ihn ihm an; der Adjutant hob den Handschuh auf, welchen Pierre hatte hinfallen lassen, und reichte ihn ihm; die Ärzte unterbrachen respektvoll ihr Gespräch, als er an ihnen vorbeiging, und traten zur Seite, um ihm Raum zu machen. Pierre wollte sich zuerst auf einen andern Platz setzen, um die Dame nicht zu stören, und wollte seinen Handschuh selbst aufheben und um die Ärzte herumgehen, die ihm eigentlich gar nicht im Weg standen; aber er hatte auf einmal das Gefühl, daß das nicht passend sein würde; er hatte das Gefühl, daß er in dieser Nacht eine Persönlichkeit sei, der es obliege, eine furchtbare, von allen erwartete Zeremonie zu vollziehen, und daß er deshalb die Dienste aller andern Leute anzunehmen habe. Er nahm schweigend den Handschuh von dem Adjutanten entgegen, setzte sich auf den Platz der Dame, wobei er in der wunderlichen Haltung einer ägyptischen Statue seine großen Hände auf die symmetrisch gestellten Knie legte, und verblieb bei der Anschauung, daß dies alles genau so und nicht anders sein müsse, und daß er an diesem Abend, um nicht konfus zu werden und Dummheiten zu machen, nicht nach seinem eigenen Urteil handeln dürfe, sondern sich vollständig dem Willen der Leute, die ihn beraten würden, unterordnen müsse.
Es waren noch nicht zwei Minuten vergangen, als Fürst Wasili in einem langschößigen Rock, mit drei Ordenssternen, in imponierender Haltung, mit hochaufgerichtetem Haupt ins Zimmer trat. Er schien im Laufe dieses Tages magerer geworden zu sein; seine Augen waren größer als sonst, als er sie im Zimmer umherwandern ließ und Pierre anblickte. Er trat zu ihm, ergriff seine Hand (was er früher nie getan hatte) und zog sie nach unten herunter, wie wenn er versuchen wollte, ob sie auch fest säße.
»Verzagen Sie nicht, mein Freund, lassen Sie nicht den Mut sinken. Er hat Sie rufen lassen. Das ist gut …« Damit wollte er weitergehen; aber Pierre hielt es für nötig zu fragen:
»Wie ist denn das Befinden …« Er stockte, weil er nicht wußte, ob es für ihn passend sei, den Sterbenden als den »Grafen« zu bezeichnen; ihn »Vater« zu nennen war ihm peinlich.
»Vor einer halben Stunde hat ihn wieder der Schlag gerührt. Aber verlieren Sie nicht den Mut, mein Freund.«
Pierre befand sich in einem solchen Zustand geistiger Verwirrung, daß ihm bei dem Wort »Schlag« der Gedanke an den Schlag irgendeines Körpers kam. Er sah den Fürsten Wasili verständnislos an und besann sich erst einige Augenblicke nachher, daß »Schlag« der Name einer Krankheit ist. Fürst Wasili sagte noch im Vorbeigehen ein paar Worte zu Doktor Lorrain und ging dann auf den Fußspitzen zur Tür hin. Aber er verstand sich nicht darauf, auf den Fußspitzen zu gehen, und hüpfte bei jedem Schritt unbeholfen mit dem ganzen Körper auf. Hinter ihm her ging die älteste Prinzessin; dann kamen die Geistlichen und die Kirchendiener; auch einige von der Dienerschaft gingen mit hinein. Im Wartezimmer war durch die Tür hindurch zu hören, wie sich die Menschen dort hin und her bewegten, um den richtigen Platz zu finden, und schließlich kam Anna Michailowna eilig heraus; ihr Gesicht zeigte noch dieselbe Blässe wie vorher; aber man sah ihr an, daß sie fest entschlossen war, ihre Pflicht zu erfüllen. Sie berührte Pierres Hand und sagte:
»Gottes Barmherzigkeit ist unerschöpflich. Die Letzte Ölung beginnt soeben. Kommen Sie!«
Pierre ging über den weichen Teppich hin nach der Tür und bemerkte, daß auch der Adjutant und die unbekannte Dame und noch dieser und jener von der Dienerschaft ihm folgten, als ob man jetzt nicht mehr um die Erlaubnis zu bitten brauchte, in dieses Zimmer einzutreten.
XXIII
Pierre kannte dieses sehr geräumige, durch eine Säulenreihe mit einer großen Bogentür in zwei Teile geteilte, ganz mit persischen Teppichen behangene Zimmer recht wohl. Der jenseits der Säulen gelegene Teil des Zimmers, wo auf der einen Seite das hohe Mahagonibett mit seidenen Vorhängen und auf der andern ein gewaltig großer Schrein mit Heiligenbildern stand, war mit rotem Licht hell erleuchtet, wie es in den Kirchen beim Abendgottesdienst gebräuchlich ist. Unterhalb der glänzenden Verzierungen des Heiligenschreins stand ein großer, tiefer Lehnstuhl, mit schneeweißen, unzerdrückten, offenbar soeben erst frisch überzogenen Bettkissen belegt, und auf diesem Lehnstuhl lag, bis zur Mitte des Körpers mit einer hellgrünen Decke zugedeckt, die dem eintretenden Pierre wohlbekannte mächtige Gestalt seines Vaters, des Grafen Besuchow, mit derselben grauen, löwenähnlichen Haarmähne über der breiten Stirn und mit denselben starken Falten, die dem schönen, rötlichgelben Gesicht einen ausgesprochen vornehmen Charakter verliehen. Er lag unmittelbar unter den Heiligenbildern; die beiden dicken, großen Hände hatte man ihm unter der Decke hervorgeholt, und sie lagen nun auf ihr. In die rechte Hand, die mit der Innenseite nach unten dalag, hatte man ihm zwischen den Daumen und den Zeigefinger eine Wachskerze gesteckt, die ein alter Diener, von hinten sich über den Lehnstuhl beugend, in der Hand des Sterbenden festhielt. Neben dem Lehnstuhl standen die Geistlichen in ihren prächtigen, glänzenden Gewändern, auf die am Nacken ihr langes Haupthaar herüberfiel, mit brennenden Kerzen in den Händen, und sprachen mit feierlicher Langsamkeit die vorgeschriebenen Gebete. Ein wenig weiter zurück standen die beiden jüngeren Prinzessinnen, welche Taschentücher in den Händen hielten und an die Augen führten, und vor ihnen die älteste, Catiche, mit ingrimmiger, entschlossener Miene; sie wendete die Augen keinen Augenblick von den Heiligenbildern weg, wie wenn sie allen Anwesenden damit sagen wollte, daß sie nicht für sich einstehe, wenn sie anderswohin sähe. Anna Michailowna, mit dem Ausdruck milder Traurigkeit und alles verzeihender Liebe auf dem Gesicht, und die unbekannte Dame standen bei der Bogentür. Fürst Wasili stand an der andern Seite der Tür, nahe bei dem Lehnsessel des Grafen, hinter einem geschnitzten, mit Samt bezogenen Stuhl. Diesen hatte er mit der Lehne nach sich hingewendet, stützte den linken Arm, mit dem er die Kerze hielt, mit dem Ellbogen darauf und bekreuzte sich mit der rechten Hand, wobei er jedesmal, wenn er die Finger an die Stirn legte, die Augen nach oben wandte. Sein Gesicht drückte ruhige Andacht und Ergebung in den Willen Gottes aus und schien zu den Anwesenden zu sagen: »Es ist eure Schuld, wenn ihr für diese Gefühle kein Verständnis habt.«
Hinter ihm standen der Adjutant, die Ärzte und die männliche Dienerschaft; wie in der Kirche hatten sich Männer und Frauen getrennt. Alle schwiegen und bekreuzigten sich; man hörte nur das Verlesen der Kirchengebete, tiefen Baßgesang mit gedämpften Stimmen, und in Augenblicken, wo diese Töne schwiegen, das Geräusch umgestellter Füße oder leiser Seufzer. Anna Michailowna ging mit ernster, wichtiger Miene, welche zeigte, daß sie genau wisse, was sie tue, durch das ganze Zimmer zu Pierre hin und reichte ihm eine Kerze. Er zündete sie an und begann, ganz verwirrt durch alles, was ihn umgab, sich mit derselben Hand zu bekreuzen, in der er die Kerze hielt.
Die jüngste Prinzessin, die rotwangige, lachlustige Sofja, die mit dem Leberfleck, betrachtete ihn. Sie lächelte, verbarg ihr Gesicht hinter dem Taschentuch und ließ es lange nicht wieder sichtbar werden; aber als sie dann von neuem zu Pierre hinblickte, lächelte sie abermals. Sie fühlte sich offenbar außerstande, ihn ohne Lachen anzusehen, konnte sich aber doch nicht enthalten, zu ihm hinzublicken, und trat, um der Versuchung zu entgehen, sachte hinter eine der Säulen.
Mitten in der feierlichen Handlung verstummten die Stimmen der Geistlichen und der Sänger auf einmal; die Geistlichen redeten flüsternd etwas untereinander; der alte Diener, der die Hand des Grafen hielt, richtete sich auf und wandte sich an die Damen. Anna Michailowna trat vor, beugte sich über den Kranken und winkte hinter dessen Rücken den Doktor Lorrain zu sich heran. Der französische Arzt (er stand ohne brennende Kerze an eine Säule gelehnt da, in der respektvollen Haltung eines Ausländers, welche zeigen soll, daß er trotz der Verschiedenheit des Glaubens für die ganze Wichtigkeit der sich vollziehenden heiligen Handlung Verständnis besitzt und ihr sogar seine Verehrung zollt) trat mit dem leisen Gang eines im kräftigsten Lebensalter stehenden Mannes zu dem Kranken hin, nahm mit seinen weißen, schlanken Fingern dessen freie Hand von der grünen Decke auf, fühlte, sich abwendend, den Puls und stand dann einen Augenblick überlegend da. Man reichte dem Kranken etwas zu trinken, und es entstand ein unruhiges Treiben um ihn herum; dann traten alle wieder an ihre Plätze zurück, und die heilige Handlung nahm ihren Fortgang.
Während dieser Unterbrechung hatte Pierre bemerkt, daß Fürst Wasili hinter seiner Stuhllehne hervorkam und mit eben jener Miene, die da besagte, er wisse, was er tue, und wenn die andern das nicht verständen, so sei es ihre Schuld, nicht etwa zu dem Kranken hintrat, sondern an ihm vorbei zu der ältesten Prinzessin ging und sich mit ihr zusammen in den Hintergrund des Schlafzimmers begab, zu dem hohen Bett unter den seidenen Vorhängen. Von dem Bett sich wieder entfernend, verschwanden dann der Fürst und die Prinzessin durch eine Hintertür, kehrten aber noch vor Beendigung der gottesdienstlichen Handlung einer nach dem andern wieder an ihre Plätze zurück. Pierre beachtete diesen Umstand nicht mehr als alles andere, was vorging, da er sich ein für allemal gesagt hatte, alles, was sich um ihn herum an dem heutigen Abend zutrage, müsse wohl unumgänglich so geschehen.
Die Töne des kirchlichen Gesanges schwiegen jetzt, und man hörte die Stimme des Geistlichen, der den Kranken respektvoll zum Empfang des Sakramentes beglückwünschte. Der Kranke lag immer noch in gleicher Weise da, ohne sich zu regen oder sonst ein Zeichen des Lebens zu geben. Um ihn herum kam nun alles in Bewegung; man hörte Schritte und Geflüster, woraus das Flüstern Anna Michailownas besonders scharf hervorklang.
Pierre hörte wie sie sagte:
»Er muß unbedingt wieder nach dem Bett herübergetragen werden; hier kann er unter keinen Umständen länger bleiben.«
Die Ärzte, die Prinzessinnen und die Diener umdrängten den Kranken in so dichtem Schwarm, daß Pierre jenes rötlichgelbe Gesicht mit der grauen Mähne nicht mehr sah, das er während der ganzen gottesdienstlichen Handlung, obwohl er auch andere Gesichter gesehen hatte, dennoch auch nicht eine Sekunde aus den Augen verloren hatte. Pierre erriet aus den behutsamen Bewegungen der Diener, die den Lehnstuhl umringten, daß sie den Sterbenden aufhoben und herübertrugen.
»Faß meine Hand an; sonst läßt du ihn noch fallen«, hörte er einen der Diener erschrocken flüstern. »Von unten … Noch einer …«, sagten verschiedene Stimmen, und die schweren Atemzüge und unsicheren Tritte der Leute wurden hastiger, als ob die Last, die sie trugen, über ihre Kräfte ginge.
Die Tragenden, mit denen auch Anna Michailowna ging, kamen an dem jungen Mann vorüber, und für einen Augenblick wurde ihm über die Rücken und Nacken der Leute hinüber die entblößte, hohe, fleischige Brust des Kranken sichtbar und die mächtigen Schultern, welche die Leute, ihn unter den Achseln fassend, in die Höhe hoben, und der graue, kraushaarige Löwenkopf. Dieses Gesicht mit der auffallend breiten Stirn, den starken Backenknochen, dem schönen, sinnlichen Mund und dem imponierenden, kalten Blick war durch die Nähe des Todes nicht entstellt worden. Es war noch immer so, wie Pierre es vor drei Monaten gesehen hatte, als er sich vor seiner Reise nach Petersburg von dem Grafen verabschiedete. Aber jetzt schaukelte dieser Kopf bei den ungleichmäßigen Schritten der Träger hilflos hin und her, und der kalte, teilnahmslose Blick vermochte nicht irgendwo haftenzubleiben.
Um das hohe Bett herum gab es einige Minuten lang eine unruhige Geschäftigkeit; hierauf traten die Diener, die den Kranken getragen hatten, zurück. Anna Michailowna aber berührte Pierres Hand und sagte zu ihm: »Kommen Sie!«
Pierre trat mit ihr an das Bett heran, auf welches der Kranke in einer sozusagen feiertäglichen Körperhaltung hingelegt war, die offenbar mit der soeben vollzogenen sakramentalen Handlung in Beziehung stand. Sein Kopf war durch Kissen hochgerichtet; die Hände hatte man ihm symmetrisch auf die grüne seidene Decke gelegt, mit den Flächen nach unten. Als Pierre hinzutrat, blickte der Graf ihm gerade ins Gesicht; aber dieser Blick war von einer solchen Art, daß niemand seinen Sinn und seine Bedeutung verstehen konnte. Entweder besagte dieser Blick nichts weiter, als daß, solange man Augen hat, man mit ihnen notwendigerweise irgendwohin sehen muß; oder aber er war überaus vielsagend. Pierre blieb stehen, da er nicht wußte, was er nun tun sollte, und sah fragend seine Beraterin Anna Michailowna an. Anna Michailowna gab ihm schnell ein Zeichen mit den Augen, indem sie auf die Hand des Kranken deutete, und bewegte die Lippen wie bei einem Kuß. Pierre streckte mit Anstrengung den Hals aus, um nicht an die Decke zu streifen und sie zu verschieben, und befolgte ihren Rat: er drückte seinen Mund auf die breitknochige, fleischige Hand des Kranken. Aber weder die Hand noch ein Gesichtsmuskel des Grafen zuckte. Pierre richtete wieder einen fragenden Blick auf Anna Michailowna, was er jetzt zu tun habe. Anna Michailowna wies mit den Augen auf einen neben dem Bett stehenden Sessel hin. Gehorsam setzte sich Pierre auf diesen und fragte mit den Augen weiter, ob er auch das Richtige getan habe. Anna Michailowna nickte bejahend mit dem Kopf. Pierre nahm wieder die wunderliche symmetrische Haltung einer ägyptischen Statue an; er bedauerte anscheinend, daß sein ungeschlachter dicker Körper soviel Raum einnahm, und strengte seine gesamten Geisteskräfte an, um möglichst klein auszusehen. Er sah den Grafen an. Der Graf blickte nach der Stelle hin, wo Pierres Gesicht gewesen war, solange er aufrecht gestanden hatte. Anna Michailowna brachte durch ihre ganze Haltung zum Ausdruck, daß sie ein volles Verständnis für das Rührende und Bedeutungsvolle dieses letzten Augenblickes des Zusammenseins von Vater und Sohn habe. Das dauerte zwei Minuten, die dem still dasitzenden Pierre wie eine Stunde vorkamen. Plötzlich ging durch die kräftigen Muskeln und Falten im Gesicht des Grafen ein Zucken. Dieses Zucken wurde stärker; der schöne Mund zog sich schief (erst jetzt begriff Pierre, wie nahe sein Vater dem Tod war), und aus dem verzerrten Mund drang ein undeutlicher, heiserer Laut. Anna Michailowna blickte mit angestrengter Aufmerksamkeit in die Augen des Kranken und zeigte in dem Bemühen, zu erraten, was er wünschte, bald auf Pierre, bald auf das Getränk, bald nannte sie flüsternd in fragendem Ton den Namen des Fürsten Wasili, bald deutete sie auf die grüne Decke. Die Augen und Mienen des Kranken drückten Ungeduld aus. Er machte eine Anstrengung, um den Diener anzusehen, der, ohne sich zu rühren, am Kopfende des Bettes stand.
»Der Graf will auf die andere Seite gedreht werden«, flüsterte der Diener und trat herum, um den schweren Körper des Grafen mit dem Gesicht nach der Wand hinzudrehen.
Pierre stand auf, um dem Diener zu helfen.
Während sie den Grafen umdrehten, fiel der eine Arm hilflos nach hinten zurück, und der Kranke machte eine vergebliche Anstrengung, ihn wieder herüberzuziehen. Ob nun der Graf den erschrockenen Blick bemerkt hatte, mit welchem Pierre nach diesem leblosen Arm hingesehen hatte, oder ob irgendein anderer Gedanke in diesem Augenblick dem Sterbenden durch den Kopf huschte, wer konnte das wissen? Aber er blickte auf seinen unbotmäßigen Arm, auf den Ausdruck des Schreckens in Pierres Gesicht, dann wieder auf seinen Arm, und auf seinem Gesicht zeigte sich ein schwaches, leidvolles Lächeln, das so gar nicht zu seinen Zügen paßte und gewissermaßen wie ein Spotten über seine eigene Kraftlosigkeit aussah. Beim Anblick dieses Lächelns fühlte Pierre unvermutet ein Zucken in der Brust, ein Zwicken in der Nase, und Tränen verschleierten ihm die Augen. Der Kranke war nun auf die Seite gedreht worden, nach der Wand zu. Er seufzte.
»Er ist eingeschlummert«, sagte Anna Michailowna, als sie bemerkte, daß die mittelste Prinzessin herankam, um sie abzulösen. »Wir wollen gehen.«
Pierre ging mit ihr hinaus.
XXIV
Im Wartezimmer befand sich niemand mehr als Fürst Wasili und die älteste Prinzessin, welche unter dem Porträt der Kaiserin Katharina saßen und angelegentlich miteinander redeten. Aber sowie sie Pierre mit seiner Führerin erblickten, verstummten sie. Die Prinzessin versteckte etwas, wie es Pierre vorkam, und flüsterte:
»Dieses Weib ist mir unausstehlich!«
»Catiche hat im kleinen Salon Tee servieren lassen«, sagte Fürst Wasili zu Anna Michailowna. »Sie sollten hingehen und sich ein wenig stärken, meine arme Anna Michailowna; sonst halten Sie diese Anstrengungen nicht aus.«
Zu Pierre sagte er nichts, er drückte ihm nur gefühlvoll den Arm etwas unterhalb der Schulter. Pierre und Anna Michailowna gingen in den kleinen Salon.
