Das bei Borodino angeschossene Wild lag irgendwo in der Gegend, wo es der davoneilende Jäger verlassen hatte; aber ob es noch lebte, ob es noch Kraft hatte oder sich nur verstellte, das wußte der Jäger nicht. Plötzlich ließ sich ein Stöhnen dieses Wildes vernehmen.
Das Stöhnen dieses verwundeten Wildes, der französischen Armee, durch welches dieses seine tödliche Verwundung verriet, war die Sendung Lauristons in Kutusows Lager mit dem Friedensangebot.
Napoleon, der, wie stets, überzeugt war, daß nicht das gut sei, was allgemein für gut gehalten wurde, sondern das, was ihm gerade in den Kopf kam, schrieb an Kutusow mit den erstbesten Wendungen, die ihm einfielen, die aber gar keinen vernünftigen Sinn hatten:
»Fürst Kutusow«, schrieb er, »ich schicke einen meiner Generaladjutanten zu Ihnen, um mit Ihnen mehrere wichtige Dinge zu besprechen. Ich bitte Euer Durchlaucht, dem, was er Ihnen sagen wird, Glauben zu schenken, namentlich wenn er Ihnen die Gefühle der Hochachtung und besonderen Wertschätzung ausdrücken wird, die ich seit langer Zeit für Ihre Person hege. Dies ist der Zweck dieses Briefes. Ich bitte Gott, Fürst Kutusow, daß er Sie unter seinen heiligen, hohen Schutz nehme.
Moskau, den 3. Oktober 1812.
Gezeichnet: Napoleon.«
»Die Nachwelt würde mir fluchen, wenn man von mir glaubte, ich hätte als der erste ein Abkommen irgendeiner Art herbeigeführt. So denkt tatsächlich mein ganzes Volk«, antwortete Kutusow und wandte fortdauernd all seine Kraft daran, die Truppen vom Angriff zurückzuhalten.
In dem Monat, währenddessen das französische Heer in Moskau plünderte und das russische Heer ruhig im Lager bei Tarutino stand, vollzog sich eine Veränderung in dem Kräfteverhältnis der beiden Heere, sowohl was die Stimmung der Truppen als auch ihre Zahl anlangte, eine Veränderung, infolge deren sich herausstellte, daß das Übergewicht an Kraft auf seiten der Russen war. Obgleich der Zustand und die Quantität des französischen Heeres den Russen unbekannt waren, wurde sofort durch eine zahllose Menge von Momenten deutlich, daß nun die Offensive geboten war. Solche Momente waren: die Sendung Lauristons; und der Überfluß an Proviant in Tarutino; und die von allen Seiten einlaufenden Nachrichten über die Untätigkeit und Zuchtlosigkeit der Franzosen; und die Komplettierung unserer Regimenter durch Rekruten; und das gute Wetter; und die lange Erholung, die den russischen Soldaten vergönnt gewesen war; und die bei den Truppen infolge der Erholung sich gewöhnlich entwickelnde Ungeduld, die Aufgabe zu erfüllen, um derentwillen alle versammelt sind; und die Neugier, zu erfahren, was in der französischen Armee vorgehe, die man so lange aus dem Gesicht verloren hatte; und die Kühnheit, mit der jetzt die russischen Vorposten um die in Tarutino stehenden Franzosen umherstreiften; und die Nachrichten von den leichten Siegen der Bauern und Freischärler über die Franzosen; und der Neid, der dadurch erweckt wurde; und das Verlangen nach Rache, das ein jeder im Grunde seiner Seele bewahrt hatte, solange die Franzosen in Moskau waren; und vor allem das unklare, aber in der Seele eines jeden keimende Bewußtsein, daß das Kräfteverhältnis sich jetzt geändert hatte und das Übergewicht sich auf unserer Seite befand. Das faktische Kräfteverhältnis hatte sich geändert, und der Angriff war notwendig geworden. Und ebenso prompt, wie in einer Uhr das Glockenspiel erklingt, sobald der Zeiger einen vollen Kreis beschrieben hat, machte sich auch sofort in den höchsten Sphären, der faktischen Veränderung der Kräfte entsprechend, eine verstärkte Bewegung bemerkbar, ein Summen ließ sich hören, und das Glockenspiel ließ seine Musik ertönen.
III
Die russische Armee wurde einerseits von Kutusow und seinem Stab, andrerseits vom Kaiser von Petersburg aus geleitet. In Petersburg war, noch vor Eingang der Nachricht von der Preisgabe Moskaus, ein detaillierter Plan für den ganzen Krieg ausgearbeitet und dem Oberkommandierenden Kutusow als Anweisung zugeschickt worden. Obgleich bei der Aufstellung dieses Planes die Voraussetzung zugrunde gelegen hatte, daß Moskau noch in unseren Händen sei, wurde er dennoch vom Stab gutgeheißen und zur Ausführung akzeptiert. Kutusow schrieb nur zurück, Diversionen auf große Entfernungen seien immer schwer durchführbar. Zur Beseitigung der auftretenden Schwierigkeiten wurden neue Instruktionen geschickt sowie Personen, die Kutusows Tätigkeit überwachen und darüber berichten sollten.
Außerdem wurde jetzt in der russischen Armee der ganze Stab reorganisiert. Die Stellen Bagrations, der gefallen war, und Barclays, der sich gekränkt zurückgezogen hatte, wurden neu besetzt. Mit größtem Ernst wurde erwogen, was wohl besser sei: A. an die Stelle von B. zu sezten und B. an die Stelle von D., oder umgekehrt D. an die Stelle von A. usw., als ob, außer der Freude für die Herren A. und B., davon irgend etwas abgehangen hätte.
Im Stab der Armee nahm infolge der Feindschaft Kutusows mit seinem Generalstabschef Bennigsen und infolge der Anwesenheit der Vertrauenspersonen des Kaisers und infolge dieses Stellenwechsels das mannigfach verschlungene Intrigenspiel der Parteien noch eifriger seinen Fortgang als vorher: A. suchte die Stellung des B. zu untergraben, D. die des C. usw., in allen möglichen Permutationen und Kombinationen. Bei solchen Versuchen, einander zu schaden, hatten alle diese Intriganten hauptsächlich das Ziel, auf die Kriegführung mehr Einfluß zu gewinnen; aber der Krieg nahm unabhängig von ihnen seinen Gang genau so, wie er gehen mußte, d.h. sein Gang traf nie mit den Klügeleien dieser Menschen zusammen, sondern resultierte aus den faktischen Beziehungen der Massen zueinander. Alle diese ausspintisierten Pläne, die sich kreuzten und wechselseitig verwirrten, stellten in den höchsten Sphären nur einen treuen Reflex dessen dar, was sich vollziehen mußte.
»Fürst Michail Ilarionowitsch!« schrieb der Kaiser unter dem 2. Oktober an Kutusow, der diesen Brief nach der Schlacht bei Tarutino erhielt. »Seit dem 2. September befindet sich Moskau in den Händen der Feinde. Ihre letzten Berichte sind vom 20., und während dieser ganzen Zeit wurde nichts unternommen, um dem Feind Widerstand zu leisten und die altehrwürdige Residenz zu befreien, ja Ihren letzten Berichten zufolge sind Sie sogar noch weiter zurückgewichen. Schon ist Serpuchow von einer feindlichen Abteilung besetzt, und Tula mit seiner berühmten, für die Armee so unentbehrlichen Fabrik ist in Gefahr. Aus den Berichten des Generals Wintzingerode ersehe ich, daß ein feindliches Korps von zehntausend Mann auf der Straße nach Petersburg marschiert. Ein anderes von mehreren tausend Mann rückt gleichfalls nach Dmitrow vor. Ein drittes hat sich auf der Wladimirschen Straße in Bewegung gesetzt. Ein viertes, ziemlich beträchtliches, steht zwischen Rusa und Moschaisk. Napoleon selbst hat sich bis zum 25. noch in Moskau befunden. Da nach allen diesen Nachrichten der Feind seine Kräfte durch starke Abkommandierungen zersplittert hat und Napoleon selbst mit seiner Garde noch in Moskau ist, sollten da wirklich die Ihnen gegenüberstehenden feindlichen Kräfte so beträchtlich sein und Ihnen nicht gestatten, die Offensive zu ergreifen? Mit Wahrscheinlichkeit kann man vielmehr annehmen, daß der Feind Sie mit Abteilungen oder höchstens Korps verfolgt, die weit schwächer sind als die Ihnen anvertraute Armee. Man sollte meinen, unter Benutzung dieser Umstände könnten Sie den Feind, der Ihnen an Kräften nachsteht, vorteilhaft angreifen und ihn entweder vernichten oder wenigstens dadurch, daß Sie ihn zum Rückzug zwingen, einen erheblichen Teil der jetzt vom Feind besetzten Gouvernements wieder in unsern Besitz bringen und gleichzeitig von Tula und unseren übrigen weiter nach dem Innern zu gelegenen Städten die Gefahr abwenden. Sie werden die Verantwortung dafür zu tragen haben, wenn es dem Feind möglich sein sollte, ein beträchtliches Korps in der Richtung nach Petersburg zur Bedrohung dieser Hauptstadt zu detachieren, in welcher nicht viele Truppen zurückbleiben konnten; denn wenn Sie entschlossen und energisch handeln wollen, so besitzen Sie in der Ihnen anvertrauten Armee alle Mittel, um dieses neue Unglück abzuwenden. Vergessen Sie nicht, daß Sie dem tiefgekränkten Vaterland noch für den Verlust Moskaus Rechenschaft schuldig sind. Sie kennen aus Erfahrung meine Bereitwilligkeit, Sie zu belohnen. Diese meine Bereitwilligkeit wird keine Minderung erleiden; aber ich und Rußland sind berechtigt, von Ihrer Seite diejenige Energie und Anstrengung und diejenigen Erfolge zu erwarten, die Ihre hervorragenden geistigen Gaben, Ihre militärischen Talente und die Tapferkeit der von Ihnen geführten Truppen uns verheißen.«
Aus diesem Brief geht hervor, daß ein Reflex des faktischen Kräfteverhältnisses auch schon nach Petersburg gelangt war; aber während dieser Brief unterwegs war, hatte Kutusow die unter seinem Kommando stehende Armee nicht mehr vom Angriff zurückhalten können, und es war bereits eine Schlacht geliefert worden.
Am 2. Oktober hatte ein Kosak namens Schapowalow, der sich auf einem Patrouillenritt befand, mit seinem Gewehr einen Hasen erlegt und einen andern angeschossen. Bei der Verfolgung des angeschossenen Hasen geriet Schapowalow in eine entfernte Partie des Waldes und stieß auf den linken Flügel der Muratschen Armee, die dort ohne alle Vorsichtsmaßregeln lagerte. Der Kosak erzählte nachher lachend seinen Kameraden, daß er beinah den Franzosen in die Hände gefallen sei; ein Kornett, der diese Erzählung mit anhörte, machte dem Kommandeur davon Mitteilung.
Der Kosak wurde herbeigerufen und ausgefragt; die Kosakenkommandeure wollten diese Gelegenheit dazu benutzen, dem Feind Pferde wegzunehmen; aber einer von ihnen, der mit höheren Offizieren bekannt war, teilte die Sache einem General vom Stab mit. In der letzten Zeit war im Stab der Armee die Situation eine höchst gespannte. Jermolow war einige Tage vorher zu Bennigsen gekommen und hatte ihn dringend gebeten, all seinen Einfluß beim Oberkommandierenden aufzubieten, damit endlich ein Angriff gemacht werde.
»Wenn ich Sie nicht kennte«, hatte Bennigsen geantwortet, »so würde ich denken, daß Sie das, um was Sie bitten, in Wirklichkeit gar nicht wünschen. Ich brauche nur zu irgend etwas zu raten, so tut der Durchlauchtige bestimmt das Gegenteil.«
Die Nachricht des Kosaken, die durch ausgesandte Patrouillen bestätigt wurde, bewies endgültig, daß das Ereignis nunmehr reif sei. Die straffgespannte Saite löste sich, das Uhrwerk surrte, das Glockenspiel erklang. Trotz all seiner scheinbaren Amtsgewalt, trotz seines Verstandes, seiner Erfahrung und Menschenkenntnis konnte Kutusow angesichts einer Denkschrift Bennigsens, der auch an den Kaiser persönlich einen Bericht geschickt hatte, und des ihm von den Generalen einmütig ausgesprochenen Wunsches und des von ihm vermuteten Wunsches des Kaisers und der Nachricht des Kosaken die unvermeidlich gewordene Bewegung nicht mehr aufhalten und erteilte den Befehl zu etwas, was er für nutzlos und schädlich hielt – er gab zu der sich vollziehenden Tatsache seinen Segen.
IV
Bennigsens Denkschrift und die Nachricht des Kosaken über den ungedeckten linken Flügel der Franzosen waren nur die letzten Anzeichen dafür, daß nun notwendigerweise der Befehl zum Angriff gegeben werden mußte, und der Angriff wurde auf den 5. Oktober angesetzt.
Am 4. morgens unterschrieb Kutusow die Schlachtdisposition. Toll las sie Jermolow vor und ersuchte ihn, die weiteren Anordnungen zu treffen.
»Schön, schön, aber jetzt habe ich keine Zeit«, erwiderte Jermolow und ging aus dem Zimmer.
Die von Toll entworfene Disposition war sehr schön. Ebenso wie in der Disposition für die Schlacht bei Austerlitz, wenn auch nicht in deutscher Sprache, stand darin geschrieben:
»Die erste Kolonne marschiert da- und dahin, die zweite Kolonne marschiert da- und dahin usw.« Und alle diese Kolonnen gelangten auf dem Papier zur bestimmten Zeit an ihren Platz und vernichteten den Feind. Es war, wie in allen Dispositionen, alles wunderschön ausgedacht, und wie in allen Dispositionen kam keine einzige Kolonne zur richtigen Zeit an den richtigen Platz.
Als die Disposition in der erforderlichen Anzahl von Exemplaren fertig war, wurde ein Offizier gerufen und zu Jermolow geschickt, um ihm die Papiere zum Zwecke der Ausführung der Anweisungen zu übergeben. Der junge Chevaliergardist, ein Ordonnanzoffizier Kutusows, stolz darauf, daß ihm ein so wichtiger Auftrag erteilt war, begab sich nach Jermolows Quartier.
»Er ist weggeritten«, antwortete Jermolows Bursche.
Der Chevaliergarde-Offizier ging zu einem General, den Jermolow häufig zu besuchen pflegte.
»Er ist nicht hier, und der General ist auch nicht hier«, hieß es.
Der Offizier setzte sich zu Pferde und ritt zu einem andern General.
»Er ist nicht da, er ist weggeritten.«
»Wenn ich nur nicht für die Verzögerung verantwortlich gemacht werde! Eine dumme Geschichte!« dachte der Offizier. Er ritt im ganzen Lager umher. Der eine sagte ihm, er habe gesehen, wie Jermolow mit anderen Generalen vorbeigeritten sei, wisse aber nicht, wohin; ein anderer meinte, er werde jetzt wahrscheinlich wieder zu Hause sein. Der Offizier suchte, ohne sich Zeit zum Mittagessen zu lassen, bis sechs Uhr abends; aber Jermolow war nirgends zu finden, und niemand wußte, wo er war. Nachdem der Offizier hastig bei einem Kameraden ein paar Bissen gegessen hatte, ritt er wieder weiter, zur Vorhut, zu Miloradowitsch. Miloradowitsch war gleichfalls nicht zu Hause; aber dort wurde ihm gesagt, Miloradowitsch sei auf einem Ball beim General Kikin, und Jermolow werde höchstwahrscheinlich auch dort sein.
»Aber wo ist denn das?«
»Dort, in Jetschkino«, sagte ein Kosakenoffizier und wies nach einem fernen Gutshaus.
»Aber wie können sie denn da sein, außerhalb der Postenkette!«
»Es sind heute zwei von unseren Regimentern nach der Postenkette geschickt worden; da wird heute ein Gelage veranstaltet, großartig! Zwei Musikkapellen sind dabei und drei Sängerchöre!«
Der Offizier ritt über die Vorpostenkette hinaus nach Jetschkino. Als er sich dem Gutshaus näherte, hörte er schon von weitem die fröhlichen Klänge eines von den Soldaten im Chor gesungenen Tanzliedes.
»Auf den Au-en … auf den Au-en …«, klang es ihm entgegen; dazu wurde gepfiffen; mitunter wurde die Melodie durch fröhliches Geschrei übertönt. Dem Offizier wurde von diesen Klängen heiter zumute; aber gleichzeitig regte sich bei ihm die Furcht, er werde Vorwürfe erhalten, weil er den wichtigen, ihm eingehändigten Befehl erst so spät überbringe. Es war schon acht Uhr vorbei. Er stieg vom Pferd und trat in die Haustür des großen, unversehrt gebliebenen herrschaftlichen Gebäudes, das in der Mitte zwischen den Russen und den Franzosen lag. Im Vorzimmer und im Büfettzimmer hantierten Lakaien eifrig mit Weinen und Speisen. Unter den Fenstern standen die Sänger. Der Offizier wurde in eine Tür geführt, und nun erblickte er plötzlich die höchsten Generale der Armee alle zusammen, darunter auch die große, auffallende Gestalt Jermolows. Alle Generale hatten die Uniformröcke aufgeknöpft, standen in einem Halbkreis und lachten laut mit geröteten, vergnügten Gesichtern. In der Mitte des Saales tanzte ein General, ein kleiner, schöner Mann mit rotem Gesicht, flott und gewandt den Bauerntanz Trepak.
»Hahaha! Nein, dieser Nikolai Iwanowitsch! Hahaha!«
Der Offizier sagte sich, wenn er in diesem Augenblick mit dem wichtigen Befehl einträte, würde er seine Schuld verdoppeln, und wollte warten; aber einer der Generale hatte ihn bereits erblickt und machte, als er den Grund seines Kommens erfahren hatte, Jermolow Mitteilung. Jermolow trat mit finsterem Gesicht aus der Gruppe heraus zu dem Offizier hin, hörte ihn an und nahm, ohne ein Wort zu ihm zu sagen, das Papier von ihm entgegen.
»Denkst du, daß er so zufällig vom Haus weggeritten ist?« sagte an diesem Abend ein Kamerad vom Stab zu dem Chevaliergarde-Offizier mit Bezug auf Jermolow. »Das ist ein schlaues Manöver, alles Absicht. Konownizyn soll unter die Räder gebracht werden. Paß mal auf, morgen wird es einen netten Wirrwarr geben!«
V
Am folgenden Tag ließ sich der hinfällige Kutusow frühmorgens wecken, verrichtete sein Gebet, kleidete sich an und setzte sich in seine Kalesche mit der unangenehmen Empfindung, eine Schlacht leiten zu müssen, die er nicht billigte; so fuhr er von Letaschowka, fünf Werst hinter Tarutino, nach der Stelle, wo sich die angreifenden Kolonnen sammeln sollten. Beim Fahren schlief Kutusow abwechselnd ein und wachte wieder auf und horchte, ob nicht von rechts her Schießen zu hören sei und der Kampf begonnen habe. Aber es war noch alles still. Es begann eben erst die Morgendämmerung des feuchten, trüben Herbsttages. Als Kutusow sich Tarutino näherte, bemerkte er Kavalleristen, die ihre Pferde über den Weg herüber, auf dem sein Wagen fuhr, zur Tränke führten. Er sah sie aufmerksam an, ließ den Wagen halten und fragte sie, von welchem Regiment sie wären. Die Kavalleristen gehörten zu einer Kolonne, die schon längst weit vorn sein und im Hinterhalt liegen sollte. »Vielleicht ein Mißverständnis«, dachte der alte Oberkommandierende. Aber beim Weiterfahren erblickte er Infanterieregimenter, bei denen die Gewehre zusammengestellt und die Soldaten in Unterhosen mit Grützekochen und Holzholen beschäftigt waren. Er ließ einen Offizier herbeirufen. Der Offizier berichtete, ein Befehl zum Ausrücken sei nicht eingegangen.
»Nicht einge …«, begann Kutusow, schwieg aber sofort wieder und befahl, den höchsten Offizier zu rufen. Er stieg aus dem Wagen und ging mit gesenktem Kopf und keuchendem Atem schweigend auf und ab und wartete. Als der Gerufene, der Generalstabsoffizier Eychen, erschien, wurde Kutusow dunkelrot, nicht weil dieser Offizier an dem Irrtum schuld gewesen wäre, sondern weil er ein würdiger Gegenstand war, gegen den sich der Ausbruch seines Zornes richten konnte. Und nun geriet der alte Mann in jenen bei ihm mitunter vorkommenden Wutzustand, in dem er sich vor Zorn auf der Erde wälzen konnte, fuhr zitternd und keuchend auf Eychen los, drohte ihm mit den Fäusten und schrie und schimpfte mit den gröbsten Ausdrücken. Ein anderer, zufällig dazukommender Offizier, ein Hauptmann Brosien, den nicht die geringste Schuld traf, mußte das gleiche über sich ergehen lassen.
»Was ist das da auch noch für eine Kanaille? Erschießen müßte man diese Menschen! Die Schurken!« rief er mit heiserer Stimme und machte schwankend heftige Bewegungen mit den Armen.
Er empfand einen physischen Schmerz. Er, der Oberkommandierende, der Durchlauchtige, dem alle versicherten, nie habe jemand in Rußland eine so große Macht besessen wie er, ihn hatte man in eine solche Situation gebracht, ihn lächerlich gemacht vor dem ganzen Heer. »Vergeblich habe ich also so eifrig um einen guten Ausgang des heutigen Tages gebetet, vergeblich in der Nacht gewacht und alles überlegt!« dachte er bei sich. »Als ich noch ein junger Offizier war, hätte niemand gewagt, sich in dieser Weise über mich lustig zu machen … Aber jetzt!« Er empfand einen physischen Schmerz wie von einer körperlichen Züchtigung und konnte sich nicht enthalten, diesen Schmerz durch zorniges, grimmiges Schreien zum Ausdruck zu bringen; aber bald schwand seine Kraft dahin, er blickte um sich, wurde sich dessen bewußt, daß er gar vieles gesagt hatte, was nicht schön gewesen war, setzte sich wieder in seinen Wagen und fuhr schweigend zurück.
Nachdem er seinen Zorn über jene beiden ausgeschüttet hatte, folgte kein neuer Anfall mehr; die Augen ein wenig zusammenkneifend hörte Kutusow an, wie sich die einzelnen rechtfertigten und verteidigten (Jermolow selbst ließ sich vor ihm erst am folgenden Tag blicken), und wie Bennigsen, Konownizyn und Toll darauf drangen, daß dieselbe Bewegung, die jetzt mißlungen war, am nächsten Tag ausgeführt werden möchte. Und Kutusow mußte wieder seine Zustimmung geben.
VI
Am Abend des folgenden Tages versammelten sich die Truppen an den ihnen bezeichneten Plätzen und rückten in der Nacht aus. Es war eine Herbstnacht mit dunkelvioletten Wolken, aber ohne Regen. Die Erde war feucht, jedoch nicht aufgeweicht, und die Truppen marschierten ohne Geräusch, nur das Klirren der Artillerie war mitunter leise zu hören. Laute Gespräche zu führen, Tabak zu rauchen und Feuer zu schlagen war verboten; die Pferde wurden vom Wiehern zurückgehalten. Die Heimlichkeit des Unternehmens steigerte seinen Reiz noch. Die Mannschaften marschierten in fröhlicher Stimmung. Einige Kolonnen machten halt, in der Meinung, an der richtigen Stelle angelangt zu sein, stellten die Gewehre zusammen und lagerten sich auf der kalten Erde; andere, die Mehrzahl, marschierten die ganze Nacht hindurch, gelangten aber ohne Zweifel nicht dahin, wohin sie hätten gelangen sollen.
Graf Orlow-Denisow mit seinen Kosaken (die unbedeutendste Abteilung von allen) war der einzige, der an seinen Bestimmungsort gelangte, und zwar zur richtigen Zeit. Diese Abteilung machte am Rand eines Waldes halt, bei einem Fußweg, der von dem Dorf Stromilowa nach dem Dorf Dmitrowskoje führte.
Vor Tagesanbruch wurde Graf Orlow, der eingeschlafen war, geweckt: man brachte einen Überläufer aus dem französischen Lager zu ihm. Es war ein polnischer Unteroffizier von Poniatowskis Korps. Dieser Unteroffizier setzte auf polnisch auseinander, er sei deswegen übergelaufen, weil man ihn im Dienst gekränkt habe; er hätte schon längst Offizier sein müssen, da er der Tapferste von allen sei, und deshalb habe er jene verlassen und wolle sich nun an ihnen rächen. Er sagte, Murat habe in dieser Nacht sein Lager eine Werst von ihnen entfernt, und wenn man ihm hundert Mann mitgebe, so könne er ihn lebend gefangennehmen. Graf Orlow-Denisow beriet sich mit seinen Kameraden. Das Anerbieten war zu verlockend, als daß man es hätte von der Hand weisen mögen. Alle erboten sich mitzureiten, alle rieten zu einem Versuch. Nach vielem Hin- und Herstreiten und langen Überlegungen wurde beschlossen, Generalmajor Grekow mit zwei Kosakenregimentern sollte mit dem Unteroffizier hinreiten.
»Nun, aber vergiß nicht«, sagte Graf Orlow-Denisow zu dem Unteroffizier, als er ihn von sich ließ: »Hast du gelogen, so lasse ich dich aufhängen wie einen Hund; hast du die Wahrheit gesagt, so bekommst du hundert Dukaten.«
Der Unteroffizier setzte sich, ohne eine Miene zu verziehen und ohne auf diese Ankündigung ein Wort zu antworten, zu Pferde und ritt mit Grekow und dessen Leuten, die sich schnell fertiggemacht hatten, davon. Sie verschwanden im Wald. Graf Orlow trat, nachdem er von Grekow Abschied genommen hatte, aus dem Wald heraus und begann, sich etwas zusammenkrümmend infolge der Kälte des dämmernden Morgens und erregt durch das auf eigene Verantwortung unternommene Wagnis, das feindliche Lager, das jetzt bei der beginnenden Helle undeutlich sichtbar wurde, und die niedergebrannten Wachfeuer zu betrachten. Rechts vom Grafen Orlow-Denisow mußten auf dem freien Abhang sich unsere Kolonnen zeigen. Graf Orlow blickte dorthin; aber trotzdem sie aus weiter Entfernung wahrnehmbar gewesen wären, war nichts von ihnen zu sehen. Im französischen Lager schien es dem Grafen Orlow-Denisow lebendig zu werden, und sein mit sehr guten Augen begabter Adjutant bestätigte ihm dies.
»Ach, es ist wahrhaftig zu spät«, sagte Graf Orlow, nach dem Lager hinschauend.
Wie das oft so geht, wenn wir jemand, dem wir Vertrauen geschenkt haben, nicht mehr mit Augen sehen, war es ihm plötzlich völlig klar und sicher geworden, daß dieser Unteroffizier ein Betrüger sei, gelogen habe und den ganzen Angriffsplan durch das Fehlen dieser beiden Regimenter zerstöre, die er Gott weiß wohin führen werde. Als ob es überhaupt möglich wäre, aus einer solchen Masse von Truppen den Oberkommandierenden herauszugreifen!
»Wahrhaftig, er hat gelogen, dieser Schurke!« sagte der Graf.
»Man kann sie noch zurückholen«, bemerkte jemand aus der Suite, dem ebenso wie dem Grafen Orlow-Denisow beim Anblick des Lagers Bedenken in betreff des Unternehmens aufgestiegen waren.
»Ja? Wirklich …? Wie denken Sie darüber? Oder sollen wir sie lassen? Oder nicht?«
»Befehlen Sie, sie zurückzuholen?«
»Ja, wir wollen sie zurückholen!« sagte nach einem Blick auf die Uhr Graf Orlow plötzlich in entschiedenem Ton. »Es wird zu spät; es ist ja schon ganz hell.«
Der Adjutant jagte durch den Wald hinter Grekow her, und dieser kehrte denn auch zurück. Graf Orlow-Denisow aber, der sowohl durch dieses rückgängig gemachte Unternehmen als auch durch das vergebliche Warten auf die Infanteriekolonnen, die sich immer noch nicht zeigen wollten, und durch die Nähe des Feindes in Aufregung geraten war (alle Leute seiner Abteilung hatten dasselbe Gefühl), entschloß sich nun anzugreifen.
Flüsternd kommandierte er: »Aufsitzen!« Die Mannschaften ordneten sich, bekreuzten sich … »Mit Gott!«
»Hurraaaaa!« schallte es durch den Wald, und eine Eskadron nach der andern, wie Nüsse, die aus einem Sack geschüttelt werden, flogen die Kosaken fröhlich mit eingelegten Lanzen über den Bach auf das Lager los.
Ein einziger erschrockener, verzweifelter Aufschrei des ersten Franzosen, der die Kosaken erblickte – und alles, was im Lager war, ließ Kanonen, Gewehre und Pferde im Stich und lief, noch halb im Schlaf, unangezogen, davon, wohin einen jeden die Füße trugen.
Hätten die Kosaken die Franzosen verfolgt, ohne sich um das zu kümmern, was hinter ihnen und um sie herum war, so hätten sie Murat und alle seine Leute gefangengenommen. Die Offiziere wollten das auch. Aber es war nicht möglich, die Kosaken vom Fleck wegzubekommen, da sie zu eifrig waren, im Lager Beute und Gefangene zu machen. Niemand hörte auf einen Befehl. Es wurden gleich dort im Lager fünfzehnhundert Gefangene gemacht und achtunddreißig Geschütze und mehrere Fahnen erbeutet sowie das, was den Kosaken das Wichtigste war, Pferde, Sättel, Decken und allerlei andre Dinge. Das alles mußte nach ihren Begriffen erst erledigt werden: man mußte sich einen möglichst großen Anteil von den Gefangenen und den Geschützen zueignen, die Beute teilen, ein gewaltiges Geschrei dabei machen und sich sogar untereinander prügeln; mit alledem hatten die Kosaken hinlänglich zu tun.
Die Franzosen kamen, als sie sich nicht mehr verfolgt sahen, wieder zur Besinnung, sammelten sich abteilungsweise und fingen an zu schießen. Orlow-Denisow wartete immer noch auf die Infanteriekolonnen und griff nicht weiter an.
Unterdessen waren gemäß der Disposition: »Die erste Kolonne marschiert usw.« die vermißten Infanteriekolonnen, die zu Bennigsens Truppen gehörten, nach Tolls Direktiven ordnungsgemäß ausgerückt und, wie das stets der Fall ist, irgendwohin gelangt, aber nicht nach dem ihnen angewiesenen Ort. Und wie das stets der Fall ist, fingen die Mannschaften, die so munter ausmarschiert waren, nun beim Haltmachen an verdrossen zu werden; Äußerungen der Unzufriedenheit wurden vernehmbar; sie merkten, daß Konfusion entstanden war; es wurde nach einer andern Richtung zurückmarschiert. Die hin und her sprengenden Adjutanten und Generale schrien, ereiferten sich, zankten, sagten, daß das eine ganz falsche Stelle sei und sie zu spät gekommen seien, schalten jemand aus usw., und schließlich ergaben sich alle drein und marschierten nur, um irgendwohin zu kommen. »Irgendwohin werden wir schon kommen!« Und sie kamen auch wirklich irgendwohin, aber die meisten nicht an die richtige Stelle, und einige, die an die richtige Stelle kamen, verspäteten sich dermaßen, daß sie nun ohne jeden Nutzen hinkamen, lediglich um beschossen zu werden. Toll, der in dieser Schlacht dieselbe Rolle spielte wie Weyrother bei Austerlitz, jagte eifrig von einer Stelle zur andern und fand, daß überall alles den verkehrten Gang ging. So kam er zu dem Korps des Generals Bagowut herangesprengt, das, als es schon ganz hell war, sich noch im Wald befand, während es doch schon längst da vorn bei Orlow-Denisow hätte sein sollen. Erregt und erbittert darüber, daß alles nicht stimmte, ritt Toll, der sich sagte, es müsse doch jemand die Schuld daran tragen, zu dem Korpskommandeur heran und machte ihm in strengem Ton Vorwürfe, wobei er ihm unter anderm sagte, er verdiene dafür erschossen zu werden. Bagowut, ein alter, erfahrener, ruhiger General, der aber gleichfalls durch das wiederholte Haltmachen, den Wirrwarr und die einander widersprechenden Befehle in eine gereizte Stimmung hineingekommen war, geriet zur Verwunderung aller ganz gegen seinen sonstigen Charakter in Wut und sagte Toll recht unangenehme Dinge.
»Ich lasse mir von niemandem Vorhaltungen machen, und mit meinen Soldaten zu sterben, verstehe ich ebensogut wie jeder andere«, sagte er und marschierte mit einer einzigen Division vorwärts.
Als er auf das freie Feld in den Schußbereich der Franzosen kam, überlegte der tapfere Bagowut nicht lange, ob es nützlich oder schädlich sei, wenn er in diesem Augenblick und mit einer einzigen Division sich in einen Kampf einließe, sondern marschierte geradeaus und führte seine Truppen in das feindliche Feuer. Gefahr, Kanonen- und Flintenkugeln, das gerade war es, was er in seiner zornigen Gemütsverfassung brauchte. Eine der ersten Kugeln tötete ihn; die folgenden streckten eine Menge von Soldaten nieder. Und seine Division stand eine Zeitlang nutzlos im feindlichen Feuer.
VII
Inzwischen sollte von der Front her eine andere Kolonne auf die Franzosen losgehen; aber bei dieser Kolonne befand sich Kutusow. Er wußte ganz genau, daß bei dieser gegen seinen Willen unternommenen Schlacht nichts als Konfusion herauskommen werde, und hielt, soweit das in seiner Macht lag, die Truppen zurück. Er rückte nicht vor.
Schweigend ritt er auf seinem grauen Pferdchen umher und antwortete lässig auf die Vorschläge zum Angreifen.
»Ja, das Wort ›Angreifen‹ führt ihr immer im Mund; aber ihr seht nicht ein, daß wir uns gar nicht darauf verstehen, komplizierte Manöver auszuführen«, sagte er zu Miloradowitsch, der ihn um die Erlaubnis bat, vorrücken zu dürfen.
»Wir haben es heute morgen nicht verstanden, Murat lebendig gefangenzunehmen und zur rechten Zeit am Platz zu sein; jetzt ist nichts mehr zu machen!« antwortete er einem andern.
Als ihm gemeldet wurde, daß im Rücken der Franzosen, wo nach den Berichten der Kosaken vorher niemand gewesen war, jetzt zwei Bataillone Polen ständen, schielte er nach rückwärts zu Jermolow hin, mit dem er seit dem gestrigen Tag noch nicht gesprochen hatte.
»Na ja, sie verlangen die Erlaubnis zum Angriff und legen mir allerlei Projekte vor; aber wenn man losschlagen will, dann ist nichts bereit, und der gewarnte Feind trifft seine Maßnahmen.«
Jermolow kniff die Augen zusammen und lächelte leise, als er diese Worte hörte. Er merkte, daß für ihn das Gewitter vorbeigezogen war und daß Kutusow es mit dieser Anspielung genug sein lassen werde.
»Da macht er sich auf meine Kosten lustig«, sagte Jermolow leise und stieß mit dem Knie den neben ihm haltenden Rajewski an.
Bald darauf ritt Jermolow vor zu Kutusow und meldete respektvoll:
»Wir haben noch nicht den richtigen Augenblick verpaßt, Euer Durchlaucht; der Feind ist nicht abgezogen – wenn Sie den Angriff befehlen. Sonst wird die Garde heute nicht einmal den Pulverrauch zu sehen bekommen.«
Kutusow sagte nichts; aber als ihm gemeldet wurde, daß Murats Truppen zurückwichen, befahl er, vorzurücken, machte jedoch nach je hundert Schritten dreiviertel Stunden lang halt.
Die ganze Schlacht bestand nur in dem, was Orlow-Denisows Kosaken getan hatten; die übrigen Truppen hatten nur nutzlos mehrere hundert Mann verloren.
Infolge dieser Schlacht erhielt Kutusow einen Orden mit Brillanten, Bennigsen ebenfalls Brillanten und hunderttausend Rubel; auch den andern wurden ihrem Rang entsprechende Belohnungen zuteil, und nach dieser Schlacht wurden noch weitere Personalveränderungen im Stab vorgenommen.
»Da haben wir’s; es ist eben gegangen, wie es bei uns immer geht: alles verkehrt!« sagten nach der Schlacht bei Tarutino die russischen Offiziere und Generale, geradeso wie es sie auch heutzutage sagen und damit meinen, daß da irgendein Dummkopf verkehrt handelt und sie selbst es ganz anders machen würden. Aber die Leute, die so reden, verstehen entweder nichts von der Sache, über die sie sprechen, oder sie täuschen sich selbst absichtlich. Jede Schlacht (die bei Tarutino, die bei Borodino, die bei Austerlitz, kurz jede) vollzieht sich nicht so, wie das ihre Planer vorausgesetzt haben. Das liegt in der Natur der Dinge.
Eine unzählige Menge freier Kräfte (denn nirgends ist der Mensch freier als bei einer Schlacht, wo es sich um Leben und Tod handelt) wirkt auf den Gang einer Schlacht ein, und dieser Gang kann nie im voraus bekannt sein und fällt nie mit der Richtung irgendeiner einzelnen Kraft zusammen.
Wenn viele Kräfte gleichzeitig und nach verschiedenen Richtungen auf irgendeinen Körper einwirken, so kann die Richtung der Bewegung dieses Körpers nicht mit einer einzelnen dieser Kräfte zusammenfallen, sondern sie wird immer die mittlere kürzeste Richtung sein, das, was man in der Mechanik die Diagonale des Parallelogramms der Kräfte nennt.
Wenn wir in den Darstellungen der Historiker, namentlich der französischen, finden, daß bei ihnen Kriege und Schlachten sich nach einem im voraus festgesetzten Plan abspielen, so ist der einzige Schluß, den wir daraus ziehen können, der, daß diese Darstellungen falsch sind.
Die Schlacht bei Tarutino erreichte offenbar nicht das Ziel, welches Toll im Auge hatte: die Truppen ordnungsmäßig nach der vorher entworfenen Disposition kämpfen zu lassen, auch nicht das Ziel, welches Graf Orlow haben konnte: Murat gefangenzunehmen, oder das Ziel, welches Bennigsen und andere Persönlichkeiten haben konnten: eine sofortige Vernichtung des ganzen Korps, oder das Ziel des Offiziers, der in den Kampf zu kommen und sich auszuzeichnen wünschte, oder das des Kosaken, der noch mehr Beute machen wollte, als ihm zu machen gelungen war, usw. Aber wenn das Ziel in dem bestand, was sich in der Folge wirklich vollzog und was damals der gemeinsame Wunsch aller Russen war, in der Vertreibung der Franzosen aus Rußland und der Vernichtung ihrer Armee, dann muß es einem jeden völlig einleuchtend sein, daß die Schlacht bei Tarutino gerade infolge ihres programmwidrigen Verlaufs genau das war, was in dieser Periode des Feldzuges erfordert wurde. Es ist schwer oder vielmehr unmöglich, irgendeinen Ausgang dieser Schlacht zu ersinnen, der zweckentsprechender gewesen wäre als derjenige, den sie in Wirklichkeit gehabt hat. Bei einer minimalen Anstrengung, trotz der größten Verwirrung und bei ganz unbedeutendem Verlust wurden die größten Resultate im ganzen Feldzug erzielt, wurde der Übergang vom Rückzug zum Angriff ermöglicht, die Schwäche der Franzosen aufgedeckt und jener Anstoß gegeben, auf den das napoleonische Heer nur wartete, um seine Flucht zu beginnen.
VIII
Napoleon zieht nach dem glänzenden Sieg de la Moskova in Moskau ein; ein Zweifel an diesem Sieg ist ausgeschlossen, da das Schlachtfeld im Besitz der Franzosen bleibt. Die Russen ziehen sich zurück und geben ihre Hauptstadt preis. Moskau, mit Proviant, Waffen, allem möglichen Gerät und unermeßlichen Reichtümern angefüllt, ist in den Händen Napoleons. Das russische Heer, das nur halb so stark ist wie das französische, macht im Laufe eines Monats nicht einen einzigen Versuch anzugreifen. Napoleons Lage ist die glänzendste. Um sich mit doppelt so großen Streitkräften auf die Überreste der russischen Armee zu stürzen und sie zu vernichten, sowie um sich einen vorteilhaften Frieden auszubedingen oder im Fall der Ablehnung einen drohenden Marsch in der Richtung auf Petersburg zu unternehmen, um ferner selbst im Fall eines Mißgeschicks nach Smolensk oder nach Wilna zurückzukehren oder in Moskau zu bleiben, mit einem Wort: um die glänzende Lage, in der sich das französische Heer damals befand, zu behaupten, dazu bedurfte es, sollte man meinen, keiner besonderen Genialität. Dazu brauchte er nur das Einfachste und Leichteste zu tun: er mußte das Heer vom Plündern zurückhalten, mußte Winterkleidung bereithalten, welche sich in Moskau für die ganze Armee in hinreichender Menge beschaffen ließ, und mußte die Lebensmittel, die nach dem Zeugnis französischer Historiker in Moskau auf mehr als ein halbes Jahr für das ganze Heer vorhanden waren, in ordnungsmäßiger Weise sammeln. Napoleon, obwohl er nach der Versicherung der Historiker das genialste aller Genies war und die Macht besaß, das Heer nach seinem Willen zu lenken, tat dennoch nichts von alledem.
Und nicht genug, daß er nichts von alledem tat, er verwendete sogar seine Macht dazu, von all den Wegen, die sich ihm für sein Handeln darboten, den allertörichtesten und allerverderblichsten auszuwählen. Napoleon konnte mancherlei tun: er konnte in Moskau überwintern, konnte nach Petersburg gehen, oder nach Nischni-Nowgorod, oder zurück, und zwar entweder mehr nördlich oder mehr südlich (auf dem Weg, den später Kutusow einschlug); aber man konnte sich nichts Törichteres und für das ganze Heer Verderblicheres ausdenken als das, was er wirklich tat: bis zum Oktober in Moskau zu bleiben, wobei er die Truppen in der Stadt plündern ließ, dann, indem er nach längerem Schwanken eine Garnison zurückließ, Moskau zu verlassen, gegen Kutusow anzurücken, keine Schlacht zu beginnen, den Weg nach rechts einzuschlagen, bis Malo-Jaroslawez zu marschieren, die Gelegenheit, durchzubrechen, wieder unbenutzt zu lassen und endlich nicht den Weg zu wählen, auf welchem dann Kutusow marschierte, sondern nach Moschaisk zurückzumarschieren und dann weiter auf der verwüsteten Smolensker Heerstraße. Und daß dies wirklich das Törichteste und Verderblichste war, haben die Folgen gezeigt. Mögen die geschicktesten Strategen unter der Annahme, Napoleon habe beabsichtigt, sein Heer zugrunde zu richten, den Versuch machen, eine andere Reihe von Handlungen zu ersinnen, die mit solcher Sicherheit und so unabhängig von allem, was die russischen Truppen nur unternehmen mochten, die französische Armee so vollständig vernichtet hätte, wie das, was Napoleon wirklich getan hat.
Das hat der geniale Napoleon getan. Aber zu sagen, Napoleon habe seine Armee zugrunde gerichtet, weil er dies gewollt habe oder weil er sehr dumm gewesen sei, wäre genau ebenso ungerecht wie zu sagen, Napoleon habe seine Truppen nach Moskau geführt, weil er dies gewollt habe und weil er sehr klug und genial gewesen sei.
In dem einen wie in dem andern Fall fiel eben nur seine persönliche Tätigkeit, die keine größere Kraft besaß als die persönliche Tätigkeit eines jeden Soldaten, mit jenen Gesetzen zusammen, nach denen sich das Ereignis vollzog.
Durchaus falsch stellen uns die Historiker (lediglich weil Napoleons Handlungsweise durch die Folgen sich als unrichtig herausstellte) die Sache so dar, als hätten Napoleons geistige Fähigkeiten in Moskau eine Verminderung erlitten. Genau wie vorher und wie nachher im Jahre 1813 wandte er all seinen Verstand und seine Geisteskräfte an, um das zu tun, was für ihn selbst und für seine Armee das beste wäre. Napoleons Tätigkeit in dieser Zeit ist nicht minder staunenswert als in Ägypten, in Italien, in Österreich und in Preußen. Wir haben keine zuverlässige Kenntnis darüber, bis zu welchem Grade Napoleons Genialität in Ägypten das wirkende Moment war, wo vierzig Jahrhunderte auf seine Größe herabblickten; denn all diese Großtaten sind uns nur von Franzosen geschildert worden. Wir können uns kein zuverlässiges Urteil über seine Genialität in Österreich und Preußen bilden, da wir die Zeugnisse über seine dortige Tätigkeit aus französischen und deutschen Quellen schöpfen müssen und die unbegreifliche Kapitulation ganzer Armeekorps ohne Kampf und starker Festungen ohne Belagerung die Deutschen geneigt machen muß, die Genialität des Siegers anzuerkennen, weil ihnen nur auf diese Weise der Verlauf des in Deutschland geführten Krieges erklärlich scheint. Wir aber haben, Gott sei Dank, keinen Grund, ihn für ein Genie zu erklären, um eigene Schande zu verdecken. Wir haben für die Berechtigung, die Sache klar und unbefangen zu betrachten, einen hohen Preis bezahlt, und wir werden uns diese Berechtigung nicht nehmen lassen.
Seine Tätigkeit in Moskau war ebenso erstaunlich und genial wie überall. Er erließ Befehle auf Befehle und entwarf Pläne auf Pläne, von seinem Einzug in Moskau bis zu seinem Auszug. Durch die Abwesenheit der Einwohner und das Ausbleiben einer Deputation, ja selbst durch den Brand von Moskau ließ er sich nicht beirren. Nichts verlor er aus dem Auge: weder das Wohl seiner Armee, noch die Tätigkeit des Feindes, noch das Wohl der Völker Rußlands, noch die Leitung der Angelegenheiten von Paris, noch die diplomatische Erwägung der künftigen Friedensbedingungen.
IX
Was die Kriegführung anbelangte, so gab Napoleon sogleich nach dem Einzug in Moskau dem General Sebastiani strengen Befehl, die Bewegungen der russischen Armee zu verfolgen; er sendete Truppenabteilungen auf verschiedenen Wegen aus und beauftragte Murat damit, Kutusow ausfindig zu machen. Ferner traf er sorgsame Anordnungen über die Befestigung des Kreml; ferner entwarf er auf der ganzen Karte von Rußland einen genialen Plan für einen künftigen Feldzug.
In diplomatischer Hinsicht ließ Napoleon den ausgeplünderten und zerlumpten Hauptmann Jakowlew zu sich kommen, der nicht wußte, wie er glücklich aus Moskau herauskommen sollte, und setzte ihm eingehend seine ganze Politik und seine Großmut auseinander. Dann schrieb er einen Brief an den Kaiser Alexander, in welchem er es für seine Pflicht hielt, seinem Freund und Bruder mitzuteilen, daß Rastoptschin in Moskau schlechte Anordnungen getroffen habe, und schickte Jakowlew mit diesem Brief nach Petersburg. Auch dem alten Tutolmin machte er eingehende Mitteilungen über seine Ansichten und über seine Großmut und sendete diesen ebenfalls zum Zweck von Verhandlungen nach Petersburg.
In bezug auf die Rechtspflege wurde sogleich nach den Bränden Befehl erteilt, die Schuldigen ausfindig zu machen und zu bestrafen. Und der Bösewicht Rastoptschin wurde dadurch bestraft, daß befohlen wurde, seine Häuser in Brand zu stecken.
In administrativer Hinsicht wurde Moskau mit einer Kommunalverwaltung beschenkt. Es wurde eine Munizipalität eingesetzt und folgende Bekanntmachung erlassen:
»Einwohner Moskaus!
Schmerzliches Unglück hat euch betroffen; aber Seine Majestät der Kaiser und König will demselben ein Ziel setzen. Furchtbare Exempel haben euch gelehrt, wie er Ungehorsam und Verbrechen bestraft. Strenge Maßnahmen sind ergriffen, um der Zuchtlosigkeit ein Ende zu machen und die öffentliche Sicherheit wiederherzustellen. Eine aus eurer Mitte gewählte väterliche Verwaltungsbehörde wird eure Munizipalität oder städtische Selbstregierung bilden. Diese Behörde wird für euch, für eure Bedürfnisse, für euer Wohl Sorge tragen. Die Mitglieder werden an einer roten Schärpe kenntlich sein, die sie über der Schulter tragen werden, und der Bürgermeister wird außerdem noch einen weißen Gürtel haben. Außerhalb ihrer Amtstätigkeit jedoch werden sie nur eine rote Binde um den linken Arm tragen.
Eine städtische Polizei ist in der bisherigen Form eingerichtet, und dank ihrer Tätigkeit herrscht bereits eine bessere Ordnung. Die Regierung hat zwei Generalkommissare oder Polizeimeister ernannt und zwanzig Kommissare oder Reviervorsteher, die in allen Revieren der Stadt angestellt sind. Ihr werdet sie an einer weißen Binde erkennen, die sie um den linken Arm tragen werden. Mehrere Kirchen verschiedener Religionsbekenntnisse sind geöffnet, und es wird in ihnen unbehindert Gottesdienst stattfinden. Täglich kehren mehr von euren Mitbürgern in ihre Wohnungen zurück, und es sind Befehle erlassen, daß sie in denselben die Hilfe und den Schutz finden, auf die das Unglück einen Anspruch hat. Dies sind die Mittel, welche die Regierung angewandt hat, um die Ordnung wiederherzustellen und euch eure Lage zu erleichtern. Aber um dies zu erreichen, ist erforderlich, daß ihr eure Bemühungen mit den ihrigen vereinigt, daß ihr, wenn möglich, die Leiden, die ihr erduldet habt, vergeßt, daß ihr euch der Hoffnung auf ein freundlicheres Los in der Zukunft hingebt, daß ihr davon überzeugt seid, daß ein schmählicher Tod mit Sicherheit diejenigen erwartet, die sich an euren Personen und an der euch verbliebenen Habe vergreifen, und endlich, daß ihr nicht daran zweifelt, daß euch und eurer Habe aller Schutz zuteil werden wird – denn dies ist der Wille des größten und gerechtesten aller Monarchen. Soldaten und Einwohner, welcher Nation ihr auch angehören mögt! Stellt das öffentliche Vertrauen, die Quelle des Glückes eines jeden Staates, wieder her; lebt wie Brüder; gewährt einander wechselseitig Hilfe und Schutz; vereinigt euch, um die Absichten der Übelgesinnten zu vereiteln; gehorcht den militärischen und bürgerlichen Obrigkeiten: und bald werden eure Tränen zu fließen aufhören.«
In bezug auf die Verpflegung des Heeres ordnete Napoleon an, alle Truppen sollten der Reihe nach requirierend durch Moskau ziehen, um sich Proviant zu verschaffen, damit auf diese Weise die Armee für die kommende Zeit versorgt sei.
In religiöser Hinsicht befahl Napoleon, die Popen zurückzurufen und den Gottesdienst in den Kirchen wiederaufzunehmen.
Um den Handel zu heben und die Verproviantierung der Armee zu erleichtern, wurde überall der nachstehende Aufruf angeschlagen:
»Ihr friedlichen Einwohner Moskaus, Handwerker und Arbeiter, die das Unglück veranlaßt hat, die Stadt zu verlassen, und ihr Bauern, die eine unbegründete Furcht noch auf den Feldern von der Stadt fernhält, höret! Die Ruhe kehrt in diese Hauptstadt zurück, und die Ordnung wird in ihr wiederhergestellt. Eure Landsleute kommen dreist aus ihren Zufluchtsorten hervor, da sie sehen, daß ihnen nichts Übles geschieht. Jede Gewalttat, die gegen sie und ihr Eigentum verübt wird, findet unverzügliche Bestrafung. Seine Majestät der Kaiser und König läßt ihnen seinen Schutz angedeihen und hält niemand von euch für seinen Feind außer denen, die sich seinen Anordnungen widersetzen. Er will euren Leiden ein Ende machen und euch euren Heimstätten und euren Familien wiedergeben. Geht auf seine wohltätigen Absichten ein und kommt ohne jede Besorgnis zu uns. Ihr Einwohner! Kehrt vertrauensvoll in eure Behausungen zurück; ihr werdet schnell die Mittel finden, euch alles zu beschaffen, was ihr nötig habt! Ihr Handwerksmeister und arbeitsamen Gesellen! Kommt wieder zurück zu eurem Handwerk: die Häuser, die Läden, die Schutzwachen erwarten euch, und für eure Arbeit werdet ihr die euch zukommende Bezahlung erhalten! Und endlich ihr, ihr Bauern, kommt aus den Wäldern heraus, in denen ihr euch aus Angst verborgen habt; kehrt furchtlos in eure Hütten zurück, in der festen Zuversicht, daß ihr Schutz finden werdet. Es sind Verkaufsstellen in der Stadt eingerichtet, wohin die Bauern bringen können, was sie von ihren Vorräten und Feldfrüchten nicht für sich selbst gebrauchen. Die Regierung hat folgende Maßregeln getroffen, um ihnen einen freien Verkauf zu sichern: 1. Vom heutigen Tag an können die Bauern und die Einwohner der Umgegend Moskaus ohne jede Gefahr ihre Produkte, von welcher Art sie auch sein mögen, in die Stadt bringen, nach den beiden festgesetzten Verkaufsstellen, nämlich nach der Mochowaja-Straße und auf den Ochotny-Markt. 2. Diese Produkte werden ihnen zu demjenigen Preis abgekauft werden, über den sich der Käufer und der Verkäufer untereinander einigen; wenn jedoch der Verkäufer den von ihm geforderten angemessenen Preis nicht erhält, so wird es dem Verkäufer freistehen, seine Ware wieder nach seinem Dorf mitzunehmen, und niemand darf ihn daran unter irgendeinem Vorwand hindern. 3. Am Sonntag und Mittwoch einer jeden Woche soll großer Markttag sein; zu diesem Zweck wird eine hinlängliche Menge von Truppen dienstags und sonnabends auf allen großen Landstraßen in einer solchen Entfernung von der Stadt postiert werden, daß sie die betreffenden Fuhren beschützen kann. 4. Dieselben Maßnahmen werden ergriffen werden, damit die Bauern mit ihren Fuhrwerken und Pferden auf dem Rückweg in keiner Weise behindert werden. 5. Es werden unverzüglich Mittel zur Anwendung gebracht werden, um die gewöhnlichen Märkte wiederherzustellen. Ihr Bewohner der Stadt und der Dörfer, und ihr, ihr Arbeiter und Handwerker, zu welcher Nation ihr auch gehören mögt! Es ergeht an euch die Aufforderung, die väterlichen Absichten Seiner Majestät des Kaisers und Königs ausführen zu helfen und mit ihm zur Förderung des Gemeinwohls mitzuwirken. Bringt ihm Ehrerbietung und Vertrauen entgegen und zögert nicht, euch mit uns zu vereinigen!«
Um die Stimmung des Heeres und der Bevölkerung zu heben, wurden fortwährend Truppenschauen abgehalten und Belohnungen und Anerkennungen verliehen. Der Kaiser ritt durch die Straßen und sprach tröstend mit den Einwohnern, und trotz seiner umfänglichen Beschäftigung mit Staatsangelegenheiten besuchte er persönlich die auf seinen Befehl eingerichteten Theater.