»Nichts stellt die Kräfte nach einer durchwachten Nacht so gut wieder her wie eine Tasse von diesem ausgezeichneten russischen Tee«, sagte Doktor Lorrain im Ton gedämpfter Lebhaftigkeit. Er stand in dem kleinen runden Salon an einem Tisch, der mit Teegerät und kaltem Abendbrot gedeckt war, und schlürfte Tee aus einer dünnen, henkellosen chinesischen Tasse. Um diesen Tisch hatten sich alle, die diese Nacht im Haus des Grafen Besuchow zugebracht hatten, versammelt, um sich wieder ein wenig zu stärken. Pierre erinnerte sich recht wohl an diesen kleinen runden Salon mit den vielen Spiegeln und den kleinen Tischen. Wenn im Haus des Grafen Bälle stattfanden, dann hatte Pierre, der nicht tanzen konnte, gern in diesem kleinen Spiegelzimmer gesessen und beobachtet, wie die Damen in ihren Balltoiletten, mit den Brillantkolliers und den Perlenschnüren um den entblößten Hals, beim Hindurchgehen durch dieses Zimmer sich in den hellerleuchteten Spiegeln betrachteten, die ihr Bild mehrere Male zurückwarfen. Jetzt war dieses selbe Zimmer durch zwei Kerzen nur notdürftig beleuchtet, und mitten in der Nacht standen hier auf einem der kleinen Tische Teegeschirr und kalte Speisen unordentlich durcheinander, und allerlei Leute in nicht festlicher Kleidung saßen in diesem Zimmer und redeten flüsternd miteinander und ließen durch jede Bewegung, durch jedes Wort merken, daß sie alle an das dachten, was jetzt im Schlafzimmer vorging und für die nächste Zukunft zu erwarten war. Pierre aß nichts, obgleich er starken Hunger verspürte. Er blickte fragend zu seiner Ratgeberin hin und sah, daß sie auf den Fußspitzen wieder hinausging nach dem Wartezimmer, wo Fürst Wasili mit der ältesten Prinzessin zurückgeblieben war. Pierre nahm an, daß auch dies so sein müsse, und nach kurzem Zögern folgte er ihr. Anna Michailowna stand neben der Prinzessin, und beide redeten aufgeregt im Flüsterton durcheinander.
»Gestatten Sie mir, Fürstin, selbst zu beurteilen, was notwendig oder nicht notwendig ist«, sagte die Prinzessin, die sich augenscheinlich wieder in demselben aufgeregten Zustand befand wie einige Zeit vorher, als sie die Tür ihres Zimmers so heftig zuschlug.
»Aber, liebe Prinzessin«, versetzte Anna Michailowna in sanftem, überredendem Ton, indem sie der Prinzessin den Weg nach dem Schlafzimmer vertrat und sie nicht hineinließ, »wird das den armen Onkel nicht gar zu sehr angreifen, in diesen Augenblicken, wo er die Erholung doch so nötig hat? Ein Gespräch über weltliche Dinge in diesen Augenblicken, wo seine Seele schon vorbereitet ist, vor Gott zu treten …«
Fürst Wasili saß auf einem Lehnstuhl in einer zwanglosen Haltung, die er gern annahm: das eine Bein hoch über das andre gelegt. Seine Wangen zuckten heftig und waren schlaff herabgesunken, so daß sie nach unten zu dicker erschienen; aber er tat, als ob ihn das Gespräch der beiden Damen wenig interessiere.
»Nicht doch, meine liebe Anna Michailowna«, warf er dazwischen. »Lassen Sie Catiche nur machen, wie sie es für gut hält. Sie wissen, wie gern sie der Graf hat.«
»Ich weiß gar nicht, was in diesem Schriftstück steht«, sagte die Prinzessin, zu dem Fürsten Wasili gewendet, und zeigte dabei auf das Mosaikportefeuille, das sie in der Hand hielt. »Ich weiß nur, daß das richtige Testament in seinem Schreibtisch liegt; dies hier ist ein Schriftstück, das der Graf längst vergessen hat …«
Sie wollte um Anna Michailowna herumgehen; aber diese machte einen kleinen Sprung und versperrte ihr wieder den Weg.
»Ich weiß es, meine liebe, gute Prinzessin«, sagte Anna Michailowna und faßte dabei das Portefeuille mit solcher Energie an, daß man merken konnte, sie werde es nicht so bald wieder loslassen. »Liebe Prinzessin, ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, schonen Sie ihn …«
Die Prinzessin schwieg. Es war nichts zu hören als das Geräusch des angestrengten Ringens um das Portefeuille. Der Prinzessin war anzusehen, daß, wenn sie gesprochen hätte, sie ihrer Gegnerin keine Schmeicheleien gesagt haben würde. Anna Michailowna hielt an dem Portefeuille mit kräftigem Griff fest; aber trotzdem behielt ihre Stimme durchaus den süßen, milden, ruhigen Klang bei.
»Pierre, kommen Sie her, mein Freund«, sagte sie. »Ich glaube, er ist bei einem Familienrat keine überflüssige Person. Nicht wahr, Fürst?«
»Warum schweigen Sie denn, Kusin?« rief auf einmal die Prinzessin so laut, daß es die nebenan im Salon Anwesenden hörten und über ihre Stimme einen Schreck bekamen. »Warum schweigen Sie, während sich hier Gott weiß wer erlaubt, sich einzumischen und an der Schwelle des Sterbezimmers eine häßliche Szene zu machen? Intrigantin!« flüsterte sie wütend und zog das Portefeuille aus Leibeskräften an sich; aber Anna Michailowna tat ein paar Schritte vorwärts, um das Portefeuille nicht loszulassen, und faßte wieder fester zu.
»Oh, oh!« sagte Fürst Wasili vorwurfsvoll und erstaunt. Er stand auf. »Das ist ja lächerlich. Lassen Sie jetzt beide los; ich muß sehr darum bitten.« Die Prinzessin ließ los.
»Sie auch!«
Anna Michailowna hörte nicht auf ihn.
»Lassen Sie los! sage ich. Ich will die ganze Sache selbst übernehmen. Ich werde zu ihm gehen und ihn fragen. Ich selbst. Das könnte Ihnen genügen.«
»Aber, Fürst!« versetzte Anna Michailowna. »So lassen Sie ihm doch eine Minute Ruhe, nachdem er soeben das hochheilige Sakrament empfangen hat. Aber Sie, lieber Pierre, sollten uns doch auch Ihre Meinung sagen«, wandte sie sich an den jungen Mann, der nun, ganz nah herantretend, erstaunt das ingrimmige, an kein Gebot des Anstandes sich mehr haltende Gesicht der Prinzessin und die zuckenden Wangen des Fürsten Wasili betrachtete.
»Vergessen Sie nicht, daß Sie für alle Folgen haften werden«, sagte Fürst Wasili in strengem Ton. »Sie wissen nicht, was Sie tun.«
»Nichtswürdiges Weib!« schrie die Prinzessin, stürzte unerwartet auf Anna Michailowna los und entriß ihr das Portefeuille. Fürst Wasili senkte den Kopf und hielt die Arme auseinander, als ob er sagen wollte: »Welch ein Benehmen!«
In diesem Augenblick wurde die Tür, jene schreckliche Tür, nach welcher Pierre vorhin so lange hingeblickt hatte, und die damals immer so behutsam geöffnet worden war, plötzlich schnell und geräuschvoll aufgerissen, so daß sie gegen die Wand schlug. Die mittelste der Prinzessinnen stürzte von dort herein und schlug verzweifelt die Hände zusammen.
»Was tut ihr hier!« rief sie in größter Aufregung. »Er stirbt, und ihr laßt mich bei ihm allein!«
Die älteste Prinzessin ließ das Portefeuille fallen. Anna Michailowna bückte sich schnell, ergriff das Streitobjekt und lief damit in das Schlafzimmer. Sobald Fürst Wasili und die älteste Prinzessin ihre Gedanken wieder gesammelt hatten, gingen sie ihr nach. Einige Minuten darauf kam zuerst die älteste Prinzessin von dort wieder heraus; ihr Gesicht sah blaß und starr aus, und sie biß sich auf die Unterlippe. Bei Pierres Anblick trat ein Ausdruck unbeherrschbarer Wut auf ihr Gesicht.
»Ja, nun können Sie sich freuen!« sagte sie. »Darauf haben Sie ja nur gelauert!« Und aufschluchzend verbarg sie das Gesicht im Taschentuch und lief aus dem Zimmer.
Nach der Prinzessin kam Fürst Wasili wieder aus dem Sterbezimmer heraus. Schwankend schritt er nach dem Sofa hin, auf welchem Pierre saß, ließ sich darauf niederfallen und bedeckte die Augen mit der Hand. Pierre bemerkte, daß er blaß war, und daß sein Unterkiefer zuckte und zitterte wie beim Fieber.
»Ach, mein Freund«, sagte er und faßte Pierre am Ellbogen; seine Stimme klang so aufrichtig und so matt, wie es Pierre früher noch nie bei ihm gehört hatte. »Wie oft sündigen wir! Wie oft suchen wir andere Menschen zu täuschen! Und wozu das alles? Ich bin ein hoher Fünfziger, mein Freund … Ich werde ja bald … Und mit dem Tod ist alles zu Ende, alles. Der Tod ist etwas Schreckliches.« Er weinte.
Anna Michailowna war die letzte, die wieder zurückkam. Mit leisen, langsamen Schritten ging sie auf Pierre zu.
»Pierre!« sagte sie.
Pierre blickte sie fragend an. Sie küßte den jungen Mann auf die Stirn, die dabei von ihren Tränen benetzt wurde. Sie schwieg einen Augenblick.
»Er ist nicht mehr …«
Pierre sah sie durch seine Brille an.
»Kommen Sie nur, ich will Sie führen. Versuchen Sie zu weinen; nichts erleichtert so wie Tränen.«
Sie führte ihn in einen dunklen Salon, und Pierre war froh, daß da niemand sein Gesicht sah. Anna Michailowna verließ ihn, und als sie wieder zurückkam, schlief er fest, den Arm unter den Kopf gelegt.
Am andern Morgen sagte Anna Michailowna zu Pierre:
»Ja, mein Freund, das ist für uns alle ein großer Verlust, von Ihnen gar nicht zu reden. Aber Gott wird Ihnen Kraft verleihen, ihn zu tragen; Sie sind jung, und Sie sind jetzt, wie ich hoffe, Herr eines gewaltigen Vermögens. Das Testament ist noch nicht eröffnet. Ich kenne Sie hinreichend und bin überzeugt, daß Ihnen dieser Umschwung nicht den Kopf verdrehen wird; aber es werden Ihnen dadurch auch Pflichten auferlegt, und da müssen Sie sich als Mann zeigen.«
Pierre schwieg.
»Später einmal werde ich Ihnen vielleicht erzählen, daß, wenn ich nicht am Platz gewesen wäre, wohl Gott weiß was geschehen wäre. Sie wissen, daß der liebe Onkel mir noch vorgestern versprochen hatte, für Boris etwas zu tun, daß er aber nicht mehr dazu gekommen ist. Ich hoffe, mein Freund, Sie werden diesen Wunsch Ihres Vaters erfüllen.«
Pierre verstand nichts von dem, was sie sagte, und blickte die Fürstin Anna Michailowna schweigend mit verlegenem Erröten an. Nach diesem Gespräch mit Pierre fuhr Anna Michailowna zu Rostows und legte sich schlafen. Nachdem sie am Vormittag ausgeschlafen hatte, erzählte sie der Familie Rostow und allen Bekannten Einzelheiten vom Tod des Grafen Besuchow. Sie sagte, der Graf sei so gestorben, wie sie selbst einmal zu sterben wünschen würde; sein Ende sei nicht nur rührend, sondern auch erbaulich gewesen. Besonders sei das letzte Zusammensein von Vater und Sohn so ergreifend gewesen, daß sie nicht ohne Tränen daran denken könne; sie wisse nicht, wer sich in diesen furchtbaren Augenblicken schöner benommen habe: der Vater, der in seinen letzten Minuten noch an alles und an alle so freundlich gedacht und so rührende Worte zu seinem Sohn gesprochen habe, oder Pierre, den man gar nicht ohne das tiefste Mitgefühl habe ansehen können, wie niedergeschmettert er gewesen sei, und wie er trotzdem sich bemüht habe, seinen Schmerz zu verbergen, um nicht dem sterbenden Vater das Hinscheiden noch schwerer zu machen. »Es war schmerzlich«, sagte sie, »aber doch auch erhebend; man hat das Gefühl, in reinere Sphären entrückt zu sein, wenn man solche Männer sieht wie den alten Grafen und seinen würdigen Sohn.« Von dem Benehmen der Prinzessin und des Fürsten Wasili erzählte sie gleichfalls, mit ihrer Mißbilligung nicht zurückhaltend, aber nur flüsternd und unter dem Siegel des tiefsten Geheimnisses.
XXV
In Lysyje-Gory, dem Gut des Fürsten Nikolai Andrejewitsch Bolkonski, wurde täglich die Ankunft des jungen Fürsten Andrei und seiner Gemahlin erwartet; aber durch diese Erwartung wurde die regelmäßige Ordnung, nach der sich das Leben im Haus des alten Fürsten abspielte, nicht gestört. Der General en chef Fürst Nikolai Andrejewitsch, der in den höheren Gesellschaftskreisen den Spitznamen »der König von Preußen« führte, wohnte, seitdem er unter der Regierung des Kaisers Paul aus den Residenzen verwiesen war, auf seinem Gut Lysyje-Gory, ohne es jemals zu verlassen, und mit ihm seine Tochter, Prinzessin Marja, und deren Gesellschafterin Mademoiselle Bourienne. Auch unter der neuen Regierung war er, obgleich ihm die Erlaubnis zur Rückkehr in die Residenzen erteilt worden war, beständig auf dem Land wohnen geblieben; er sagte, wer etwas von ihm wolle, der werde auch die hundertfünfzig Werst von Moskau nach Lysyje-Gory fahren; er selbst aber brauche niemand und nichts. Er war der Ansicht, alle Fehler der Menschen entsprängen nur aus zwei Quellen: Müßiggang und Aberglauben; und ebenso gebe es nur zwei Tugenden: Fleiß und Klugheit. Die Erziehung seiner Tochter hatte er selbst übernommen; er gab ihr, um diese beiden Tugenden bei ihr zur Entwicklung zu bringen, immer noch, obgleich sie schon zwanzig Jahre alt war, Unterricht in der Algebra und der Geometrie und hatte ihre ganze Zeit so eingeteilt, daß immer eine Beschäftigung die andere ablöste. Er selbst war unaufhörlich tätig: bald schrieb er an seinen Memoiren, bald beschäftigte er sich mit Aufgaben aus dem Gebiet der höheren Mathematik, bald drechselte er Tabaksdosen auf der Drehbank, bald arbeitete er im Garten und beaufsichtigte die Bauten, die auf seinem Gut niemals aufhörten. Da die wichtigste Voraussetzung beim Fleiß die Ordnung ist, so war auch die Ordnung in seiner Lebensweise bis aufs äußerste getrieben. Sein Erscheinen zu den Mahlzeiten erfolgte stets in genau derselben, unveränderlichen Weise, und nicht nur zu derselben Stunde, sondern sogar zu derselben Minute. Mit den Personen seiner Umgebung, von der Tochter angefangen bis zu der Dienerschaft, verkehrte der Fürst in scharfem Ton und stellte an einen jeden hohe Ansprüche, von denen er nie abging; so kam es, daß er, ohne grausam zu sein, allen eine Furcht und einen Respekt eingeflößt hatte, wie sie selbst der grausamste Haustyrann nicht leicht hätte hervorrufen können. Obwohl er nicht mehr im Dienst war und jetzt keinerlei Einfluß auf die Regierungsangelegenheiten besaß, so hielt es doch jeder Chef des Gouvernements, in welchem das Gut des Fürsten lag, für seine Pflicht, sich ihm vorzustellen, und wartete geradeso wie der Baumeister und der Gärtner und die Prinzessin Marja in dem hohen Geschäftszimmer auf den Zeitpunkt, für welchen der Fürst sein Erscheinen in Aussicht gestellt hatte. Und jeder empfand in diesem Geschäftszimmer das gleiche Gefühl des Respektes, ja sogar der Furcht, wenn sich nun die gewaltig hohe Tür des Arbeitszimmers öffnete und die ziemlich kleine Gestalt des alten Herrn erschien, mit gepuderter Perücke, mit den kleinen, dürren Händen und den grauen, überhängenden Brauen, die manchmal, wenn er sie zusammenzog, den Glanz seiner klugen und noch ganz jugendlich blitzenden Augen verdeckten.
Am Vormittag desjenigen Tages, an welchem die Ankunft des jungen Ehepaares nachher wirklich stattfand, betrat Prinzessin Marja wie gewöhnlich zu der für den Unterricht angesetzten Stunde das Geschäftszimmer zum Zweck der Morgenbegrüßung, bekreuzte sich mit einer gewissen Bangigkeit und sprach im stillen ein Gebet. So trat sie täglich hier herein und betete täglich, daß diese Begegnung glücklich vonstatten gehen möge.
Der alte, gepuderte Diener, der im Geschäftszimmer saß, stand leise auf und sagte flüsternd: »Haben Sie die Güte einzutreten.«
Durch die Tür war das gleichmäßige Geräusch einer Drehbank zu hören. Die Prinzessin zog schüchtern an der leicht und glatt sich öffnenden Tür und blieb an der Schwelle stehen. Der Fürst arbeitete an der Drehbank; er sah sich um und fuhr in seiner Tätigkeit fort.
Das ungewöhnlich große Arbeitszimmer war mit lauter Gegenständen angefüllt, die augenscheinlich fortwährend benutzt wurden. Ein großer Tisch, auf welchem Bücher und Pläne lagen, hohe, mit Büchern vollgestellte Glasschränke, in deren Türen die Schlüssel steckten, ein Stehpult, auf dem ein aufgeschlagenes Heft lag, eine Drehbank, auf der die nötigen Instrumente handgerecht geordnet waren und um die ringsherum der Boden mit Abfallspänen bedeckt war: alles zeugte von einer beständigen, mannigfaltigen, wohlgeordneten Tätigkeit des Bewohners. Und aus den Bewegungen des kleinen Fußes, den ein silbergesticktes tatarisches Stiefelchen umschloß, sowie aus dem festen Andrücken der sehnigen, mageren Hand konnte man ersehen, daß in dem Fürsten noch die zähe, widerstandsfähige Kraft eines frischen Greisenalters steckte. Nachdem er das Rad noch ein paar Umdrehungen hatte machen lassen, nahm er den Fuß vom Trittbrett der Drehbank herunter, wischte den Drehstahl ab, warf ihn in eine an der Drehbank angebrachte Ledertasche, ging an den Tisch und rief seine Tochter heran. Er segnete seine Kinder niemals; so hielt er ihr denn nur seine stachlige, an diesem Tag noch nicht rasierte Wange hin, musterte sie mit einem prüfenden Blick und sagte in strengem Ton, aus dem aber doch eine gewisse Zärtlichkeit herauszuhören war: »Wohl und munter? Nun, dann setz dich!« Er griff nach einem von ihm eigenhändig geschriebenen Geometrieheft und zog sich mit dem Fuß seinen Sessel heran.
»Für morgen!« sagte er, indem er schnell eine Seite aufschlug und mit seinem harten Nagel von einem Paragraphen bis zu einem andern einen Strich als Zeichen eindrückte. Die Prinzessin beugte sich über den Tisch und das Heft.
»Warte; da ist ein Brief für dich«, sagte der alte Mann, holte aus einer oberhalb des Tisches befestigten Tasche einen Brief, dessen Adresse eine weibliche Hand erkennen ließ, und warf ihn auf den Tisch.
Beim Anblick des Briefes erschienen auf dem Gesicht der Prinzessin rote Flecke. Eilig griff sie nach ihm und bückte sich über ihn.
»Von deiner Héloïse?« fragte der Fürst kühl lächelnd, wobei seine starken, gelblichen Zähne sichtbar wurden.
»Ja, von Julja«, antwortete die Prinzessin; sie blickte den Vater schüchtern an und lächelte zaghaft.
»Noch zwei Briefe will ich durchlassen; aber den dritten werde ich lesen«, sagte der Fürst in strengem Ton. »Ich fürchte, ihr schreibt einander viel dummes Zeug. Den dritten Brief werde ich lesen.«
»Sie können ja auch diesen schon lesen, Väterchen«, antwortete die Prinzessin, noch stärker errötend, und reichte ihm den Brief hin.
»Den dritten; ich habe gesagt: den dritten!« rief der Fürst kurz und stieß den Brief zurück. Dann stützte er den Ellbogen auf den Tisch und zog das Heft mit den geometrischen Figuren näher heran.
»Nun, mein Fräulein«, begann der Alte, beugte sich dicht neben seiner Tochter über das Heft und legte den einen Arm auf die Lehne des Sessels, auf dem die Prinzessin saß, so daß diese sich von allen Seiten von einer ihr schon längst bekannten Atmosphäre, gemischt aus Tabaksgeruch und jener scharfen Hautausdünstung, wie sie alten Leuten eigen ist, umgeben fühlte. »Nun, mein Fräulein, diese Dreiecke sind einander ähnlich; du siehst: der Winkel A B C …«
Die Prinzessin blickte ängstlich nach den so nahe neben ihr blitzenden Augen des Vaters; rote Flecke erschienen auf ihrem Gesicht, und es war klar, daß sie nichts verstand und sich dermaßen fürchtete, daß diese Angst sie auch hindern würde, alle weiteren Darlegungen des Vaters zu begreifen, mochten sie an sich auch noch so klar sein. Ob nun die Schuld an dem Lehrer lag oder an der Schülerin, genug, jeden Tag wiederholte sich derselbe Vorgang: es wurde der Prinzessin dunkel vor den Augen, sie sah und hörte nichts mehr, sie fühlte nur in ihrer nächsten Nähe das hagere Gesicht des strengen Vaters, sie empfand seinen Atem und seinen Geruch und hatte nur den einen Gedanken, wie sie wohl am schnellsten aus dem Arbeitszimmer des Vaters herauskommen und auf ihrer eigenen Stube sich die Aufgabe in Ruhe zum Verständnis bringen könne. Der Alte geriet in Erregung, schob den Sessel, auf dem er saß, mit Gepolter vom Tisch zurück und wieder heran, suchte sich zu beherrschen, um nicht heftig zu werden, und wurde es doch fast jedesmal, schalt und schleuderte manchmal ärgerlich das Heft auf den Tisch.
Die Prinzessin hatte eine falsche Antwort gegeben.
»Na, du bist aber doch auch zu dumm!« rief der Fürst, stieß das Heft von sich und wandte sich schnell ab. Im nächsten Augenblick stand er auf, ging ein paarmal im Zimmer hin und her, berührte leise mit den Händen das Haar der Prinzessin und setzte sich wieder hin.
Er rückte seinen Sessel an den Tisch heran und fuhr in seinen Erläuterungen fort.
»Ja, das muß sein, Prinzessin, das muß sein«, sagte er, als die Prinzessin das Heft mit den Aufgaben für das nächste Mal genommen und zugemacht hatte und bereits im Begriff war wegzugehen. »Die Mathematik ist eine wichtige Sache, mein Fräulein. Ich möchte nicht, daß du unsern dummen jungen Damen ähnlich bist. Nur Ernst und Ausdauer; dann gewinnt man die Sache lieb.« Er streichelte ihr mit der Hand die Wange. »Die Mathematik macht den Kopf klar.«
Sie wollte hinausgehen; aber er hielt sie durch eine Handbewegung zurück und nahm von dem Stehpult ein neues, unaufgeschnittenes Buch herunter.
»Da ist noch ein Buch mit dem Titel ›Der Schlüssel des Geheimnisses‹; das schickt dir deine Héloïse. Sie ist wohl sehr religiös. Nun, ich lasse jeden Menschen glauben, was er will, und menge mich da nicht ein. Ich habe nur ein wenig hineingesehen. Nimm! Nun, dann geh nur, geh!«
Er klopfte ihr auf die Schulter und machte selbst hinter ihr die Tür zu.
Prinzessin Marja kehrte mit der trüben, verschüchterten Miene, die nur selten von ihr wich und ihr an sich schon unschönes, kränkliches Gesicht noch unschöner machte, in ihr Zimmer zurück und setzte sich an ihren Schreibtisch, auf dem eine Menge kleiner Porträts standen und Hefte und Bücher in Massen umherlagen. Die Prinzessin war ebenso unordentlich, wie ihr Vater ordentlich war. Sie legte das Geometrieheft hin und erbrach ungeduldig den Brief. Der Brief kam von der besten Jugendfreundin der Prinzessin; diese Freundin war jene selbe Julja Karagina, die am Namenstag bei Rostows gewesen war.
Julja schrieb auf französisch:
»Liebe, teure Freundin!
Es ist doch etwas Schreckliches, etwas Entsetzliches, voneinander getrennt zu sein. Ich mag mir noch so oft sagen, daß Sie die Hälftes meines Daseins und meines Glückes bilden und daß trotz der Entfernung, die uns trennt, unsere Herzen durch unauflösliche Bande verknüpft sind, dennoch bäumt sich mein Herz gegen das Schicksal auf, und trotz der Vergnügungen und Zerstreuungen, die mich umgeben, bin ich nicht imstande, eine gewisse heimliche Traurigkeit zu überwinden, die ich seit unserer Trennung im tiefsten Grunde meines Herzens empfinde. Warum sitzen wir nicht mehr wie in diesem Sommer in Ihrem großen Zimmer zusammen auf dem blauen Sofa, dem ›Sofa der vertraulichen Bekenntnisse‹? Warum kann ich nicht mehr wie vor drei Monaten neue seelische Kraft aus Ihrem so sanften, ruhigen, tiefdringenden Blick schöpfen, aus diesem Blick, den ich so sehr liebte, und den ich jetzt, wo ich an Sie schreibe, vor mir zu sehen glaube!«
Als Prinzessin Marja bis zu dieser Stelle gelesen hatte, seufzte sie und betrachtete sich in dem Trumeau, der rechts von ihr stand. Der Spiegel zeigte ihr einen unschönen, schwächlichen Körper und ein mageres Gesicht. Ihre Augen, auch sonst immer traurig, blickten jetzt mit dem Ausdruck ganz besonderer Hoffnungslosigkeit auf ihr Spiegelbild. »Sie will mir schmeicheln«, sagte die Prinzessin zu sich selbst, wandte sich vom Spiegel ab und fuhr fort zu lesen. Jedoch hatte Julja ihrer Freundin wirklich keine leere Schmeichelei geschrieben: die großen, tiefen, leuchtenden Augen der Prinzessin, die mitunter geradezu ganze Garben eines warmen Lichtes auszustrahlen schienen, waren tatsächlich so schön, daß trotz der Unschönheit des ganzen übrigen Gesichtes diese Augen oft reizvoller wirkten als es ein schönes Gesicht vermocht hätte. Aber die Prinzessin bekam diesen schönen Ausdruck ihrer Augen nie zu sehen, diesen Ausdruck, welchen sie in den Augenblicken annahmen, wo sie gar nicht an sich selbst dachte. Wie bei allen Menschen erhielt ihr Gesicht einen gespannten, unnatürlichen, häßlichen Ausdruck, sobald sie sich im Spiegel betrachtete. Sie las weiter:
»Ganz Moskau spricht nur vom Krieg. Von meinen beiden Brüdern befindet sich der eine schon im Ausland; der andere steht bei der Garde, die jetzt ihren Marsch nach der Grenze antritt. Unser teurer Kaiser hat Petersburg verlassen, und wie man behauptet, beabsichtigt er, sein kostbares Leben selbst den Wechselfällen des Krieges auszusetzen. Gott wolle geben, daß das korsische Ungeheuer, das die Ruhe Europas stört, durch den Engel niedergeschmettert werde, den Er, der Allmächtige, in Seiner Barmherzigkeit uns zum Herrscher gegeben hat. Ganz abgesehen von meinen Brüdern hat mich dieser Krieg eines Umganges beraubt, der meinem Herzen besonders teuer war. Ich meine den jungen Nikolai Rostow, der in seiner Begeisterung es nicht hat ertragen können, untätig zu bleiben, und die Universität verlassen hat, um in die Armee einzutreten. Ja, liebe Marja, ich will es Ihnen gestehen, daß, obwohl er noch ein sehr, sehr junger Mensch ist, sein Abgang zur Armee mir ein großer Schmerz gewesen ist. Dieser junge Mann, von dem ich Ihnen schon im Sommer erzählte, besitzt eine edle Gesinnung und eine echt jugendliche Frische, wie man sie nur so selten in unserem Jahrhundert antrifft, wo wir unter zwanzigjährigen Greisen leben. Besonders hervorzuheben sind sein Freimut und seine Herzhaftigkeit. Sein ganzes Denken ist so rein und poetisch, daß meine Beziehungen zu ihm, so flüchtig sie auch waren, dennoch eine der süßesten Freuden meines Herzens bildeten, das schon so viel gelitten hat. Ich werde Ihnen später einmal erzählen, wie wir voneinander Abschied nahmen, und Ihnen alles mitteilen, was wir dabei gesprochen haben. Jetzt ist das alles noch zu frisch. Ach, meine teure Freundin, Sie können sich glücklich schätzen, daß Sie diese Freuden und diese qualvollen Leiden nicht kennen. Jawohl, glücklich; denn die letzteren sind gewöhnlich viel stärker! Ich weiß sehr wohl, daß Graf Nikolai zu jung ist, als daß er mir jemals mehr als ein Freund werden könnte. Aber diese süße Freundschaft, dieses reine, poetische Verhältnis ist meinem Herzen ein Bedürfnis gewesen. Aber sprechen wir nicht mehr davon.
Die große Tagesneuigkeit, die ganz Moskau beschäftigt, ist der Tod des alten Grafen Besuchow und seine Hinterlassenschaft. Denken Sie sich, die drei Prinzessinnen haben nur ganz wenig bekommen, Fürst Wasili gar nichts, und Monsieur Pierre hat alles geerbt und ist obendrein als legitimer Sohn anerkannt worden, somit jetzt Graf Besuchow und Besitzer des größten Vermögens in ganz Rußland. Es heißt, Fürst Wasili habe in dieser ganzen Angelegenheit eine recht häßliche Rolle gespielt und sei mit sehr langem Gesicht nach Petersburg zurückgefahren.
Ich muß Ihnen gestehen, mein Verständnis von diesen Testamentsangelegenheiten ist nur ein sehr geringes; aber seit der junge Mann, den wir alle unter dem simplen Namen Monsieur Pierre kannten, Graf Besuchow und Herr eines so gewaltigen Vermögens geworden ist, ist es für mich ein köstliches Amüsement, bei den mit heiratsfähigen Töchtern gesegneten Müttern und bei diesen jungen Damen selbst zu beobachten, wie sich ihr Ton und ihr ganzes Benehmen diesem jungen Mann gegenüber geändert haben, der mir, beiläufig gesagt, immer als ein herzlich unbedeutendes Individuum erschienen ist. Wie die Leute schon seit zwei Jahren ihr Vergnügen darin finden, mich mit jungen Männern zu verloben, die ich meistens gar nicht kenne, so macht mich jetzt der Moskauer Heiratsklatsch zur Gräfin Besuchowa. Aber Sie können sich leicht denken, daß mein Streben nicht im entferntesten dahin geht, es zu werden. Da ich aber gerade vom Heiraten rede: was sagen Sie dazu, daß mir vor kurzem die ›Allerweltstante‹ Anna Michailowna unter dem Siegel des tiefsten Geheimnisses ein Heiratsprojekt für Sie anvertraut hat? Und zwar handelt es sich um nicht mehr und nicht weniger als um den Sohn des Fürsten Wasili, Anatol, der durch die Heirat mit einem reichen, vornehmen Mädchen wieder in geordnete Verhältnisse gebracht werden soll; und da ist nun die Wahl seiner Eltern auf Sie gefallen. Ich weiß nicht, wie Sie die Sache ansehen werden; aber ich habe es für meine Pflicht gehalten, Sie davon in Kenntnis zu setzen. Es heißt, er sei ein sehr schöner junger Mann, aber ein arger Taugenichts; das ist alles, was ich über ihn habe in Erfahrung bringen können.
Aber nun genug mit diesem Geplauder! Ich bin schon am Ende des zweiten Briefbogens angelangt, und Mama läßt mich rufen, da wir zu Apraxins zum Diner müssen.
Lesen Sie das mystische Buch, das ich Ihnen gleichzeitig schicke; es macht hier bei uns gewaltiges Aufsehen. Obgleich in diesem Buch Dinge stehen, an die der schwache Menschenverstand kaum heranreicht, so ist es dennoch ein bewundernswürdiges Buch, dessen Lektüre auf die Seele beruhigend und erhebend wirkt. Adieu! Richten Sie bitte meine Empfehlungen an Ihren Herrn Vater und meine Grüße an Mademoiselle Bourienne aus. Ich umarme Sie in herzlicher Zuneigung.
Julja.
PS: Schreiben Sie mir doch, wie es Ihrem Bruder und seiner reizenden kleinen Frau geht.«
Die Prinzessin sann ein Weilchen mit einem schwermütigen Lächeln nach, wobei ihr Gesicht, von den strahlenden Augen erhellt, sich völlig verklärte; dann stand sie schnell auf und ging mit ihren schweren Schritten an den Tisch. Sie holte sich Briefpapier hervor, und ihre Feder begann schnell darüber hinzufahren. Die Prinzessin schrieb folgende Antwort:
»Liebe, teure Freundin!
Ihr Brief vom 13. hat mir eine große Freude bereitet. Sie lieben mich also immer noch, meine poetische Julja. Die Trennung, von der Sie so viel Böses sagen, hat also auf Sie ihre gewöhnliche Wirkung nicht ausgeübt. Sie klagen darüber, daß Sie von diesem und jenem getrennt sind – was müßte ich erst sagen, wenn ich überhaupt wagte, mich zu beklagen, ich, die ich aller derjenigen beraubt bin, die mir teuer sind? Ach, wenn wir nicht die Religion hätten, um uns zu trösten, so wäre das Leben doch gar zu traurig. Warum setzen Sie bei mir eine strenge Beurteilung voraus, wenn Sie mir von Ihrer Neigung zu dem jungen Mann schreiben? In solchen Dingen bin ich gegen niemand streng als gegen mich selbst. Ich habe für diese Gefühle bei anderen Verständnis, und wenn ich ihnen auch nicht eigentlich Beifall zollen kann, da ich sie nie selbst empfunden habe, so verurteile ich sie doch nicht. Nur bin ich der Ansicht, daß die christliche Liebe, die Nächstenliebe, die Liebe zu unseren Feinden verdienstlicher, süßer und schöner ist als die Empfindungen, welche die schönen Augen eines jungen Mannes bei einem poetisch veranlagten, der Liebe zugänglichen jungen Mädchen, wie Sie, hervorrufen können.
Die Nachricht von dem Tod des Grafen Besuchow war uns schon vor Ihrem Brief zugegangen, und mein Vater war davon tief ergriffen. Er sagt, das sei der vorletzte Repräsentant jenes großen Jahrhunderts gewesen, und nun komme er selbst an die Reihe; indes werde er tun, was in seinen Kräften stehe, um erst möglichst spät daranzukommen. Gott wolle uns vor diesem furchtbaren Unglück bewahren!
Ihre Meinung über Pierre, den ich schon gekannt habe, als wir noch Kinder waren, vermag ich nicht zu teilen. Er schien mir immer ein vortreffliches Herz zu besitzen, und das ist die Eigenschaft, die ich an den Menschen am höchsten schätze. Was seine Erbschaft anbelangt und die Rolle, die Fürst Wasili dabei gespielt hat, so ist das für alle beide recht traurig. Ach, liebe Freundin, das Wort unseres göttlichen Erlösers, es sei leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher in das Reich Gottes komme, dieses Wort ist ebenso wahr als furchtbar; ich beklage den Fürsten Wasili, aber noch mehr bedauere ich Pierre. So jung noch und dabei mit diesem Reichtum belastet, welche Versuchungen wird er da nicht durchzumachen haben! Wenn man mich fragte, was ich mir auf der Welt am meisten wünschte, so wäre mein Wunsch der, ärmer zu sein als der ärmste Bettler. Tausend Dank, liebe Freundin, für das mir freundlichst übersandte Werk, das bei Ihnen so großes Aufsehen erregt. Da Sie mir indessen schreiben, es enthalte neben mancherlei Gutem auch anderes, an das die schwache menschliche Vernunft nicht heranreicht, so scheint es mir ziemlich zwecklos, sich mit einer unverständlichen Lektüre zu beschäftigen, die eben deshalb keinerlei Vorteil gewähren kann. Unbegreiflich ist mir immer die Passion mancher Leute gewesen, sich die eigene Denkkraft dadurch zu verwirren, daß sie sich mit mystischen Büchern abgeben, die nur Zweifel im Geist des Lesenden erregen, seine Phantasie überreizen und seinem ganzen Wesen etwas Übertriebenes geben, das zu der christlichen Einfalt im schroffsten Widerspruch steht. Wir tun besser, die Schriften der Apostel und die Evangelien zu lesen. Aber auch da sollen wir nicht den Versuch machen, in das einzudringen, was sie Mysteriöses enthalten; denn wie könnten wir elenden Sünder uns erdreisten, in die furchtbaren, heiligen Geheimnisse der Vorsehung eindringen zu wollen, solange wir diese fleischliche Hülle an uns tragen, die zwischen uns und dem Ewigen gleichsam eine undurchdringliche Scheidewand errichtet? Begnügen wir uns lieber damit, die erhabenen Weisungen in uns aufzunehmen, die unser göttlicher Erlöser uns für unser irdisches Leben hinterlassen hat; suchen wir, uns nach ihnen zu bilden und ihnen zu folgen; lassen wir uns von der Überzeugung durchdringen, daß, je weniger freien Spielraum wir unserm schwachen menschlichen Geist verstatten, er um so angenehmer dem Allmächtigen ist, der alle Weisheit verwirft, die nicht von Ihm kommt, und daß, je weniger wir das zu ergründen suchen, was unserer Kenntnis zu entziehen Ihm gefallen hat, Er um so eher es uns durch Seinen Heiligen Geist wird erkennen lassen.
Von einem Bewerber um meine Hand hat mir mein Vater nichts gesagt; er hat mir nur mitgeteilt, er habe einen Brief vom Fürsten Wasili erhalten und erwarte dessen Besuch. Hinsichtlich des mich betreffenden Heiratsprojektes muß ich Ihnen, liebe, teure Freundin, sagen, daß die Ehe meiner Ansicht nach eine göttliche Einrichtung ist, der wir uns fügen müssen. Sollte der Allmächtige mir jemals die Pflichten einer Gattin und Mutter auferlegen, so werde ich, mag es mir auch noch so schwer werden, sie so treu, wie ich nur irgend kann, zu erfüllen suchen, ohne vorher eine ängstliche Prüfung meiner Gefühle gegen denjenigen vorzunehmen, den Er mir zum Gatten geben wird.
Von meinem Bruder habe ich einen Brief erhalten, in dem er mir seine und seiner Frau baldige Ankunft in Lysyje-Gory in Aussicht stellt. Aber es wird nur eine kurze Freude sein; denn er verläßt uns, um an diesem unglückseligen Krieg teilzunehmen, in den wir, Gott weiß wie und warum, uns haben hineinziehen lassen. Nicht nur dort bei Ihnen, im Mittelpunkt des geschäftlichen und gesellschaftlichen Lebens, bildet der Krieg das einzige Gesprächsthema; auch hier inmitten dieser ländlichen Arbeiten und dieses stillen Friedens der Natur, der nach der gewöhnlichen Vorstellung der Städter auf dem Land herrscht, macht sich das Geräusch des Krieges hörbar und in schmerzlicher Weise fühlbar. Mein Vater redet nur noch von Märschen und Kontremärschen, Dingen, von denen ich nichts verstehe, und als ich vorgestern bei meinem gewöhnlichen Spaziergang durch die Dorfstraße kam, wurde ich Zeugin einer herzzerreißenden Szene. Es war ein Trupp Rekruten, die bei uns ausgehoben waren und nun zum Heer abgehen sollten. Es war entsetzlich zu sehen, in welchem Zustand sich die Mütter, die Frauen und die Kinder der abmarschierenden Männer befanden, entsetzlich zu hören, wie die Zurückbleibenden und die Wegziehenden schluchzten! Man möchte sagen, die Menschheit habe die Gebote ihres göttlichen Erlösers vergessen, der uns doch geheißen hat, einander zu lieben und Beleidigungen zu verzeihen, und suche nun ihr größtes Verdienst in der Kunst, sich wechselseitig zu morden.