Was die Wohltätigkeit, die schönste Tugend gekrönter Häupter, anlangt, so tat Napoleon gleichfalls alles, was er nur irgend vermochte. An den Wohltätigkeitsanstalten ließ er die Inschrift anbringen: Maison de ma mère, indem er durch dieses Verfahren die zärtliche Gesinnung des Sohnes und die erhabene Tugend des Monarchen zugleich zum Ausdruck brachte. Er besuchte das Findelhaus, hielt den von ihm geretteten Waisen seine weißen Hände zum Abküssen hin und unterhielt sich huldvoll mit Tutolmin. Dann ließ er, wie das Thiers mit rhetorisch schönen Worten berichtet, seinen Truppen die Löhnung in dem falschen russischen Papiergeld auszahlen, das er hatte herstellen lassen. Derselbe Schriftsteller berichtet auch: »Um der Anwendung dieser Maßregeln durch eine seiner selbst und der französischen Armee würdige Handlung einen besonderen Glanz zu verleihen, ließ er an die Abgebrannten Unterstützungen verteilen. Aber da die Lebensmittel zu kostbar waren, als daß man sie an Angehörige eines fremden Volkes, die größtenteils feindlich gesinnt waren, hätte weggeben können, so zog Napoleon es vor, ihnen Geld zukommen zu lassen, damit sie sich Lebensmittel anderweitig beschafften, und ließ Papierrubel an sie verteilen.«
Was die Disziplin der Armee betrifft, so ergingen fortwährend Befehle über strenge Bestrafung von Nachlässigkeit in Erfüllung der Dienstpflicht und über die Verhinderung des Plünderns.
X
Aber sonderbar: alle diese Anordnungen, Bemühungen und Pläne, die keineswegs schlechter waren als andere, die in ähnlichen Fällen von ihm ausgegangen waren, berührten gar nicht den Kern der Sache und bewegten sich wie Zeiger eines Uhrzifferblattes, das von dem Mechanismus losgelöst ist, willkürlich und zwecklos, ohne auf die Räder einzuwirken.
In militärischer Hinsicht wurde der geniale Feldzugsplan, von welchem Thiers sagt, Napoleons Genie habe niemals etwas Tieferes, Kunstvolleres, Bewundernswerteres ersonnen, und von welchem dieser Historiker, sich in eine Polemik mit Herrn Fain einlassend, beweist, daß seine Konzipierung nicht auf den 4., sondern auf den 15. Oktober anzusetzen sei – dieser geniale Plan wurde nie zur Ausführung gebracht und konnte nie zur Ausführung gebracht werden, weil er keine Berührungspunkte mit der Wirklichkeit hatte. Die Befestigung des Kreml, um derentwillen »die Moschee«, wie Napoleon die Wasili-Blaschenny-Kirche nannte, niedergerissen werden mußte, erwies sich als vollständig zwecklos. Die Anlegung von Minen unter dem Kreml machte lediglich die Erfüllung des Wunsches des Kaisers beim Wegzug von Moskau möglich, den Kreml in die Luft zu sprengen, d.h. die Diele zu schlagen, auf die das Kind gefallen war. Die Verfolgung des russischen Heeres, die für Napoleon einen Gegenstand besonderer Sorge bildete, bot eine unerhörte Erscheinung dar. Die französischen Heerführer hatten die sechzigtausend Mann starke russische Armee aus den Augen verloren, und nur, nach Thiers’ Ausdruck, der Geschicklichkeit und, wie man vielleicht auch hier sagen könnte, der Genialität Murats gelang es, diese sechzigtausend Mann starke russische Armee wie eine Stecknadel wiederzufinden.
In diplomatischer Hinsicht erreichte Napoleon geradezu gar nichts dadurch, daß er dem alten Tutolmin und dem Hauptmann Jakowlew (dessen Streben hauptsächlich darauf gerichtet war, zu einem Mantel und zu einem Fuhrwerk zu gelangen) seine Großmut und seine Gerechtigkeit darlegte. Denn Alexander empfing diese Abgesandten nicht und gab auf ihre Mission keine Antwort.
Was die Rechtspflege anlangt, so brannte nach der Hinrichtung der vermeintlichen Brandstifter die andere Hälfte von Moskau ab.
In administrativer Hinsicht tat die Einsetzung einer Munizipalität der Plünderung keinen Einhalt und brachte nur einigen Personen Vorteil, welche Mitglieder dieser Munizipalität waren und unter dem Vorwand, die Ordnung aufrechtzuerhalten, Moskau plünderten oder ihre eigene Habe vor der Plünderung bewahrten.
In religiöser Hinsicht wurden, während in Ägypten sich die Sache durch den Besuch einer Moschee so leicht hatte in Ordnung bringen lassen, hier keinerlei Resultate erzielt. Zwei oder drei Geistliche, die man in Moskau aufgetrieben hatte, versuchten Napoleons Wunsch zu erfüllen; aber den einen von ihnen ohrfeigte ein französischer Soldat während des Gottesdienstes, und in betreff eines andern erstattete ein französischer Beamter folgenden Bericht: »Der Priester, den ich ausfindig gemacht und aufgefordert hatte, wieder mit dem Messelesen anzufangen, reinigte die Kirche und schloß sie zu. Aber gleich in derselben Nacht sind von neuem die Türen eingeschlagen, die Vorhängeschlösser zerbrochen, die Bücher zerrissen und anderer Unfug verübt worden.«
Was den Handel betrifft, so blieb der Aufruf an die arbeitsamen Handwerker und an alle Bauern ganz erfolglos. Arbeitsame Handwerker gab es nicht, und die Bauern fingen diejenigen Kommissare, die ihre Fahrten mit diesem Aufruf zu weit ausdehnten, auf und schlugen sie tot.
Was den Versuch anlangt, das Volk und die Truppen durch Theatervorstellungen zu belustigen, so gelang auch dieser nicht. Die im Kreml und in Posnjakows Haus eingerichteten Theater mußten sogleich wieder geschlossen werden, da die Schauspieler und Schauspielerinnen ausgeplündert wurden.
Die Wohltätigkeit erzielte gleichfalls nicht die gewünschten Resultate. Moskau war voll von falschem und echtem Papiergeld, aber dieses hatte keinen Wert. Die Franzosen, welche Beute suchten, sahen es nur auf Gold ab. Und nicht nur das falsche Papiergeld, das Napoleon so huldvoll an die Unglücklichen hatte verteilen lassen, war wertlos, sondern auch das Silber wurde unter seinem Wert gegen Gold abgegeben.
Aber die überraschendste Erscheinung bei dieser Unwirksamkeit der von höchster Stelle ausgehenden Anordnungen war damals die Erfolglosigkeit der Bemühungen Napoleons, dem Plündern Einhalt zu tun und die Disziplin wiederherzustellen.
Hier einiges aus der amtlichen Korrespondenz militärischer Behörden:
»Die Plünderungen in der Stadt dauern fort trotz des Befehls, sie zu verhindern. Die Ordnung ist noch nicht wiederhergestellt, und es ist kein einziger Kaufmann da, der in gesetzlicher Weise Handel triebe. Nur die Marketender wagen es, Waren zum Verkauf zu stellen, und das sind geraubte Gegenstände.«
»Ein Teil meines Bezirkes wird immer noch von den Soldaten des dritten Korps ausgeraubt; nicht damit zufrieden, den Unglücklichen, die sich in die Keller geflüchtet haben, das wenige, das ihnen noch geblieben ist, zu entreißen, begehen sie sogar die Barbarei, sie mit Säbelhieben zu verwunden, wovon ich mehrere Beispiele gesehen habe.«
»Nichts Neues, als daß die Soldaten sich erlauben zu stehlen und zu plündern. Den 9. Oktober.«
»Das Stehlen und Plündern dauert fort. Es befindet sich in unserm Bezirk eine Diebesbande, zu deren Festnahme starke Detachements erforderlich sein werden. Den 11. Oktober.«
»Der Kaiser ist höchst unzufrieden, daß trotz des strengen Befehls, dem Plündern Einhalt zu tun, man fortwährend Trupps marodierender Gardisten sieht, die nach dem Kreml zurückkehren. – Bei der alten Garde ist Zuchtlosigkeit und Raublust gestern, in der letzten Nacht und heute wieder in stärkerem Grade hervorgetreten als je vorher. Der Kaiser sieht mit Bedauern, daß die Elitesoldaten, die mit der Bewachung seiner Person betraut sind und dem Heer ein Vorbild guter Zucht sein sollten, in ihrer Insubordination so weit gehen, die für die Armee eingerichteten Keller und Magazine zu erbrechen. Andere haben sich so weit vergessen, den Schildwachen und den wachhabenden Offizieren den Gehorsam zu verweigern, sie zu beschimpfen und zu schlagen.«
»Der Oberhofmarschall beklagt sich lebhaft«, schrieb der Gouverneur, »daß trotz wiederholter Verbote die Soldaten immer noch in allen Höfen und selbst unter den Fenstern des Kaisers ihre Bedürfnisse verrichten.«
Bei diesem Heer, das, wie eine ungehütet sich zerteilende Herde, mit den Füßen die Nahrung zertrat, durch die es sich hätte vor dem Hungertod retten können, wurde die Zersetzung und Verderbnis mit jedem weiteren Tag des Aufenthalts in Moskau schlimmer. Aber es zog nicht ab.
Erst dann eilte es fort, als es auf einmal infolge des Abfangens von Transporten auf der Smolensker Heerstraße und infolge der Schlacht bei Tarutino von panischem Schrecken ergriffen war.
Diese Nachricht von der Schlacht bei Tarutino, welche Napoleon unerwartet bei einer Truppenschau erhielt, war es, die bei ihm den Wunsch hervorrief, die Russen zu bestrafen, wie Thiers sich ausdrückt, und so gab er denn den Befehl zum Abzug, den das ganze Heer verlangte.
Bei der Flucht aus Moskau schleppten die Soldaten dieses Heeres alles mit sich, was sie geraubt hatten. Auch Napoleon führte seinen eigenen Tresor mit. Als er die Menge von Fuhrwerken erblickte, durch die die Armee unbeweglich gemacht wurde, erschrak er zwar, wie Thiers sagt; aber trotz seiner Kriegserfahrung befahl er nicht, alle entbehrlichen Wagen zu verbrennen, wie er das beim Anmarsch auf Moskau mit den Fuhrwerken eines Marschalls hatte machen lassen. Er betrachtete diese Kaleschen und Kutschen, in denen die Soldaten fuhren, und äußerte, das sei ganz gut, diese Wagen könne man zum Transport von Proviant, von Kranken und Verwundeten verwenden.
Die Lage des ganzen Heeres glich der Lage eines verwundeten Wildes, das sein Verderben ahnt und nicht weiß, was es tut. Die kunstvollen Manöver und Pläne Napoleons und seines Heeres vom Einzug in Moskau bis zur Vernichtung dieses Heeres studieren heißt ganz dasselbe, wie die Bedeutung der letzten Sprünge und Zuckungen eines tödlich verwundeten Wildes studieren. Sehr häufig rennt das verwundete Tier, wenn es ein Geräusch hört, dem Jäger vor den Schuß, läuft vorwärts, rückwärts und beschleunigt selbst sein Ende. Eben dasselbe tat Napoleon unter dem Druck, den sein ganzes Heer auf ihn ausübte. Bei dem Geräusch der Schlacht von Tarutino schrak das Wild zusammen und stürzte vorwärts in den Schußbereich hinein, rannte auf den Jäger zu, kehrte wieder um und lief endlich, wie jedes Wild, auf dem unvorteilhaftesten, gefährlichsten Weg, aber auf der bekannten, alten Spur zurück.
Napoleon, der uns als der Leiter dieser ganzen Bewegung erscheint (wie die Wilden die geschnitzte Figur am Schiffsschnabel für die Kraft hielten, von der das Schiff bewegt werde), glich während der ganzen Zeit dieser seiner Tätigkeit einem Kind, das die Bändchen anfaßt, die im Innern des Wägelchens angebracht sind, und sich einbildet, das Wägelchen zu lenken.
XI
Am 6. Oktober frühmorgens war Pierre aus der Baracke herausgegangen und nach seiner Rückkehr an der Tür stehengeblieben, wo er mit einem langgestreckten, kurz- und krummbeinigen Hündchen von bläulichgrauer Farbe spielte, das um ihn herumsprang. Dieser Hund lebte bei ihnen in der Baracke und lag die Nacht über bei Karatajew, lief aber manchmal irgendwohin in die Stadt und kehrte dann wieder zurück. Er hatte wahrscheinlich nie jemandem gehört, war auch jetzt herrenlos und hatte keinen Namen. Die Franzosen nannten ihn Azor; der Soldat, der immer die Märchen erzählte, nannte ihn Femgalka, Karatajew und andere nannten ihn »Grauer«, manchmal auch »Strolch«. Daß er niemandem gehörte, keinen ordentlichen Namen führte, keiner Rasse angehörte und nicht einmal eine bestimmte Farbe hatte, grämte ihn nicht im geringsten. Sein buschiger Schweif stand fest und rundlich nach oben wie ein Helmbusch; seine krummen Beine leisteten ihm so gute Dienste, daß er oft, wie wenn er es verschmähte, sie alle vier zu gebrauchen, graziös das eine Hinterbein in die Höhe hob und sehr geschickt und schnell auf drei Pfoten lief. Alles war für ihn ein Anlaß vergnügt zu sein. Bald wälzte er sich winselnd vor Freude auf dem Rücken, bald wärmte er sich mit ernster, nachdenklicher Miene in der Sonne; bald trieb er Mutwillen, indem er mit einem Holzspänchen oder mit einem Strohhalm spielte.
Pierres Kleidung bestand jetzt aus einem schmutzigen, zerrissenen Hemd, dem einzigen Überrest seiner früheren Kleidung, einer Soldatenhose, die er sich um des besseren Warmhaltens willen auf Karatajews Rat an den Knöcheln mit Bindfaden zusammengebunden hatte, einem Kaftan und einer Bauernmütze. Körperlich hatte er sich während dieser Zeit sehr verändert. Er sah nicht mehr dick aus, obgleich man ihm noch ebenso wie vorher die in seinem Geschlecht erbliche Derbheit und Kraft ansah. Ein Bart bedeckte den unteren Teil seines Gesichtes; das lang gewordene, wirre, von Läusen wimmelnde Kopfhaar hatte jetzt das Aussehen einer krausen Mütze. Der Ausdruck seiner Augen war fest und ruhig, aber dabei frisch und lebhaft, ein Ausdruck, wie ihn Pierres Blick früher nie gehabt hatte. An die Stelle seiner früheren Schlaffheit, die sich auch in seinem Blick bekundet hatte, war jetzt eine energische, zum Handeln und zum Widerstand bereite Spannkraft getreten. Seine Füße waren nackt.
Pierre blickte bald hinunter auf das Feld, über welches an diesem Morgen Fuhrwerke und Reiter hinzogen, bald über den Fluß hinüber in die Ferne, bald nach dem Hündchen, das sich stellte, als wolle es ihn ernstlich beißen, bald nach seinen nackten Füßen, die er mit einem eigenartigen Vergnügen bald so, bald anders hinstellte, wobei er seine schmutzigen, großen, dicken Zehen hin und her bewegte. Und jedesmal, wenn er seine nackten Füße ansah, lief über sein Gesicht ein Lächeln heiterer Befriedigung. Der Anblick dieser nackten Füße rief ihm alles das ins Gedächtnis, was er in der letzten Zeit durchlebt und erkannt hatte, und diese Erinnerung war ihm angenehm.
Das Wetter war schon seit mehreren Tagen still und klar, mit leichten Morgenfrösten – der sogenannte Altweibersommer.
Die Luft war, wo die Sonne schien, warm, und diese Wärme nebst der stärkenden Frische des Morgenfrostes, der in der Luft noch zu spüren war, wirkte sehr angenehm.
Auf allem, auf fernen und nahen Gegenständen, lag jener zauberhafte Kristallglanz, der nur dieser Herbstzeit eigen ist. In der Ferne waren die Sperlingsberge sichtbar, mit dem Dorf, der Kirche und dem großen, weißen Haus. Die kahlen Bäume und der Sand und die Steine und die Dächer der Häuser und die grüne Kirchturmspitze und die Ecken des fernen, weißen Hauses, das alles hob sich außerordentlich deutlich, in ganz scharfen Linien in der reinen Luft ab. In der Nähe sah Pierre die ihm wohlbekannten Ruinen eines halbverbrannten Herrenhauses, in welchem Franzosen wohnten, und die noch dunkelgrünen Fliederbüsche, die an der Einfriedigung entlang wuchsen. Und selbst dieses trümmerhafte, rauchgeschwärzte Haus, das bei trübem Wetter durch seine Häßlichkeit etwas Abstoßendes hatte, machte jetzt bei dem hellen Sonnenschein und der stillen Luft einen schönen, gewissermaßen beruhigenden Eindruck.
Ein französischer Korporal, den Rock häuslich-bequem aufgeknöpft, auf dem Kopf eine Zipfelmütze, zwischen den Zähnen eine kurze Pfeife, kam um eine Ecke der Baracke herum und trat, freundlich mit den Augen zwinkernd, zu Pierre heran.
»Was für ein prächtiger Sonnenschein! Nicht wahr, Monsieur Kirill?« (So wurde Pierre von allen Franzosen genannt.) »Der reine Frühling!«
Der Korporal lehnte sich an die Tür und bot Pierre seine Pfeife an, obgleich er sie ihm schon oftmals angeboten und Pierre jedesmal dankend abgelehnt hatte.
»Das wäre ein schönes Marschwetter …«, begann er.
Pierre fragte ihn, was über das Ausrücken verlaute, und der Korporal erzählte ihm, es seien schon beinahe alle Truppen im Abmarsch begriffen, und es müsse heute ein Befehl über die Gefangenen kommen. In der Baracke, in welcher Pierre untergebracht war, lag ein Soldat namens Sokolow, todkrank, und Pierre sagte dem Korporal, es müßten für diesen Soldaten die nötigen Anordnungen getroffen werden. Der Korporal erwiderte, Pierre könne darüber beruhigt sein; dafür seien mobile und stationäre Lazarette vorhanden, und es würde schon in betreff der Kranken das Erforderliche angeordnet werden; überhaupt seien die Vorgesetzten im voraus auf alles bedacht, was möglicherweise eintreten könne.
»Und dann, Monsieur Kirill, brauchen Sie ja nur dem Kapitän ein Wort zu sagen. Wissen Sie, das ist ein prächtiger Mann; der vergißt nie etwas. Sagen Sie es dem Kapitän, wenn er seinen Rundgang macht. Ihnen zuliebe tut er alles.«
Der Kapitän, von dem der Korporal sprach, unterhielt sich oft lange mit Pierre und erwies ihm alle möglichen Freundlichkeiten.
»›Siehst du, St. Thomas‹, sagte er neulich zu mir, ›Kirill, das ist ein Mann, der eine gute Bildung besitzt und französisch spricht; er ist ein vornehmer Russe, der Unglück gehabt hat; aber er ist ein tüchtiger Mensch. Und er versteht etwas. Wenn er einen Wunsch hat, dann mag er es mir sagen; ich werde ihm nichts abschlagen. Siehst du, wenn man selbst studiert hat, dann liebt man die Bildung und die gebildeten Menschen.‹ Das erzähle ich Ihnen aus Freundschaft wieder, Monsieur Kirill. Bei der Affäre neulich, wenn Sie da nicht eingegriffen hätten, dann hätte die Sache ein schlimmes Ende genommen.«
Nachdem der Korporal noch ein Weilchen geplaudert hatte, ging er weg. (Der neuliche Vorfall, dessen der Korporal Erwähnung getan hatte, war eine Schlägerei zwischen Gefangenen und Franzosen gewesen, bei der es Pierre gelungen war, seine Kameraden zu besänftigen.) Einige Gefangene hatten Pierres Gespräch mit dem Korporal gehört und erkundigten sich nun sofort, was der Korporal gesagt habe. Während Pierre seinen Kameraden berichtete, was ihm der Korporal über den Abmarsch mitgeteilt hatte, näherte sich der Tür der Baracke ein französischer Soldat von hagerer Gestalt, mit gelblicher Hautfarbe, in zerlumpter Kleidung. Nachdem er mit einer schnellen, schüchternen Bewegung die Finger zum Zeichen des Grußes an die Stirn gehoben hatte, wandte er sich an Pierre und fragte ihn, ob in dieser Baracke ein Soldat Platoche wohne, dem er den Auftrag gegeben habe, ihm ein Hemd zu nähen.
Eine Woche vorher war den Franzosen Leder und Leinwand geliefert worden, und sie hatten dieses Material den gefangenen Soldaten übergeben, damit sie ihnen daraus Stiefel machten und Hemden nähten.
»Es ist fertig, es ist fertig, mein lieber Falke!« sagte Karatajew, der, ein sauber zusammengelegtes Hemd in der Hand, heraustrat.
Weil es so warmes Wetter war und um bei der Arbeit unbehindert zu sein, hatte Karatajew nur Hosen und ein zerrissenes Hemd an, daß so schwarz wie Erde aussah. Die Haare hatte er sich, wie das Handwerker zu tun pflegen, mit einem Baststreifen zusammengebunden, und sein rundliches Gesicht sah dadurch noch rundlicher und freundlicher aus.
»Versprechen und Halten ziemt Jungen und Alten. Wie ich gesagt habe: ›Zum Freitag‹, so habe ich es auch gemacht«, sagte Platon lächelnd und faltete das von ihm verfertigte Hemd auseinander.
Der Franzose blickte unruhig um sich, und wie wenn er sein Bedenken überwunden hätte, warf er schnell seinen Uniformrock ab und zog das Hemd an. Unter dem Rock hatte er kein Hemd angehabt; er trug auf dem nackten, gelben, hageren Körper nur eine lange, schmierige, geblümte, seidene Weste. Er fürchtete offenbar, die Gefangenen, die ihn ansähen, könnten über ihn lachen, und steckte eilig den Kopf in das Hemd hinein. Aber keiner der Gefangenen sagte ein Wort.
»Siehst du wohl, es paßt, gleich auf den ersten Hieb«, sagte Platon und zupfte das Hemd zurecht.
Nachdem der Franzose Kopf und Arme durchgesteckt hatte, betrachtete er, ohne die Augen zu erheben, das Hemd an seinem Leib und prüfte die Nähte.
»Na ja, mein lieber Falke, eine Schneiderwerkstatt ist ja hier nicht, und ordentliches Handwerkszeug habe ich auch nicht; und man pflegt zu sagen: Ohne Werkzeug kann man nicht einmal eine Laus totschlagen«, sagte Platon mit vergnügtem Lächeln und hatte offenbar selbst seine Freude an seiner Arbeit.
»Schön, schön, danke; aber du mußt von der Leinwand noch etwas übrigbehalten haben«, sagte der Franzose.
»Es wird dir noch besser sitzen, wenn du es auf den bloßen Leib anziehst«, sagte Karatajew, der fortfuhr, sich über sein Machwerk zu freuen. »Es wird dir gute Dienste leisten und eine angenehme Empfindung machen …«
»Danke, danke, Alterchen; nun die Reste …«, wiederholte der Franzose lächelnd, zog eine Banknote heraus und gab sie Karatajew. »Aber die Reste …«
Pierre merkte, daß Platon nicht verstehen wollte, was der Franzose sagte, und sah die beiden an, ohne sich einzumischen. Karatajew bedankte sich für das Geld und hörte nicht auf, liebevoll seine Arbeit zu betrachten. Der Franzose beharrte auf seinem Verlangen nach Herausgabe der Reste und bat Pierre, das, was er gesagt hatte, zu übersetzen.
»Was kann er denn mit den Resten anfangen?« erwiderte Karatajew. »Für uns aber würden sich prächtige Fußlappen daraus machen lassen. Na, wenn er sie durchaus will, meinetwegen!«
Und mit plötzlich verändertem, traurig gewordenem Gesicht holte Karatajew hinter seiner Hemdbrust ein Päckchen Zeugschnitzel hervor und reichte es, ohne hinzublicken, dem Franzosen hin. »Schade, schade!« sagte Karatajew und ging zurück. Der Franzose sah die Leinwand ein Weilchen an, überlegte, richtete einen fragenden Blick auf Pierre, und Pierres antwortender Blick schien ihm etwas zu sagen.
»Platoche, hör mal, Platoche«, rief der Franzose auf einmal errötend mit schriller Stimme. »Behalte das für dich!« Und damit reichte er ihm die Reste hin, wandte sich um und ging weg.
»Na, da sieht man’s!« sagte Karatajew, den Kopf hin und her wiegend. »Es heißt immer, die seien keine Christen; aber sie haben doch auch eine Seele. Die Alten haben ganz recht, wenn sie sagen: Schweißige Hand ist freigebig, aber trockene Hand ist geizig. Er ist selbst nackt und bloß und hat doch noch etwas weggegeben.«
Karatajew schwieg ein Weilchen und betrachtete, nachdenklich lächelnd, die Leinwandreste.
»Aber prächtige Fußlappen können wir uns daraus machen, lieber Freund«, sagte er und kehrte in die Baracke zurück.
XII
Vier Wochen waren vergangen, seit Pierre in Gefangenschaft geraten war. Obwohl die Franzosen ihm anheimgestellt hatten, aus der Soldatenbaracke in die der Offiziere überzusiedeln, war er doch in derjenigen geblieben, in die er am ersten Tag gekommen war.
In dem zerstörten und verbrannten Moskau machte Pierre fast das Äußerste an Entbehrungen durch, was ein Mensch ertragen kann; aber dank seiner starken Konstitution und seiner guten Gesundheit, deren er sich bisher nicht bewußt geworden war, und besonders dank dem Umstand, daß diese Entbehrungen so unmerklich an ihn herangetreten waren, daß sich gar nicht sagen ließ, wann sie eigentlich angefangen hatten, ertrug er seine Lage nicht nur leicht, sondern sogar in freudiger Stimmung. Und namentlich hatte er gerade in dieser Zeit jene seelische Ruhe und Zufriedenheit mit sich selbst erlangt, nach der er früher vergebens gestrebt hatte. Lange hatte er in seinem Leben auf den verschiedensten Wegen nach dieser Seelenruhe und inneren Harmonie gesucht, die ihn bei den Soldaten in Borodino so in Erstaunen versetzt hatte: er hatte sie in der Philanthropie gesucht, in der Freimaurerei, in den Zerstreuungen des gesellschaftlichen Lebens, im Wein, in heldenhaften Taten der Selbstaufopferung, in der romantischen Liebe zu Natascha; er hatte sie gesucht auf dem Weg des Denkens – und hatte bei all diesem Suchen und Versuchen nur Täuschungen erlebt. Und nun hatte er, ohne daran zu denken, diese seelische Ruhe und innere Harmonie erreicht lediglich durch die Schrecken des Todes, durch Entbehrungen und durch das, was er aus Karatajews Wesen gelernt hatte.