Adieu, liebe, gute Freundin! Mögen unser göttlicher Erlöser und Seine allerheiligste Mutter Sie in ihren heiligen, mächtigen Schutz nehmen.
Marja.«
»Ah, Sie sind dabei, einen Brief für die Post zurechtzumachen, Prinzessin; ich habe den meinigen schon fertiggestellt. Ich habe an meine arme Mutter geschrieben«, sagte rasch mit angenehmer, vollklingender Stimme, das r etwas schnarrend, die lächelnde Mademoiselle Bourienne; sie brachte in die bedrückende, trübe, ernste Atmosphäre der Prinzessin gleichsam einen Hauch aus einer ganz anderen Welt, etwas Leichtlebiges, Vergnügtes, Selbstzufriedenes.
»Ich muß Sie warnen, Prinzessin«, fügte sie mit leiserer Stimme hinzu; »der Fürst hat einen Wortwechsel« (das Wort »Wortwechsel« sprach sie ganz besonders schnarrend und hatte offenbar ihr Vergnügen daran, sich selbst zu hören), »einen Wortwechsel mit Michail Iwanowitsch gehabt. Er ist sehr übler Laune, sehr mißgestimmt. Seien Sie also gewarnt; Sie wissen ja …«
»Oh, liebe Freundin«, erwiderte die Prinzessin Marja, »ich habe Sie gebeten, niemals mit mir darüber zu sprechen, in welcher Laune sich mein Vater befindet. Ich erlaube mir nicht, über ihn zu urteilen, und mag nicht gern, daß andere es tun.«
Die Prinzessin sah nach der Uhr, und als sie bemerkte, daß bereits fünf Minuten von der Zeit verstrichen waren, die sie auf das Klavierspiel verwenden sollte, ging sie mit erschrockener Miene nach dem Sofazimmer. Die Zeit von zwölf bis zwei Uhr widmete nach der festgesetzten Tagesordnung der Fürst der Ruhe und Erholung, und die Prinzessin hatte unterdessen Klavier zu spielen.
XXVI
Der hochbejahrte Kammerdiener Tichon saß im Geschäftszimmer und horchte im Halbschlummer auf das Schnarchen des Fürsten im benachbarten geräumigen Arbeitszimmer. Von einem entfernten Teil des Hauses her hörte man durch die geschlossenen Türen die wohl zwanzigmal wiederholten schwierigen Passagen einer Dussekschen Sonate.
Um diese Zeit fuhren bei dem Portal eine Equipage und eine Britschke vor. Aus der Equipage stieg Fürst Andrei aus, half seiner kleinen Frau beim Aussteigen und ließ sie vorangehen. Der greise Tichon, den Kopf mit einer Perücke bedeckt, schob sich aus der Tür des Geschäftszimmers heraus, meldete flüsternd, daß der Fürst ruhe, und machte eilig die Tür hinter sich zu. Tichon wußte, daß weder die Ankunft des Sohnes noch sonstige außergewöhnliche Ereignisse die Tagesordnung stören durften. Fürst Andrei wußte das offenbar ebensogut wie Tichon; er blickte auf seine Uhr, als ob er kontrollieren wollte, ob sich die Gewohnheiten seines Vaters in der Zeit, wo er ihn nicht gesehen hatte, auch nicht verändert hätten, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß dies nicht der Fall war, wandte er sich an seine Frau:
»In zwanzig Minuten wird er aufstehen«, sagte er. »Wir wollen unterdessen zu Prinzessin Marja gehen.«
Die kleine Fürstin war in der letzten Zeit noch stärker geworden; aber ihre Augen und die sich hinaufziehende kurze Oberlippe mit dem Schnurrbärtchen und dem Lächeln, wenn sie zu sprechen begann, nahmen sich noch ebenso lustig und allerliebst aus.
»Aber das ist ja ein wahrer Palast!« sagte sie, sich umblickend, zu ihrem Mann, mit demselben Gesichtsausdruck, mit dem man auf einem Ball sich dem Hausherrn gegenüber bewundernd äußert. »Nun, dann wollen wir schnell hingehen!« Um sich blickend, lächelte sie alle an, den Kammerdiener Tichon und ihren Mann und den sie geleitenden Diener.
»Das ist wohl Marja, die da übt? Wir wollen leise gehen und sie überraschen.«
Fürst Andrei folgte ihr mit höflicher, aber trüber Miene.
»Du bist alt geworden, Tichon«, sagte er zu dem Greis, der ihm die Hand küßte.
Vor dem Zimmer, aus dem das Klavierspiel ertönte, kam aus einer Seitentür die hübsche, blonde Französin herausgestürzt. Mademoiselle Bourienne schien vor Entzücken ganz närrisch zu sein.
»Ah, welche Freude für die Prinzessin!« rief sie aus. »Endlich! Ich muß sie benachrichtigen!«
»Nein, nein, bitte nicht! Sie sind Mademoiselle Bourienne; ich weiß schon von Ihnen durch meine Schwägerin, die Ihnen so sehr zugetan ist«, sagte die Fürstin und küßte sich mit der Französin. »Sie erwartet uns wohl nicht?«
Sie gingen auf die Tür des Sofazimmers zu, aus dem immer ein und dieselbe Passage in steter Wiederholung zu hören war. Fürst Andrei blieb stehen und machte ein finsteres Gesicht, als ob er irgendeine Unannehmlichkeit erwartete.
Die Fürstin trat ein. Die Passage brach jäh in der Mitte ab; man hörte einen Aufschrei, die schweren Schritte der Prinzessin Marja und den Ton von Küssen. Als dann auch Fürst Andrei hineintrat, hielten sich die Prinzessin und die Fürstin, die einander vorher nur einmal bei Fürst Andreis Hochzeit kurze Zeit gesehen hatten, mit den Armen umschlungen und preßten immer noch die Lippen auf dieselben Gesichtsstellen, die sie im ersten Augenblick der Begegnung gerade getroffen hatten. Mademoiselle Bourienne stand neben ihnen, drückte die Hände gegen das Herz und lächelte andächtig, offenbar ebenso bereit zum Weinen wie zum Lachen. Fürst Andrei zuckte die Achseln und runzelte die Stirn, etwa wie jemand, der musikalisches Gehör besitzt und eine falsche Note hört. Die beiden Frauen ließen einander nun los; aber dann griffen sie eilig, als ob sie etwas zu versäumen fürchteten, eine jede nach den Händen der andern und begannen einander die Hände zu küssen und einander die Hände zu entziehen, und dann küßten sie einander wieder ins Gesicht und brachen, für Fürst Andrei völlig unerwartet, in Tränen aus und fingen darauf wieder an, sich zu küssen. Mademoiselle Bourienne weinte gleichfalls. Dem Fürsten Andrei wurde die Sache augenscheinlich unbehaglich; den beiden Frauen aber erschien es als etwas ganz Natürliches, daß sie weinten; sie schienen es sich gar nicht denken zu können, daß sich dieses Wiedersehen in anderer Form abspielen könne.
»Ach, meine Liebe …! Ach, Marja!« fingen beide auf einmal an und lachten auf. »Diese Nacht hat mir geträumt … Du hattest uns also heute nicht erwartet … Ach, Marja, du bist aber mager geworden … Und du hast zugenommen …«
»Ich habe die Fürstin sofort wiedererkannt«, warf Mademoiselle Bourienne dazwischen.
»Und ich hatte keine Ahnung!« rief die Prinzessin Marja. »Ach, Andrei, ich habe dich ja noch gar nicht gesehen!«
Fürst Andrei küßte seine Schwester, indem er ihr gleichzeitig die Hand drückte, und sagte zu ihr, sie sei noch dieselbe Tränentraufe, die sie immer gewesen sei. Prinzessin Marja betrachtete nun ihren Bruder, und durch die Tränen hindurch ruhte der liebevolle, warme, sanfte Blick ihrer großen und in diesem Augenblick schönen, strahlenden Augen auf dem Gesicht des Fürsten Andrei.
Die Fürstin redete ohne Unterbrechung. Die kurze Oberlippe mit dem Schnurrbärtchen zog sich fortwährend für einen Augenblick nach unten, berührte sich an der gehörigen Stelle mit der roten Unterlippe, und dann öffneten sich die Lippen wieder zu einem Lächeln mit blitzenden Zähnen und Augen. Die Fürstin erzählte von einem Unfall, der ihnen auf dem Heilandsberg begegnet war und ihr bei ihrem Zustand hätte gefährlich werden können, und unmittelbar darauf teilte sie mit, daß sie alle ihre Kleider in Petersburg gelassen habe und nun hier in Gott weiß was für einem Aufzug herumgehen müsse, und daß Andrei sich vollständig verändert habe, und daß Kitty Odynzowa die Frau eines ganz alten Mannes geworden sei, und daß sich ein Bewerber für die Prinzessin Marja gefunden habe (ganz im Ernst!), und daß sie darüber später noch eingehender reden würden. Prinzessin Marja sah noch immer schweigend ihren Bruder an; Liebe und Traurigkeit lagen in dem Blick ihrer schönen Augen. Es war deutlich, daß sich in ihrem Kopf jetzt ein besonderer Gedankengang vollzog, unabhängig von dem Gerede ihrer Schwägerin. Mitten in der Erzählung der Fürstin über das letzte Petersburger Fest wandte sich Marja an ihren Bruder.
»Und das steht nun endgültig fest, daß du in den Krieg gehst, Andrei?« fragte sie seufzend.
Lisa seufzte ebenfalls.
»Ich reise sogar schon morgen ab«, antwortete der Bruder.
»Er läßt mich hier allein, und Gott weiß warum, da er doch auch ohne das ein gutes Avancement haben konnte …«
Prinzessin Marja hörte nicht nach ihr hin; ihren eigenen Gedankenfaden weiterspinnend, wandte sie sich zu ihrer Schwägerin und fragte, mit freundlichem Blick auf deren Leib deutend:
»Ist es denn sicher?«
Der Gesichtsausdruck der Fürstin veränderte sich. Sie seufzte.
»Ja, es ist sicher«, antwortete sie. »Ach, das ist so furchtbar …«
Lisas Lippe senkte sich herab. Sie näherte ihr Gesicht dem Gesicht ihrer Schwägerin und brach unerwartet wieder in Tränen aus.
»Sie muß sich erholen«, sagte Fürst Andrei mit finsterer Miene. »Nicht wahr, Lisa? Führe sie in dein Zimmer; ich will unterdes zu unserm Vater gehen. Wie geht es ihm? Alles unverändert?«
»Jawohl, alles unverändert; wenigstens meine ich, daß es auch dir so vorkommen wird«, antwortete die Prinzessin in freudigem Ton.
»Immer noch dieselbe Stundeneinteilung, dieselben Spaziergänge in den Alleen? Auch die Drehbank?« fragte Fürst Andrei mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln, welches zeigte, daß er bei all seiner Liebe und Achtung für seinen Vater doch dessen Schwächen kannte.
»Dieselbe Stundeneinteilung und die Drehbank und auch seine Beschäftigung mit der Mathematik und meine Geometriestunden«, erwiderte Prinzessin Marja fröhlich, als ob diese Geometriestunden zu ihren angenehmsten Erlebnissen gehörten.
Als die zwanzig Minuten um waren, die noch bis zum Aufstehtermin des alten Fürsten gefehlt hatten, kam Tichon, um den jungen Fürsten zu seinem Vater zu rufen. Der Ankunft des Sohnes zu Ehren ließ der alte Fürst in seiner gewöhnlichen Lebensordnung nun doch insofern eine Abweichung eintreten, als er den Sohn in der Zeit, wo er sich zum Mittagessen ankleidete, in sein Zimmer kommen ließ. Der Fürst war bei der altväterischen Tracht geblieben: dem langschößigen Kaftan und dem gepuderten Haar. Als Fürst Andrei bei seinem Vater eintrat (nicht mit dem mürrischen Gesicht und Benehmen, das er in den Salons annahm, sondern mit der lebhaften Miene, die er bei dem Gespräch mit Pierre gehabt hatte), saß der alte Herr im Pudermantel auf einem breiten, mit Saffian überzogenen Lehnsessel und hatte seinen Kopf den Händen Tichons anvertraut.
»Aha! der Krieger! Also den Bonaparte willst du bekriegen?« sagte der Alte und schüttelte seinen gepuderten Kopf, soweit das der Zopf gestattete, welchen Tichon gerade zum Flechten in den Händen hielt. »Dann nimm ihn dir nur gehörig vor, sonst macht er bald auch uns noch zu seinen Untertanen. Sei willkommen!« Er hielt ihm seine Backe hin.
Der Alte befand sich jetzt, da er vor Tisch geschlafen hatte, in guter Laune. (Er pflegte zu sagen, der Schlaf nach Tisch sei Silber, der Schlaf vor Tisch Gold.) Vergnügt richtete er unter seinen dichten, buschigen Brauen hervor einen schrägen Blick auf den Sohn. Fürst Andrei trat heran und küßte den Vater auf die Stelle, die dieser ihm angewiesen hatte. Auf das Lieblingsthema des Vaters, Spötteleien über die Kriegsleute der Gegenwart und namentlich über Bonaparte, ging er nicht ein.
»Ich habe Ihnen, lieber Vater, auch meine Frau mithergebracht, die sich in anderen Umständen befindet«, sagte Fürst Andrei und verfolgte mit lebhaften, respektvollen Blicken jede Bewegung in den Gesichtszügen seines Vaters. »Wie steht es mit Ihrem Befinden?«
»Krank, mein Sohn, sind nur Dummköpfe und Schlemmer. Mich aber kennst du ja wohl: ich habe vom Morgen bis zum Abend meine Beschäftigung und lebe mäßig; nun, da bin ich denn auch gesund.«
»Gott sei Dank!« sagte der Sohn lächelnd.
»Gott hat damit nichts zu schaffen. Aber nun erzähle«, fuhr er, auf sein Steckenpferd zurückkommend, fort; »ihr habt ja da eine neue Wissenschaft, die sogenannte Strategie, und die Deutschen sind darin eure Lehrmeister; wie werdet ihr also nun mit Bonaparte kämpfen?«
Fürst Andrei lächelte.
»Lassen Sie mich nur erst nach der Reise zur Besinnung kommen, lieber Vater«, antwortete er, und sein Lächeln zeigte, daß die Schwächen des Vaters seine Liebe und Verehrung für diesen nicht beeinträchtigten. »Ich habe mich ja noch nicht einmal einlogiert.«
»Unsinn, Unsinn!« rief der Alte, schüttelte sein Zöpfchen, um zu probieren, ob es auch fest geflochten sei, und ergriff den Sohn bei der Hand. »Die Wohnung für deine Frau steht bereit. Prinzessin Marja wird sie hinführen und ihr alles zeigen und ein langes und breites mit ihr schwatzen. Das werden alles die Weiber unter sich besorgen. Ich freue mich, daß wir deine Frau hier haben. Na, nun setz dich her und erzähle. Was die Michelsonsche Armee bezweckt, verstehe ich; auch die Tolstoische … eine gleichzeitige Landung. Aber was soll die Südarmee tun? Preußen hält sich neutral … das weiß ich. Wie steht es mit Österreich?« Während er so sprach, war er von seinem Lehnsessel aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab, wobei Tichon hinter ihm herlief und ihm die einzelnen Stücke seines Anzuges zureichte. »Und wie wird sich Schweden verhalten? Wie werden sie durch Pommern hindurchkommen?«
Da Fürst Andrei sah, daß der Vater hartnäckig auf seinem Verlangen bestand, so begann er, anfangs nur ungern, aber dann allmählich lebhafter werdend (dies zeigte sich auch darin, daß er mitten in der Erzählung unwillkürlich vom Russischen zu dem ihm geläufigeren Französischen überging), den Operationsplan des bevorstehenden Feldzuges auseinanderzusetzen. Er berichtete, eine Armee von neunzigtausend Mann solle Preußen bedrohen, um es zur Aufgabe seiner Neutralität zu veranlassen und es in den Krieg mit hineinzuziehen; ein Teil dieser Truppen solle sich in Stralsund mit den schwedischen Truppen vereinigen; zweihundertzwanzigtausend Österreicher nebst hunderttausend Russen seien für die Operationen in Italien und am Rhein bestimmt; fünfzigtausend Russen und fünfzigtausend Engländer würden in Neapel landen; so würden im ganzen fünfhunderttausend Mann von verschiedenen Seiten auf die Franzosen losgehen. Der alte Fürst bekundete auch nicht durch das geringste Zeichen ein Interesse für diese Darlegung, als ob er gar nicht danach hinhörte, und während er fortfuhr, sich im Auf- und Abgehen anzukleiden, unterbrach er den Redenden dreimal in recht unerwarteter Weise. Das erstemal zwang er ihn innezuhalten, indem er rief:
»Die weiße, die weiße!«
Dies bedeutete, Tichon habe ihm nicht die Weste gegeben, die er anziehen wolle. Das zweitemal blieb er stehen und fragte:
»Steht ihre Entbindung bald bevor?« Und auf Fürst Andreis bejahende Antwort sagte er: »Schlimm, schlimm! Aber sprich nur weiter!«
Das drittemal fing der Alte, als Fürst Andrei seine Auseinandersetzung beendigt hatte, mit seiner Greisenstimme und mit mancher falschen Note an zu singen: »Marlborough s’en va-t-en guerre; dieu sait quand reviendra.«
Der Sohn lächelte nur.
»Ich sage nicht, daß dieser Plan mir besonders gut schiene«, sagte der Sohn. »Ich habe Ihnen nur berichtet, was man tatsächlich beabsichtigt. Napoleon hat gewiß auch schon seinen Feldzugsplan fertig, und der wird nicht schlechter sein als der unsrige.«
»Na, Neues hast du mir nichts gesagt.« Und dann murmelte der Alte, sich seinen Gedanken überlassend, schnell vor sich hin: »Dieu sait quand reviendra.«
»Geh nur jetzt ins Eßzimmer«, fügte er laut hinzu.
XXVII
Zur bestimmten Stunde trat der alte Fürst, gepudert und rasiert, in das Eßzimmer, wo ihn seine Schwiegertochter, die Prinzessin Marja, sein Sohn, Mademoiselle Bourienne und der Baumeister erwarteten, welcher letztere zufolge einer sonderbaren Laune des alten Herrn zur Tafel zugelassen war, obgleich er nach seiner unbedeutenden sozialen Stellung in keiner Weise auf eine solche Ehre einen Anspruch hatte. Der Fürst, der sonst streng auf die Standesunterschiede hielt und sogar hohen Gouvernementsbeamten nur selten einen Platz an seinem Tisch vergönnte, hatte auf einmal an der Person des Baumeisters Michail Iwanowitsch, der sich immer in der Zimmerecke in sein kariertes Taschentuch schneuzte, den Beweis führen wollen, daß alle Menschen gleich seien, und seiner Tochter gegenüber wiederholentlich betont, daß Michail Iwanowitsch in keiner Hinsicht etwas Geringeres sei als sie und er, der Fürst, selbst. Und bei Tisch wandte sich der Fürst besonders oft an diesen schweigsamen Michail Iwanowitsch.
Im Eßzimmer, das wie alle Zimmer im Haus von gewaltiger Höhe war, erwarteten den Eintritt des alten Fürsten die Hausgenossen sowie die hinter einem jeden Stuhl stehenden Diener; der Haushofmeister, eine Serviette in der Hand, musterte das Arrangement der Tafel, winkte den Dienern mit den Augen und ließ seinen unruhigen Blick beständig zwischen der Wanduhr und der Tür hin und her gehen, durch die der alte Fürst erscheinen mußte. Fürst Andrei betrachtete ein gewaltig großes, in einen goldenen Rahmen eingefaßtes, ihm noch unbekanntes Bild, welches den Stammbaum der Fürsten Bolkonski darstellte, gegenüber hing ein ebenso großes, ebenso eingerahmtes Gemälde, das schlecht gemalte, offenbar von der Hand eines leibeigenen Malers herrührende Porträt eines regierenden Fürsten mit einer Krone auf dem Haupt; dies sollte ein Nachkomme Ruriks und der Ahnherr des Bolkonskischen Geschlechtes sein. Fürst Andrei betrachtete den Stammbaum und wiegte den Kopf mit einer solchen lächelnden Miene hin und her, wie man sie beim Beschauen eines lächerlich ähnlichen Porträts zu machen pflegt.