Jene entsetzlichen Minuten, die er während der Hinrichtung durchlebt hatte, hatten gleichsam für immer aus seinem Denk- und Erinnerungsvermögen die aufregenden Gedanken und Empfindungen fortgespült, die ihm früher so wichtig erschienen waren. Es kam ihm jetzt kein Gedanke an Rußland in den Kopf, oder an den Krieg, oder an die Politik, oder an Napoleon. Er war sich darüber klar, daß ihn alles dies nichts anging, daß er nicht den Beruf und daher auch nicht die Fähigkeit hatte, über all dies zu urteilen. »Der Sommer ist nicht Rußlands Verbündeter«, wiederholte er sich einen Satz, den er von Karatajew gehört hatte, und dieser Satz übte auf ihn eine seltsam beruhigende Wirkung aus. Unbegreiflich und geradezu lächerlich erschien ihm jetzt seine Absicht, Napoleon zu töten, und seine Berechnungen über die kabbalistische Zahl und über das Tier der Apokalypse. Seine Erbitterung gegen seine Frau und seine Besorgnis, daß sie seinen Namen beschimpfen könne, kamen ihm jetzt nicht nur gegenstandslos, sondern komisch vor. Was ging es ihn an, daß diese Frau dort irgendwo ein Leben führte, wie es ihr zusagte? Was konnte jemandem und speziell ihm daran liegen, ob die Franzosen erfuhren oder nicht erfuhren, daß der Name ihres Gefangenen Graf Besuchow war?
Jetzt erinnerte er sich häufig an ein Gespräch, das er einmal mit dem Fürsten Andrei gehabt hatte, und war mit diesem völlig derselben Ansicht, nur daß er den Gedanken des Fürsten Andrei ein wenig anders auffaßte. Fürst Andrei hatte gemeint und gesagt, das Glück sei nur etwas Negatives, hatte dies aber mit einem Beiklang von Bitterkeit und Ironie ausgesprochen, als wenn er, indem er das sagte, noch einen andern Gedanken ausspräche, nämlich den, daß das ganze uns eingepflanzte Streben nach dem positiven Glück uns nur zu dem Zweck eingepflanzt sei, damit es unbefriedigt bliebe und uns peinigte. Pierre aber erkannte jenen Satz ohne jeden Hintergedanken als richtig an. Das Fehlen des Leides, die Befriedigung der Bedürfnisse und als Folge davon die Freiheit in der Wahl der Beschäftigungen, d.h. in der Art der Lebensführung, das stellte sich ihm jetzt als das zweifellos höchste Glück des Menschen dar. Erst hier und erst jetzt lernte Pierre zum erstenmal im vollen Umfang den Genuß des Essens schätzen, wenn er hungerte, den Genuß des Trinkens, wenn er durstete, den Genuß des Schlafens, wenn er müde war, den Genuß der Wärme, wenn ihn fror, den Genuß des Gespräches mit einem Menschen, wenn ihn verlangte, mit jemand zu reden und eine menschliche Stimme zu hören. Die Befriedigung der Bedürfnisse (gute Nahrung, Reinlichkeit, Freiheit) erschien ihm jetzt, wo er alles dies entbehren mußte, als das vollkommene Glück, und die Wahl der Beschäftigung, d.h. die Art der Lebensführung, erschien ihm jetzt, wo diese Wahl für ihn so beschränkt war, als eine ganz leichte Sache. Er bedachte dabei nicht, daß ein Überfluß von Annehmlichkeiten des Lebens die ganze Glücksempfindung über die Befriedigung der Bedürfnisse vernichtet und daß eine weitgehende Freiheit in der Wahl der Beschäftigungen, jene Freiheit, die ihm in seinem Leben seine Bildung, sein Reichtum und seine gesellschaftliche Stellung gewährt hatten, sowohl die Wahl der Beschäftigungen unendlich erschwert als auch sogar das Bedürfnis nach einer Beschäftigung und die Möglichkeit einer solchen vernichtet.
Alle Zukunftsgedanken Pierres richteten sich jetzt auf die Zeit, wo er wieder frei sein würde. Aber doch dachte er später und sein ganzes Leben lang mit Entzücken an diesen Monat der Gefangenschaft, an diese nie wiederkehrenden starken, freudigen Empfindungen und ganz besonders an jene völlige, seelische Ruhe, an jene vollkommene innere Freiheit, die er nur in dieser Zeit genossen hatte.
Als er am ersten Tag seines dortigen Aufenthalts frühmorgens aufgestanden und in der Dämmerung aus der Baracke herausgetreten war und die zunächst noch dunklen Kuppeln und Kreuze des Nowodjewitschi-Klosters sah und den kalten Tau auf dem staubigen Gras und die Kuppen der Sperlingsberge und das waldige Ufer, das sich an den Windungen des Flusses hinzog und in der violetten Ferne verschwand; als er die Berührung der frischen Luft empfand und das Geschrei der von Moskau her über das Feld fliegenden Dohlen hörte; und als dann auf einmal im Osten ein Licht aufflammte und der Rand der Sonne feierlich hinter einer Wolke hervor aufstieg und die Kuppeln und die Kreuze und der Tau und die Ferne und der Fluß, alles in der fröhlichen Beleuchtung aufschimmerte, da empfand Pierre ein neues, ihm bis dahin noch unbekanntes Gefühl der Freude und der Lebenskraft.
Dieses Gefühl, ein Gefühl der Bereitschaft zu allem, ein Gefühl der seelischen Spannkraft, fand noch eine weitere Stütze an der hohen Meinung, die sich bald nach seinem Einzug in die Baracke bei seinen Kameraden über ihn herausgebildet hatte. Wegen seiner Sprachkenntnisse und wegen des Respektes, den ihm die Franzosen bezeigten, und wegen seines schlichten, einfachen Wesens, und weil er alles, um was er gebeten wurde, willig hingab (er erhielt als Offizier drei Rubel wöchentlich), und wegen seiner Körperkraft, von der sich die Soldaten überzeugten, wenn er Nägel in die Wand der Baracke hineindrückte, und wegen der Sanftmut, die er im Verkehr mit den Kameraden bewies, und wegen seiner ihnen unbegreiflichen Fähigkeit, dazusitzen und zu denken, ohne sich zu rühren und ohne etwas zu tun: aus allen diesen Gründen erschien Pierre den Soldaten als ein geheimnisvolles, höheres Wesen. Dieselben Eigenschaften, die in der Welt, in der er früher gelebt hatte, wenn sie ihm auch nicht geradezu nachteilig gewesen waren, doch immerhin ein unangenehmes Aufsehen erregt hatten, seine übermäßige Kraft, seine Gleichgültigkeit gegen allen Komfort, seine Zerstreutheit, seine Schlichtheit, diese selben Eigenschaften trugen ihm hier unter diesen Menschen beinahe das Ansehen eines Helden ein. Und Pierre hatte die Empfindung, daß diese Meinung, die man von ihm hegte, ihm die Pflicht auferlegte, sich ihrer wert zu zeigen.
XIII
In der Nacht vom 6. zum 7. Oktober begann der Ausmarsch der Franzosen: die Küchen und Baracken wurden abgebrochen, die Fuhrwerke beladen, und die Truppen- und Wagenzüge setzten sich in Bewegung.
Um sieben Uhr morgens stand die französische Eskorte in marschmäßiger Ausrüstung, mit Tschakos, Gewehren, Tornistern und großen Brotbeuteln vor den Baracken, und ein lebhaftes französisches Gespräch, mit Schimpfworten untermischt, war auf der ganzen Linie im Gange.
In der Baracke waren alle bereit, angekleidet, umgürtet, beschuht, und warteten nur auf den Befehl herauszugehen. Nur der kranke Soldat Sokolow saß blaß und abgemagert, mit blauen Ringen um die Augen, allein, ohne Schuhe und ohne ordentliche Kleidung auf seinem Platz, blickte mit seinen infolge der Magerkeit stark hervortretenden Augen fragend seine Kameraden an, die ihm keine Aufmerksamkeit zuwandten, und stöhnte leise in gleichmäßigen Zwischenräumen. So zu stöhnen, veranlaßte ihn offenbar nicht sowohl körperlicher Schmerz (er litt an der Ruhr) als die Furcht und Sorge, allein zurückgelassen zu werden.
Pierre (er trug Schuhe, die ihm Karatajew aus Packleder, von einem Teeballen herrührend, gemacht hatte, welches ihm ein Franzose gebracht hatte, damit er ihm davon seine Stiefel besohlte, und hatte sich einen Strick als Gurt um den Leib gebunden) trat zu dem Kranken und kauerte sich vor ihm hin.
»Nun, Sokolow, sie gehen ja nicht ganz weg! Sie haben hier ein Lazarett. Leicht möglich, daß es dir besser gehen wird als uns«, sagte Pierre.
»O mein Gott! Das ist mein Tod! O mein Gott!« stöhnte der Soldat lauter.
»Ich will sie gleich noch fragen«, sagte Pierre, stand auf und ging nach der Tür der Baracke hin.
In dem Augenblick, als Pierre sich der Tür näherte, kam von außen, von zwei Soldaten begleitet, jener Korporal heran, der tags zuvor Pierre seine Pfeife angeboten hatte. Auch der Korporal und die Soldaten waren in marschmäßiger Ausrüstung, mit Tornistern und Tschakos, an denen die Schuppenketten zugeknöpft waren; dadurch sahen ihre wohlbekannten Gesichter ganz verändert aus.
Der Korporal kam zur Tür, um sie auf Befehl des vorgesetzten Offiziers zu schließen. Vor dem Ausmarsch mußten die Gefangenen nachgezählt werden.
»Korporal, was wird mit dem Kranken geschehen?« begann Pierre.
Aber in dem Augenblick, wo er das sagte, stieg ihm ein Zweifel auf, ob das auch wirklich der ihm wohlbekannte Korporal sei oder ein anderer, unbekannter Mensch: so ganz anders als sonst sah der Korporal in diesem Augenblick aus. Außerdem begann in dem Augenblick, als Pierre dies sagte, von zwei Seiten her plötzlich ein lauter Trommelwirbel. Der Korporal runzelte zu Pierres Worten die Stirn, stieß ein paar sinnlose Schimpfworte aus und schlug die Tür zu. In der Baracke wurde es halbdunkel; von zwei Seiten her wirbelten mit scharfem Klang die Trommeln und übertönten das Stöhnen des Kranken.
»Da ist es …! Da ist es wieder!« sagte sich Pierre, und unwillkürlich lief ihm ein kalter Schauder den Rücken entlang. In dem veränderten Gesicht des Korporals, in dem Ton seiner Stimme, in dem aufregenden, betäubenden Rasseln der Trommeln erkannte Pierre jene geheimnisvolle, mitleidslose Macht, die die Menschen zwang, gegen ihren eigenen Willen ihresgleichen zu morden, jene Macht, deren Wirkung er bei der Hinrichtung wahrgenommen hatte. Ein Versuch, dieser Macht auszuweichen, ihr zu entrinnen, sich mit Bitten oder Vorstellungen an die Menschen zu wenden, die dieser Macht als Werkzeuge dienten, war nutzlos. Das wußte Pierre jetzt. Es war nichts anderes möglich als zu warten und zu dulden. Pierre ging nicht mehr zu dem Kranken hin und sah sich nicht mehr nach ihm um. Schweigend, mit finsterem Gesicht stand er an der Tür der Baracke.
Als die Tür der Baracke geöffnet wurde und die Gefangenen wie eine Hammelherde, einander drückend und quetschend, sich in dem Ausgang drängten, arbeitete sich Pierre durch sie nach vorn hindurch und trat zu eben jenem Kapitän hin, der nach der Versicherung des Korporals gern bereit war, Pierre alles zu Gefallen zu tun. Der Kapitän war gleichfalls in marschmäßiger Ausrüstung, und aus seiner kalten Miene schien gleichfalls jene geheimnisvolle Macht herauszuschauen, die Pierre in den Worten des Korporals und in dem Gerassel der Trommeln wiedererkannt hatte.
»Einer hinter dem andern, immer einer hinter dem andern!« sagte, streng die Stirn runzelnd, der Kapitän, indem er die sich an ihm vorbeidrängenden Gefangenen musterte.
Pierre wußte, daß sein Versuch vergeblich sein werde; aber er trat doch an ihn heran.
»Nun, was gibt’s?« fragte der Offizier und warf ihm einen kalten Blick zu, als ob er ihn nicht erkenne.
Pierre sagte etwas von dem Kranken.
»Er wird schon gehen können, hol’s der Teufel!« erwiderte der Kapitän. »Einer hinter dem andern, einer hinter dem andern«, sprach er weiter, ohne Pierre anzusehen.
»Nein, nein, er liegt schon im Sterben …«, begann Pierre.
»Machen Sie, daß Sie fortkommen!« schrie der Kapitän wütend mit finsterem Gesicht.
»Dram-da-da-dam, dam-dam«, rasselten die Trommeln. Und Pierre sah ein, daß die geheimnisvolle Macht diese Menschen schon vollständig in ihren Bann geschlagen hatte und daß es nutzlos war, jetzt noch irgend etwas zu sagen.
Die gefangenen Offiziere wurden von den gefangenen Gemeinen gesondert und erhielten Befehl, voranzugehen. Die Offiziere, zu denen auch Pierre gehörte, waren an Zahl etwa dreißig, die Gemeinen gegen dreihundert.
Die gefangenen Offiziere, die aus anderen Baracken herausgelassen wurden, waren Pierre sämtlich fremd; sie waren weit besser gekleidet als er und blickten ihn in seinen Schuhen mißtrauisch und verwundert an. Nicht weit von Pierre ging ein dicker Major mit gedunsenem, gelblichem, ärgerlichem Gesicht, der sich bei seinen mitgefangenen Kameraden offenbar allgemeinen Respektes erfreute; er trug einen langen Kasanschen Rock, der mit einem Handtuch umgürtet war. Die eine Hand, in der er den Tabaksbeutel hielt, hatte er in die Brust gesteckt; mit der andern stützte er sich auf ein Pfeifenrohr. Keuchend und schnaufend brummte er allerlei vor sich hin und schalt auf alle, weil er der Meinung war, daß sie ihn alle stießen und daß sie alle eilten, obwohl kein Anlaß zur Eile wäre, und daß sie sich alle über etwas wunderten, obwohl es gar nichts zu wundern gäbe. Ein anderer, kleiner, magerer Offizier knüpfte mit allen Gespräche an, indem er Vermutungen darüber anstellte, wohin sie wohl heute geführt würden und wie weit sie wohl an diesem Tag kommen würden. Ein Beamter, in Intendanturuniform und Filzstiefeln, lief nach allen Seiten umher, betrachtete das abgebrannte Moskau und teilte allen laut seine Beobachtungen darüber mit, was niedergebrannt sei und zu welchem Stadtteil dies oder das, was noch sichtbar war, gehöre. Ein dritter Offizier, seiner Aussprache nach von polnischer Herkunft, stritt sich mit dem Intendanturbeamten herum und bewies ihm, daß er sich mit der Identifizierung der Stadtteile von Moskau irre.
»Worüber streitet ihr denn?« sagte der Major ärgerlich. »Ob das nun die Nikola-Kirche ist oder die Wlas-Kirche, das ist ja ganz gleich; ihr seht ja, es ist alles niedergebrannt; das genügt … Warum stoßen Sie mich denn? Haben Sie denn nicht Raum genug auf dem Weg?« wandte er sich zornig an seinen Hintermann, der ihn gar nicht gestoßen hatte.
»Oh, oh, oh! Was haben sie da getan!« riefen aber trotzdem die Gefangenen, die nach der Brandstätte hinschauten, bald hier, bald dort. »Das ganze Samoskworetschje, und Subowo, und da im Kreml … Seht nur, die halbe Stadt ist weg. Ich habe es euch ja gleich gesagt, daß das ganze Samoskworetschje abgebrannt ist; seht ihr wohl, so ist es auch!«
»Na, ihr wißt ja, daß alles verbrannt ist; was ist da noch viel zu reden!« sagte der Major.
Als sie durch Chamowniki hindurchgingen, einen der wenigen nicht niedergebrannten Stadtteile Moskaus, und an einer Kirche vorbeikamen, drängte sich der ganze Haufe der Gefangenen auf einmal nach der einen Seite hinüber, und es erschollen Ausrufe des Entsetzens und des Abscheus.
»Nein, diese Schurken! Solche Unchristen! Wahrhaftig, es ist eine Leiche, eine Leiche … Sie haben sie mit etwas beschmiert.«
Auch Pierre ging näher zu der Kirche heran, wo sich der Gegenstand befand, durch den diese Ausrufe veranlaßt wurden, und sah undeutlich, daß da etwas an die Kirchenmauer gelehnt war. Aus den Worten seiner Kameraden, die besser sahen als er, konnte er entnehmen, daß dieser Gegenstand ein menschlicher Leichnam war, der aufrecht an die Mauer gestellt und im Gesicht mit Ruß bemalt war.
»Geht zu! Donnerwetter …! Ordentlich in Reihen gehen … Dreißigtausend Teufel …!« schimpften die eskortierenden französischen Soldaten und trieben den Haufen der Gefangenen, die den Leichnam betrachteten, in erneutem Ingrimm mit ihren Seitengewehren auseinander.
XIV
Durch die Gassen von Chamowniki gingen die Gefangenen allein mit ihrer Eskorte und den hinterherfahrenden Fuhrwerken, die den Soldaten der Eskorte gehörten; aber als sie aus den Gassen heraus zu den Proviantmagazinen kamen, stießen sie mitten auf einen gewaltigen, mit Privatfuhrwerken gemischten Zug Artillerie, der eng zusammengedrängt sich weiterschob.
Dicht bei der Brücke machten die Gefangenen mit ihrer Eskorte halt und warteten, bis der vor ihnen vorbeifahrende Zug hinüber war. Von der Brücke aus erschloß sich den Gefangenen nach hinten und nach vorn ein Ausblick auf endlose Reihen anderer in Bewegung begriffener Züge. Rechts, dort, wo die Kalugaer Landstraße sich am Neskutschny-Park herumzieht, um dann in der Ferne zu verschwinden, zogen sich endlose Reihen von Truppen und Fuhrwerken hin. Dies waren die Truppen des Beauharnaisschen Korps, die am frühesten von allen aufgebrochen waren; nach hinten zu, auf der Uferstraße und über die Kamenny-Brücke, zogen sich die Truppen und Fuhrwerke Neys hin.
Die Truppen Davouts, zu denen die Gefangenen gehörten, gingen über die Krimfurt-Brücke und waren schon zum Teil auf die Kalugaer Straße gelangt. Aber die Fuhrwerke bildeten eine so lange Reihe, daß die letzten Fuhrwerke Beauharnais’ noch nicht aus Moskau auf die Kalugaer Straße gelangt waren, als die Tete der Neyschen Truppen schon aus der Bolschaja-Ordynka-Straße herauskam.
Als die Gefangenen die Krimfurt-Brücke überschritten hatten, rückten sie immer nur ein paar Schritte vor, machten dann wieder halt und rückten wieder ein wenig weiter, und von allen Seiten drängten immer mehr Wagen und Menschen heran. Nachdem sie mehr als eine Stunde gebraucht hatten, um die paar hundert Schritte zurückzulegen, die die Brücke von der Kalugaer Straße trennten, und zu dem Platz gelangt waren, wo die Straßen des Stadtteils Samoskworetschje mit der Kalugaer Straße zusammentreffen, machten die Gefangenen, in einen Haufen zusammengedrängt, halt und mußten mehrere Stunden lang an diesem Kreuzpunkt stehenbleiben. Von allen Seiten ertönte wie Meeresrauschen ein unaufhörliches Rollen von Rädern und Trappeln von Füßen, sowie ein fortwährendes zorniges Schreien und Schimpfen. Gegen die Mauer eines ausgebrannten Hauses gedrückt, stand Pierre da und horchte auf dieses Getöse, das in seiner Einbildungskraft mit den Tönen der vorher gehörten Trommeln zusammenfloß.
Einige von den gefangenen Offizieren waren, um besser sehen zu können, auf die Mauer des ausgebrannten Hauses, bei der Pierre stand, hinaufgeklettert.
»Diese Bande! Nein, diese Bande!« sagten sie. »Auch auf die Kanonen haben sie eine Menge Sachen heraufgepackt! Sieh nur, Pelze! Ja, was haben die Racker alles geraubt …! Was hat denn der da hinten, auf dem Bauernwagen? Das ist ja von einem Heiligenbild, ganz bestimmt! Das sind da gewiß Deutsche. Auch ein russischer Bauer, wahrhaftigen Gottes …! Ach, diese Schufte …! Sieh nur, der da hat sich so schwer bepackt, daß er kaum gehen kann! Na so was, auch Kutschwagen haben sie mitgenommen! Da, der hat sich auf seine Koffer heraufgesetzt. Ach herrje! Da fangen sie an, sich zu prügeln …!«
»Hau ihm nur ordentlich in die Fresse, immer in die Fresse! Sonst kannst du bis zum Abend warten und kommst nicht weiter. Sieh mal, seht mal … das gehört gewiß dem Napoleon selbst. Ei, was für prächtige Pferde! mit Monogramm und Krone. Das ist ein zusammenlegbares Zelt. Der hat einen Sack fallen lassen und merkt es nicht. Da prügeln sie sich schon wieder … Ein Weib mit einem kleinen Kind, ein hübsches Frauenzimmer. Na ja, natürlich, dich werden sie schon vorbeilassen … Seht bloß, es ist kein Ende abzusehen. Russische liederliche Frauenzimmer, wahrhaftig, liederliche Frauenzimmer. Wie gemächlich die da in ihren Kutschen sitzen.«
Wieder trieb, wie bei der Kirche in Chamowniki, die gemeinsame Neugier mit der Macht einer starken Welle alle Gefangenen zur Straße hin, und Pierre sah dank seinem hohen Wuchs über die Köpfe der andern hinweg das, was die Neugier der Gefangenen so reizte. In drei Kutschen, die zwischen den Munitionswagen fuhren, saßen, eng aneinandergedrängt, grellfarbig geputzte, geschminkte Weiber, die mit schrillen Stimmen laut untereinander redeten.
Von dem Augenblick an, wo Pierre das Auftreten der geheimnisvollen Macht wahrgenommen hatte, erschien ihm nichts mehr seltsam oder schrecklich: weder der Leichnam, der zum Amüsement mit Ruß bemalt war, noch diese Weiber, die in eine unbekannte Ferne eilten, noch die Brandstätte von Moskau. Alles, was Pierre jetzt sah, machte auf ihn fast gar keinen Eindruck, wie wenn seine Seele, sich zu einem schweren Kampf vorbereitend, sich weigerte, Eindrücke aufzunehmen, durch die ihre Kraft geschwächt werden könnte.
Der Zug der Frauen war vorübergefahren. Dahinter folgten wieder in langer Reihe Bauernwagen, Soldaten, Trainwagen; Soldaten, Pulverwagen, Kutschen; Soldaten, Munitionswagen, Soldaten; hier und da Weiber.
Pierre sah nicht die einzelnen Menschen, sondern er sah ihre Bewegung.
Alle diese Menschen und Pferde schienen von einer unsichtbaren Macht weitergetrieben zu werden. Alle kamen sie im Laufe der Stunde, während deren Pierre sie beobachtete, aus verschiedenen Straßen herausgeströmt, von ein und demselben Wunsch erfüllt: schnell vorwärtszukommen. Alle stießen einander im Gedränge, wurden dann einer wie der andere zornig und fingen an, sich zu prügeln: sie fletschten die weißen Zähne, zogen die Augenbrauen zusammen, warfen sich wechselseitig dieselben Schimpfworte an den Kopf, und auf allen Gesichtern lag ein und derselbe Ausdruck kräftiger Energie und kalter Grausamkeit, jener Ausdruck, der am Morgen dieses Tages, als die Trommeln wirbelten, Pierre auf dem Gesicht des Korporals aufgefallen war.
Der Abend nahte schon heran, als der Führer der Eskorte seine Mannschaft zusammentreten ließ und unter heftigem Schreien und Zanken sich in den Wagenzug hineindrängte und die Gefangenen endlich, von allen Seiten eingeschlossen, auf die Kalugaer Straße kamen.
Sie marschierten nun sehr schnell, ohne auszuruhen, und machten erst halt, als die Sonne schon unterzugehen anfing. Die Wagenzüge kamen einer nach dem andern heran, und die Leute trafen ihre Vorbereitungen zum Nachtlager. Alle machten den Eindruck, als seien sie ärgerlich und unzufrieden. Lange Zeit war von verschiedenen Seiten her Schimpfen, grimmiges Schreien und Schlägerei zu hören. Eine Kutsche, die hinter der Eskorte fuhr, war gegen ein der Eskorte gehöriges Fuhrwerk gefahren und hatte dieses mit der Deichsel durchstoßen. Eine Anzahl von Soldaten kam von verschiedenen Seiten zu dem Fuhrwerk gelaufen; die einen schlugen die vor die Kutsche gespannten Pferde auf die Köpfe, um sie wegzuwenden, andere begannen mit ihren Widersachern eine Schlägerei, und Pierre sah, daß ein Deutscher dabei mit einem Seitengewehr schwer am Kopf verwundet wurde.
Es schien, als empfänden alle diese Menschen jetzt, wo sie in der kalten Dämmerung des Herbstabends mitten auf dem Feld haltgemacht hatten, das gleiche unangenehme Gefühl der wiederkehrenden Besinnung nach der Hast, die sie alle beim Aufbruch ergriffen hatte, und nach dem eiligen Marsch, dessen Ziel so unklar war. Nachdem sie jetzt haltgemacht hatten, schien es ihnen allen zum Bewußtsein zu kommen, daß es noch ungewiß sei, wohin sie gingen, und daß ihnen auf diesem Marsch viel Not und Mühe drohte.
Die Gefangenen wurden von der Eskorte an diesem Rastort noch schlechter behandelt als beim Aufbruch. An diesem Rastort bestand zum erstenmal die Fleischration, die den Gefangenen geliefert wurde, aus Pferdefleisch.
Jedem einzelnen Mann der Eskorte, von den Offizieren bis zum geringsten Soldaten, war eine Art von persönlicher Erbitterung gegen jeden der Gefangenen anzumerken, die ganz unerwartet an die Stelle des bisherigen freundschaftlichen Verhältnisses getreten war.
Diese Erbitterung wuchs noch, als sich beim Durchzählen der Gefangenen herausstellte, daß in der Hast und Unruhe des Aufbruchs aus Moskau ein russischer Soldat, der Leibweh simuliert hatte, entlaufen war. Pierre sah, wie ein Franzose einen russischen Soldaten mit Schlägen übel zurichtete, weil dieser sich zu weit vom Weg entfernt hatte, und hörte, wie sein Freund, der Kapitän, einen Unteroffizier wegen der Flucht des russischen Soldaten schalt und ihm mit dem Kriegsgericht drohte. Und als der Unteroffizier sich zu rechtfertigen suchte, der Soldat sei krank gewesen und habe nicht weitergehen können, antwortete der Offizier, es sei befohlen, jeden Zurückbleibenden zu erschießen. Pierre fühlte, daß jene Schicksalsmacht, die bei der Hinrichtung so schwer auf ihm gelastet hatte, während der Gefangenschaft aber nicht mehr bemerkbar gewesen war, jetzt wieder sein ganzes Dasein beherrschte. Es war ihm ängstlich zumute; aber er fühlte, daß, je größere Anstrengungen die Schicksalsmacht aufwandte, um ihn zu erdrücken, in demselben Maße auch in seiner Seele eine widerstandsfähige Lebenskraft heranwuchs und erstarkte.