»Darin erkenne ich ihn ganz und gar!« sagte er zu der Prinzessin Marja, die zu ihm trat.
Prinzessin Marja blickte ihren Bruder erstaunt an. Sie begriff nicht, worüber er lächelte. Alles, was ihr Vater tat, erweckte bei ihr eine unbegrenzte, jede Kritik ausschließende Ehrfurcht.
»Jeder Mensch hat eben seine Achillesferse«, fuhr Fürst Andrei fort. »Daß er mit seinem gewaltigen Verstand so etwas Lächerliches begeht!«
Der Prinzessin war diese kühne Kritik, die sich der Bruder erlaubte, ganz unfaßbar, und sie schickte sich an, ihm etwas zu erwidern, als sich vom Arbeitszimmer her die erwarteten Schritte hören ließen und der Fürst raschen Schrittes und mit heiterer Miene eintrat; so pflegte er immer zu gehen, wie wenn er absichtlich durch sein eiliges Wesen einen Gegensatz zu der strengen Hausordnung schaffen wollte. In demselben Augenblick schlug die große Uhr zwei, und mit hellem Stimmchen antwortete vom Salon her eine andere. Der Fürst blieb stehen; unter den überhängenden, dichten Brauen hervor musterten seine lebhaften, blitzenden, strengen Augen alle Anwesenden und blieben schließlich auf der jungen Fürstin haften. Die junge Fürstin machte in diesem Augenblick dasselbe Gefühl durch, welches die Hofleute beim Eintreten des Kaisers überkommt, ein Gefühl der Ängstlichkeit und der Ehrfurcht; denn ein solches rief dieser Greis bei allen, die mit ihm in Berührung kamen, hervor. Er streichelte der Fürstin den Kopf und klopfte ihr dann mit einer ungeschickten Bewegung auf den Nacken.
»Ich freue mich, ich freue mich«, sagte er dabei; dann blickte er ihr noch fest in die Augen, trat schnell von ihr weg und setzte sich auf seinen Platz. »Setzt euch, setzt euch! Michail Iwanowitsch, setzen Sie sich!«
Er wies der Schwiegertochter ihren Platz neben sich an. Ein Diener rückte den Stuhl für sie zurecht.
»Hoho!« rief der Alte, indem er einen Blick auf ihre starkgewordene Taille warf. »Du hast dich ja beeilt; das ist nicht gut!«
Er lachte in einer trockenen, kalten, unangenehmen Manier, so wie er immer lachte, nur mit dem Mund, nicht mit den Augen.
»Du mußt gehen, möglichst viel gehen, möglichst viel«, setzte er noch hinzu.
Die kleine Fürstin hatte seine Worte nicht gehört oder nicht hören wollen. Sie schwieg und schien verlegen zu sein. Der Fürst befragte sie nach ihrem Vater, und nun begann die Fürstin zu reden und zu lächeln. Er erkundigte sich bei ihr nach gemeinsamen Bekannten: die Fürstin wurde noch lebhafter; sie begann zu erzählen, bestellte dem Fürsten Grüße und trug Stadtneuigkeiten vor.
»Die Gräfin Apraxina, die Ärmste, hat ihren Mann verloren und sich fast die Augen darüber ausgeweint«, sagte sie mit immer steigender Lebhaftigkeit.
Aber in dem Maß, in welchem sie lebhafter wurde, blickte der Fürst sie immer strenger und strenger an, und auf einmal, als ob er sie nun hinreichend kennengelernt und sich ein klares Urteil über sie gebildet habe, wandte er sich von ihr ab und zu Michail Iwanowitsch hin.
»Nun, hören Sie mal, Michail Iwanowitsch, unserm Bonaparte wird es schlecht ergehen. Wie mir Fürst Andrei« (so nannte er seinen Sohn stets, wenn er zu andern von ihm sprach) »erzählt hat, werden ganz gewaltige Streitkräfte gegen ihn zusammengebracht! Und wir beide haben ihn immer für einen einfältigen Kerl gehalten!«
Michail Iwanowitsch wußte zwar absolut nicht, wann denn »wir beide« so etwas über Bonaparte gesagt haben sollten; aber er begriff wenigstens so viel, daß diese an ihn gerichteten Worte als Einleitung zu dem Lieblingsgespräch des alten Fürsten dienen sollten, und blickte verwundert auf den jungen Fürsten hin, da ihm noch nicht klar war, wie die Sache sich weiter gestalten werde.
»Ich habe da nämlich einen großen Taktiker!« sagte der alte Fürst zu seinem Sohn, indem er auf den Baumeister wies.
Das Gespräch drehte sich nun wieder um den Krieg, um Bonaparte und die jetzigen Generäle und Staatsmänner. Der alte Fürst schien fest überzeugt zu sein, daß die hochgestellten Männer der Jetztzeit sämtlich dumme Jungen seien, die nicht einmal die ersten Elemente der Kriegs- und Staatswissenschaft verständen, und daß Bonaparte ein armseliges Französlein sei, das seinen Erfolg nur dem Umstand zu verdanken habe, daß es jetzt keine Potjomkins und Suworows gebe, die man ihm entgegenstellen könnte. Ja, er war sogar überzeugt, daß gar keine politischen Schwierigkeiten in Europa vorhanden seien, daß keine wirklichen Kriege geführt würden, sondern das Ganze nur eine Art von Puppenkomödie sei, die die jetzigen Menschen aufführten, um den Schein zu erwecken, daß sie etwas Ernstes täten.
Fürst Andrei ertrug die Spötteleien des Vaters über die Männer der Neuzeit mit gutem Humor, reizte ihn mit offensichtlichem Vergnügen zu weiteren Auslassungen und hörte ihm aufmerksam zu.
»Alles, was früher gewesen ist, erscheint einem als gut«, erwiderte er. »Aber ist nicht dieser selbe Suworow in die ihm von Moreau gestellte Falle gegangen, aus der er dann nicht wieder herauszukommen verstand?«
»Wer hat dir das gesagt? Wer hat dir das gesagt?« schrie der Fürst. »Suworow!« (Er schleuderte den Teller von sich, den Tichon noch flink auffing.) »Suworow …! Überlege, was du sprichst, Fürst Andrei! Zwei große Feldherrn hat’s gegeben: Friedrich und Suworow … Moreau! Moreau wäre gefangengenommen worden, wenn Suworow freie Hand gehabt hätte; aber dieser Hofkriegswurstschnapsrat hielt ihm die Hände fest. Mit dieser schönen Einrichtung kann der Teufel selbst nichts leisten. Geht nur hin; ihr werdet diese Hofkriegswursträte schon kennenlernen! Suworow ist mit ihnen nicht zurechtgekommen; wie soll es da Michail Kutusow zustande bringen? Nein, lieber Freund«, fuhr er fort, »ihr und eure Generäle kommt gegen Bonaparte nicht auf; dazu muß man Franzosen nehmen, damit die Franzosen durch Franzosen geschlagen werden. So hat man ja auch diesen Pahlen nach Amerika, nach New York, geschickt, um den Franzosen Moreau herzuholen.« (Er deutete damit daraufhin, daß in diesem Jahr an Moreau eine Einladung ergangen war, in russische Dienste zu treten.) »Aber zu wunderlich, daß ihr die Deutschen zu Lehrmeistern nehmt! Sind denn etwa die Potjomkins, die Suworows, die Orlows Deutsche gewesen? Nein, mein Lieber, entweder habt ihr alle den Verstand verloren, oder ich bin vor Alter schwachsinnig geworden. Gott gebe euch alles Gute; aber wir werden ja sehen. Bonaparte ist in den Augen dieser Menschen ein großer Feldherr geworden! Hm …!«
»Daß auf unserer Seite alle Anordnungen vortrefflich wären, will ich nicht behaupten«, entgegnete Fürst Andrei. »Aber wie Sie so über Bonaparte urteilen können, das ist mir unbegreiflich. Lachen Sie, soviel Sie wollen; aber ein großer Feldherr ist Bonaparte doch!«
»Michail Iwanowitsch!« rief der alte Fürst dem Baumeister zu, der sich mit dem Braten auf seinem Teller beschäftigte und gehofft hatte, es würde niemand mehr an ihn denken. »Ich habe es Ihnen doch gesagt, daß Bonaparte ein großer Taktiker ist? Sehen Sie wohl, der hier sagt es auch.«
»Gewiß, Euer Durchlaucht«, antwortete der Baumeister.
Der Fürst lachte wieder in seiner kalten Manier.
»Bonaparte ist ein Glückspilz. Die Soldaten, die er hat, sind ausgezeichnet. Da hat er nun zuerst mit den Deutschen zu tun gehabt; na, und um die Deutschen nicht zu besiegen, dazu muß einer schon ein besonders schlapper Kerl sein. Solange die Welt steht, sind die Deutschen noch von allen ihren Gegnern geschlagen worden. Sie aber haben niemand geschlagen. Nur sich untereinander. Bei denen hat er sich seinen Ruhm geholt!«
Und nun machte sich der Fürst daran, alle Fehler zu erörtern, die Bonaparte, nach seiner Auffassung, in allen seinen Kriegen und selbst in seiner politischen Tätigkeit begangen hatte. Der Sohn erwiderte nichts; aber es war klar, daß er, mochten ihm auch noch so viele Beweise angeführt werden, ebensowenig imstande war, seine Meinung zu ändern, wie seinerseits der alte Fürst. Fürst Andrei hörte, sich jedes Widerspruchs enthaltend, einfach zu; aber er staunte unwillkürlich darüber, wie dieser alte Mann, der doch schon so viele Jahre allein für sich auf seinem Gut saß, ohne es jemals zu verlassen, es möglich machte, über alle kriegerischen und politischen Ereignisse, die die letzten Jahre in Europa gebracht hatten, so detailliert und so genau Bescheid zu wissen.
»Du denkst wohl, daß ich alter Mann die jetzige Situation nicht verstehe?« schloß er. »Doch, doch; siehst du, das kommt daher: ich schlafe nachts wenig. Also, wie steht es denn nun mit deinem großen Feldherrn? Wo hat er sich als solcher gezeigt?«
»Das läßt sich nicht so kurz sagen«, antwortete der Sohn.
»Dann geh nur hin zu deinem Bonaparte. Mademoiselle Bourienne, da ist noch ein Bewunderer Ihres Helden, dieses Kaiser gewordenen Troßknechtes!« rief er auf französisch in bester Aussprache.
»Sie wissen, Fürst, daß ich keine Bonapartistin bin.«
»Dieu sait quand reviendra …«, sang der Fürst; sein Singen klang falsch, aber sein Lachen noch falscher; dann stand er vom Tisch auf und ging hinaus.
Die kleine Fürstin hatte während des ganzen Streites geschwiegen und ängstlich bald die Prinzessin Marja, bald ihren Schwiegervater angesehen. Als sie vom Tisch aufgestanden waren, schob sie ihren Arm in den ihrer Schwägerin und ging mit ihr in ein anderes Zimmer.
»Was ist dein lieber Vater doch für ein geistvoller Mann!« sagte sie. »Das wird auch wohl der Grund sein, weshalb er mir solche Furcht einflößt.«
»Ach, er ist so gut, so gut!« erwiderte die Prinzessin.
XXVIII
Am folgenden Tag abends wollte Fürst Andrei abreisen. Der alte Fürst war, ohne von seiner Tagesordnung abzuweichen, nach dem Mittagessen auf sein Zimmer gegangen. Die kleine Fürstin befand sich bei ihrer Schwägerin. Fürst Andrei, in einem Reiserock ohne Epauletten, beschäftigte sich in den ihm angewiesenen Zimmern unter Beihilfe seines Kammerdieners mit Packen, besichtigte dann persönlich die Kalesche, revidierte, ob die Koffer ordentlich aufgeladen waren, und befahl anzuspannen. Im Zimmer waren nur noch diejenigen Sachen zurückgeblieben, die Fürst Andrei immer bei sich führte: eine Schatulle, ein großes, silbernes Reisenecessaire, zwei türkische Pistolen und ein türkischer Säbel, ein Geschenk seines Vaters, der diese Waffen als Beutestücke von der Erstürmung von Otschakow mitgebracht hatte. Alle diese Reiseutensilien hielt Fürst Andrei gut in Ordnung: alles war sauber, wie neu, und steckte in Tuchfutteralen, die sorgsam mit Bändern zugebunden waren.
Im Augenblick einer Abreise, mit der eine Veränderung der Lebensgestaltung verbunden ist, überkommt alle Menschen, die ihre Handlungen zu überdenken fähig sind, gewöhnlich eine ernste Stimmung; sie pflegen in einem solchen Augenblick einen prüfenden Rückblick auf die Vergangenheit zu werfen und Pläne für die Zukunft zu machen. Fürst Andreis Miene war sehr nachdenklich und mild. Die Hände auf den Rücken gelegt, ging er im Zimmer schnell von einer Ecke nach der andern, blickte gerade vor sich hin und wiegte tief in Gedanken den Kopf. War ihm bange davor, in den Krieg zu gehen? Schmerzte ihn die Trennung von seiner Frau? Vielleicht sowohl das eine wie das andere; aber da er anscheinend nicht wünschte, von jemand in dieser Stimmung gesehen zu werden, nahm er, sowie er Schritte auf dem Flur hörte, eilig die Arme vom Rücken, blieb beim Tisch stehen, als ob er damit beschäftigt sei, den Überzug der Schatulle zuzubinden, und gab seinem Gesicht den gewöhnlichen, ruhigen, undurchdringlichen Ausdruck. Es waren die schweren Schritte der Prinzessin Marja.
»Man sagt mir, daß du Befehl zum Anspannen gegeben hast«, begann sie ganz außer Atem (sie war offenbar rasch gelaufen), »und ich wollte so gern noch mit dir ein paar Worte unter vier Augen sprechen. Gott weiß, auf wie lange Zeit wir uns wieder trennen. Du bist mir doch nicht böse, daß ich hergekommen bin? Du hast dich sehr verändert, Andruscha1«, fügte sie wie zur Erklärung dieser Frage hinzu.
Sie lächelte, als sie das Wort Andruscha aussprach. Augenscheinlich war es ihr selbst ein sonderbarer Gedanke, daß dieser ernste, schöne Mann jener selbe Andruscha sein sollte, jener magere, ausgelassene Knabe, der Gespiele ihrer Kindheit.
»Wo ist denn Lisa?« fragte er, indem er auf ihre Frage nur mit einem Lächeln antwortete.
»Sie war so müde, daß sie in meinem Zimmer auf dem Sofa eingeschlafen ist. Ach, Andrei! Welch einen Schatz besitzt du an dieser Frau«, sagte sie und setzte sich ihrem Bruder gegenüber auf das Sofa. »Sie ist noch vollständig ein Kind, und ein so liebenswürdiges, heiteres Kind. Ich habe sie sehr liebgewonnen.«
Fürst Andrei schwieg; aber die Prinzessin bemerkte den ironischen, geringschätzigen Ausdruck, den sein Gesicht angenommen hatte.
»Aber mit ihren kleinen Schwächen muß man Nachsicht haben; wer hätte keine Schwächen, Andrei! Vergiß nicht, daß sie mitten im Getriebe des gesellschaftlichen Lebens aufgewachsen und erzogen ist. Und dann ist auch ihre Lage jetzt keine rosige. Man muß sich in die Lage eines jeden hineinversetzen. ›Alles verstehen heißt alles verzeihen.‹ Bedenke nur, wie schwer es der Ärmsten nach dem Leben, das sie gewohnt war, werden muß, sich von ihrem Mann zu trennen und so allein auf dem Land zu bleiben, und noch dazu in ihrem Zustand. Das ist eine sehr schwere Aufgabe.«
Fürst Andrei lächelte, während er seine Schwester ansah, so wie man zu lächeln pflegt, wenn man Menschen reden hört, die man bis auf den Grund ihrer Seele zu kennen glaubt.
»Du lebst ja doch auch auf dem Land und findest dieses Leben nicht so schrecklich«, sagte er.
»Mit mir ist das eine andere Sache. Von mir ist da weiter nicht zu reden. Ich wünsche mir kein anderes Leben und kann es mir auch gar nicht wünschen, weil ich ein anderes Leben eben nicht kenne. Aber bedenke, Andrei, was das für eine junge Frau, die am gesellschaftlichen Leben ihre Freude gehabt hat, besagen will, wenn sie sich in den besten Jahren des Lebens auf dem Land vergraben soll. Und allerdings wird sie sich hier sehr einsam fühlen; denn Papa ist immer beschäftigt, und ich –: du kennst mich, wie wenig ich einer Frau zu bieten vermag, die an bessere Gesellschaft gewöhnt ist. Nur Mademoiselle Bourienne …«
»Sie mißfällt mir recht sehr, eure Mademoiselle Bourienne«, sagte Fürst Andrei.
»O nicht doch! Sie ist sehr lieb und gut, und was die Hauptsache ist, sie ist ein bedauernswertes Mädchen. Sie hat so gar niemand, keinen Menschen. Die Wahrheit zu sagen, ich habe gar nicht das Bedürfnis, sie um mich zu haben; es ist mir sogar oft peinlich. Ich bin, wie du weißt, immer etwas menschenscheu gewesen und bin es jetzt in noch höherem Grad als früher. Ich fühle mich am wohlsten, wenn ich allein bin. Aber unser Vater hat sie gern. Sie und Michail Iwanowitsch, das sind die beiden Menschen, gegen die er immer freundlich und gütig ist, weil er ihnen beiden Wohltaten erwiesen hat; denn wie Sterne sagt: ›Wir lieben die Menschen nicht sowohl um des Guten willen, das sie uns getan haben, als um des Guten willen, das wir ihnen getan haben.‹ Unser Vater hat sie als vaterlose Waise geradezu von der Straße in sein Haus genommen, und sie ist ein sehr gutes Wesen. Und dem Vater sagt ihre Art vorzulesen zu. Sie liest ihm abends vor. Sie liest ausgezeichnet.«
»Nun meinetwegen; aber sage einmal offen, Marja, ich meine, es muß dir bei dem Charakter des Vaters doch manchmal schwer werden, mit ihm auszukommen?« fragte Fürst Andrei unvermittelt.
Prinzessin Marja war zunächst erstaunt, dann aber ganz erschrocken über diese Frage.
»Mir …? Mir …? Mir sollte es schwer werden?« erwiderte sie.
»Er war ja immer rauh und schroff; aber jetzt ist es, wie mir scheint, besonders schwer, mit ihm zu verkehren«, sagte Fürst Andrei; er sprach, wie es schien, absichtlich in so leichtfertiger Art über den Vater, um seine Schwester in Erstaunen zu versetzen oder sie auf die Probe zu stellen.
»Du bist sonst in jeder Hinsicht ein so guter Mensch, Andrei; aber du bist zu stolz auf deinen Verstand«, erwiderte die Prinzessin, die mehr ihrem eigenen Gedankengang als dem Gang des Gesprächs folgte, »und das ist eine große Sünde. Darf man denn überhaupt über den eigenen Vater sich ein Urteil erlauben? Und wenn man es dürfte, wie könnte ein solcher Mann wie unser Vater ein anderes Gefühl erwecken als Ehrfurcht? Und ich bin so zufrieden, so glücklich in dem Zusammenleben mit ihm. Ich möchte nur wünschen, daß ihr alle euch ebenso glücklich fühltet, wie ich es tue.«
Der Bruder schüttelte ungläubig den Kopf.