Pierre aß zum Abend eine Roggenmehlsuppe mit Pferdefleisch und unterhielt sich mit den Kameraden.
Weder Pierre noch sonst jemand von den Kameraden redete über das, was sie in Moskau gesehen hatten, oder über das grobe Benehmen der Franzosen oder über den Befehl zum Erschießen, der ihnen verkündet war; alle waren, sozusagen der verschlimmerten Lage zum Trotz, besonders lebhaft und heiter. Sie sprachen von persönlichen Erinnerungen und komischen Szenen, die sie auf dem Marsch gesehen hatten, vermieden aber Gespräche über die gegenwärtige Lage.
Die Sonne war schon lange untergegangen. Helle Sterne blitzten hier und da am Himmel auf; der rote Schimmer des aufgehenden Vollmondes, ähnlich dem Widerschein einer Feuersbrunst, verbreitete sich über einen Teil des Himmelsgewölbes, und die gewaltige rote Kugel schwankte wunderbar in dem grauen Nebel hin und her. Es begann hell zu werden. Der Abend war bereits zu Ende, aber die Nacht hatte noch nicht begonnen. Pierre stand auf und ging von seinen neuen Kameraden weg zwischen den Wachfeuern hindurch nach der andern Seite der Landstraße, wo, wie ihm gesagt worden war, die gefangenen gemeinen Soldaten lagerten. Er wollte gern mit ihnen ein paar Worte reden. Auf der Landstraße hielt ihn ein französischer Posten an und befahl ihm, umzukehren.
Pierre ging zurück, aber nicht zu dem Wachfeuer, zu den Kameraden, sondern zu einem Fuhrwerk, von dem die Pferde ausgespannt waren und bei dem sich niemand befand. Mit untergeschlagenen Beinen setzte er sich neben einem Rad des Fuhrwerks auf die kalte Erde, saß mit gesenktem Kopf, ohne sich zu rühren, lange da und hing seinen Gedanken nach. So verging mehr als eine Stunde. Niemand störte ihn. Plötzlich lachte er mit seinem behäbigen, gutmütigen Lachen so laut auf, daß von verschiedenen Seiten die Menschen erstaunt nach diesem augenscheinlich allein dasitzenden Mann hinblickten, der so sonderbar lachte.
»Ha, ha, ha!« lachte Pierre und sagte dann laut zu sich selbst: »Der Soldat hat mich nicht durchgelassen. Sie haben mich gefangengenommen und eingesperrt. Sie halten mich gefangen. Wer ist das: mich? Mich? Mich, meine unsterbliche Seele! Ha, ha, ha …! Ha, ha, ha …!« lachte er, und die Tränen kamen ihm in die Augen.
Jemand stand auf und näherte sich ihm, um zu sehen, worüber dieser sonderbare, große Mensch so allein für sich lachen möge. Pierre hörte auf zu lachen, stand auf, ging von dem Neugierigen weiter weg und blickte um sich.
Das ungeheure, endlose Biwak, vorher von dem Geräusch der knisternden Wachfeuer und der redenden Menschen erfüllt, war still geworden; die roten Flammen der Wachfeuer waren heruntergebrannt und verblaßt. Hoch am hellen Himmel stand der Vollmond. Die außerhalb des Lagerraumes gelegenen Wälder und Felder, die vorher nicht zu sehen gewesen waren, ließen sich jetzt erkennen, und noch weiter hin zeigte sich die helle, im Mondlicht schwankende, lockende, endlose Ferne. Pierre schaute zu dem tiefen Himmel auf, zu den dahinwandelnden, flimmernden Sternen. »Und all das ist mein, und all das ist in mir, und all das bin ich!« dachte er. »Und all das haben sie gefangengenommen und in eine aus Brettern zusammengeschlagene Baracke eingesperrt!« Er lächelte und ging zu seinen Kameraden, um sich schlafen zu legen.
XV
In der ersten Zeit des Oktobers kam zu Kutusow noch ein Parlamentär mit einem Brief Napoleons, der ein Friedensangebot enthielt; dieser Brief war zum Zweck der Täuschung aus Moskau datiert, während Napoleon in Wirklichkeit sich schon nicht mehr weit vor Kutusow auf der alten Kalugaer Heerstraße befand. Kutusow antwortete auf diesen Brief ebenso wie auf den ersten, den ihm Lauriston überbracht hatte: von Frieden könne keine Rede sein.
Kurz darauf ging von Dolochows Freikorps, das links von Tarutino marschierte, die Meldung ein, in Fominskoje hätten sich Truppen gezeigt; diese Truppen beständen aus der Division Broussier, und die Division könne, da sie von den andern Truppen getrennt sei, leicht vernichtet werden. Die Soldaten und Offiziere verlangten wieder ein aktives Vorgehen. Die Generale vom Stab, erregt durch die Erinnerung an den leichten Sieg bei Tarutino, drangen in Kutusow, er möge der von Dolochow gegebenen Anregung Folge leisten. Kutusow hielt jeden Angriff für unnötig. Das Resultat war das nach Lage der Sache notwendige: man schlug einen Mittelweg ein; es wurde nach Fominskoje ein kleines Detachement geschickt, das gegen Broussier einen Angriff machen sollte.
Durch einen sonderbaren Zufall erhielt diesen, wie sich in der Folge zeigte, besonders schwierigen, wichtigen Auftrag Dochturow, eben jener bescheidene, kleine Dochturow, von dem uns niemand berichtet hat, daß er Schlachtpläne entworfen habe, vor den Regimentern einhergeflogen sei, zur Anfeuerung der Truppen Georgskreuze in eine vom Feind eroberte Batterie geworfen habe usw., jener Dochturow, von dem man glaubte und sagte, daß es ihm an Scharfblick und Entschlossenheit mangele, aber doch jener selbe Dochturow, den wir in allen Kriegen der Russen mit den Franzosen von Austerlitz bis zum Jahre 1813 überall da kommandieren sehen, wo die Situation eine schwierige ist. Bei Austerlitz bleibt er als der Letzte am Damm von Aujesd, wo er die Regimenter sammelt und rettet, was noch zu retten ist, während alles flieht und umkommt und kein einziger General bei der Arrieregarde zu sehen ist. Obwohl er am Fieber leidet, geht er mit zwanzigtausend Mann nach Smolensk, um diese Stadt gegen die ganze Armee Napoleons zu verteidigen. In Smolensk ist er in der Fieberhitze kaum ein wenig am Malachowskischen Tor eingeschlummert, als ihn die gegen Smolensk eröffnete Kanonade aufweckt; und Smolensk hält sich einen ganzen Tag. Als in der Schlacht bei Borodino Bagration gefallen war und die Truppen unseres linken Flügels furchtbare Verluste gehabt hatten und die französische Artillerie ihre gesamte Kraft dorthin richtete, da wird kein anderer dorthin geschickt, sondern gerade Dochturow, dem es an Scharfblick und Entschlossenheit mangelt, und Kutusow beeilt sich, den Fehler, den er dadurch begangen hatte, daß er soeben schon einen andern dorthin geschickt hatte, wiedergutzumachen. Und der kleine, stille Dochturow reitet hin, und Borodino wird das schönste Ruhmesblatt des russischen Heeres. Viele Helden sind uns in Versen und in Prosa geschildert; aber über Dochturow hören wir kaum ein Wort.
Und nun wird Dochturow wieder dorthin geschickt, nach Fominskoje, und von da nach Malo-Jaroslawez, nach dem Ort, wo der letzte Kampf mit den Franzosen stattfindet, nach dem Ort, von dem augenscheinlich schon der Untergang des französischen Heeres beginnt, und wieder werden uns in dieser Periode des Feldzuges viele Genies und Helden geschildert; aber wieder wird über Dochturow kein Wort gesagt, oder nur sehr wenig, oder in zweifelndem Ton. Gerade dieses Schweigen über Dochturow beweist deutlicher als alles andere den Wert dieses Mannes.
Es ist natürlich, daß jemand, der den Gang einer Maschine nicht versteht, beim Anblick ihrer Tätigkeit meint, der wichtigste Teil der Maschine sei das Spänchen, das zufällig in sie hineingeraten ist und nun in ihr herumwirtschaftet und ihren Gang stört. Wer die Konstruktion der Maschine nicht kennt, kann nicht begreifen, daß nicht dieses Spänchen, welches den Mechanismus hemmt und verdirbt, sondern jenes kleine Übertragungszahnrad, das sich geräuschlos herumdreht, einer der wichtigsten Teile der Maschine ist.
Am 10. Oktober, gerade an dem Tag, als Dochturow die Hälfte des Weges nach Fominskoje zurückgelegt hatte und in dem Dorf Aristowo haltmachte und alle Vorbereitungen traf, um den ihm erteilten Auftrag aufs genaueste auszuführen, war das ganze französische Heer in seinem krampfartig hin und her zuckenden Marsch bis zu Murats Position gelangt, anscheinend in der Absicht, dort eine Schlacht zu liefern, schwenkte nun aber plötzlich ohne Anlaß nach rechts auf die neue Kalugaer Straße ab und rückte in Fominskoje ein, wo bis dahin nur Broussier gelagert hatte. Dochturow hatte zu dieser Zeit unter seinem Kommando außer dem Dolochowschen Freikorps auch noch die beiden kleinen Abteilungen von Figner und Seslawin.
Am Abend des 11. Oktober kam Seslawin nach Aristowo zu seinem Vorgesetzten mit einem gefangenen französischen Gardisten. Der Gefangene sagte aus, die Truppen, die an diesem Tag in Fominskoje eingerückt wären, bildeten die Vorhut der ganzen großen Armee; auch Napoleon sei dabei, und die ganze Armee habe schon vor fünf Tagen Moskau verlassen. An demselben Abend erzählte ein Gutsknecht, der aus Borowsk gekommen war, er habe den Einmarsch des gewaltigen Heeres in die Stadt mit angesehen. Kosaken von Dolochows Abteilung meldeten, sie hätten französische Gardetruppen auf der Straße nach Borowsk marschieren sehen. Aus allen diesen Nachrichten ging klar hervor, daß dort, wo man eine Division zu finden gemeint hatte, sich jetzt die ganze französische Armee befand, die von Moskau aus eine unerwartete Richtung eingeschlagen hatte: auf der alten Kalugaer Straße. Dochturow wollte nichts unternehmen, da ihm unter diesen Umständen nicht klar war, worin seine Pflicht bestehe. Es war ihm befohlen worden, Fominskoje anzugreifen. Aber in Fominskoje war vorher nur Broussier gewesen; jetzt war dort die ganze französische Armee. Jermolow wollte nach eigenem Ermessen handeln; aber Dochturow bestand darauf, er müsse einen Befehl vom Durchlauchtigen haben. Man beschloß, Meldung an den Stab zu schicken.
Hierzu wurde ein verständiger Offizier, namens Bolchowitinow, ausgewählt, der sowohl eine schriftliche Meldung überbringen als auch mündlich über die ganze Sache berichten sollte. Kurz vor Mitternacht erhielt Bolchowitinow den Brief und den mündlichen Auftrag und sprengte, von einem Kosaken mit Reservepferden begleitet, davon zum Generalstab.
XVI
Es war eine dunkle, warme Herbstnacht. Schon seit vier Tagen regnete es. Nachdem Bolchowitinow zweimal die Pferde gewechselt und in anderthalb Stunden dreißig Werst auf der mit zähem Schmutz bedeckten Landstraße zurückgelegt hatte, langte er nach ein Uhr in Letaschowka an. Er stieg bei einem Bauernhaus ab, an dessen geflochtener Umzäunung eine Tafel mit der Aufschrift: »Generalstab« hing, gab sein Pferd seinem Begleiter und trat in den dunklen Flur.
»Ich muß aufs schnellste den diensttuenden General sprechen! Etwas sehr Wichtiges!« sagte er zu jemandem, der sich in der Dunkelheit des Flures schnaufend erhob.
»Der General ist am Abend sehr krank gewesen; er hat schon drei Nächte nicht geschlafen«, flüsterte die Stimme eines Burschen, der auf das Wohl seines Herrn bedacht war. »Wecken Sie doch zunächst den Hauptmann.«
»Etwas sehr Wichtiges, vom General Dochturow«, sagte Bolchowitinow und trat in die Tür, die er tastend gefunden und geöffnet hatte.
Der Bursche ging ihm voran und machte sich daran, jemand zu wecken.
»Euer Wohlgeboren. Euer Wohlgeboren! Ein Kurier!«
»Was? Was? Von wem?« fragte eine verschlafene Stimme.
»Von Dochturow und von Alexei Petrowitsch. Napoleon ist in Fominskoje«, sagte Bolchowitinow; er konnte in der Dunkelheit den, der ihn fragte, nicht sehen, vermutete aber nach dem Klang der Stimme, daß es nicht Konownizyn sei.
Der Mann, der da geweckt worden war, gähnte und reckte sich.
»Ich möchte ihn nicht gern wecken«, sagte er und tastete dabei nach etwas. »Er ist recht krank! Und vielleicht sind es bloße Gerüchte.«
»Hier ist die Meldung«, erwiderte Bolchowitinow. »Ich habe Befehl, sie unverzüglich dem diensttuenden General zu übergeben.«
»Warten Sie, ich will Licht anzünden. Wo verkramst du denn immer das Feuerzeug, nichtswürdiger Kerl?« sagte der Mann, nachdem er sich noch einmal gereckt hatte, zu dem Burschen; es war Schtscherbinin, Konownizyns Adjutant. »Ich habe es gefunden«, fügte er dann hinzu.
Der Bursche schlug Feuer; Schtscherbinin tastete nach dem Leuchter.
»Ach, diese gräßlichen Kerle von Burschen!« sagte er empört.
Bei dem Schein der Funken erblickte Bolchowitinow das jugendliche Gesicht Schtscherbinins, der ein Talglicht in der Hand hielt, und in der vorderen Ecke des Zimmers noch einen schlafenden Menschen. Dies war Konownizyn.
Als der Schwefelfaden an dem Zunder zuerst mit blauer, dann mit roter Flamme angebrannt war, zündete Schtscherbinin das Talglicht an, wobei die Schaben, die daran genagt hatten, vom Leuchter flüchteten, und betrachtete den Boten. Bolchowitinow war über und über beschmutzt, und als er sich mit dem Ärmel abwischte, beschmierte er sich das ganze Gesicht.
»Wer schickt denn die Meldung?« fragte Schtscherbinin, indem er den Brief hinnahm.
»Die Nachricht ist zuverlässig«, sagte Bolchowitinow. »Die Gefangenen und die Kosaken und die Kundschafter, alle sagen sie einhellig dasselbe aus.«
»Na, dann hilft es nichts, dann muß ich ihn wecken«, sagte Schtscherbinin, stand auf und trat zu dem Schlafenden hin, der eine Nachtmütze auf dem Kopf hatte und mit einem Mantel zugedeckt war. »Pjotr Petrowitsch!« sagte er. (Konownizyn rührte sich nicht.) »Eine Stabsangelegenheit!« fügte er lächelnd hinzu, da er wußte, daß diese Worte ihn sicher wecken würden.
Und in der Tat hob sich der Kopf mit der Nachtmütze sofort in die Höhe. Auf Konownizyns hübschem, energischem Gesicht mit den fieberhaft geröteten Backen verblieb noch einen Augenblick lang der Ausdruck, den ihm die von der Wirklichkeit weit abliegenden Traumvorstellungen verliehen hatten; aber dann fuhr er auf einmal zusammen, und sein Gesicht nahm die gewöhnliche, feste Miene an.
»Nun, was gibt es? Von wem?« fragte er sofort, aber ohne Hast, und blinzelte mit den Augen wegen des Lichtes.
Nachdem Konownizyn die Meldung des Offiziers angehört hatte, erbrach er den Brief und las ihn durch. Kaum war er damit fertig, als er die in wollenen Strümpfen steckenden Beine auf den Lehmboden herunterließ und anfing, sich die Stiefel anzuziehen. Dann nahm er die Nachtmütze ab, strich sich das Haar an den Schläfen glatt und setzte die Uniformmütze auf.
»Bist du schnell hergeritten? Komm mit zum Durchlauchtigen.«
Konownizyn hatte sofort erkannt, daß die ihm überbrachte Nachricht von hoher Wichtigkeit war und keine Zögerung zuließ. Ob die Sache günstig oder ungünstig war, daran dachte er nicht, diese Frage legte er sich nicht vor. Das interessierte ihn nicht. Die ganze kriegerische Tätigkeit betrachtete er nicht mit dem Verstand, dem Urteilsvermögen, sondern mit einem andern Teil des Geistes. Er hegte in tiefster Seele die feste, unausgesprochene Überzeugung, daß alles gutgehen werde, daß man sich aber nicht darauf verlassen und noch weniger davon sprechen dürfe, sondern einfach das Seinige zu tun habe. Und er tat das Seinige und widmete dieser Pflichterfüllung seine gesamte Kraft.
Pjotr Petrowitsch Konownizyn, der ebenso wie Dochturow gewissermaßen nur um des Anstandes willen in die Liste der sogenannten »Helden des Jahres 1812« zu Barclay, Najewski, Jermolow, Platow, Miloradowitsch u.a. aufgenommen worden ist, stand ebenso wie Dochturow in dem Ruf eines Menschen von sehr beschränkten Fähigkeiten und Kenntnissen und hatte ebenso wie Dochturow nie Schlachtpläne entworfen, sich aber stets da befunden, wo die Situation am schwierigsten war; er schlief, seit er zum diensttuenden General ernannt war, immer bei offener Tür und hatte Befehl gegeben, daß jeder Bote ihn wecken solle; beim Kampf setzte er sich immer dem feindlichen Feuer aus, so daß Kutusow ihm deswegen Vorwürfe machte und Bedenken trug, ihn aufs Schlachtfeld zu schicken. Er war ebenso wie Dochturow eines jener unauffälligen Zahnräder, die, ohne zu rasseln und Lärm zu machen, den wichtigsten Teil der Maschine bilden.
Als Konownizyn aus der Stube in die feuchte, dunkle Nacht hinaustrat, runzelte er die Stirn, teils weil sein Kopfschmerz ärger wurde, teils weil ihm ein unangenehmer Gedanke durch den Kopf ging, nämlich in welche Aufregung dieses ganze Nest hoher Generalstabsoffiziere durch diese Nachricht geraten werde, ganz besonders Bennigsen, der seit Tarutino auf Kutusow wütend war; wie sie Vorschläge machen, miteinander streiten, Befehle erlassen und wieder abändern würden. Und dieses Vorgefühl war ihm unangenehm, obwohl er wußte, daß es ohne das nun einmal nicht ging.
Und wirklich begann Toll, zu dem er sich begeben hatte, um ihm die neue Nachricht mitzuteilen, sogleich, dem General, der mit ihm zusammen wohnte, seine Ideen auseinanderzusetzen, und Konownizyn, der schweigend und müde zuhörte, mußte ihn daran erinnern, daß sie zum Durchlauchtigen gehen müßten.
XVII
Kutusow schlief, wie alle alten Leute, in der Nacht nur wenig. Bei Tag schlummerte er oft unerwartet ein; bei Nacht aber lag er unausgekleidet auf seinem Bett, konnte meistens nicht schlafen und dachte nach.
So lag er auch jetzt auf seinem Bett, den schweren, großen, unförmlichen Kopf in die dicke, weiche Hand gestützt, und überließ sich seinen Gedanken, während er sein einziges Auge geöffnet hielt und in die Dunkelheit hineinblickte.
Seit ihn Bennigsen mied, der mit dem Kaiser korrespondierte und im Stab am meisten Macht besaß, war Kutusow beruhigter in bezug darauf, daß man ihn nebst den Truppen wieder dazu zwingen könne, an nutzlosen Angriffsunternehmungen teilzunehmen. Die Lehre der Schlacht bei Tarutino und des ihr vorhergehenden Tages, die Kutusow in schmerzlicher Erinnerung hatte, konnte, wie er meinte, doch auch nicht wirkungslos bleiben.
»Sie müssen doch begreifen, daß wir durch ein angriffsweises Vorgehen nur verlieren können. Geduld und Zeit, das sind meine Streiter!« dachte Kutusow. Er wußte, daß man einen Apfel nicht abreißen darf, solange er noch grün ist. Er wird schon von selbst fallen, sobald er reif ist; reißt man ihn aber grün ab, so verdirbt man den Apfel und den Baum und bekommt von der herben Säure stumpfe Zähne. Als erfahrener Jäger wußte er, daß das Wild verwundet war, so schwerverwundet, wie die ganze russische Kraft es nur hatte zustande bringen können; aber ob tödlich oder nicht, diese Frage war noch unentschieden. Jetzt war Kutusow aufgrund der Sendungen Lauristons und Berthémys und aufgrund der Meldungen der Freischärler fast völlig davon überzeugt, daß die Wunde tödlich war. Aber es waren noch wirkliche Beweise notwendig; diese mußten abgewartet werden.
»Sie möchten gern hinlaufen und sehen, wie schwer die Verwundung ist. Wartet doch, dann werdet ihr es schon sehen. Immer nur Manöver, immer nur Angriffe!« dachte er. »Zu welchem Zweck? Immer nur, um sich hervorzutun! Als ob bei dem Kämpfen ein Vergnügen wäre. Sie sind wie die Kinder, von denen man nie ordentlich herausbekommt, wie es bei einer Sache zugegangen ist, weil sie alle nur beweisen wollen, wie gut sie zu kämpfen verstehen. Aber darauf kommt es jetzt nicht an.
Und was für künstliche Manöver mir alle diese Leute vorschlagen! Wenn sie zwei, drei Möglichkeiten erwogen haben« (er dachte dabei an den allgemeinen Kriegsplan, den man ihm aus Petersburg geschickt hatte), »dann bilden sie sich ein, sie hätten alle erwogen. Aber die sämtlichen Möglichkeiten sind unzählig!«
Die ungelöste Frage, ob die dem Feind bei Borodino beigebrachte Wunde tödlich sei oder nicht, hing schon einen ganzen Monat lang über Kutusows Haupt. Einerseits hatten die Franzosen Moskau besetzt. Andrerseits hatte Kutusow in tiefster Seele das zweifellose Gefühl, jener furchtbare Schlag, bei dem er mit allen Russen seine gesamten Kräfte angestrengt hatte, müsse tödlich sein. Aber auf jeden Fall waren noch Beweise erforderlich, und auf diese wartete er schon einen Monat lang, und je weiter die Zeit vorschritt, um so ungeduldiger wurde er. Wenn er so in seinen schlaflosen Nächten auf seinem Bett lag, so tat er dasselbe, was die jungen Generale taten, dasselbe, was er ihnen zum Vorwurf machte. Er erwog alle möglichen Eventualitäten ebenso wie die jüngeren Leute, nur mit dem Unterschied, daß er auf diese Hypothesen nichts aufbaute und daß er solcher Eventualitäten nicht zwei oder drei, sondern Tausende sah. Je länger er nachdachte, um so mehr boten sich ihm dar. Er erwog jede Art von Märschen, die die napoleonische Armee unternehmen konnte, die ganze Armee oder ihre einzelnen Teile: nach Petersburg zu, gegen ihn, um ihn herum; er erwog (was er am meisten fürchtete) auch die Möglichkeit, daß Napoleon ihn mit seiner eigenen Waffe bekämpfen und in Moskau bleiben könne, um ihn zu erwarten. Kutusow erwog sogar einen Rückmarsch der napoleonischen Armee in der Richtung nach Medyn und Juchnow; aber das einzige, was er nicht vorhersehen konnte, war das, was wirklich erfolgte: jenes sinnlose, krampfhafte Hin-und Herrennen des französischen Heeres während der ersten elf Tage nach seinem Abzug aus Moskau, ein Hin- und Herrennen, durch welches das ermöglicht wurde, worauf Kutusow trotz aller günstigen Anzeichen damals noch nicht zu hoffen wagte: die vollständige Vernichtung der Franzosen.
Die Meldungen Dolochows über die Division Broussier, die von Freischärlern gebrachten Nachrichten über die Nöte der Armee Napoleons, die Gerüchte über Vorbereitungen zum Aufbruch aus Moskau, alles hatte zur Bestätigung der Vermutung gedient, daß die französische Armee zerrüttet sei und sich anschicke zu fliehen. Aber es war dies doch eben nur eine Vermutung, die nur Jüngeren wichtig erscheinen konnte, aber nicht einem alten Mann wie Kutusow. Er mit seiner fünfzigjährigen Erfahrung wußte, welchen Wert man Gerüchten beimessen durfte; er wußte, wie sehr die Menschen, wenn sie etwas wünschen, dazu neigen, alle Nachrichten so zu gruppieren, daß sie das Gewünschte zu bestätigen scheinen, und wußte, daß die Menschen unter solchen Umständen gern alles ihren Wünschen Widersprechende weglassen. Und je mehr er selbst die Flucht der Franzosen wünschte, um so weniger wagte er daran zu glauben. Diese Frage nahm alle seine Geisteskräfte in Anspruch. Alles übrige waren für ihn nur gewohnheitsmäßige Mittel, die Zeit auszufüllen. Solche gewohnheitsmäßige Ausfüllung der Zeit, eine Konzession, die er dem Leben machte, waren seine Gespräche mit den Offizieren des Generalstabes, seine Briefe an Madame Stahl, die er von Tarutino aus schrieb, die Lektüre von Romanen, die Verteilung von Belohnungen, die Korrespondenz mit Petersburg usw. Aber der Untergang der Franzosen, den er allein voraussah, war sein höchster, einziger Wunsch.
In der Nacht vom 11. zum 12. Oktober lag er, auf den Arm gestützt, da und dachte darüber nach.
Im Nebenzimmer regte sich etwas, und es wurden Tolls, Konownizyns und Bolchowitinows Schritte vernehmbar.
»Wer ist da? Herein! Was gibt es Neues?« rief ihnen der Feldmarschall zu. Während der Lakai eine Kerze anzündete, berichtete Toll über den Inhalt der Meldung.
»Wer hat die Meldung gebracht?« fragte Kutusow mit einem Gesicht, von dessen kaltem, strengem Ausdruck Toll, als die Kerze brannte, überrascht war.
»An der Richtigkeit der Meldung kann kein Zweifel sein, Euer Durchlaucht.«
»Ruf den Boten herein, ruf ihn herein!«
Kutusow saß auf dem Bett; das eine Bein ließ er herunterhängen; sein großer Bauch ruhte auf dem andern, untergeschlagenen Bein. Er kniff sein sehendes Auge zusammen, um den Boten besser sehen zu können, wie wenn er in dessen Gesichtszügen eine Antwort auf die Frage lesen wollte, die ihn beschäftigte.
»Sag mal, mein Lieber, sag mal«, redete er Bolchowitinow mit seiner leisen, altersschwachen Stimme an und hielt das Hemd über der Brust zusammen, das auseinandergegangen war. »Komm her, komm ganz nah heran. Was hast du mir denn da für Nachrichten gebracht? Wie? Napoleon ist aus Moskau abgezogen? Ist es wirklich so? Wie?«
Bolchowitinow begann von Anfang an ausführlich alles, was ihm aufgetragen war, zu berichten.
»Mach schneller, schneller, quäle mich nicht«, unterbrach ihn Kutusow.
Bolchowitinow erzählte alles und schwieg dann in Erwartung eines ihm zu erteilenden Befehles. Nun wollte Toll etwas sagen; aber Kutusow ließ ihn nicht zu Wort kommen. Er schien reden zu wollen; aber plötzlich überzog sich sein Gesicht mit Runzeln und Falten; er machte gegen Toll hin eine ablehnende Handbewegung und wandte sich nach der entgegengesetzten Seite, nach derjenigen Ecke der Stube, wo eine Menge schwärzlicher Heiligenbilder hing.