»Es ist nur eines, was mir das Herz bedrückt (ich will es dir offen sagen, Andrei): das ist des Vaters Denkungsart in religiösen Dingen. Ich begreife nicht, wie es möglich ist, daß ein Mann mit einem so enormen Verstand das nicht sieht, was doch sonnenklar ist, und wie er in solche Irrtümer hineingeraten kann. Siehst du, das ist mein einziges Leid. Aber auch auf diesem Gebiet scheint sich in der letzten Zeit eine leise Besserung anzubahnen. In der letzten Zeit sind seine Spötteleien nicht mehr so scharf und beißend gewesen wie früher, und er hat sogar den Besuch eines Mönches empfangen und lange mit ihm geredet.«
»Liebe Marja, ich fürchte, daß du und der Mönch euer Pulver unnütz vergeudet«, erwiderte Fürst Andrei spöttisch, aber freundlich.
»Ach, lieber Bruder, ich bete zu Gott und hoffe, daß Er mich erhören wird … Andrei«, fügte sie schüchtern nach kurzem Stillschweigen hinzu, »ich habe eine große Bitte an dich.«
»Was denn, meine Gute?«
»Nein, versprich mir erst, daß du es mir nicht abschlagen wirst. Es wird dir keinerlei Mühe machen, und es liegt nichts darin, was deiner unwürdig wäre. Aber du wirst mir damit eine Beruhigung verschaffen. Versprich es mir, Andruscha«, bat sie, indem sie die Hand in ihren Ridikül steckte und etwas darin erfaßte, was sie aber noch nicht zeigte, wie wenn das, was sie in der Hand hielt, den Gegenstand der Bitte bildete und sie dieses Ding nicht aus dem Ridikül herausholen dürfte, ehe sie nicht das Versprechen empfangen hätte, daß ihre Bitte werde erfüllt werden.
Sie blickte ihren Bruder schüchtern mit flehenden Augen an.
»Selbst wenn es mir große Mühe machen sollte …«, antwortete Fürst Andrei, der wohl schon erraten mochte, um was es sich handelte.
»Du kannst ja darüber denken, wie du willst! Ich weiß, du bist darin ebenso wie unser Vater. Denke darüber, wie du willst; aber tu es mir zuliebe. Bitte, tu es! Schon der Vater unseres Vaters, unser Großvater, hat es in allen Kriegen getragen …« (Sie zog den Gegenstand, den sie in der Hand hatte, immer noch nicht aus dem Ridikül hervor.) »Also du versprichst es mir?«
»Gewiß. Um was handelt es sich denn also?«
»Andrei, ich möchte dich mit einem Heiligenbild segnen, und du mußt mir versprechen, daß du es niemals ablegen wirst. Versprichst du es mir?«
»Wenn es nicht zwei Pud schwer ist und mir den Hals nicht herunterzieht … Um dir eine Freude zu machen …«, sagte Fürst Andrei; aber im selben Augenblick tat es ihm auch schon leid, so geantwortet zu haben, da er an dem Gesicht seiner Schwester sah, daß dieser Scherz sie verletzt hatte. »Sehr gern werde ich es tun, wirklich sehr gern, liebe Marja«, fügte er hinzu.
»Auch wenn du nicht daran glaubst, wird der Heiland dich erretten und Sich deiner erbarmen und dich zu Sich zurückführen; denn in Ihm allein ist Wahrheit und Friede«, sagte sie mit einer vor innerer Erregung zitternden Stimme und hielt mit feierlicher Gebärde in beiden Händen ein ovales, altertümliches Christusbildchen, mit schwarz gewordenem Gesicht, in silbernem Rahmen, an einem fein gearbeiteten silbernen Kettchen, dem Bruder entgegen.
Sie bekreuzte sich, küßte das Bildchen und reichte es dem Fürsten Andrei hin.
»Bitte, Andrei, mir zuliebe …«
Ihre großen, guten, schüchternen Augen strahlten ein schönes helles Licht aus. Diese Augen verklärten das ganze kränkliche, magere Gesicht und machten es schön. Der Bruder wollte das Heiligenbild hinnehmen, aber sie hielt ihn zurück. Andrei verstand sie, bekreuzte sich und küßte das Bild. Sein Gesicht zeigte gleichzeitig zärtliche Rührung und leisen Spott.
»Ich danke dir, lieber Bruder!«
Sie küßte ihn auf die Stirn und setzte sich wieder auf das Sofa. Beide schwiegen.
»Um was ich dich schon gebeten habe, Andrei«, begann dann die Prinzessin: »sei gut und großherzig, wie du es immer gewesen bist, und sei nicht zu streng gegen Lisa. Sie ist so lieb und gut und befindet sich jetzt in einer sehr schweren Lage.«
»Ich habe doch wohl nichts zu dir gesagt, Marja, als ob ich meiner Frau irgendeinen Vorwurf zu machen hätte oder mit ihr unzufrieden wäre. Warum sagst du mir also das alles?«
Auf dem Gesicht der Prinzessin Marja erschienen rote Flecke, und sie schwieg, wie wenn sie sich schuldig fühlte.
»Ich habe dir nichts gesagt, und doch ist dir schon etwas gesagt worden. Und das betrübt mich.«
Die roten Flecke traten auf der Stirn, dem Hals und den Wangen der Prinzessin Marja noch stärker hervor. Sie wollte etwas sagen, war aber nicht imstande, es herauszubringen. Aber der Bruder erriet den Hergang: die kleine Fürstin hatte nach dem Mittagessen geweint, hatte gesagt, sie ahne eine unglückliche Entbindung und fürchte sich davor, und hatte sich über ihr Schicksal, über ihren Schwiegervater und über ihren Mann beklagt; nachdem sie sich ausgeweint hatte, war sie dann eingeschlafen. Dem Fürsten Andrei tat seine Schwester leid.
»Eines kann ich dir versichern, Marja: ich kann meiner Frau keinen Vorwurf machen, habe ihr nie einen Vorwurf gemacht und werde niemals in die Lage kommen, es zu tun; auch mir selbst habe ich mit Bezug auf sie nichts vorzuwerfen; und das wird stets so bleiben, in welcher Lage auch immer ich mich befinden mag. Aber wenn du die Wahrheit wissen willst … wenn du wissen willst, ob ich glücklich bin: nein! Ob sie glücklich ist: nein! Und woher das kommt: ich weiß es nicht …«
Nach diesen Worten stand er auf, trat zu seiner Schwester, beugte sich nieder und küßte sie auf die Stirn. Aus seinen schönen Augen leuchteten Verstand und Herzensgüte in ungewöhnlichem Glanz; aber er blickte nicht die Schwester an, sondern über ihren Kopf hinweg in das Dunkel der offenstehenden Tür.
»Wir wollen zu ihr gehen; ich muß Abschied nehmen. Oder geh du allein und wecke sie; ich komme sofort nach … Peter!« rief er dem Kammerdiener zu, »komm her und nimm die Sachen. Dies hier kommt unter den Sitz, und dies auf die rechte Seite.«
Prinzessin Marja stand auf und ging nach der Tür hin; aber sie blieb noch einmal stehen.
»Andrei, wenn du gläubig wärest, dann hättest du dich im Gebet an Gott gewendet, daß Er dir die Liebe verleihen möge, die du in deinem Herzen nicht empfindest, und dein Gebet wäre erhört worden.«
»Ja, das mag sein!« erwiderte Fürst Andrei. »Geh, Marja, ich komme auch gleich.«
Auf dem Weg nach dem Zimmer seiner Schwester, in der Galerie, die die beiden Teile des Hauses miteinander verband, stieß Fürst Andrei auf die freundlich lächelnde Mademoiselle Bourienne, die ihm schon zum drittenmal an diesem Tag mit ihrem schwärmerischen, kindlich-naiven Lächeln in einsamen Gängen begegnete.
»Ah, ich glaubte, Sie wären in Ihrem Zimmer«, rief sie, wobei sie ohne erkennbaren Grund errötete und die Augen niederschlug.
Fürst Andrei warf ihr einen strengen Blick zu und machte ein zorniges Gesicht. Er sagte kein Wort zu ihr, sondern blickte, ohne ihr in die Augen zu sehen, nur nach ihrer Stirn und ihrem Haar mit einem so verächtlichen Ausdruck, daß die Französin errötete und sich schweigend entfernte. Als er zu dem Zimmer seiner Schwester kam, war die Fürstin schon aufgewacht, und er vernahm durch die offenstehende Tür ihr vergnügtes, mit großer Geschwindigkeit plauderndes Stimmchen. Sie redete und redete, als ob sie nach langer Enthaltung die verlorene Zeit wieder einbringen wolle.
»Nein, stelle dir das nur einmal vor: die alte Gräfin Subowa mit falschen Locken und den Mund voll falscher Zähne, als ob sie sich ihren Jahren zum Trotz jung machen wollte. Hahaha, liebste Marja!«
Genau dieselbe Äußerung über die Gräfin Subowa und dasselbe Lachen hatte Fürst Andrei schon fünfmal in Gegenwart anderer von seiner Frau zu hören bekommen. Er trat leise in das Zimmer. Die Fürstin, mit ihrer vollen Gestalt und den roten Wangen, eine Handarbeit in den Händen, saß in einem Lehnstuhl und redete ohne Unterbrechung, indem sie Petersburger Erinnerungen und sogar Petersburger Phrasen auskramte. Fürst Andrei trat zu ihr, strich ihr mit der Hand über den Kopf und fragte sie, ob sie sich nun von der Reise erholt habe. Sie antwortete ihm und fuhr dann in demselben Gespräch fort.
Die mit sechs Pferden bespannte Kalesche stand vor dem Portal. Es war eine dunkle Herbstnacht; der Kutscher konnte nicht einmal die Deichsel des Wagens sehen. Beim Portal waren Leute mit Laternen in eifriger Tätigkeit. Die großen Fenster des kolossalen Gebäudes waren hell erleuchtet. Im Vorzimmer drängte sich die Dienerschaft, die dem jungen Fürsten Lebewohl sagen wollte; im Saal standen alle Hausgenossen: Michail Iwanowitsch, Mademoiselle Bourienne, Prinzessin Marja und die Fürstin. Fürst Andrei war zu seinem Vater in dessen Arbeitszimmer gerufen worden; denn dieser wollte allein von ihm Abschied nehmen. Alle warteten darauf, daß die beiden in den Saal kommen würden.
Als Fürst Andrei in das Arbeitszimmer kam, saß der alte Fürst am Tisch und schrieb; er hatte seine altväterische Brille aufgesetzt und war in seinem weißen Schlafrock, in dem er niemand empfing als seinen Sohn. Als er ihn eintreten hörte, drehte er sich zu ihm um.
»Fährst du jetzt?« fragte er und schrieb dann wieder weiter.
»Ich bin gekommen, um von Ihnen Abschied zu nehmen.«
»Küsse mich dahin«, er zeigte auf seine Backe. »Ich danke dir, ich danke dir!«
»Wofür danken Sie mir?«
»Dafür, daß du nicht zögerst, in den Krieg zu gehen, dich nicht an einen Weiberrock hängst. Der Dienst muß allem vorgehen. Ich danke dir, ich danke dir!« Er schrieb wieder weiter, und mit solchem Eifer, daß Tintenspritzer von der kreischenden Feder flogen. »Wenn du etwas zu sagen hast, so sprich nur. Ich kann diese beiden Sachen zugleich erledigen«, fügte er hinzu.
»Über meine Frau möchte ich ein Wort sagen … Es ist mir peinlich, daß ich sie Ihnen zur Last fallen lasse …«
»Unsinn! Sage einfach, was du wünschst.«
»Wenn die Entbindung meiner Frau herankommt, dann lassen Sie, bitte, einen Arzt aus Moskau kommen … Ich möchte, daß ein Arzt dabei ist.«
Der alte Fürst hielt mit dem Schreiben inne und heftete, als ob er nicht verstanden hätte, seine strengblickenden Augen auf den Sohn.
»Ich weiß, daß niemand helfen kann, wenn die Natur sich nicht selbst hilft«, fuhr Fürst Andrei, sichtlich verlegen, fort. »Ich gebe zu, daß unter einer Million von Fällen nur einer unglücklich abläuft; aber das ist nun einmal so eine fixe Idee bei ihr und bei mir. Man hat ihr etwas eingeredet, und sie hat etwas geträumt; nun fürchtet sie sich.«
»Hm … hm«, murmelte der alte Fürst weiterschreibend vor sich hin. »Ich werde es tun.«
Er setzte mit raschem Zug seinen Namen unter das Geschriebene, wendete sich schnell zu dem Sohn um und lachte auf.
»Ein schlimm Ding, he?«
»Was ist schlimm, lieber Vater?«
»Die Frau!« erwiderte der alte Fürst kurz und nachdrücklich.
»Ich verstehe Sie nicht«, antwortete Fürst Andrei.
»Ja, da ist weiter nichts zu machen, lieber Freund«, sagte der Alte. »Sie sind alle von derselben Sorte; sich scheiden lassen kann man nicht. Sei unbesorgt, ich sage es niemandem; und du selbst weißt ja, wie es steht.«
Er ergriff mit seiner knochigen, kleinen Hand die des Sohnes, schüttelte sie, blickte ihm mit seinen lebhaften Augen, die einen Menschen durch und durch zu sehen schienen, gerade ins Gesicht und lachte wieder in seiner kalten Manier.
Der Sohn seufzte und gestand mit diesem Seufzer, daß der Vater seine Lage richtig beurteilt hatte. Der Alte war jetzt damit beschäftigt, seinen Brief zu falten und zu siegeln: mit seiner gewöhnlichen Raschheit ergriff er nach Erfordernis das eine oder andere Stück, Papier, Siegellack, Petschaft, und warf es wieder hin.
»Was ist zu machen? Schön ist sie ja! Ich werde alles ausführen. Du kannst beruhigt sein«, sagte er in abgerissenen Sätzen während des Siegelns.
Andrei schwieg. Es war ihm lieb und auch wieder unlieb, daß der Vater seine Lage durchschaut hatte. Der Alte stand auf und gab dem Sohn den Brief.
»Höre«, sagte er, »um deine Frau mach dir keine Sorgen; was getan werden kann, wird getan werden. Nun höre: diesen Brief gib an Michail Ilarionowitsch Kutusow ab. Ich habe ihm geschrieben, er soll dich für ordentliche Aufgaben verwenden und dich nicht zu lange als Adjutanten behalten; das ist eine garstige Stellung. Sag ihm, daß ich ihn in gutem Andenken habe und ihm zugetan bin. Und schreibe mir, wie er dich aufnimmt. Wenn er sich gut und freundlich gegen dich benimmt, dann diene ihm. Aber um in Gunst zu kommen, darf der Sohn des Fürsten Nikolai Andrejewitsch Bolkonski niemandem dienen. Nun, jetzt komm hierher.«
Er redete mit solcher Schnelligkeit, daß er nicht die Hälfte der Worte vollständig aussprach; aber der Sohn war schon daran gewöhnt, ihn trotzdem zu verstehen. Er führte den Sohn an den Schreibtisch, schlug den Deckel zurück, zog einen Kasten auf und nahm ein Heft heraus, das mit seinen kräftigen, langen, engstehenden Buchstaben vollgeschrieben war.
»Wahrscheinlich werde ich vor dir sterben. Also sieh: da sind meine Memoiren, die übergib nach meinem Tod dem Kaiser. Und nun hier: ein Wertpapier und ein Brief; das ist ein Preis, den ich für denjenigen aussetze, der eine Geschichte der Feldzüge Suworows schreiben wird; das übersende der Akademie. Hier sind gelegentliche Bemerkungen, die ich aufgezeichnet habe; wenn ich tot bin, so lies sie still für dich; du wirst davon Vorteil haben.«
Andrei sagte seinem Vater nicht, daß er doch gewiß noch lange leben werde. Er wußte, daß er dergleichen nicht sagen durfte.
»Ich werde alles ausführen, lieber Vater«, erwiderte er.
»Nun, also dann leb wohl!« Er reichte dem Sohn die Hand zum Kuß und umarmte ihn. »Das eine halte dir gegenwärtig, Fürst Andrei: wenn du im Krieg fällst, so wird das für mich alten Mann ein Schmerz sein …« Hier schwieg er unerwartet und fuhr dann plötzlich mit schreiender Stimme fort: »Aber wenn ich erfahren sollte, daß du dich nicht so geführt hast, wie es sich für den Sohn Nikolai Bolkonskis geziemt, dann wird das für mich eine Schmach sein!« Die letzten Worte kamen kreischend heraus.
»Das hatten Sie nicht nötig mir zu sagen, lieber Vater«, erwiderte der Sohn lächelnd.
Der Alte schwieg.
»Ich habe an Sie noch eine Bitte«, fuhr Fürst Andrei fort. »Wenn ich fallen sollte und wenn mir ein Sohn geboren wird, dann lassen Sie ihn, bitte, nicht aus Ihrer Hut, wie ich Sie schon gestern bat, damit er bei Ihnen hier aufwächst. Darum bitte ich Sie.«
»Deiner Frau soll er also nicht überlassen werden?« sagte der Alte und lachte.
Schweigend standen sie einander gegenüber. Die lebendigen Augen des alten Fürsten waren gerade auf die Augen des Sohnes gerichtet. Da ging ein Zucken über den unteren Teil des Gesichtes des Vaters.
»Nun haben wir voneinander Abschied genommen … nun geh!« sagte er plötzlich. »Geh!« schrie er mit lauter, zorniger Stimme und öffnete die Tür des Arbeitszimmers.
»Was ist denn? Was gibt es?« fragten die Fürstin und die Prinzessin, als sie den Fürsten Andrei und die für einen Augenblick zum Vorschein kommende Gestalt des laut und zornig schreienden alten Mannes, im weißen Schlafrock, ohne Perücke und mit der altväterischen Brille, erblickten.
Fürst Andrei seufzte und gab keine Antwort.
»Nun«, sagte er zu seiner Frau gewendet.
Dieses »nun« klang wie kalter Spott, als ob er sagen wollte: »Jetzt mache du deine törichten Mätzchen!«
»Andrei, schon?« sagte die kleine Fürstin, die ganz blaß wurde und voll Angst ihren Mann anblickte.
Er umarmte sie. Sie schrie auf und sank bewußtlos gegen seine Schulter.
Vorsichtig zog er die Schulter, an der sie lag, weg, sah ihr ins Gesicht und setzte sie behutsam auf einen Lehnstuhl.
»Adieu, Marja«, sagte er leise zu seiner Schwester; sie küßten sich, einander gleichzeitig die Hand drückend, und er ging mit schnellen Schritten aus dem Zimmer.
Die Fürstin lag auf dem Lehnstuhl, Mademoiselle Bourienne rieb ihr die Schläfen. Prinzessin Marja stützte ihre Schwägerin, blickte mit den schönen, verweinten Augen immer noch nach der Tür, durch die Fürst Andrei hinausgegangen war, und machte das Zeichen des Kreuzes hinter ihm her. Aus dem Arbeitszimmer hörte man, wie der alte Herr sich mehrmals grimmig und sehr laut schneuzte; es klang fast wie wiederholte Pistolenschüsse. Sobald Fürst Andrei hinausgegangen war, wurde die Tür des Arbeitszimmers schnell geöffnet, und es erschien die Gestalt des strengblickenden Alten im weißen Schlafrock.
»Ist er abgefahren? Nun, dann ist’s gut!« sagte er, warf einen ärgerlichen Blick auf die ohnmächtig daliegende kleine Fürstin, schüttelte unzufrieden den Kopf und schlug die Tür wieder zu.
Fußnoten
1 Koseform für Andrei.
Anm. des Übersetzers.
Zweiter Teil
I
Im Oktober 1805 besetzten russische Truppen nicht wenige Dörfer und Städte des Erzherzogtums Österreich, und immer neue Regimenter langten aus Rußland an und schlugen, die Einwohner durch die Einquartierung arg bedrückend, bei der Festung Braunau ein Lager auf. In Braunau war das Hauptquartier des Oberkommandierenden Kutusow.
Am Morgen des 11. Oktober1 1805 war eines der soeben bei Braunau eingetroffenen Infanterieregimenter, in Erwartung der Besichtigung durch den Oberkommandierenden, eine halbe Meile vor der Stadt aufmarschiert. Obgleich das Regiment sich im Ausland befand, wo die Landschaft einen nichtrussischen Charakter trug (Obstgärten, steinerne Einfassungsmauern, Ziegeldächer, ferne Bergzüge) und eine nichtrussische Bevölkerung das fremde Militär neugierig betrachtete, so hatte das Regiment doch genau dasselbe Aussehen wie jedes russische Regiment, welches sich irgendwo im Innern Rußlands zur Besichtigung bereitgemacht hat.
Am vorhergehenden Abend, nach Zurücklegung des letzten Tagemarsches, war eine Order eingegangen, der Oberkommandierende wünsche das Regiment auf dem Marsch zu besichtigen. Obgleich der Wortlaut der Order dem Regimentskommandeur unklar erschienen war und sich die Frage erhoben hatte, wie der betreffende Ausdruck der Order zu verstehen sei, ob marschmäßig oder nicht, so war doch in einer mit den Bataillonskommandeuren abgehaltenen Beratung beschlossen worden, das Regiment parademäßig vorzustellen, aufgrund der Regel, daß es immer besser ist, in Achtungsbezeigungen zu viel als zu wenig zu tun. So hatten denn die Soldaten nach einem Marsch von dreißig Werst die ganze Nacht über kein Auge geschlossen; sie hatten ihre Sachen ausgebessert und gereinigt; die Adjutanten und Kompanieführer hatten ihre Berechnungen für die Aufstellung gemacht und die Leute abgezählt, und am Morgen bildete das Regiment statt eines langgezogenen, unordentlichen Haufens, wie es sich tags zuvor auf dem letzten Marsch präsentiert hatte, eine wohlgeordnete Masse von zweitausend Mann, von denen ein jeder seinen Platz und seine Obliegenheit kannte, und bei denen an dem Anzug eines jeden jeder Knopf und jeder Riemen an seiner Stelle war und vor Sauberkeit glänzte. Und nicht nur die Außenseite der Leute war in guter Ordnung; sondern wenn es dem Oberkommandierenden beliebt hätte, einen Blick auch unter die Uniformen zu tun, so würde er bei jedem Mann ohne Ausnahme ein reines Hemd und in jedem Tornister die vorschriftsmäßige Zahl von Gegenständen, den »ganzen Kommißplunder«, nach soldatischer Bezeichnung, gefunden haben. Es gab nur einen Punkt, in betreff dessen niemand beruhigt sein konnte: das Schuhzeug. Mehr als die Hälfte der Leute hatte zerrissene Stiefel. Aber an diesem Mangel war der Regimentskommandeur schuldlos; denn trotz seiner wiederholten Forderungen hatte ihm die österreichische Intendantur kein Leder geliefert, und das Regiment war tausend Werst marschiert.
Der Regimentskommandeur war ein schon ältlicher General, dessen Augenbrauen und Backenbart bereits zu ergrauen begannen, ein vollblütiger, stämmiger Mann, von der Brust zum Rücken gemessen breiter als von einer Schulter zur andern. Er trug eine nagelneue Uniform, die aber vom Transport Quetschfalten aufwies, und dicke goldene Epauletten, von denen, wie es beinah scheinen konnte, seine fleischigen Schultern nicht sowohl nach unten als vielmehr nach oben gezogen wurden. Das Benehmen des Regimentskommandeurs machte den Eindruck, als ob er ganz glückselig eine der bedeutsamsten Handlungen seines Lebens vollzöge. Er schritt vor der Front auf und ab und zuckte bei jedem Schritt zusammen, indem er den Rücken ein wenig krümmte. Man sah, daß dieser Regimentskommandeur in sein Regiment verliebt war, daß der Anblick desselben ihn glücklich machte, daß zur Zeit seine gesamte Denktätigkeit einzig und allein auf das Regiment gerichtet war; und doch konnte man aus seinem zuckenden Gang entnehmen, daß außer den militärischen Interessen auch das gesellschaftliche Leben und der Umgang mit dem weiblichen Geschlecht ihm von großer Wichtigkeit waren.
»Nun, lieber Michail Mitritsch«, wandte er sich an einen Bataillonskommandeur (der Bataillonskommandeur trat lächelnd vor; man konnte beiden ansehen, daß sie sich glücklich fühlten), »heute nacht haben wir ein schweres Stück Arbeit gehabt. Aber es scheint ja leidlich zurechtgekommen zu sein; das Regiment sieht nicht gerade übel aus … Wie?«
Der Bataillonskommandeur verstand die fröhliche Ironie und lachte.
»Sogar auf dem Petersburger Paradeplatz würde es Ehre einlegen«, erwiderte er.
»Nicht wahr?« sagte der Regimentskommandeur.
In diesem Augenblick erschienen auf dem Weg von der Stadt her, auf welchem in Abständen Signalposten aufgestellt waren, zwei Reiter. Es waren ein Adjutant und ein hinter ihm reitender Kosak.
Der Adjutant war aus dem Hauptquartier hergesandt, um dem Regimentskommandeur einen Punkt besonders einzuschärfen (es war gerade derjenige, der in der gestrigen Order undeutlich ausgedrückt gewesen war!), nämlich daß der Oberkommandierende das Regiment ganz in dem Zustand zu sehen wünsche, in dem es angelangt sei, in Mänteln, mit Tschakoüberzügen und ohne alle Vorbereitungen.
Bei Kutusow war am vorhergehenden Abend ein Mitglied des Hofkriegsrats aus Wien eingetroffen mit der dringenden Aufforderung, möglichst schnell aufzubrechen und sich mit der Armee des Erzherzogs Ferdinand und des Generals Mack zu vereinigen, und Kutusow, der diese Vereinigung nicht für vorteilhaft hielt, beabsichtigte nun, neben anderen Beweisen für die Richtigkeit seiner Anschauung, dem österreichischen General den traurigen Zustand vor Augen zu führen, in welchem die Truppen aus Rußland einträfen. Zu diesem Zweck wollte er jetzt hinauskommen und das Regiment in Empfang nehmen; je übler also der Zustand des Regimentes war, um so angenehmer mußte es dem Oberkommandierenden sein. Diese Einzelheiten waren dem Adjutanten zwar nicht bekannt; aber er überbrachte dem Regimentskommandeur den strikten Befehl des Oberkommandierenden, die Leute sollten in Mänteln und Tschakoüberzügen antreten; andernfalls werde der Oberkommandierende sehr ungehalten sein. Als der Regimentskommandeur diese Weisung hörte, ließ er den Kopf hängen, zog schweigend die Schultern in die Höhe und breitete erregt und beinah verzweifelt die Arme auseinander.
»Na, da haben wir eine schöne Dummheit gemacht!« murmelte er vor sich hin. Dann wandte er sich in vorwurfsvollem Ton an den Bataillonskommandeur: »Sehen Sie wohl, ich habe es Ihnen ja gleich gesagt: bei einer Besichtigung auf dem Marsch wird in Mänteln angetreten … Ach du lieber Gott!« fügte er hinzu und trat dann in entschlossener Haltung näher an die Front. »Die Herren Kompanieführer!« rief er mit seiner geübten Kommandostimme. »Die Feldwebel!« … »Wird Seine Exzellenz bald erscheinen?« fragte er den Adjutanten aus dem Hauptquartier mit einer respektvollen Höflichkeit, die sich augenscheinlich auf die Person bezog, von der er sprach.
»Ich denke, in einer Stunde.«
»Ob wir wohl noch Zeit haben, die Leute sich anders anziehen zu lassen?«
»Das kann ich nicht beurteilen, General …«
Der Regimentskommandeur trat selbst an die Reihen heran und ordnete an, es sollten die Mäntel wieder angezogen werden. Die Kompanieführer liefen bei ihren Kompanien hin und her, die Feldwebel beeilten sich (die Mäntel waren nicht völlig in Ordnung), und die vorher in regelmäßigen Figuren schweigend dastehenden Karrees gerieten alle in demselben Augenblick in Bewegung, zogen sich auseinander und ließen ein summendes Stimmengeräusch vernehmen. Überall liefen Soldaten zur Seite und dann wieder heran, hoben die eine Schulter nach hinten in die Höhe, zogen die Tornister über den Kopf, machten die Mäntel los und steckten die hoch aufgehobenen Arme in die Ärmel.
Nach einer halben Stunde war alles wieder in die frühere Ordnung gekommen; nur hatten sich die schwarzen Karrees in graue verwandelt. Der Regimentskommandeur ging wieder mit seinem zuckenden Gang vor der Front entlang und musterte das Regiment von weitem.
»Was ist denn das da noch? Was stellt das vor?« schrie er stehenbleibend. »Der Kompaniechef von der dritten Kompanie soll herkommen!«
»Der Kompaniechef von der dritten Kompanie zum General! Der Kompaniechef zum General, von der dritten Kompanie zum Kommandeur!« So schwirrten Stimmen durch die Glieder, und der Regimentsadjutant eilte hin, um den noch nicht erscheinenden Offizier zu suchen.
Als die Rufe der eifrigen Stimmen, die bereits Konfusion verursachten und »Der General zur dritten Kompanie!« riefen, an ihre Bestimmung gelangten, trat der verlangte Offizier aus seiner Kompanie heraus und begab sich, obgleich er schon ein älterer Mann und des Laufens ungewohnt war, im Trab zum General, wobei er ungeschickt mit den Fußspitzen stolperte. Auf dem Gesicht des Hauptmanns malte sich derselbe Ausdruck von Angst wie auf dem eines Schülers, der seine Lektion nicht gelernt hat und sie nun aufsagen soll. Auf seiner offenbar vom Trunk geröteten Nase traten dunkle Flecken hervor, und er vermochte nicht, die Lippen in ruhiger Stellung zu halten. Der Regimentskommandeur sah den Hauptmann, während dieser atemlos herankam, aber, je mehr er sich näherte, seine Schritte immer mehr verlangsamte, vom Kopf bis zu den Füßen an.
»Nächstens werden Sie Ihren Leuten wohl noch Damenkleider anziehen! Was stellt das da vor?« schrie der Regimentskommandeur, indem er den Unterkiefer vorstreckte und in den Reihen der dritten Kompanie auf einen Soldaten zeigte, dessen Mantel durch sein feineres Tuch und durch seine Farbe von den übrigen Mänteln abstach. »Und wo haben Sie selbst denn gesteckt? Der Oberkommandierende wird erwartet, und Sie entfernen sich von Ihrem Platz? He …? Ich werde Sie lehren, den Leuten zur Besichtigung Phantasiekostüme anzuziehen! He?«
Der Kompanieführer drückte, ohne die Augen von seinem Vorgesetzten wegzuwenden, die beiden Finger immer fester an den Mützenschirm, als ob er in diesem Andrücken jetzt seine einzige Rettung sähe.
»Nun, warum schweigen Sie? Wer ist das da in Ihrer Kompanie, der als Ungar herausgeputzt ist?« spottete der Regimentskommandeur in scharfem Ton.
»Euer Exzellenz …«
»Was heißt ›Euer Exzellenz‹? ›Euer Exzellenz, Euer Exzellenz!‹ Aber was nun kommen soll, das weiß kein Mensch!«
»Euer Exzellenz, es ist Dolochow, der Degradierte«, sagte der Hauptmann leise.
»Na, ist er zum Feldmarschall degradiert oder zum Gemeinen? Wenn er zum Gemeinen degradiert ist, dann muß er sich auch kleiden wie alle, reglementsmäßig.«
»Euer Exzellenz haben es ihm für die Dauer des Feldzugs selbst gestattet.«
»Ich habe es gestattet? Ich habe es gestattet? Ja, so seid ihr immer, ihr jungen Leute«, erwiderte der Regimentskommandeur, sich ein wenig beruhigend. »Ich habe es gestattet? Wenn man zu euch nur eine Silbe sagt, dann denkt ihr gleich …« Der Regimentskommandeur schwieg ein Weilchen. »Wenn man zu euch nur eine Silbe sagt, dann denkt ihr gleich … Was erlauben Sie sich?« fuhr er, wieder zornig werdend, fort. »Sorgen Sie dafür, daß Ihre Leute anständig angezogen sind …«
Der Regimentskommandeur blickte sich nach dem Adjutanten aus dem Hauptquartier um und ging dann mit seinem zuckenden Gang näher an das Regiment heran. Es war klar, daß seine Heftigkeit ihm selbst Vergnügen machte, und daß er, am Regiment entlanggehend, noch einen neuen Vorwand zum Zorn suchte. Nachdem er einen Offizier wegen eines nicht blank genug geputzten Ordens und einen andern wegen unordentlicher Aufstellung seiner Leute heruntergemacht hatte, gelangte er zur dritten Kompanie.
»Wi-i-ie stehst du da? Wo ist dein Bein? Wo dein Bein ist?« schrie der Regimentskommandeur in einem Ton, als ob er einen furchtbaren Schmerz empfände, als er noch fünf Mann zwischen sich und Dolochow hatte, der einen bläulichen Mantel trug.
Dolochow streckte das gebogene Bein langsam gerade und schaute mit seinem hellen, frechen Blick dem General unverwandt ins Gesicht.
»Was soll der blaue Mantel? Weg damit … Feldwebel! Der Mann soll einen andern Mantel bekommen … So ein nichtswür–« Er kam nicht dazu, das Wort zu Ende zu sprechen.
»General«, fiel ihm Dolochow rasch ins Wort, »ich bin verpflichtet, Befehle zu erfüllen, aber nicht verpflichtet, mir Beleidigungen …«
»Mund halten im Glied! Mund halten! Mund halten!«
»Nicht verpflichtet, mir Beleidigungen gefallen zu lassen«, vollendete Dolochow seinen Satz mit lauter, klangvoller Stimme.
Die Blicke des Generals und des Gemeinen begegneten einander. Der General schwieg und zog zornig seine straffsitzende Schärpe nach unten.
»Bitte, kleiden Sie sich um«, sagte er dann und ging weiter.
Fußnoten
1 Alten Stils; so stets. Nach dem Gregorianischen Kalender sind 12 Tage hinzuzurechnen.
Anm. des Übersetzers.
II
»Er kommt!« rief in diesem Augenblick der Signalposten.
Der Regimentskommandeur, dunkelrot im Gesicht, lief zu seinem Pferd, ergriff mit zitternden Händen den Steigbügel, brachte mit einem Schwung seinen Körper auf das Pferd, setzte sich im Sattel zurecht, zog den Degen und machte sich mit glückstrahlender, entschlossener Miene, den Mund auf der einen Seite öffnend, bereit, loszuschreien. Durch das Regiment ging eine schütternde Bewegung, wie wenn ein Vogel sein Gefieder schüttelt; dann stand alles starr und regungslos.
»Still-ll-ll gestanden!« schrie der Regimentskommandeur mit gewaltig schmetternder Stimme, die zugleich seine persönliche Freude, seine Strenge gegen das Regiment und seinen Respekt vor dem sich nähernden Vorgesetzten zum Ausdruck brachte.
Auf der breiten, mit Bäumen eingefaßten, großen, ungepflasterten Landstraße kam, leise in den Federn klirrend, in raschem Trab eine hohe, blaue, vierspännige Wiener Kalesche gefahren. Hinter der Kalesche folgte zu Pferd die Suite und eine aus Kroaten bestehende Eskorte. Neben Kutusow saß ein österreichischer General in weißer Uniform, die von den schwarzen russischen Uniformen sonderbar abstach. Der Wagen hielt bei dem Regiment. Kutusow und der österreichische General redeten flüsternd etwas miteinander, und während Kutusow, schwer auftretend, mit Benutzung des Wagentrittes ausstieg, lächelte er leise vor sich hin, als ob diese zweitausend Soldaten, die mit angehaltenem Atem auf ihn und auf ihren Regimentskommandeur blickten, gar nicht vorhanden wären.
Ein Kommandoruf erscholl; wieder ging ein klirrendes Zucken durch das Regiment: das Regiment präsentierte das Gewehr. In der Totenstille ertönte die schwache Stimme des Oberkommandierenden, der das Regiment begrüßte. Das Regiment brüllte: »Wir wünschen Ihnen Gesundheit, Euer E-e-enz!« und wieder wurde alles starr und regungslos. Während des Präsentierens und der Begrüßung war Kutusow an einem Fleck stehengeblieben; aber nun begann er an der Seite des weißen Generals, zu Fuß, gefolgt von der Suite, an den Reihen entlangzugehen.
Aus der Art, wie der Regimentskommandeur vor dem Oberkommandierenden salutierte, kein Auge von ihm verwandte, Front machte und zu ihm heranschlich, wie er vornübergebeugt, seine zuckende Bewegung nur mangelhaft unterdrückend, hinter den beiden Generalen an den Reihen entlangging, wie er bei jedem Wort und jeder Bewegung des Oberkommandierenden zusprang, aus alledem ließ sich erkennen, daß er seine Pflichten als Untergebener mit noch größerem Genuß erfüllte als seine Pflichten als Vorgesetzter.
Das Regiment befand sich dank der Strenge und Sorgfalt seines Kommandeurs, mit anderen zu gleicher Zeit in Braunau anlangenden Regimentern verglichen, in einem ausgezeichneten Zustand. Die Nachzügler und Kranken beliefen sich nur auf zweihundertundsiebzehn Mann. Und alles war in Ordnung, mit Ausnahme des Schuhzeugs.
Während Kutusow an den Reihen entlangging, blieb er ab und zu stehen und sagte ein paar freundliche Worte zu Offizieren, die er vom türkischen Krieg her kannte, mitunter auch zu Gemeinen. Beim Anblick des Schuhwerks schüttelte er einige Male trübe den Kopf und machte den österreichischen General darauf aufmerksam, mit einer Miene, als wolle er niemandem einen Vorwurf daraus machen, müsse aber doch konstatieren, daß das eine recht üble Sache sei. Der Regimentskommandeur lief dabei jedesmal etwas nach vorn, näher an die Generäle heran, aus Furcht, irgendein auf das Regiment bezügliches Wort des Oberkommandierenden zu überhören. Hinter Kutusow, in einem solchen Abstand, daß man jedes auch nur leise gesprochene Wort hören konnte, ging die aus ungefähr zwanzig Personen bestehende Suite. Die Herren von der Suite unterhielten sich miteinander und lachten mitunter. Am nächsten von allen hinter dem Oberkommandierenden ging ein Adjutant von hübschem Äußern. Dies war Fürst Bolkonski. Neben ihm ging sein Kamerad Neswizki, ein hochgewachsener, dicker Stabsoffizier mit einem gutmütig lächelnden, hübschen Gesicht und feuchten Augen; Neswizki konnte kaum das Lachen unterdrücken, zu dem er sich durch einen neben ihm gehenden schwarzhaarigen Husarenoffizier gereizt fühlte. Dieser Husarenoffizier blickte, ohne zu lächeln und ohne den Ausdruck seiner regungslosen Augen zu verändern, mit ernster Miene auf den Rücken des Regimentskommandeurs hin und ahmte jede seiner Bewegungen nach. Jedesmal wenn der Regimentskommandeur zusammenzuckte und sich nach vorn bog, zuckte genau ebenso, aufs Haar ebenso auch der Husarenoffizier zusammen und bog sich nach vorn. Neswizki lachte und stieß die andern an, damit auch sie den Spaßmacher ansähen.
Mit langsamen, müden Schritten ging Kutusow an den Tausenden von Augen vorbei, die fast aus ihren Höhlen springen wollten, während sie auf den hohen Besuch hinblickten. Als er zur dritten Kompanie gekommen war, blieb er auf einmal stehen. Die Suite, die dieses plötzliche Stehenbleiben nicht hatte voraussehen können, geriet unwillkürlich näher an ihn heran.
»Ah, Timochin!« sagte der Oberkommandierende, als er den Hauptmann mit der roten Nase erkannte, dem es wegen des blauen Mantels so schlecht ergangen war.