»O Herr, mein Schöpfer! Du hast unser Gebet erhört …«, …«, sagte er mit zitternder Stimme, indem er die Hände faltete. »Rußland ist gerettet. Ich danke dir, Herr!« Und er brach in Tränen aus.
XVIII
Von dem Eintreffen dieser Nachricht an bis zum Ende des Feldzuges besteht Kutusows Tätigkeit ausschließlich darin, durch seine Amtsgewalt, durch List und Bitten seine Truppen von nutzlosen Angriffen, Manövern und Zusammenstößen mit dem Feind, dessen Verderben sowieso besiegelt war, zurückzuhalten. Dochturow geht nach Malo-Jaroslawez, Kutusow aber zaudert mit dem Gros der Armee und gibt Befehl zur Räumung Kalugas, weil es ihm sehr wohl möglich scheint, sich hinter diese Stadt zurückzuziehen.
Kutusow zieht sich überall zurück; der Feind aber flieht, ohne den Rückzug des Gegners abzuwarten, nach der entgegengesetzten Seite.
Die Geschichtsschreiber Napoleons beschreiben uns sein kunstvolles Manöver gegen Tarutino und Malo-Jaroslawez und stellen Vermutungen darüber auf, was geschehen sein würde, wenn es Napoleon gelungen wäre, nach den reichen südlichen Gouvernements durchzudringen.
Aber um gar nicht davon zu reden, daß ihn ja nichts hinderte, nach diesen südlichen Gouvernements zu ziehen, da die russische Armee ihm freien Weg ließ, so vergessen die Historiker, daß Napoleons Armee durch nichts zu retten war, weil sie schon damals die nicht zu behebenden Ursachen des Verderbens in sich trug. Diese Armee, die in Moskau so überreichen Proviant vorgefunden hatte und nicht imstande gewesen war, ihn sich zu erhalten, sondern ihn unter die Füße getreten hatte, diese Armee, die, als sie nachher nach Smolensk kam, die Lebensmittel, statt sie ordnungsmäßig zu verteilen, zuchtlos raubte, weshalb hätte diese Armee sich im Gouvernement Kaluga besser benehmen sollen, wo doch ebensolche Russen wohnten wie in Moskau und wo das Feuer dieselbe Eigenschaft besaß, das, was man anzündete, zu zerstören?
Die Armee konnte nirgends besser werden. Seit der Schlacht bei Borodino und der Plünderung Moskaus trug sie bereits sozusagen die chemischen Keime der Zersetzung in sich.
Die Soldaten dieser ehemaligen Armee flüchteten mit ihren Anführern, ohne selbst zu wissen wohin, und hatten (Napoleon und jeder Soldat) nur einen Wunsch: so schnell als möglich für ihre Person aus der verzweifelten Lage herauszukommen, deren sie sich alle, wenn auch nur unklar, bewußt waren.
Nur dies war der Grund, weshalb bei dem Kriegsrat in Malo-Jaroslawez, wo die Generale taten, als berieten sie, und allerlei Meinungen vorbrachten, das zuletzt ausgesprochene Votum des Marschalls Mouton, eines schlichten Soldaten, alle zum Schweigen brachte; dieser sagte nämlich das, was alle dachten: man müsse so schnell wie möglich davonzukommen suchen. Niemand, auch Napoleon nicht, konnte gegen diesen Satz, von dessen Richtigkeit alle überzeugt waren, etwas einwenden.
Aber obgleich sie alle wußten, daß sie suchen mußten davonzukommen, blieb es ihnen doch noch ein beschämendes Gefühl, daß sie genötigt seien zu fliehen. Und es bedurfte eines äußeren Anstoßes, um dieses Gefühl der Scham zu überwältigen. Und dieser Anstoß erfolgte zur rechten Zeit. Es war das, was die Franzosen als le Hourra de l’Empereur bezeichneten.
Am Tag nach dem Kriegsrat tat Napoleon, als wolle er die Truppen und die Stätte der vorangegangenen und der bevorstehenden Schlacht besichtigen, und ritt mit einer Suite von Marschällen und mit einer Eskorte mitten zwischen den Linien der Truppenstellung umher. Kosaken, die nach Beute umherschweiften, stießen auf den Kaiser selbst und hätten ihn beinahe gefangengenommen. Wenn die Kosaken bei dieser Gelegenheit Napoleon nicht gefangennahmen, so rettete ihn ebendasselbe, was den Franzosen zum Verderben gereichte: das Trachten nach Beute; denn sowohl in Tarutino als auch an dieser Stelle stürzten sich die Kosaken, ohne sich um die Menschen zu kümmern, auf die Beute. Ohne dem Kaiser Beachtung zuzuwenden, machten sie sich über die Beute her, und Napoleon fand Zeit zu entkommen.
Wenn nun die »Söhne des Don« die Möglichkeit hatten, den Kaiser selbst mitten in seiner Armee zum Gefangenen zu machen, so war einleuchtend, daß nichts weiter zu tun war, als möglichst schnell auf dem nächsten bekannten Weg zu fliehen. Napoleon, der sich mit seinem vierzigjährigen Embonpoint nicht mehr so beweglich und unternehmungslustig fühlte wie früher, verstand diesen Fingerzeig. Und unter der Einwirkung der Furcht, die er vor den Kosaken bekommen hatte, schloß er sich sofort der Ansicht Moutons an und erteilte, wie die Historiker sagen, den Befehl zum Rückzug auf die Smolensker Straße.
Daraus, daß Napoleon sich der Ansicht Moutons anschloß und die Truppen zurückmarschierten, folgt nicht, daß er dies befohlen hat, sondern daß diejenigen Kräfte, die auf die ganze Armee wirkten und ihr die Richtung nach der Moschaisker Straße gaben, gleichzeitig auch auf Napoleon ihre Wirkung ausübten.
XIX
Wenn ein Mensch sich auf einer Wanderung befindet, so setzt er sich in Gedanken immer ein Ziel für diese Wanderung. Um tausend Werst zurücklegen zu können, muß der Mensch notwendig die Vorstellung haben, daß am Ende der tausend Werst ihn irgend etwas Gutes erwartet. Es ist die Vorstellung von einem gelobten Land nötig, damit man die Kraft zu einer langen Wanderung aufbringen kann.
Das gelobte Land war bei dem Eindringen der Franzosen in Rußland Moskau, bei ihrem Abzug die Heimat. Aber die Heimat war zu fern, und jemand, der tausend Werst zu gehen hat, muß sich unbedingt, ohne an das Endziel zu denken, sagen können: »Heute komme ich, wenn ich vierzig Werst marschiert sein werde, zu einem Rastort und Nachtlager«; und beim ersten Tagesmarsch verdeckt dieser Rastort das Endziel und zieht alle Wünsche und Hoffnungen auf sich. Und die Bestrebungen, die beim einzelnen Menschen zutage treten, machen sich bei einer großen Menge immer in vergrößertem Maßstab geltend.
Für die Franzosen, die auf der alten Smolensker Straße zurückgingen, war das Endziel, die Heimat, zu weit entfernt, und das nächste Ziel, dasjenige, auf welches sich, durch die große Menge in gewaltiger Proportion gesteigert, alle Wünsche und Hoffnungen richteten, war Smolensk. Nicht etwa weil die Soldaten gewußt hätten, daß in Smolensk viele Lebensmittel und frische Truppen seien, oder weil ihnen das gesagt worden wäre (die höheren Führer und Napoleon selbst wußten vielmehr, daß dort nur wenig Proviant vorhanden war), sondern weil nur dies ihnen Kraft zum Marschieren und zur Ertragung der gegenwärtigen Leiden geben konnte, strebten sie alle, die Wissenden sowohl als die Nichtwissenden, in gleicher Selbsttäuschung nach Smolensk wie nach einem Gelobten Land.
Nachdem die Franzosen auf die große Heerstraße gelangt waren, eilten sie mit überraschender Energie und erstaunlicher Schnelligkeit dem Ziel zu, das sie sich in Gedanken gesetzt hatten. Außer dieser Ursache, der Gemeinsamkeit des Strebens, welche die Haufen der Franzosen zu einem Ganzen verband und ihnen eine gewisse Energie verlieh, war noch eine andere Ursache vorhanden, die sie zusammenhielt. Diese Ursache bestand in ihrer Menge. Ihre gewaltige Masse zog durch ihre eigene Kraft, wie nach dem physikalischen Gesetz der Anziehung, die einzelnen Atome, d.h. die Menschen, an sich. Sie bewegten sich vermöge ihrer hunderttausendköpfigen Masse vorwärts, die ihnen den Charakter eines eigenen ganzen Staates verlieh.
Jeder einzelne unter ihnen hatte nur einen Wunsch: sich gefangenzugeben und dadurch von allen Schrecken und Leiden loszukommen. Aber erstens zog die Kraft des gemeinsamen Hinstrebens nach dem Ziel Smolensk einen jeden in derselben Richtung fort; und zweitens konnte sich doch ein Armeekorps nicht einer Kompanie gefangengeben, und obgleich die Franzosen jede geeignete Gelegenheit benutzten, um sich voneinander zu trennen und sich unter dem unbedeutendsten anständigen Vorwand gefangenzugeben, so fanden sich doch nicht immer Vorwände. Schon allein durch ihre Zahl und das schnelle Marschieren in eng geschlossenen Haufen wurde ihnen diese Möglichkeit genommen und es den Russen nicht nur schwer, sondern geradezu unmöglich gemacht, diese Bewegung zu hemmen, auf welche die gesamte Energie dieser großen Masse von Franzosen gerichtet war. Eine mechanische Zerreißung des Körpers konnte den sich vollziehenden Zersetzungsprozeß nicht über eine bestimmte Grenze hinaus beschleunigen.
Ein Schneeball kann nicht in einem einzigen Augenblick schmelzen. Es gibt ein bestimmtes Zeitmaß, unter welchem keine Anstrengungen der Wärme den Schnee zum Schmelzen bringen können. Im Gegenteil, je höher die Wärme ist, um so fester wird der verbleibende Schnee.
Von den russischen Heerführern hatte niemand als Kutusow dafür Verständnis. Sobald die Flucht der französischen Armee eine bestimmte Richtung angenommen hatte, nämlich auf der Straße nach Smolensk, da verwirklichte sich das, was Konownizyn in der Nacht vom 11. zum 12. Oktober vorhergesehen hatte. Alle höheren Führer der Armee wollten sich auszeichnen, die Franzosen abschneiden, umgehen, gefangennehmen, zurückwerfen, und alle verlangten sie den Angriff.
Kutusow allein gebrauchte alle seine Kräfte (aber diese Kräfte sind bei jedem Oberkommandierenden sehr gering) dazu, sich einem Angriff zu widersetzen.
Wir sagen heute: wozu sollten die Russen eine Schlacht liefern und den Franzosen den Weg versperren und ihre eigenen Leute verlieren und die Unglücklichen in unmenschlicher Weise niedermetzeln, wozu alles das, da ja auf dem Weg von Moskau bis Wjasma auch ohne Schlacht ein Drittel dieses Heeres wegschmolz? Dergleichen konnte Kutusow seinen Generalen nicht sagen; aber er holte aus dem Schatz der Weisheit seines Alters Erwägungen hervor, von denen er meinte, daß sie sie würden verstehen können, und sprach ihnen von einer goldenen Brücke; aber sie machten sich über ihn lustig, schwärzten ihn an und gebärdeten sich gar grimmig und mutig angesichts des tödlich verwundeten Wildes.
Bei Wjasma konnten Jermolow, Miloradowitsch, Platow und andere, die sich in der Nähe der Franzosen befanden, dem Verlangen nicht widerstehen, zwei französische Armeekorps abzuschneiden und zurückzuwerfen. An Kutusow schickten sie, um ihn von ihrer Absicht zu benachrichtigen, statt der Meldung in einem Kuvert einen Bogen weißes Papier.
Und trotz aller Bemühungen Kutusows, die Truppen zurückzuhalten, griffen unsere Truppen dennoch an und versuchten, dem Feind den Weg zu versperren. Infanterieregimenter gingen, wie erzählt wird, mit Musik und Trommelschlag zum Angriff vor und töteten und vernichteten Tausende von Menschen.
Aber was den Versuch des Abschneidens anlangte, so schnitten sie niemanden ab und warfen niemanden zurück. Und das französische Heer, das durch die Gefahr nur an Festigkeit gewonnen hatte, setzte, gleichmäßig schmelzend, seinen verderbenbringenden Weg nach Smolensk fort.
Vierzehnter Teil
I
Die Schlacht bei Borodino mit den beiden darauffolgenden Ereignissen, nämlich der Besetzung Moskaus und der Flucht der Franzosen, ohne daß neue Schlachten stattgefunden hätten, ist eine der lehrreichsten Erscheinungen der Weltgeschichte.
Alle Geschichtsschreiber sind darüber einig, daß, bei Kollisionen der Staaten und Völker, durch die Kriege sich der Grad ihrer äußeren Tatkraft bekundet und daß unmittelbar infolge der größeren oder geringeren kriegerischen Erfolge die politische Bedeutung der Staaten und Volker wächst oder abnimmt.
Wie seltsam auch die geschichtlichen Darstellungen klingen mögen, daß irgendein König oder Kaiser infolge eines Zwistes mit einem andern Kaiser oder König ein Heer sammelte, dem Heer des Feindes eine Schlacht lieferte, den Sieg davontrug, drei-, fünf- oder zehntausend Menschen tötete und infolgedessen den Staat und das ganze Volk von mehreren Millionen Menschen unterwarf, und wie unbegreiflich es auch sein mag, weshalb das Volk durch die Niederlage des Heeres allein, also eines Hundertstels der gesamten Volkskraft, sich zur Unterwerfung gezwungen sah: so bestätigen doch alle Tatsachen der Geschichte, soweit sie uns bekannt ist, die Richtigkeit des Satzes, daß größere oder kleinere Erfolge des Heeres des einen Volkes gegen das Heer des anderen Volkes die Ursachen oder wenigstens sehr bedeutsame Symptome der Zunahme oder Abnahme der Kraft der Völker sind. Das Heer hat den Sieg davongetragen, und sogleich erweitern sich die Rechte des siegreichen Volkes auf Kosten des besiegten. Das Heer hat eine Niederlage erlitten, und sogleich wird das Volk je nach dem Grad der Niederlage dieser und jener Rechte beraubt und bei einer vollständigen Niederlage seines Heeres vollständig unterworfen.
So ist es nach dem Zeugnis der Geschichte von den ältesten Zeiten bis auf unsere Zeit gewesen. Alle Kriege Napoleons dienen zur Bestätigung dieses Satzes. Nach dem Maß der Niederlage der österreichischen Truppen verlor Österreich von seinen Rechten und wuchsen die Rechte und Kräfte Frankreichs. Der Sieg der Franzosen bei Jena und Auerstedt vernichtete die selbständige Existenz Preußens.
Aber nun auf einmal die Ereignisse des Jahres 1812: die Franzosen trugen in der Nähe von Moskau einen Sieg davon, nahmen Moskau ein, und darauf, ohne daß neue Schlachten stattgefunden hätten, hörte nicht etwa Rußland auf zu existieren, sondern mit der sechshunderttausend Mann starken Armee und demnächst mit dem Napoleonischen Frankreich war es zu Ende. Der geschichtlichen Regel zuliebe die Tatsachen zu verdrehen und zu sagen, das Schlachtfeld von Borodino sei in den Händen der Russen geblieben oder es hätten nach der Einnahme von Moskau noch Schlachten stattgefunden, durch die Napoleons Heer vernichtet sei, geht nicht an.
Nach dem Sieg der Franzosen bei Borodino hat nicht nur keine Hauptschlacht, sondern überhaupt kein irgendwie bedeutender Kampf mehr stattgefunden, und doch hörte die französische Armee auf zu existieren. Was bedeutet das? Stammte dieses Beispiel aus der Geschichte Chinas, so könnten wir sagen, diese Erscheinung sei nicht historisch beglaubigt (das gewöhnliche Schlupfloch der Historiker, wenn etwas nicht auf ihren Leisten paßt), und wenn es sich um einen kurzen Zusammenstoß handelte, bei dem nur geringe Truppenmengen beteiligt gewesen wären, so könnten wir diese Erscheinung als eine Ausnahme betrachten; aber dieses Ereignis vollzog sich vor den Augen unserer Väter, für welche es sich um den Fortbestand oder Untergang des Vaterlandes handelte, und dieser Krieg war der größte von allen bekannten Kriegen.
Die Periode des Feldzuges des Jahres 1812 von der Schlacht bei Borodino bis zur Vertreibung der Franzosen hat bewiesen, daß ein gewonnener Schlachtensieg keineswegs die Eroberung des Landes zur notwendigen Folge hat, ja nicht einmal ein zuverlässiges Merkmal der Eroberung ist, und daß die Kraft, die das Schicksal der Völker entscheidet, nicht in den Eroberern liegt, auch nicht einmal in den Armeen und in den Schlachten, sondern in etwas anderem.
Die französischen Geschichtsschreiber, welche die Lage des französischen Heeres vor dem Auszug aus Moskau schildern, suchen uns zu überzeugen, daß alles bei der großen Armee in guter Ordnung gewesen sei mit Ausnahme der Kavallerie, der Artillerie und des Trains; es habe eben an Furage zur Ernährung der Pferde und des Hornviehs gefehlt. Diesem Mangel habe nicht abgeholfen werden können, weil die Bauern der Umgegend ihr Heu verbrannt hätten, statt es den Franzosen abzulassen.
Danach hätte also die gewonnene Schlacht deswegen nicht die gewöhnlichen Resultate gehabt, weil die Bauern Karp und Wlas, die nach dem Abzug der Franzosen mit ihren Fuhrwerken nach Moskau kamen, um in der Stadt zu rauben, und überhaupt persönlich keine heldenhaften Gefühle an den Tag legten, samt der ganzen übrigen zahllosen Menge solcher Bauern, nicht für das gute Geld, das man ihnen bot, ihr Heu nach Moskau brachten, sondern es lieber verbrannten.
Stellen wir uns zwei Männer vor, die sich duellieren, und zwar mit Degen, nach allen Regeln der Fechtkunst; der Kampf hat schon eine ziemliche Weile gedauert; da fühlt plötzlich einer der beiden Gegner, daß er verwundet ist; er weiß, daß die Sache kein Scherz ist, sondern es sich um sein Leben handelt; so wirft er denn den Degen weg, ergreift den ersten besten Knüttel, der ihm in die Hand kommt, und beginnt mit diesem um sich zu schlagen. Stellen wir uns nun aber weiter vor, daß der Gegner, der in so verständiger Weise das beste und einfachste Mittel zur Erreichung seines Zieles angewandt hat, zugleich für die Traditionen des Rittertums begeistert ist und deshalb den wahren Hergang verheimlichen und behaupten wollte, er habe nach allen Regeln der Kunst mit dem Degen gesiegt. Man kann sich denken, was für ein Wirrwarr und was für eine Unklarheit die Folge einer solchen Darstellung des stattgehabten Duells sein würde.
Der Fechter, der einen Kampf nach den Regeln der Kunst forderte, waren die Franzosen; der Gegner, der den Degen wegwarf und dafür zum Knüttel griff, waren die Russen; die Leute, die alles nach den Regeln der Fechtkunst zu erklären suchen, sind die Historiker, die über dieses Ereignis geschrieben haben.
Mit dem Brand von Smolensk hatte ein Krieg begonnen, der von den Traditionen aller früheren Kriege durchaus abwich. Die Einäscherung von Städten und Dörfern, der Rückzug nach den Schlachten, der Schlag bei Borodino und dann wieder der Rückzug, der Brand von Moskau, die Jagd auf Marodeure, das Abfangen der Transporte, der Freischärlerkrieg, alles dies waren Abweichungen von den Regeln.
Napoleon fühlte das, und von dem Augenblick an, wo er sich in Moskau in regelrechter Fechterhaltung hingestellt hatte und sah, daß der Gegner statt des Degens einen Knüttel gegen ihn erhob, hörte er nicht auf, sich bei Kutusow und Kaiser Alexander darüber zu beschweren, daß der Krieg gegen alle Regeln geführt werde (als ob es Regeln für die Tötung von Menschen gäbe). Aber trotz der Beschwerden der Franzosen über die Verletzung der Regeln und trotzdem manche hochgestellten Russen sich gewissermaßen genierten, mit dem Knüttel zu kämpfen, und lieber nach allen Regeln der Kunst sich in Quart- oder Terzlage hingestellt oder einen kunstvollen Ausfall in der Prime gemacht hätten usw.: trotz alledem erhob sich der Knüttel des Volkskrieges in all seiner drohenden, imposanten Kraft, und ohne nach jemandes Geschmack oder irgendwelchen Regeln zu fragen, sondern in dummer Einfalt, aber in zweckmäßiger Weise, ohne viel Bedenken, hob und senkte er sich immer wieder und schlug so lange auf die Franzosen los, bis das ganze Invasionsheer vernichtet war.
Und Heil dem Volk, das nicht, wie die Franzosen im Jahre 1813, nach allen Regeln der Kunst salutiert, den Degen umwendet und den Griff desselben anmutig und höflich dem großmütigen Sieger darbietet, sondern in der schweren Prüfungsstunde, ohne danach zu fragen, wie andere Völker in ähnlichen Fällen nach Regeln gehandelt haben, schlicht und einfach den ersten besten Knüttel ergreift, der ihm vor die Hand kommt, und mit ihm so lange zuschlägt, bis in seiner Seele das Gefühl der Erbitterung und Rachsucht von dem Gefühl der Verachtung und des Mitleids abgelöst wird.
II
Eine der handgreiflichsten und vorteilhaftesten Abweichungen von den sogenannten Regeln der Kriegskunst ist der Kampf vereinzelter Menschen gegen Menschen, die sich zu Haufen zusammengeschlossen haben. Derartige Kämpfe treten im Krieg stets auf, sobald dieser den Charakter eines Volkskriegs annimmt. Diese Kampfart besteht darin, daß nicht Haufen gegen Haufen vorgehen, sondern die Menschen sich voneinander trennen, einzeln angreifen und sofort fliehen, sobald sie von größeren Streitkräften angegriffen werden, dann aber, sobald sich eine Gelegenheit bietet, selbst wieder zum Angriff übergehen. So haben es die Guerillas in Spanien gemacht, so die Gebirgsbewohner im Kaukasus, und so auch die Russen im Jahre 1812.
Einen derartigen Krieg nannte man Freischarenkrieg und glaubte, mit dieser Benennung seinen Begriff fest umschrieben zu haben. Indessen richtet sich ein solcher Krieg nicht nur nach keinen Regeln, sondern er widerstreitet geradezu einer bekannten und als unfehlbar anerkannten taktischen Regel. Diese Regel besagt, der Angreifer müsse seine Truppen konzentrieren, um im Augenblick des Kampfes stärker zu sein als der Gegner.
Der Freischarenkrieg (der, wie die Geschichte beweist, immer erfolgreich ist) widerstreitet dieser Regel geradezu.
Dieser Widerspruch kommt daher, daß die Kriegswissenschaft die Kraft der Truppen für identisch hält mit ihrer Zahl. Die Kriegswissenschaft sagt: je größer die Truppenzahl, um so größer die Kraft. Les gros bataillons ont toujours raison.
Die Kriegswissenschaft, die so spricht, hat Ähnlichkeit mit der Mechanik, wenn diese bei der Beurteilung von Kräften nur ihre Massen berücksichtigen und sagen wollte, die Kräfte seien einander gleich oder ungleich, weil ihre Massen gleich oder ungleich seien.
In Wirklichkeit aber ist die Kraft (das Quantum der geleisteten Bewegung) das Produkt aus der Masse und der Geschwindigkeit.
Bei der Kriegführung ist die Kraft der Truppen in ähnlicher Weise das Produkt aus der Masse und noch etwas anderem, einem unbekannten x.
Die Kriegswissenschaft, die in der Geschichte eine zahllose Menge von Beispielen dafür findet, daß die Masse der Truppen sich nicht mit der Kraft deckt und daß kleine Abteilungen große besiegt haben, erkennt in unklarer Weise die Existenz dieses unbekannten Faktors an und sucht ihn bald in einer geometrischen Aufstellung der Truppen, bald in der Bewaffnung, bald (und dies ist das Gewöhnlichste) in der Genialität der Heerführer. Aber die Einsetzung aller dieser Werte des Faktors liefert keine Resultate, die sich mit den geschichtlichen Tatsachen in Übereinstimmung befänden.
Und doch braucht man sich nur von dieser zugunsten der Helden üblich gewordenen falschen Anschauung über die Wirksamkeit der Anordnungen der höchsten Kommandeure im Krieg freizumachen, um dieses unbekannte x zu finden.
Dieses x ist der Geist des Heeres, d.h. das größere oder geringere Verlangen aller zum Heer gehörigen Menschen, zu kämpfen und sich Gefahren zu unterziehen; und dieses Verlangen ist völlig unabhängig davon, ob die Menschen unter dem Kommando genialer oder nichtgenialer Führer kämpfen, in drei oder in zwei Linien, mit Knütteln oder mit Gewehren, die dreißigmal in einer Minute schießen. Diejenigen Menschen, die das größte Verlangen zu kämpfen haben, werden auch immer die für den Kampf vorteilhaftesten Umstände zu finden wissen.
Der Geist des Heeres ist der Multiplikator der Masse, der als Produkt die Kraft ergibt. Den Wert des Geistes des Heeres, dieses unbekannten Multiplikators, zu bestimmen und auszudrücken, ist die Aufgabe der Wissenschaft.
Diese Aufgabe wird erst dann lösbar sein, wenn wir aufhören, die Begleitumstände, unter denen die Kraft in die Erscheinung tritt, als da sind die Anordnungen des Heerführers, die Bewaffnung usw., willkürlich als den Multiplikator zu betrachten und für das ganze Unbekannte x einzusetzen, und vielmehr diese unbekannte Größe in ihrer Totalität als das anerkennen, was sie ist, nämlich als das größere oder geringere Verlangen zu kämpfen und sich Gefahren auszusetzen. Erst dann können wir hoffen, daß es uns, indem wir die bekannten historischen Tatsachen durch Gleichungen ausdrücken, aufgrund einer Vergleichung des relativen Wertes dieser unbekannten Größe möglich sein wird, die unbekannte Größe selbst zu bestimmen.
Zehn Mann, zehn Bataillone oder zehn Divisionen haben mit fünfzehn Mann, Bataillonen oder Divisionen gekämpft und sie besiegt, d.h. alle ohne Rest getötet oder gefangengenommen, und selbst dabei vier verloren; es sind also auf der einen Seite vier, auf der andern fünfzehn vernichtet worden. Folglich waren die vier gleich den fünfzehn, folglich 4x = 15y. Folglich x : y = 15 : 4. Diese Gleichung ergibt nicht den Wert einer unbekannten Größe; aber sie ergibt das Verhältnis zwischen zwei unbekannten Größen. Bringt man nun allerlei herausgegriffene historische Einheiten (Schlachten, Feldzüge, Kriegsperioden) in die Form solcher Gleichungen, so ergeben sich Zahlenreihen, in denen bestimmte Gesetze vorhanden sein müssen, die man aufdecken kann.