Man hätte meinen sollen, daß es unmöglich sei, sich noch strammer auszurecken, als es Timochin zu der Zeit getan hatte, wo ihn der Regimentskommandeur tadelte. Aber in diesem Augenblick, wo sich der Oberkommandierende zu ihm wendete, reckte sich der Hauptmann dermaßen gerade, daß es schien, wenn der Oberkommandierende ihn noch eine Weile ansähe, so würde der Hauptmann sich Schaden tun; und deshalb wandte sich Kutusow schnell von ihm ab, da er augenscheinlich die Situation des Hauptmanns begriff und ihm alles Gute wünschte. Über Kutusows volles, durch eine Narbe entstelltes Gesicht flog ein ganz leises Lächeln.
»Noch ein Kamerad von der Erstürmung Ismaïls her«, sagte er. »Ein tapferer Offizier! Bist du mit ihm zufrieden?« fragte Kutusow den Regimentskommandeur.
Der Regimentskommandeur, der, ohne daß er davon eine Ahnung hatte, in dem ihn kopierenden Husarenoffizier sein Spiegelbild fand, zuckte zusammen, trat weiter vor und antwortete: »Sehr zufrieden, Euer hohe Exzellenz!«
»Es hat ja jeder von uns seine Schwächen«, bemerkte Kutusow lächelnd im Weitergehen. Er war selbst ein großer Verehrer des Bacchus.
Der Regimentskommandeur erschrak, da er nicht recht wußte, ob das nicht etwa ein Vorwurf für ihn selbst sein sollte, und antwortete nichts. In diesem Augenblick bemerkte der Husarenoffizier das Gesicht des Hauptmanns mit der roten Nase und dem eingeschnürten Bauch und ahmte seine Miene und Haltung so täuschend ähnlich nach, daß Neswizki das Lachen nicht unterdrücken konnte. Kutusow drehte sich um. Aber hier konnte man von neuem beobachten, daß der Husarenoffizier die Fähigkeit besaß, sein Gesicht so zu gestalten, wie er nur wollte: in dem Augenblick, wo Kutusow sich umdrehte, nahm der Husarenoffizier, der soeben eine solche Grimasse geschnitten hatte, die ernsteste, respektvollste, unschuldigste Miene von der Welt an.
Die dritte Kompanie war die letzte; Kutusow schien etwas zu überlegen und sich auf etwas besinnen zu wollen. Fürst Andrei trat aus der Suite vor und sagte zu ihm leise auf französisch:
»Sie haben befohlen, Sie an den degradierten Dolochow in diesem Regiment zu erinnern.«
»Wo ist hier Dolochow?« fragte Kutusow.
Dolochow, der seinen blauen Mantel bereits mit einem grauen Soldatenmantel vertauscht hatte, wartete nicht erst, bis er vorgerufen wurde. Die schlanke Gestalt des blonden Soldaten mit den hellen, blauen Augen trat vor die Front. Er schritt auf den Oberkommandierenden zu und präsentierte das Gewehr.
»Eine Beschwerde?« fragte Kutusow und runzelte ein wenig die Stirn.
»Es ist Dolochow«, erwiderte Fürst Andrei.
»Ah!« machte Kutusow. »Nun, ich hoffe, daß dich diese Lektion bessern wird; halte dich brav. Der Kaiser ist gnädig. Auch ich werde an dich denken, wenn du dich dessen würdig zeigst.«
Die blauen, hellen Augen blickten den Oberkommandierenden ebenso dreist an wie vorher den Regimentskommandeur, als wenn sie durch ihren Ausdruck die konventionelle Scheidewand durchbrechen wollten, die den Oberkommandierenden vom gemeinen Soldaten so weit trennt.
»Ich habe nur eine Bitte, Euer hohe Exzellenz«, sagte er ohne Eile mit seiner klangreichen, festen Stimme. »Ich bitte, mir Gelegenheit zu geben, mein Vergehen wiedergutzumachen und meine Ergebenheit für Seine Majestät den Kaiser und für Rußland zu beweisen.«
Kutusow wandte sich ab. Über sein Gesicht huschte dasselbe leise Lächeln wie vorher, als er sich von dem Hauptmann Timochin abgewandt hatte. Er wandte sich ab und runzelte die Stirn, als ob er damit ausdrücken wollte, daß er alles, was Dolochow ihm gesagt habe, und alles, was er ihm noch weiter sagen könne, schon längst, längst wisse, daß dies alles ihm bereits bis zum Ekel zuwider sei, und daß dies alles gar nicht das Richtige sei. Er wandte sich ab und ging wieder zu seinem Wagen.
Das Regiment löste sich in Kompanien auf und begab sich nach den ihm angewiesenen Quartieren nicht weit von Braunau, wo es Schuhwerk und Kleidung zu erhalten und sich nach den schweren Märschen zu erholen hoffte.
»Sie haben mir doch nichts übelgenommen, Prochor Ignatjitsch?« sagte der Regimentskommandeur, als er zu Pferde die nach ihrem Bestimmungsort marschierende dritte Kompanie eingeholt hatte und zu dem an ihrer Spitze gehenden Hauptmann Timochin gelangt war. (Das Gesicht des Regimentskommandeurs zeigte den unbezwingbaren Ausdruck seiner Freude über den glücklichen Verlauf der Besichtigung.) »Dienst ist eben Dienst … Es geht nicht anders … Man schimpft wohl manchmal vor der Front … Aber nun bitte ich auch um Entschuldigung; Sie kennen mich ja … Er hat sich sehr anerkennend geäußert!« Er streckte dem Kompanieführer die Hand entgegen.
»Aber ich bitte Sie, General, wie dürfte ich denn etwas übelnehmen!« antwortete der Hauptmann, dessen Nase noch röter wurde, lächelnd; bei dem Lächeln wurde das Fehlen zweier Vorderzähne sichtbar, die ihm beim Angriff auf Ismaïl mit einem Gewehrkolben ausgeschlagen waren.
»Und teilen Sie auch Herrn Dolochow zu seiner Beruhigung mit, daß ich ihn nicht vergessen werde. Sagen Sie mir doch, ich wollte Sie schon immer danach fragen, was ist er denn eigentlich für ein Mensch, wie macht er sich, und überhaupt …«
»Seinen Dienst tut er durchaus ordnungsmäßig, Euer Exzellenz … Aber sein Charakter …«, erwiderte Timochin.
»Nun, was denn? Was ist denn mit seinem Charakter?« fragte der Regimentskommandeur.
»Er hat Tage, an denen ein böser Geist über ihn kommt, Euer Exzellenz«, antwortete der Hauptmann. »Mal ist er klug und verständig und gutmütig, und dann mal wieder wie eine wilde Bestie. In Polen hat er einen Juden beinahe totgeschlagen, wie Sie ja wissen …«
»Nun ja, nun ja«, sagte der Regimentskommandeur, »aber man muß doch mit so einem jungen Menschen in seinem Unglück Mitleid haben. Er hat ja auch gute Konnexionen … Also da werden Sie … hm …«
»Zu Befehl, Euer Exzellenz«, erwiderte Timochin und gab durch sein Lächeln zu verstehen, daß er die Wünsche seines Vorgesetzten verstanden hatte.
»Nun schön, schön.«
Der Regimentskommandeur hatte in den Reihen Dolochow herausgefunden und hielt sein Pferd bei ihm an.
»Verdienen Sie sich im ersten Gefecht die Epauletten wieder!« sagte er zu ihm.
Dolochow wendete sich nach ihm hin; aber er sagte nichts und änderte auch nicht den Ausdruck seines spöttisch lächelnden Mundes.
»Nun, also abgemacht!« fuhr der Regimentskommandeur fort. »Die Leute sollen jeder ein Glas Branntwein auf meine Kosten bekommen«, fügte er laut hinzu, damit die Soldaten es hörten. »Ich danke euch allen! Es ist ja alles, Gott sei Dank, gutgegangen!« Er ritt an der Kompanie vorbei und zu einer andern hin.
»Das muß man sagen, er ist wirklich ein guter Mensch; man kann ganz gern unter ihm dienen«, meinte Timochin zu einem neben ihm gehenden Leutnant.
»Gewiß! Wie sollte denn auch der Herzenkönig« (dies war der Spitzname des Regimentskommandeurs) »kein gutes Herz haben?« erwiderte der Leutnant lachend.
Die heitere Stimmung, in welcher sich die Vorgesetzten nach der Besichtigung befanden, war auch auf die Gemeinen übergegangen. Die Kompanien marschierten fröhlich einher. Überall hörte man die Soldaten munter untereinander reden.
»Wie konntet ihr bloß sagen, daß Kutusow auf einem Auge nicht sehen kann?«
»Na, ist es etwa nicht so? Er ist einäugig.«
»Nein, Bruder, der kann besser sehen als du. Die Stiefel und die Fußlappen, alles hat er sich beguckt …«
»Wie der mir auf die Füße sah, Bruder … na, ich dachte …«
»Aber der andre, der Österreicher, der mit bei ihm war, der sah doch ganz aus wie mit Kreide beschmiert. Wie weißes Mehl. Ich denke bloß, was mag das für eine Arbeit sein, die Uniform zu reinigen!«
»Hör mal, Fjodor! Hat er gesagt, wann der Kampf losgehen wird? Du standst ja dichter dran. Es heißt ja, der Bunaparte steht selbst in Brunow.«
»Der Bunaparte in Brunow! Schwatz nicht solchen Unsinn, du Narr! Was du nicht alles weißt! Jetzt rebelliert der Preuße. Also da wird ihn der Österreicher zur Räson bringen. Wenn der wird Frieden machen, dann fängt der Krieg mit dem Bunaparte an. Und da redest du, Mensch, der Bunaparte steht in Brunow! Da sieht man mal, wie dumm du bist. Hör besser zu, wenn was gesagt wird.«
»Nein, diese verdammten Quartiermacher! Sieh mal bloß, die fünfte Kompanie schwenkt schon in ein Dorf ein; die kochen nun gleich ihre Grütze, und wir sind noch lange nicht in unserm Quartier.«
»Gib mir ein Stück Zwieback, du Kerl, du.«
»Aber hast du mir gestern von deinem Tabak abgegeben? Siehst du wohl, Bruder! Na, da hast du, in Gottes Namen.«
»Hätten sie uns doch wenigstens Rast machen lassen; aber so können wir noch fünf Werst laufen, ehe wir was zu essen kriegen.«
»Das wäre eine schöne Sache, wenn uns die Deutschen Kutschen anspannen ließen. Dann könntest du großpreislich fahren!«
»Aber hier sind wir doch zu einem ganz närrischen Volk gekommen, Bruder. Vorher, das waren lauter Polen, die gehörten wenigstens noch zum russischen Reich; aber hier, Bruder, hier sind überall bloß Deutsche, nichts als Deutsche.«
»Die Sänger nach vorn!« ertönte das Kommando des Hauptmanns.
Aus den einzelnen Gliedern traten im ganzen etwa zwanzig Mann heraus und liefen an die Spitze der Kompanie. Der Vorsänger, ein Trommler, wendete sich mit dem Gesicht zu den Sängern zurück, schwenkte den Arm und stimmte die getragene Melodie des Soldatenliedes an, welches anfängt: »Brüder, wenn die Sonne morgens rot und goldig sich erhebt« und mit den Worten schließt: »Und mit Väterchen Kamenski wird uns hoher Ruhm zuteil.« Dieses Lied war ehemals in der Türkei gedichtet und wurde nun jetzt in Österreich gesungen, nur mit der Änderung, daß statt der Worte »Väterchen Kamenski« eingesetzt wurde: »Väterchen Kutusow«.
Indem der Trommler, ein hagerer, hübscher Mensch von ungefähr vierzig Jahren, bei diesen letzten Worten in soldatischer Manier kurz abbrach, bewegte er die Arme, als ob er etwas auf die Erde schleuderte, warf den andern Sängern einen strengen Blick zu und kniff die Augen zusammen. Dann, nachdem er sich überzeugt hatte, daß alle Augen auf ihn gerichtet waren, machte er eine Gebärde, als ob er vorsichtig mit beiden Händen einen unsichtbaren, wertvollen Gegenstand über seinen Kopf in die Höhe höbe, ihn einige Sekunden lang so hielte und auf einmal mit Energie auf die Erde würfe:
»Ach, du mein Häuschen klein«, sang er.
»Mein neues Häuschen …«, fielen zwanzig Stimmen ein, und der Löffelmacher sprang trotz seines schweren Gepäcks ausgelassen nach vorn, ging vor der Kompanie rückwärts, bewegte die Schultern hin und her und drohte dem einen und dem andern mit seinen Löffeln. Die Soldaten schlenkerten nach dem Takt des Liedes mit den Armen und gingen, unwillkürlich Takt haltend, mit weit ausgreifenden Schritten. Da wurde hinter der Kompanie Räderrollen, das Knistern von Wagenfedern und Pferdegetrappel hörbar. Kutusow kehrte mit seiner Suite nach der Stadt zurück. Der Oberkommandierende gab ein Zeichen, daß die Leute ohne Honneur weitermarschieren möchten, und ihm und seiner gesamten Suite war an den Gesichtern deutlich anzusehen, wieviel Vergnügen ihnen die Klänge des Liedes und der Anblick des tanzenden Soldaten und der frisch und fröhlich dahinmarschierenden Kompanie machte. Im zweiten Glied, auf der rechten Flanke, wo die Kutsche die Kompanie überholte, fiel einem jeden unwillkürlich der blauäugige Gemeine Dolochow auf, der besonders flott und munter nach dem Takt des Gesanges marschierte und den Vorbeifahrenden und Vorbeireitenden mit einer solchen Miene ins Gesicht sah, als ob er alle bedauerte, die in diesem Augenblick nicht mit der Kompanie marschierten. Der Husarenkornett in Kutusows Suite, der dem Regimentskommandeur nachgeäfft hatte, blieb hinter der Kutsche zurück und ritt zu Dolochow heran.
Der Husarenkornett Scherkow hatte eine Zeitlang in Petersburg zu der wilden, tollen Gesellschaft gehört, deren Matador Dolochow war. Im Ausland war Scherkow dem zum Gemeinen degradierten Dolochow wiederbegegnet, hatte aber nicht für nötig befunden, ihn zu erkennen. Jetzt nun, nachdem Kutusow mit dem Degradierten gesprochen hatte, wandte er sich mit der erfreuten Miene eines alten Freundes zu ihm:
»Nun, wie geht es dir, liebster Freund?« fragte er in den Gesang hinein und paßte den Gang seines Pferdes dem Schritt der Kompanie an.
»Wie es mir geht?« antwortete Dolochow kühl. »Wie du siehst.«
Der flotte Gesang verstärkte gleichsam noch den Ton scheinbar ungezwungener Fröhlichkeit, in welchem Scherkow gefragt hatte, und ließ den Ton beabsichtigter Kälte, in welchem Dolochow geantwortet hatte, um so stärker abstechen.
»Nun, wie stehst du mit deinen Vorgesetzten?« fragte Scherkow weiter.
»Oh, ganz gut; es sind brave Leute. Wie hast du es denn zuwege gebracht, in den Stab zu kommen?«
»Ich bin dazu abkommandiert. Ich habe Dejourdienst.«
Beide schwiegen ein Weilchen.
»Und aus dem rechten Ärmel ließ
Sie ihren Falken fliegen«,
lautete in diesem Augenblick der Text des gesungenen Liedes, das unwillkürlich bei allen Hörern ein frisches, fröhliches Gefühl erweckte. Das Gespräch der beiden hätte wahrscheinlich einen anderen Charakter getragen, wenn sie nicht bei den Klängen des Liedes miteinander gesprochen hätten.
»Ist es wahr, daß die Österreicher geschlagen sind?« fragte Dolochow.
»Wissen tut es niemand; aber gesagt wird es.«
»Freut mich!« antwortete Dolochow kurz und deutlich, wie es wegen des Gesanges notwendig war.
»Wie ist’s? Komm doch mal abends zu uns und spiele mit uns Pharo«, sagte Scherkow.
»Seid ihr denn jetzt so gut bei Gelde?«
»Komm nur hin.«
»Geht nicht. Habe es verschworen. Ich trinke nicht und spiele nicht, ehe ich nicht befördert bin.«
»Nun gut, dann müssen wir also bis zum ersten Gefecht warten.«
»Das wird sich dann zeigen.«
Wieder schwiegen sie beide.
»Wenn du irgendeinen Wunsch hast, dann wende dich nur an uns; wir beim Stab werden dir immer helfen«, sagte Scherkow.
Dolochow lächelte.
»Beunruhige dich darüber nicht. Was ich haben will, darum bitte ich nicht; das nehme ich mir selbst.«
»Gewiß, gewiß; ich meinte ja auch nur …«
»Jawohl, und ich meinte auch nur.«
»Leb wohl!«
»Adieu.«
»Er aber flog hoch in der Luft
Zur Heimat hin, der fernen …«
Scherkow gab seinem Pferd die Sporen. Dieses trat zuerst in der Erregung von einem Huf auf den andern, ohne zu wissen, mit welchem es ansetzen sollte; dann fand es sich zurecht und jagte, die Kompanie hinter sich lassend, gleichfalls im Takt des Gesanges der Kalesche nach.
III
Als Kutusow von der Truppenbesichtigung zurückgekehrt war, begab er sich, von dem österreichischen General begleitet, in sein Arbeitszimmer, rief seinen Adjutanten und beauftragte ihn, ihm gewisse Papiere, die sich auf den Zustand der eintreffenden Truppen bezogen, sowie die von dem Erzherzog Ferdinand, dem Befehlshaber der Vorhut, eingegangenen Brief zu bringen. Fürst Andrei Bolkonski trat mit den verlangten Schriftstücken in das Arbeitszimmer des Oberkommandierenden. Vor einer auf dem Tisch ausgebreiteten Landkarte saßen Kutusow und das österreichische Mitglied des Hofkriegsrates.
»Ah …«, sagte Kutusow, indem er sich nach Bolkonski umwandte, wie wenn er durch diesen Laut den Adjutanten auffordern wollte, noch ein wenig zu warten, und fuhr in dem begonnenen, auf französisch geführten Gespräch fort.
»Ich möchte nur das eine bemerken, General«, sagte Kutusow mit jener vollendeten Eleganz der Ausdrucksweise und Betonung, welche den Hörer zwang, ein jedes der langsam gesprochenen Worte genau zu beachten (es war übrigens nicht zu verkennen, daß auch Kutusow selbst sich mit Vergnügen reden hörte), »ich möchte nur das eine bemerken, General, daß, wenn die Sache von meinem persönlichen Wunsch abhinge, der Wille Seiner Majestät des Kaisers Franz längst ausgeführt wäre. Ich hätte meine Truppen schon längst mit denen des Erzherzogs vereinigt. Und glauben Sie meinem Ehrenwort, daß es mir persönlich eine große Freude gewesen wäre, den Oberbefehl über die Armee einem erfahreneren und geschickteren General, als ich (und an solchen trefflichen Generalen ist Österreich ja so außerordentlich reich), zu übergeben und diese ganze schwere Verantwortung von meinen Schultern abzuwälzen. Aber die Verhältnisse sind leider mitunter stärker als wir, General.«
Kutusow lächelte mit einem Gesichtsausdruck, als ob er sagen wollte: »Sie sind berechtigt, mir nicht zu glauben, und es ist mir sogar ganz gleichgültig, ob Sie mir glauben oder nicht; aber Sie haben keine Möglichkeit, mir das zu sagen. Und gerade darauf kommt es an.«
Der österreichische General machte ein unzufriedenes Gesicht, sah sich aber genötigt, in ähnlich verbindlicher Form zu antworten, wie Kutusow gesprochen hatte.
»O nicht doch«, sagte er in mürrischem, ärgerlichem Ton, der zu dem schmeichelhaften Sinn der von ihm gebrauchten Redewendungen in schroffem Widerspruch stand, »o nicht doch, Seine Majestät legt den allergrößten Wert auf die Mitwirkung Eurer Exzellenz bei der gemeinsamen Sache; aber wir sind der Meinung, daß durch die gegenwärtige Verzögerung den ruhmreichen russischen Truppen und ihrem Oberkommandierenden die Lorbeeren entgehen werden, welche sie in den Schlachten zu ernten gewohnt sind.« So schloß er seine offenbar vorher zurechtgelegte Phrase.