Die taktische Regel, daß man beim Angriff in geschlossenen Massen kämpfen müsse, beim Rückzug dagegen getrennt, dient unbewußt lediglich zur Bestätigung der Wahrheit, daß die Kraft eines Heeres von seinem Geist abhängt. Um Menschen in das feindliche Feuer zu führen, ist meist ein höherer, eben nur durch Massenbewegung zu erzielender Grad von Disziplin erforderlich, als um Angreifer von sich abzuwehren. Aber diese Regel, bei der der Geist des Heeres außer acht gelassen wird, erweist sich nicht selten als unrichtig und widerspricht in besonders auffälliger Weise der Wirklichkeit da, wo sich ein starker Aufschwung oder Niedergang des Geistes der Kämpfenden zeigt: bei allen Volkskriegen.
Als die Franzosen sich im Jahre 1812 zurückzogen, hätten sie sich nach der taktischen Regel getrennt verteidigen müssen; aber sie drängten sich in Haufen zusammen, weil der Geist des Heeres dermaßen gesunken war, daß nur die Masse das Heer zusammenhielt. Die Russen dagegen hätten nach der taktischen Regel in geschlossener Masse angreifen sollen; in Wirklichkeit aber teilten sie sich, weil ihr Geist so gehoben war, daß selbst einzelne ohne Befehl auf die Franzosen losschlugen und keines Zwanges dazu bedurften, um sich Mühen und Gefahren zu unterziehen.
III
Der sogenannte Freischarenkrieg begann mit dem Einzug des Feindes in Smolensk.
Ehe noch der Freischarenkrieg von unserer Regierung offiziell gutgeheißen war, waren schon Tausende der Feinde (Nachzügler, Marodeure, Furageure) von den Kosaken und Bauern getötet worden, die diese Leute ebenso selbstverständlich niederschlugen, wie Hunde einen verlaufenen tollen Hund totbeißen. Denis Dawydow mit seinem feinen russischen Instinkt war der erste, der die Bedeutung dieses furchtbaren Knüttels begriff, dieses Knüttels, der, ohne nach den Regeln der Kriegskunst zu fragen, die Franzosen vernichtete, und ihm gebührt der Ruhm, den ersten Schritt zur Legalisierung dieser Methode der Kriegführung getan zu haben.
Am 24. August wurde Dawydows erstes Freikorps gebildet, und bald nach diesem bildeten sich viele andere. Je länger der Feldzug dauerte, um so mehr wuchs die Zahl dieser Freischaren.
Die Freischärler vernichteten die große Armee stückweise. Sie sammelten die abgefallenen Blätter, die sich von selbst von dem vertrockneten Baum, dem französischen Heer, losgelöst hatten, und schüttelten diesen Baum auch manchmal. Im Oktober, als die Franzosen in der Richtung auf Smolensk zu flohen, gab es solche Scharen zu Hunderten, und zwar von sehr verschiedener Größe und sehr verschiedenem Charakter. Es gab Freischaren, die alle Einrichtungen eines Heeres übernommen hatten, mit Infanterie, Artillerie, Generalstab und allerlei Annehmlichkeiten des Lebens; es gab solche, die nur aus Kavallerie, aus Kosaken, bestanden; es gab kleine, die aus Fußvolk und Reiterei gemischt waren; es gab solche, die aus Bauern und Gutsbesitzern bestanden und von denen weiter niemand etwas wußte. Da war ein Küster Anführer einer Schar und machte im Laufe eines Monats mehrere hundert Gefangene; da war eine Schulzenfrau Wasilissa, die Hunderte von Franzosen totschlug.
Das letzte Drittel des Oktober bildete den Höhepunkt des Freischarenkriegs. Die erste Periode dieses Kriegs, wo die Freischärler noch selbst über ihre Kühnheit erstaunt waren, jeden Augenblick fürchteten von den Franzosen erwischt und umringt zu werden und, ohne abzusatteln und fast ohne je von den Pferden herunterzukommen, sich in den Wäldern verbargen, jeden Augenblick eines Angriffs gewärtig, diese Periode war schon vorüber. Jetzt hatte diese Art der Kriegführung bereits eine bestimmte Gestalt angenommen, und alle waren sich darüber klar, was man gegen die Franzosen unternehmen könne und was nicht. Jetzt hielten nur noch die Anführer derjenigen Korps, welche nach den Regeln der Kriegskunst, mit Generalstäben, in weiterer Entfernung von den Franzosen einherzogen, vieles für unmöglich; die kleinen Freischaren dagegen, die ihre Tätigkeit schon vor längerer Zeit begonnen und sich die Franzosen aus der Nähe angesehen hatten, hielten gar manches für möglich, woran die Anführer größerer Korps nicht einmal zu denken wagten. Die Kosaken und Bauern aber, die zwischen den Franzosen umherschlichen, waren der Ansicht, daß jetzt schon geradezu alles möglich sei.
Am 22. Oktober befand sich Denisow, der eine Freischar kommandierte, mit seinen Leuten auf der höchsten Höhe leidenschaftlicher Begeisterung für diese Art des Krieges. Seit dem frühen Morgen war er mit seiner Abteilung auf dem Marsch gewesen. Er war den ganzen Tag über durch die Wälder, die an der großen Heerstraße lagen, einem großen französischen Transport von Kavalleriesachen und russischen Gefangenen gefolgt, der sich von den anderen Truppen getrennt hatte und unter starker Bedeckung, wie durch Kundschafter und Gefangene bekanntgeworden war, in der Richtung auf Smolensk dahinzog. Von diesem Transport hatten nicht nur Denisow und Dolochow Kenntnis erlangt (der letztere befehligte gleichfalls eine kleine Freischar und verfolgte nicht weit von Denisow dieselbe Richtung), sondern auch die Befehlshaber größerer Korps mit Generalstäben; alle wußten sie von diesem Transport und leckten sich, wie Denisow sagte, schon die Lippen danach. Zwei von diesen Befehlshabern größerer Korps, der eine ein Pole, der andere ein Deutscher, hatten fast gleichzeitig zu Denisow geschickt, und jeder von ihnen hatte ihn aufgefordert, mit seiner Abteilung zu ihm zu stoßen, um vereint den Transport zu überfallen.
»Nein, Bruder, dazu bin ich selbst Manns genug«, sagte Denisow, nachdem er diese Zuschriften gelesen hatte, und schrieb dem Deutschen zurück, obwohl er den lebhaften Wunsch hege, unter einem so ausgezeichneten, berühmten General zu dienen, müsse er sich dieses Glück doch versagen, da er sich bereits unter den Oberbefehl des polnischen Generals gestellt habe. Dem polnischen General aber schrieb er dasselbe, indem er ihn benachrichtigte, daß er schon unter das Kommando des Deutschen getreten sei.
Bei dieser Erledigung der beiden Anträge war Denisows Absicht, ohne jenen höheren Befehlshabern davon Mitteilung zu machen, im Verein mit Dolochow den Transport mit seinen geringen Streitkräften anzugreifen und zur Beute zu machen. Der Transport zog am 22. Oktober vom Dorf Mikulino nach dem Dorf Schamschewo. Auf der linken Seite des Weges von Mikulino nach Schamschewo zogen sich große Wälder hin, die an manchen Stellen bis dicht an den Weg heranreichten, an anderen vom Weg eine Werst und mehr zurückwichen. Durch diese Wälder war Denisow den ganzen Tag über mit seiner Schar geritten, bald tief in ihr Inneres eintauchend, bald an den Saum herauskommend, aber ohne je die dahinziehenden Franzosen aus den Augen zu verlieren. Am Morgen hatten nicht weit von Mikulino, da, wo der Wald dicht an den Weg herantrat, Kosaken von Denisows Freischar zwei im Schmutz steckengebliebene französische Trainwagen mit Kavalleriesätteln erbeutet und in den Wald gebracht. Von da an bis zum Abend war die Freischar, ohne anzugreifen, dem Marsch der Franzosen gefolgt. Man mußte sie, ohne sie zu erschrecken, ruhig nach Schamschewo gelangen lassen und dann nach erfolgter Vereinigung mit Dolochow, der gegen Abend zu einer Beratung nach einem Waldwächterhäuschen im Wald eine Werst von Schamschewo kommen sollte, bei Tagesanbruch von zwei Seiten völlig überraschend über sie herfallen und sie alle mit einemmal niedermachen oder gefangennehmen.
Im Rücken, zwei Werst von Mikulino, dort, wo der Wald dicht an den Weg herantrat, waren sechs Kosaken zurückgelassen, die sogleich Meldung bringen sollten, falls sich neue französische Kolonnen zeigten.
Vor Schamschewo sollte in derselben Weise Dolochow den Weg rekognoszieren, damit man wisse, in welcher Entfernung sich noch andere französische Truppen befänden. Bei dem Transport vermutete man fünfzehnhundert Mann. Denisow hatte zweihundert Mann, und Dolochow mochte ebensoviel haben. Aber durch diese numerische Überlegenheit ließ Denisow sich nicht abschrecken. Nur eines mußte er noch wissen: was für Truppen es eigentlich waren; und zu diesem Zweck mußte Denisow eine »Zunge« fangen, d.h. einen Mann von der feindlichen Kolonne. Bei dem Überfall am Morgen auf die Trainwagen war alles so eilig zugegangen, daß sie die bei den Wagen befindlichen Franzosen alle niedergemacht und nur einen wegen Erschöpfung hinter der Kolonne zurückgebliebenen Knaben, einen Tambour, gefangengenommen hatten, der aber nichts Zuverlässiges darüber aussagen konnte, aus was für Truppen die Kolonne bestehe.
Noch einen zweiten Überfall zu unternehmen, hielt Denisow für gefährlich, um nicht die ganze Kolonne zu alarmieren, und darum hatte er einen bei seiner Freischar befindlichen Bauer Tichon Schtscherbaty abgesandt, der, wenn es möglich wäre, wenigstens einen der vorausgeschickten französischen Quartiermeister wegfangen sollte.
IV
Es war ein warmer, regnerischer Herbsttag. Himmel und Horizont hatten ein und dieselbe Farbe, die Farbe trüben Wassers. Bald war es, als senkte sich ein Nebel herab, bald auf einmal fiel ein schräger, kräftiger Regen.
Auf einem mageren Vollblut mit eingefallenen Weichen ritt Denisow, in Filzmantel und Schaffellmütze, von denen das Wasser herunterlief. Ebenso wie das Pferd, das den Kopf schief hielt und die Ohren andrückte, kniff auch er bei dem schrägen Regen das Gesicht zusammen und spähte aufmerksam nach vorn. Sein mager gewordenes, von einem dichten, kurzen, schwarzen Bart bedecktes Gesicht trug einen ärgerlichen Ausdruck.
Neben ihm ritt, gleichfalls in Filzmantel und Schaffellmütze, auf einem wohlgenährten, kräftigen donischen Pferd ein Kosaken-Jesaul1, Denisows Gehilfe.
Der Jesaul Lowaiski war ein langer, blonder Mensch, flach wie ein Brett, mit weißem Gesicht, schmalen, hellen Augen und ruhigem, selbstbewußtem Ausdruck in Gesicht und Haltung. Obgleich man nicht sagen konnte, worin eigentlich die Besonderheit des Pferdes und des Reiters bestand, so wurde einem doch beim ersten Blick auf den Jesaul und Denisow klar, daß Denisow sich naß und unbehaglich fühlte und ein Mensch war, der auf einem Pferd saß, daß dagegen der Jesaul sich in so ruhiger, gemächlicher Stimmung befand wie immer und nicht ein Mensch war, der auf einem Pferd saß, sondern ein Mensch, der mit dem Pferd zusammen ein einziges Wesen von verdoppelter Kraft bildete.
Ein wenig vor ihnen ging ein Bauer, der ihnen als Wegweiser diente, in einem grauen Kaftan und mit einer weißen Zipfelmütze, völlig durchnäßt.
Nahe hinter ihnen ritt auf einem mageren, schlanken Kirgisenpferdchen mit langem Schweif und gewaltiger Mähne und mit blutig gerissenem Maul ein junger Offizier in einem blauen französischen Mantel.
Neben ihm ritt ein Husar, der hinter sich auf der Kruppe des Pferdes einen Knaben, in einer zerrissenen französischen Uniform und mit einer blauen Mütze, sitzen hatte. Der Knabe hielt sich mit seinen vor Kälte roten Händen an dem Husaren fest, schlenkerte mit seinen nackten Füßen, um sie zu erwärmen, und blickte mit hochgezogenen Brauen erstaunt um sich. Dies war der am Morgen gefangengenommene französische Tambour.
Dahinter folgten in langem Zug, je drei oder vier nebeneinander, auf dem schmalen, ausgefahrenen Waldweg Husaren und dann Kosaken, teils in Filzmänteln, teils in französischen Mänteln, teils in Pferdedecken, die sie sich über den Kopf geworfen hatten. Die Pferde, Füchse sowohl wie Braune, sahen von dem Regenwasser, das an ihnen herablief, sämtlich wie Rappen aus. Die Hälse der Pferde erschienen infolge der durchnäßten Mähnen auffällig schlank. Ein dichter Dampf stieg von den Pferden in die Höhe. Die Kleidung und die Sättel und die Zügel, alles war naß, schlüpfrig und weich, ebenso wie auch der Erdboden und die abgefallenen Blätter, mit denen der Weg bedeckt war. Die Menschen saßen zusammengekauert da, darauf bedacht, sich nicht zu bewegen, um das Wasser, das bis auf den Körper durchgedrungen war und sich unter dem Gesäß, an den Knien und am Hals gesammelt hatte, zu wärmen und kein neues, kaltes hineinzulassen. In der Mitte zwischen den langen Reihen der Kosaken polterten die beiden Trainwagen mit ihren französischen Pferden und vorgespannten gesattelten Kosakenpferden über die Baumstümpfe und Äste weg und plätscherten in dem Wasser, das die Geleise füllte.
Denisows Pferd geriet, beim Umgehen einer Pfütze auf dem Weg, zu weit zur Seite und quetschte ihm das Knie gegen einen Baum.
»Ha, du Satan!« rief Denisow grimmig und schlug zähnefletschend das Pferd dreimal mit der Peitsche, wobei er sich und seine Kameraden mit Schmutz bespritzte.
Denisow war übler Laune, sowohl wegen des Regens, als auch vor Hunger (seit dem Morgen hatte niemand von ihnen etwas gegessen), namentlich aber weil von Dolochow immer noch keine Nachrichten da waren und weil der Mann, den er abgesandt hatte, um eine »Zunge« zu fangen, nicht zurückgekehrt war.
»Eine solche Gelegenheit, einen Transport zu überfallen, kommt so leicht nicht wieder. Den Überfall allein auszuführen ist zu riskant, und schiebe ich die Sache auf einen andern Tag auf, so nimmt mir eines der größeren Freikorps die Beute vor der Nase weg«, dachte Denisow und blickte unausgesetzt nach vorn, in der Hoffnung, den erwarteten Boten von Dolochow zu erblicken.
Als sie auf einen Durchhau gekommen waren, durch den man weit nach rechts sehen konnte, hielt Denisow an.
»Da kommt jemand geritten«, sagte er.
Der Jesaul sah nach der Richtung hin, nach welcher Denisow zeigte.
»Es sind zwei, ein Offizier und ein Kosak. Aber es ist nicht mutmaßlich, daß es der Oberstleutnant selbst ist«, sagte der Jesaul, der gern Worte gebrauchte, die den Kosaken nicht mundgerecht sind.
Die Reiter, die einen Abhang herunterritten, verschwanden ihnen aus den Augen und wurden erst nach einigen Minuten wieder sichtbar. Voran ritt in müdem Galopp, das Pferd mit der Peitsche antreibend, ein Offizier, mit zerzaustem Haar, durch und durch naß; die Hose hatte sich ihm bis über die Knie hinaufgeschoben. Hinter ihm trabte, in den Steigbügeln stehend, ein Kosak. Der Offizier, ein ganz junges Bürschchen, mit breitem Gesicht von frischer, gesunder Farbe und mit lebhaften, fröhlichen Augen, sprengte zu Denisow heran und überreichte ihm einen durchnäßten Brief.
»Vom General«, sagte der Offizier. »Verzeihen Sie, daß der Brief nicht ganz trocken ist.«
Denisow nahm mit finsterem Gesicht den Brief in Empfang und brach ihn auf.
»Da haben nun alle gesagt, es sei gefährlich, sehr gefährlich«, sagte der Offizier, zu dem Jesaul gewandt, während Denisow den ihm überbrachten Brief las. »Übrigens hatten wir, ich und Komarow« (er zeigte auf den Kosaken), »unsere Vorbereitungen getroffen. Wir haben jeder zwei Pistolen … Aber was ist denn das?« fragte er, als er den französischen Tambour erblickte. »Ein Gefangener? Sind Sie denn schon in einem Kampf gewesen? Darf ich mit ihm reden?«
»Rostow! Petja!« rief in diesem Augenblick Denisow, der den Brief mit den Augen überflogen hatte. »Aber warum hast du denn nicht gesagt, wer du bist?« Und Denisow wandte sich lächelnd um und streckte dem Offizier die Hand entgegen.
Der Offizier war Petja Rostow.
Auf dem ganzen Weg hatte Petja sich darauf vorbereitet, wie er in einer eines Erwachsenen und Offiziers würdigen Weise, ohne auf die frühere Bekanntschaft hinzudeuten, sich Denisow gegenüber benehmen wollte. Aber sobald Denisow ihm zulächelte, strahlte Petja sofort über das ganze Gesicht, errötete vor Freude und vergaß den dienstlichen Ton, auf den er sich vorbereitet hatte: er fing an zu erzählen, wie er an den Franzosen vorbeigeritten sei, und wie er sich darüber gefreut habe, daß ihm ein solcher Auftrag erteilt sei, und daß er schon an der Schlacht bei Wjasma teilgenommen habe, und daß sich dort ein Husar besonders ausgezeichnet habe.
»Nun, ich freue mich, dich wiederzusehen«, unterbrach ihn Denisow, und sein Gesicht nahm wieder einen ernsten Ausdruck an.
»Michail Feoklitytsch«, wandte er sich an den Jesaul. »Das ist wieder von dem Deutschen. Der junge Mann hier dient bei ihm.«
Und Denisow erzählte dem Jesaul den Inhalt des soeben überbrachten Schreibens, der in der erneuten Aufforderung des deutschen Generals bestand, sich zum Zweck eines Überfalls auf den Transport mit ihm zu vereinigen.
»Wenn wir ihn morgen nicht nehmen, schnappt er ihn uns vor der Nase fort«, schloß er.
Während Denisow mit dem Jesaul sprach, brachte Petja, der über Denisows kalten Ton betroffen war und befürchtete, an diesem Ton sei der Zustand seiner Hose schuld, unter dem Mantel, so daß es niemand bemerken sollte, seine hinaufgerutschte Hose in Ordnung, wobei er sich alle Mühe gab, eine möglichst militärische Miene zu machen.
»Werde ich von Euer Hochwohlgeboren noch einen Befehl erhalten?« sagte er zu Denisow, indem er die Hand an den Mützenschirm legte und wieder zu dem Spiel »Adjutant und General« zurückkehrte, auf das er sich vorbereitet hatte, »oder soll ich bei Euer Hochwohlgeboren bleiben?«
»Einen Befehl?« erwiderte Denisow nachdenklich. »Aber darfst du denn bis morgen hierbleiben?«
»Ach, bitte, bitte … Darf ich bei Ihnen bleiben?« rief Petja.
»Was hast du eigentlich für einen Befehl vom General? Sollst du gleich wieder zurückkommen?« fragte Denisow.
Petja errötete.
»Er hat nichts befohlen; ich denke, ich darf?« erwiderte er in fragendem Ton.
»Nun gut«, antwortete Denisow.
Und sich zu seinen Untergebenen wendend, ordnete er an, die Freischar solle sich nach dem bestimmten Rastort beim Wächterhäuschen im Wald begeben; der Offizier auf dem Kirgisenpferd aber (dieser hatte die Obliegenheiten eines Adjutanten) solle hinreiten, um Dolochow aufzusuchen und zu hören, ob er am Abend kommen werde. Denisow selbst beabsichtigte mit dem Jesaul und Petja an den Waldsaum zu reiten, der nach Schamschewo zu lag, um diejenige Stelle des französischen Nachtlagers, gegen die sich am nächsten Tag der Angriff richten sollte, in Augenschein zu nehmen.
»Nun, Alterchen«, wandte er sich an den Bauer, der ihnen als Wegweiser diente, »führe uns nach Schamschewo.«
Denisow, Petja und der Jesaul, begleitet von einigen Kosaken und dem Husaren, der den Gefangenen mit auf seinem Pferd hatte, ritten links durch eine Schlucht nach dem Waldrand zu.
Fußnoten
1 = Hauptmann, Rittmeister.
Anmerkung des Übersetzers.
V
Der Regen hatte aufgehört; nur der Nebel senkte sich herab, und von den Zweigen der Bäume fielen Wassertropfen. Denisow, der Jesaul und Petja ritten schweigend hinter dem Bauern mit der Zipfelmütze her, der, mit seinen auswärts gesetzten, in Bastschuhen steckenden Füßen leicht und geräuschlos über die Wurzeln und die nassen Blätter hinschreitend, sie nach dem Waldsaum hinführte.
Als sie auf einen mäßigen Abhang gelangt waren, hielt der Bauer einen Augenblick an, blickte um sich und schlug die Richtung nach einer Stelle ein, wo die Baumwand minder dicht war. Bei einer großen Eiche, die ihr Laub noch nicht abgeworfen hatte, blieb er stehen und winkte die andern geheimnisvoll mit der Hand zu sich heran.
Denisow und Petja ritten zu ihm hin. Von der Stelle, wo der Bauer stehengeblieben war, konnte man die Franzosen sehen. Gleich vor dem Wald zog sich von der halben Höhe des Abhangs ein Sommerfeld nach unten. Rechts, jenseits einer steilen Schlucht, war ein kleines Dörfchen und ein nur mäßig großes Gutshaus sichtbar, mit zerstörten Dächern. In diesem Dörfchen und in dem Gutshaus und auf dem ganzen Abhang drüben, in dem Garten, bei den Ziehbrunnen, am Teich und auf dem ganzen Weg, der von der Brücke nach dem Dorf hinaufführte, waren in einer Entfernung von nicht mehr als fünf- bis sechshundert Schritt in dem wallenden Nebel Haufen von Menschen sichtbar. Es war deutlich zu hören, wie sie in einer nicht russischen Sprache die Pferde anschrien, welche sich mühsam mit den Fuhrwerken den Berg hinaufarbeiteten, und wie sie in derselben Sprache auch einander zuriefen.
»Bringt den Gefangenen her«, sagte Denisow leise, ohne die Augen von den Franzosen wegzuwenden.
Der Husar stieg vom Pferd, hob den Knaben herunter und kam mit ihm zu Denisow. Denisow wies auf die Franzosen hin und richtete an den Knaben mehrere Fragen, was dies und das für Truppen wären. Der Knabe, der seine frierenden Hände in die Taschen gesteckt hatte, blickte Denisow ängstlich mit hinaufgezogenen Brauen an; trotz seiner augenscheinlichen Bereitwilligkeit, alles zu sagen, was er wußte, verwirrte er sich in seinen Antworten und bejahte nur, was ihn Denisow fragte. Denisow wandte sich stirnrunzelnd von ihm weg und begann dem Jesaul seine Meinung auseinanderzusetzen.
Petja, der mit schnellen Bewegungen den Kopf nach allen Seiten drehte, betrachtete bald den Tambour, bald Denisow, bald den Jesaul, bald die Franzosen in dem Dorf und auf dem Weg, und war darauf bedacht, daß ihm nichts irgendwie Wichtiges entginge.
»Mag Dolochow kommen oder nicht, wir müssen den Transport nehmen! Wie?« sagte Denisow, in dessen Augen es vergnügt funkelte.
»Das Terrain ist günstig«, erwiderte der Jesaul.
»Die Infanterie schicken wir durch die Niederung, durch die Sümpfe«, fuhr Denisow fort. »Die schleichen sich an den Garten heran. Und Sie reiten mit den Kosaken dort herum« (Denisow zeigte auf den Wald hinter dem Dorf), »und ich mit meinen Husaren hier herum. Und auf das Zeichen durch einen Schuß …«
»Durch den Grund wird es nicht möglich sein; da ist es moorig«, sagte der Jesaul. »Da bleiben die Pferde stecken; wir müssen weiter links herumreiten …«
Während sie das halblaut miteinander besprachen, knallte unten im Grund vom Teich her ein Schuß; ein weißes Rauchwölkchen wurde sichtbar; ein zweiter Schuß folgte, und von den Franzosen, die sich auf halber Höhe des Berges befanden, ertönte ein hundertstimmiger Schrei, anscheinend ein Freudenschrei. Im ersten Augenblick wichen Denisow und der Jesaul zurück. Sie waren so nahe, daß sie die Ursache dieser Schüsse und dieses Schreiens zu sein glaubten. Aber die Schüsse und das Schreien hatten ihnen nicht gegolten. Unten, durch die Sümpfe, lief ein Mann in roten Hosen. Auf ihn hatten die Franzosen offenbar geschossen, und auf ihn hatte sich das Geschrei bezogen.
»Das ist ja unser Tichon!« sagte der Jesaul.
»Wahrhaftig, er ist es«, sagte Denisow. »So ein nichtswürdiger Kerl!«
»Er kommt davon!« sagte der Jesaul, die Augen zusammenkneifend.
Der Mann, den sie Tichon nannten, lief an das Flüßchen und plumpste so hinein, daß das Wasser nach allen Seiten hoch aufspritzte; nachdem er dann für einen Augenblick verschwunden war, arbeitete er sich, ganz schwarz vom Wasser, auf allen vieren heraus und lief weiter. Die Franzosen, die hinter ihm hergelaufen waren, blieben stehen.
»Na, ein geschickter Kerl!« bemerkte der Jesaul.
»So ein Racker!« murmelte Denisow mit der gleichen ärgerlichen Miene vor sich hin. »Was er nur bis jetzt gemacht haben mag?«
»Wer ist das?« fragte Petja.
»Das ist unsere Schleichpatrouille. Ich hatte ihn ausgeschickt, um uns eine ›Zunge‹ zu verschaffen.«
»Ah so«, sagte Petja schon bei Denisows ersten Worten und nickte mit dem Kopf, als ob er alles verstände, obwohl er in Wirklichkeit gar nichts verstand.
Tichon Schtscherbaty war einer der unentbehrlichsten Leute in der Freischar. Er war ein Bauer aus Pokrowskoje bei Gschatj. Als Denisow am Anfang seiner Unternehmungen nach Pokrowskoje kam und, wie immer, sich den Schulzen kommen ließ und ihn fragte, was ihm über die Franzosen bekannt sei, antwortete der Schulze, wie alle Schulzen, als wollte er sich verteidigen, sie wüßten reinweg von gar nichts. Aber als Denisow ihm auseinandergesetzt hatte, sein Zweck sei, die Franzosen zu schlagen, und ihn fragte, ob nicht umherschweifende Franzosen zu ihnen gekommen seien, da sagte der Schulze, »Mirodeure« seien allerdings mehrmals dagewesen; aber bei ihnen im Dorf habe sich nur ein einziger Mann mit diesen Dingen abgegeben, Tichon Schtscherbaty.
Denisow ließ Tichon rufen, lobte ihn wegen seiner Tatkraft und sagte ihm in Gegenwart des Schulzen einige Worte über die Treue gegen den Zaren und das Vaterland und über den Haß gegen die Franzosen; von diesen Gefühlen müßten die Söhne des Vaterlandes erfüllt sein.
»Wir tun den Franzosen nichts Schlimmes«, erwiderte Tichon, der offenbar bei diesen Worten Denisows ängstlich geworden war. »Wir haben bloß so zum Spaß mit den Jüngelchen ein bißchen herumgespielt. ›Mirodeure‹ haben wir allerdings ein paar Dutzend totgeschlagen; aber sonst haben wir nichts Schlimmes getan …«
Als am andern Tag Denisow, ohne noch an diesen Bauern zu denken, aus Pakrowskoje auszog, wurde ihm gemeldet, Tichon habe sich bei der Freischar eingestellt und gebeten, bei ihr bleiben zu dürfen. Denisow befahl, ihn zu behalten.
Anfangs verrichtete Tichon allerlei grobe Arbeit: er zündete die Wachfeuer an, holte Wasser, häutete Pferde ab usw.; bald aber bekundete er große Lust und Fähigkeit zum Freischärlerkrieg. Er ging nachts auf Beute aus und brachte jedesmal französische Kleidungsstücke und Waffen mit zurück, und wenn es ihm befohlen wurde, so brachte er auch Gefangene. Denisow befreite Tichon von den groben Arbeiten, nahm ihn bei Patrouillenritten mit sich und aggregierte ihn der Kosakenabteilung.
Tichon ritt nicht gern, sondern ging immer zu Fuß, blieb aber nie hinter den Reitern zurück. Seine Bewaffnung bestand aus einer Muskete, die er mehr zum Scherz trug, einer Pike und einem Beil; letzteres benutzte er mit derselben Geschicklichkeit wie ein Wolf seine Zähne, mit denen er gleich leicht einen Floh aus dem Fell herausholt und dicke Knochen zerbeißt. Tichon spaltete ebenso sicher, kräftig ausholend, mit seinem Beil einen Balken, wie er, das Beil am Eisen fassend, dünne, glatte Holzpflöcke fabrizierte und Löffel schnitzte. In Denisows Freischar nahm Tichon eine eigentümliche Ausnahmestellung ein. Wenn es erforderlich war, etwas besonders Schwieriges und Widerwärtiges auszuführen, einen Wagen mit der Schulter aus dem Schmutz herauszubringen, ein Pferd am Schwanz aus dem Sumpf herauszuziehen, ein Pferd abzuhäuten, mitten unter die Franzosen zu schleichen, an einem Tag fünfzig Werst zu gehen, dann wiesen alle lachend auf Tichon.
»Was kann es dem Kerl schaden? Der hat ja die reine Pferdenatur«, sagten sie von ihm.
Einmal hatte ein Franzose, den Tichon gefangengenommen hatte, mit der Pistole auf ihn geschossen und ihn in die Weichteile des Rückens getroffen. Diese Wunde, welche Tichon nur mit Brannwein, innerlich und äußerlich, behandelte, wurde der Gegenstand der lustigsten Scherze für die ganze Freischar, und auf diese Scherze ging Tichon selbst gern ein.
»Na, Bruder, nun wirst du so was wohl nicht wieder tun? Das hat dich wohl ganz kaputtgemacht?« sagten die Kosaken lachend zu ihm.
Tichon tat, als ob er sich ärgerte, indem er absichtlich den Mund verzog und Grimassen schnitt, und schimpfte auf die Franzosen in den komischsten Ausdrücken. Dieser Vorfall hatte auf Tichon nur die Wirkung, daß er nach seiner Verwundung nur noch selten Gefangene einbrachte.
Tichon war der nützlichste und tapferste Mann in der ganzen Freischar. Niemand entdeckte häufiger als er Gelegenheiten zu Überfällen, niemand fing und tötete mehr Franzosen; und infolgedessen war er der Hanswurst aller Kosaken und Husaren und spielte selbst gern diese Rolle. Jetzt war Tichon von Denisow schon in der vorhergehenden Nacht nach Schamschewo geschickt worden, um eine »Zunge« zu holen. Aber ob nun deswegen, weil er an einem Franzosen nicht genug gehabt hatte, oder weil er in der Nacht die Zeit verschlafen hatte, genug, er hatte sich bei Tag mitten zwischen die Franzosen ins Gebüsch geschlichen und war, wie das Denisow von der Anhöhe aus mit angesehen hatte, von ihnen entdeckt worden.
VI
Nachdem Denisow noch ein Weilchen mit dem Jesaul über den morgigen Überfall gesprochen hatte, zu dem er jetzt, wo er die Franzosen so nahe vor sich sah, endgültig entschlossen zu sein schien, wendete er sein Pferd und ritt zurück.
»Nun, Bruder, jetzt wollen wir hinreiten und uns trocknen«, sagte er zu Petja.
Als sie in die Nähe des Waldwächterhäuschens kamen, hielt Denisow an und spähte in den Wald hinein. Im Wald zwischen den Bäumen ging mit großen, leichten Schritten, auf langen Beinen, mit langen, schlenkernden Armen ein Mann dahin, der eine Jacke, Bastschuhe und einen Kasanschen Hut trug, ein Gewehr auf der Schulter hielt und im Gürtel ein Beil stecken hatte. Als dieser Mann Denisow erblickte, warf er eilig etwas ins Gebüsch; dann nahm er seinen nassen Hut ab, dessen Krempen schlaff herunterhingen, und trat auf den Anführer zu. Das war Tichon. Sein von Pockennarben und Runzeln überdecktes Gesicht mit den kleinen, schmalen Augen strahlte vor heiterer Selbstzufriedenheit. Er hob den Kopf hoch in die Höhe und schaute Denisow unverwandt an, wie wenn er das Lachen unterdrücken müßte.
»Na, wo hast du denn so lange gesteckt?« fragte Denisow.
»Wo ich gesteckt habe? Ich war gegangen, Franzosen zu holen«, antwortete Tichon dreist und schnell mit seiner heiseren, aber volltönenden Baßstimme.
»Warum hast du dich denn bei Tag hingeschlichen? Du Rindvieh! Na also, hast du keinen gegriffen …?«
»Gegriffen habe ich schon einen«, erwiderte Tichon.
»Wo ist er denn?«
»Ich hatte ihn ganz früh gegriffen, noch in der Morgendämmerung«, fuhr Tichon fort und stellte seine flachen, auswärts gedrehten Füße in den Bastschuhen recht breitbeinig hin, »und brachte ihn auch in den Wald. Aber da sah ich, daß er nichts taugte. Ich dachte: Na, ich will noch einmal runtergehen und einen anderen, besseren greifen.«
»Ein nichtswürdiger Kerl, wahrhaftig«, sagte Denisow zu dem Jesaul. »Warum hast du denn den ersten nicht hergebracht?«
»Wozu sollte ich den erst noch herbringen?« fiel Tichon ärgerlich und hastig ein. »Er war ja nicht zu gebrauchen. Ich weiß ja doch, was ihr für welche haben müßt.«
»So ein Racker …! Na, und weiter?«
»Ich ging also, um einen andern zu holen«, fuhr Tichon fort. »Ich schlich mich in den Wald und legte mich so hin.« Tichon legte sich plötzlich mit großer Gewandtheit auf den Bauch, um mimisch darzustellen, wie er das gemacht habe. »Da kam auch gerade einer herangegangen«, fuhr er fort. »Ich bekam ihn so zu packen.« Tichon sprang schnell und geschickt auf. »›Komm mal mit‹, sagte ich zu ihm, ›zum Oberst.‹ Da erhob er ein furchtbares Geschrei, und es kamen ihrer viere herzugelaufen. Sie stürzten sich mit ihren Säbelchen auf mich. Ich aber trat ihnen so mit dem Beil entgegen. ›Was wollt ihr?‹ rief ich. ›Christus sei euch gnädig!‹« so schrie Tichon, indem er mit den Armen umherfuhr, drohend die Augenbrauen zusammenzog und die Brust herausdrückte.
»Ja, ja, wir haben es vom Abhang aus mit angesehen, wie du durch die Pfützen davonranntest«, sagte der Jesaul und kniff seine blitzenden Augen zusammen.
Petja hatte die größte Lust zu lachen; aber er sah, daß sich alle andern das Lachen verbissen. Er ließ seine Augen schnell von Tichons Gesicht zu den Gesichtern des Jesauls und Denisows wandern, ohne zu verstehen, was das alles bedeutete.
»Spiel nur nicht den Narren«, sagte Denisow, sich ärgerlich räuspernd. »Warum hast du den ersten nicht hergebracht?«
Tichon kratzte sich mit der einen Hand den Rücken, mit der andern den Kopf; auf einmal verzog sich sein ganzes Gesicht zu einem strahlenden, dummen Lächeln, wobei eine Zahnlücke sichtbar wurde (daher hatte er auch den Beinamen Schtscherbaty bekommen: der mit der Zahnlücke). Denisow lächelte, und Petja brach in ein lustiges Lachen aus, in welches auch Tichon selbst mit einstimmte.
»Ach, er war ja ganz unbrauchbar«, sagte Tichon. »Die Kleider, die er anhatte, waren ganz schlecht; wozu sollte ich ihn da erst herbringen? Und dabei war er noch grob, Euer Wohlgeboren. ›Was?‹ sagte er, ›ich bin selbst der Sohn eines Generals; ich gehe nicht mit‹, sagte er.«
»Du Rindvieh!« sagte Denisow. »Ich mußte ihn doch ausfragen …«
»Ich habe ihn ja selbst ausgefragt«, sagte Tichon. »Er sagte: ›Ich weiß nicht Bescheid. Unsere Leute‹, sagte er, ›sind zwar eine große Menge, aber taugen tun sie allesamt nichts‹, sagte er. ›Sie haben‹, sagte er, ›nur hohe Titel. Ruft ordentlich Hurra‹, sagte er, ›dann nehmt ihr sie alle gefangen‹«, schloß Tichon und blickte Denisow vergnügt und fest in die Augen.
»Ich werde dir hundert gesalzene Hiebe aufzählen lassen, dann wird es dir schon vergehen, den Narren zu spielen«, sagte Denisow in strengem Ton.
»Warum denn so böse?« erwiderte Tichon. »Ich habe mir ja doch eure Franzosen ordentlich angesehen. Laß es nur erst dunkel werden, dann hole ich dir welche von der Sorte, wie du sie gern hast, meinetwegen drei Stück.«
»Na, wollen weiterreiten«, sagte Denisow und ritt, zornig die Stirn runzelnd und schweigend, nach dem Wächterhäuschen hin.
Tichon ging hinter ihnen her, und Petja hörte, wie die Kosaken mit ihm und über ihn wegen irgendwelcher Stiefel lachten, die er ins Gebüsch geworfen haben sollte.
Als die Heiterkeit, welche Tichons Worte und sein Lächeln bei ihm hervorgerufen hatten, vorbei war und Petja sich für einen Augenblick darüber klar wurde, daß dieser Tichon einen Menschen getötet hatte, überkam ihn eine gedrückte Stimmung. Er sah sich nach dem gefangenen Tambour um, und es war ihm, als bekäme er einen Stich ins Herz. Aber dieses unangenehme Gefühl dauerte nur einen Augenblick. Er hielt für notwendig, den Kopf höher zu heben, sich Mut zu machen und den Jesaul mit ernster Miene über das morgige Unternehmen zu befragen, um der Gesellschaft, in der er sich befand, nicht unwürdig zu sein.
Der abgesandte Offizier kam Denisow noch unterwegs mit der Nachricht entgegen, Dolochow werde baldigst persönlich kommen, und auf seiner Seite sei alles in Ordnung.
Jetzt wurde Denisow auf einmal vergnügt und rief Petja zu sich.
»Nun erzähle mir von deinen bisherigen Erlebnissen«, sagte er.
VII
Als Petja seine Angehörigen und Moskau verlassen hatte, war er bei seinem Regiment eingetreten und bald darauf Ordonnanz bei einem General geworden, der eine größere Abteilung befehligte. Seit seiner Beförderung zum Offizier und namentlich seit seinem Eintritt in die aktive Armee, mit der er an der Schlacht bei Wjasma teilgenommen hatte, befand sich Petja fortwährend in einem Zustand glückseliger Erregung und Freude darüber, daß er nun ein Erwachsener sei, und war stets mit enthusiastischem Eifer darauf bedacht, keine Gelegenheit vorübergehen zu lassen, wo er sich als wahrer Held zeigen könnte. Er war sehr glücklich über das, was er bei der Armee sah und erlebte, hatte aber trotzdem immer die Vorstellung, daß gerade dort, wo er nicht war, jetzt die wahren, großen Heldentaten verrichtet würden. Und so strebte er denn immer dorthin zu kommen, wo er augenblicklich nicht war.
Als am 21. Oktober sein General den Wunsch aussprach, jemanden zu Denisows Abteilung zu schicken, da bat Petja so inständig, ihn dazu zu verwenden, daß der General es ihm nicht abschlagen konnte. Aber der General erinnerte sich an Petjas sinnloses Verhalten in der Schlacht bei Wjasma, wo er, statt auf dem Weg dahin zu reiten, wohin man ihn geschickt hatte, zur Vorpostenkette in den Schußbereich der Franzosen gesprengt war und dort zweimal seine Pistole abgeschossen hatte; deshalb verbot ihm der General bei der Abfertigung ausdrücklich, sich an irgendwelchen Unternehmungen Denisows zu beteiligen. Aus diesem Grund war Petja rot und verlegen geworden, als Denisow ihn gefragt hatte, ob er dableiben dürfe. Bis sie aus dem Innern des Waldes an den Saum gelangten, war Petja noch der Ansicht gewesen, er müsse in strenger Erfüllung seiner Pflicht sofort zurückkehren. Aber als er die Franzosen erblickte und Tichon sah und vernahm, daß der Angriff in der Nacht bestimmt stattfinden werde, da ging er nach Art junger Leute schnell von einer Ansicht zur andern über und sagte sich nun, sein General, den er bis dahin sehr hochgeschätzt hatte, sei doch eigentlich ein unbedeutender Wicht, ein Deutscher, Denisow dagegen sei ein Held, und der Jesaul sei ein Held, und Tichon sei ein Held, und er müsse sich schämen, wenn er sie in einem so schweren Augenblick verließe.
Die Abenddämmerung brach schon an, als Denisow, Petja und der Jesaul bei dem Wächterhäuschen ankamen. Im Halbdunkel sah man die gesattelten Pferde und die Kosaken und Husaren, die auf einer Lichtung Hütten aus Zweigen bauten, und ein rotleuchtendes Feuer, das sie, damit die Franzosen den Rauch nicht sähen, in einer Schlucht des Waldes angezündet hatten. Im Flur des kleinen Häuschens zerhieb ein Kosak mit aufgestreiften Ärmeln Hammelfleisch. In dem Häuschen selbst waren drei Offiziere von Denisows Freischar, die sich aus einer Tür einen Tisch herstellten. Petja zog sich die nassen Kleider aus, gab sie zum Trocknen und machte sich dann sogleich daran, den Offizieren bei der Errichtung des Eßtisches zu helfen.
In zehn Minuten war der Tisch fertig und mit einer Serviette gedeckt. Auf dem Tisch standen Schnaps, eine Flasche Rum, Weißbrot, gebratenes Hammelfleisch und Salz.
Als Petja mit den Offizieren am Tisch saß und mit den Fingern, an denen das Fett entlanglief, das appetitlich duftende, fette Hammelfleisch zerriß, befand er sich in einem kindlich schwärmerischen Zustand zärtlicher Liebe zu allen Menschen und war infolgedessen auch der Überzeugung, daß die andern Menschen ihn in gleicher Weise liebten.
»Also wie denken Sie darüber, Wasili Fedorowitsch?« wandte er sich an Denisow. »Es ist doch wohl nichts dabei, wenn ich einen Tag bei Ihnen bleibe?« Und ohne die Antwort abzuwarten, beantwortete er sich seine Frage selbst: »Es ist mir ja befohlen, mich zu erkundigen; nun, das tue ich ja doch auch … Stellen Sie mich nur an den … an den wichtigsten Platz … Es liegt mir nichts an äußerer Anerkennung … Aber ich möchte gern …«
Petja preßte die Zähne aufeinander, blickte um sich, zuckte mit dem hochgereckten Kopf und schwenkte den einen Arm.
»An den wichtigsten Platz …«, wiederholte Denisow lächelnd.
»Oder, bitte, übergeben Sie mir das Kommando ganz; ich möchte gar zu gern kommandieren«, fuhr Petja fort. »Es kostet Sie ja nur ein Wort … Ah, Sie möchten ein Messer?« wandte er sich an einen Offizier, der sich ein Stück Hammelbraten abschneiden wollte.
Und er reichte ihm sein Taschenmesser hin. Der Offizier lobte das Messer.
»Bitte, behalten Sie es doch. Ich habe noch eine ganze Menge davon …«, sagte Petja errötend. »Mein Gott, das habe ich ja ganz vergessen …«, rief er plötzlich. »Ich habe Rosinen, vorzügliche Rosinen, wissen Sie, solche ohne Kerne. Wir haben einen neuen Marketender, der sehr gute Ware führt. Ich habe zehn Pfund gekauft. Ich bin gewöhnt, etwas Süßes zu essen. Mögen Sie welche …?« Und Petja lief auf den Flur zu seinem Kosaken und holte eine Tasche herein, in welcher etwa fünf Pfund Rosinen waren. »Essen Sie, meine Herren, essen Sie.«
»Können Sie nicht eine Kaffeemaschine gebrauchen?« wandte er sich an den Jesaul. »Ich habe bei unserm Marketender eine ganz ausgezeichnete gekauft! Er führt vorzügliche Sachen. Und er ist ein ehrlicher Mensch. Das ist die Hauptsache. Ich werde sie Ihnen zuschicken, unter allen Umständen. Und vielleicht sind Ihnen die Feuersteine ausgegangen, haben sich abgenutzt; das kommt ja nicht selten vor. Ich habe welche mitgenommen; ich habe hier« (er zeigte auf die Tasche), »hundert Stück bei mir. Ich habe sie sehr billig gekauft. Nehmen Sie doch, bitte, soviel Sie mögen, oder auch alle …«
Aber plötzlich bekam er einen Schreck, ob er auch nicht gar zu viel schwatze, und hielt errötend inne.
Er suchte in seinem Gedächtnis nach, ob er auch wohl nicht noch irgendwelche anderen Dummheiten begangen habe. Und indem er die Erinnerungen des heutigen Tages durchmusterte, kam ihm der Gedanke an den kleinen französischen Tambour in den Sinn. »Wir haben es hier so gut; aber wie mag es ihm gehen? Wo mögen sie ihn gelassen haben? Ob sie ihm wohl etwas zu essen gegeben haben? Und ob ihm auch niemand etwas zuleide getan hat?« dachte er. Aber da er sich bewußt war, über die Feuersteine zuviel geschwatzt zu haben, so scheute er sich jetzt, von dem Knaben zu reden.
»Ob ich wohl danach fragen darf?« dachte er. »Aber sie werden sagen: ›Er hat mit dem Knaben Mitleid, weil er selbst noch ein Knabe ist.‹ Aber morgen werde ich ihnen zeigen, was ich für ein Knabe bin! Muß ich mich schämen, wenn ich danach frage?« dachte Petja. »Na, ganz egal!« Und sofort sagte er, indem er errötete und die Offiziere ängstlich ansah, ob wohl auf ihren Gesichtern ein spöttischer Ausdruck erscheinen werde:
»Könnte vielleicht der Knabe hereingerufen werden, der heute gefangengenommen wurde? Und etwas zu essen bekommen … vielleicht …«
»Ja, der arme Junge«, erwiderte Denisow, der offenbar in dieser Anregung nichts fand, dessen Petja sich zu schämen hätte. »Wir wollen ihn hereinrufen. Vincent Bosse heißt er. Wir wollen ihn rufen.«
»Ich werde ihn rufen«, sagte Petja.
»Das tu, das tu. Der arme Junge«, sagte Denisow noch einmal.
Petja stand schon an der Tür, als Denisow das sagte. Aber er wand sich zwischen den Offizieren hindurch und trat dicht an Denisow heran.
»Erlauben Sie mir, Sie zu küssen, Sie Lieber, Guter«, sagte er. »Ach wie wunderschön! Wie wunderschön!«
Er küßte Denisow und lief auf den Hof.
»Bosse! Vincent!« rief Petja, an der Tür sehenbleibend.
»Wen rufen Sie, gnädiger Herr?« fragte eine Stimme aus der Dunkelheit.
Petja antwortete, er rufe den kleinen Franzosen, der heute gefangengenommen worden sei.
»Ah! Den Wessenni?« sagte der Kosak.
Seinen Namen Vincent hatten die Kosaken bereits in Wessenni umgewandelt, und die andern Soldaten und die Bauern in Wissenja. Bei beiden Umgestaltungen floß die Erinnerung an den Frühling1 mit der Vorstellung der Jugendlichkeit des Knaben zusammen.
»Er hat sich da ans Feuer gesetzt, um sich zu wärmen. He, Wessenni! Wissenja! Wissenja!« ertönten in der Dunkelheit Stimmen, die den Ruf weitergaben; Gelächter schloß sich daran an. »Das ist ein fixer kleiner Bursche«, sagte ein Husar, der neben Petja stand. »Wir haben ihm vorhin zu essen gegeben; er hatte einen gewaltigen Hunger!«
In der Dunkelheit wurden Schritte vernehmbar, und mit den nackten Füßen durch den Schmutz patschend, näherte sich der Tambour der Tür.
»Ah, da bist du ja!« sagte Petja auf französisch. »Willst du etwas essen? Habe keine Furcht; es wird dir nichts zuleide getan«, fügte er hinzu und berührte mit schüchterner Freundlichkeit den Arm des Knaben. »Komm herein, komm herein.«
»Danke, Monsieur«, antwortete der Tambour mit zitternder, beinahe kindlicher Stimme und wischte sich die schmutzigen Füße an der Schwelle ab.
Petja hätte dem kleinen Tambour gern noch vieles gesagt; aber er wagte es nicht. Verlegen und unschlüssig stand er neben ihm auf dem Flur. Dann griff er in der Dunkelheit nach seiner Hand und drückte sie ihm.
»Tritt ein, tritt ein«, sagte er noch einmal zärtlich flüsternd.
»Ach, was könnte ich wohl noch für ihn tun?« sagte Petja bei sich, öffnete die Tür und ließ den Knaben an sich vorbei hineingehen.
Als der Tambour in die Stube getreten war, nahm Petja in einiger Entfernung von ihm Platz, da er seiner Würde etwas zu vergeben glaubte, wenn er ihm seine Aufmerksamkeit zuwendete. Er tastete nur in der Tasche nach seinem Geld und war im Zweifel, ob er sich schämen müßte, wenn er es dem Tambour gäbe.
Fußnoten
1 Russisch wesna.
Anmerkung des Übersetzers.
VIII
Denisow ließ dem Tambour Schnaps und Hammelfleisch geben und ihm einen russischen Kaftan anziehen, da er beabsichtigte, ihn nicht mit den anderen Gefangenen wegzuschicken, sondern bei der Freischar zu behalten. Aber Petjas Aufmerksamkeit wurde von dem Knaben durch die Ankunft Dolochows abgelenkt. Petja hatte bei der Armee viel von Dolochows Tapferkeit und Grausamkeit den Franzosen gegenüber erzählen hören, und daher blickte er, seit Dolochow in die Stube getreten war, unverwandt zu ihm hin und nahm eine immer forschere Haltung an, indem er mit dem hochgereckten Kopf zuckte, um auch einer solchen Gesellschaft, wie es die Dolochows war, nicht unwürdig zu erscheinen.
Dolochows Äußeres überraschte ihn in eigentümlicher Weise durch seine Einfachheit.
Denisow trug einen Kosakenrock, einen Vollbart, und auf der Brust ein Bild des heiligen Nikolaus des Wundertäters, und seine Art zu reden und sein gesamtes Benehmen entsprachen durchaus der Besonderheit seiner Lage. Dolochow dagegen, der früher einmal in Moskau persische Tracht getragen hatte, sah jetzt ganz wie der eleganteste Gardeoffizier aus. Sein Gesicht war sauber rasiert; er trug einen wattierten Gardeuniformrock mit dem Georgskreuz im Knopfloch und eine einfache, gerade aufgesetzte Uniformmütze. Er legte in einer Ecke der Stube seinen nassen Filzmantel ab, trat dann, ohne jemand zu begrüßen, zu Denisow und begann sogleich, sich nach dem geplanten Unternehmen zu erkundigen. Denisow erzählte ihm von den Absichten, die die großen Korps auf diesen Transport hätten, und von Petjas Sendung, und was er den beiden Generalen geantwortet habe. Dann erzählte Denisow alles, was er über die Lage der französischen Abteilung wußte.
»Nun ja. Aber wir müssen wissen, wieviel Truppen und was für Truppen es sind«, sagte Dolochow. »Es ist notwendig, daß jemand hinreitet. Ohne genau zu wissen, wie viele es sind, dürfen wir uns nicht in einen Kampf einlassen. Ich verfahre gern sorgsam. Also, will nicht jemand von den Herren mit mir in ihr Lager reiten? Die nötigen Uniformen habe ich bei mir.«
»Ich, ich … ich reite mit Ihnen!« rief Petja.
»Es ist ganz und gar nicht nötig, daß du hinreitest«, sagte Denisow, zu Dolochow gewendet. »Und nun gar den hier lasse ich unter keinen Umständen hin.«
»Aber das wäre ja ganz arg!« rief Petja. »Warum soll ich denn nicht hinreiten?«
»Weil gar kein Grund dazu vorhanden ist.«
»Ich glaube, Sie wollen mich nicht reiten lassen, weil ich … weil ich … Aber ich reite hin, Punktum. Wollen Sie mich mitnehmen?« fragte er Dolochow.
»Warum nicht?« antwortete Dolochow zerstreut; er blickte gerade in diesem Augenblick dem französischen Tambour ins Gesicht. »Hast du dieses Bürschchen schon lange?« fragte er Denisow.
»Er wurde heute gefangengenommen; aber er weiß nichts zu sagen. Ich habe ihn bei mir behalten.«
»Na, und die übrigen? Was fängst du mit denen an?« fragte Dolochow.
»Was ich mit denen anfange? Ich schicke sie mit einem zu quittierenden Begleitschein weg«, rief Denisow und wurde auf einmal ganz rot im Gesicht. »Ich kann dreist sagen, daß ich kein Menschenleben auf meinem Gewissen habe. Macht es dir denn soviel Mühe, dreißig oder dreihundert Menschen mit Eskorte nach der Stadt zu schicken, daß du lieber, ich sage es geradeheraus, die Soldatenehre befleckst?«
»Dem jungen Gräflein hier mit seinen sechzehn Jahren würde es wohl anstehen, solche humane Phrasen zu machen«, erwiderte Dolochow mit kaltem Spott. »Aber du solltest doch über dergleichen schon hinaus sein.«
»Aber ich sage ja gar nichts; ich sage nur, daß ich unter allen Umständen mit Ihnen mitreite«, bemerkte Petja schüchtern.
»Für mich und dich aber, Bruder, ist es wirklich Zeit, uns von diesem Humanitätsdusel freizumachen«, fuhr Dolochow fort, der ein besonderes Vergnügen darin zu finden schien, über diesen Gegenstand zu sprechen, über den Denisow in Aufregung geriet. »Na, und diesen hier, warum hast du den zu dir genommen?« sagte er, den Kopf hin und her wiegend. »Wohl weil er dir leid tut? Wir kennen ja deine zu quittierenden Begleitscheine. Hundert Mann schickst du ab, und dreißig kommen an. Sie sterben vor Hunger oder werden totgeschlagen. Ist es da nicht ganz dasselbe, wenn man sie gar nicht erst mitnimmt?«