9

Natürlich war Duff es gewesen, der die beiden Mädchen gefragt hatte, ob sie sich nicht zu ihnen an den Tisch setzen wollten. Macbeth ging zur Bar und holte Bier für sie alle, kam zurück und hörte, wie Duff damit angab, dass sie die beiden besten Kadetten im Abschlussjahrgang der Polizeischule waren. Ihre Zukunftsaussichten sahen mehr als rosig aus, und die Mädchen sollten zuschlagen, wenn sie wussten, was gut für sie war. Die beiden lachten, und die Augen des Mädchens, das Meredith hieß, blitzten auf. Aber sie senkte den Blick, als Macbeth ihn festhalten wollte. Als die Bar zumachte, begleitete Macbeth Meredith bis zur Haustür und wurde mit einem freundlichen Handschlag und einer Telefonnummer belohnt. Und während sich Duff am nächsten Morgen in allen Einzelheiten darüber ausließ, wie er ihre Freundin Rita in einem engen Bett im Schwesternheim rangenommen hatte, rief Macbeth Meredith an und lud sie mit zitternder Stimme zum Abendessen ein.

Er hatte einen Tisch im Lyon’s reserviert. Dass das ein Fehler war, begriff er in dem Augenblick, als er den wissenden Blick des Kellners bemerkte. Der elegante Anzug, den Duff ihm geliehen hatte, war ihm viel zu groß, also hatte er stattdessen den von Banquo nehmen müssen, der zwei Nummern zu klein war und seit zwanzig Jahren außer Mode. Zum Glück glichen Merediths Kleid, ihre Schönheit und ihre ruhige Höflichkeit dies ein Stück weit aus. Das Einzige, was er auf der französischen Speisekarte verstand, waren die Preise. Aber Meredith erklärte ihm, das sei eben typisch für die Franzosen: Sie weigerten sich zuzugeben, dass ihre Sprache nicht mehr international verständlich sei. Außerdem sei ihr Englisch so schlecht, dass sie sich in der Sprache ihrer Rivalen zum Idioten machen würden, was einer doppelten Schmach gleichkomme.

»Arroganz und Unsicherheit treten oft zusammen auf«, sagte sie.

»Ich bin auch unsicher«, sagte Macbeth.

»Ich dachte dabei eher an deinen Freund Duff«, entgegnete sie. »Warum bist du so unsicher?«

Macbeth erzählte ihr von sich. Vom Waisenhaus. Von Banquo und Vera, der Polizeischule. Es war so einfach, mit ihr zu reden, dass er fast versucht war, ihr alles zu erzählen, einen wahnsinnigen Moment lang sogar das von Lorreal. Aber natürlich tat er das nicht. Meredith sagte, sie sei im westlichen Teil der Stadt aufgewachsen. Immer hatten ihre Eltern dafür gesorgt, dass es ihren Kindern an nichts fehlte, aber auch Ansprüche an sie gestellt und viel von ihnen erwartet, insbesondere von ihren Brüdern.

»Beschützt, privilegiert und spießig«, sagte sie. »Stell dir vor, ich war noch nie im Distrikt 2 Ost.« Sie lachte, als Macbeth sich entschieden weigerte, das zu glauben. »Doch, es stimmt! Ich war nie da!«

Also nahm er sie nach dem Essen mit hinunter zum Flussbett. Sie spazierten an der von Schlaglöchern übersäten Straße und den heruntergekommenen Häusern vorbei bis zur Penny Bridge. Und als er ihr vor ihrem Haus Gute Nacht sagte, beugte sie sich vor und küsste ihn auf die Wange.

Als er in sein Zimmer zurückkehrte, war Duff noch wach. »Erzähl mir alles«, befahl er. »Langsam und in allen Einzelheiten.«

Zwei Tage später: Kino. Herr der Fliegen. Sie gingen unter demselben Regenschirm nach Hause, Merediths Arm unter seinen gehakt. »Wie können Kinder nur so grausam und blutrünstig sein?«, fragte sie.

»Warum sollten Kinder weniger grausam sein als Erwachsene?«

»Sie kommen schließlich unschuldig auf die Welt.«

»Unschuldig und ohne jedes Gefühl für Moral. Ist die friedliche Passivität nicht bloß etwas, was die Erwachsenen den Kindern aufzwingen, um uns unseren Platz in der Gesellschaft zu zeigen und damit sie mit uns machen können, was sie wollen?«

Vor der Haustür küssten sie sich, und am Sonntag machte er mit ihr einen Spaziergang im Wald, auf der anderen Seite des Tunnels. Er hatte einen Picknickkorb gepackt.

»Du kannst kochen!«, rief sie erfreut.

»Banquo und Vera haben es mir beigebracht. Wir waren früher oft hier.«

Dann küssten sie sich, sie begann, schwer zu atmen, und er schob seine Hand unter ihren Baumwollrock.

»Warte …«, sagte sie.

Also wartete er. Und schnitzte derweil ein Herz in die große Eiche und schrieb mit der Klingenspitze ihre Namen hinein. Meredith und Macbeth.

»Sie ist bereit, gepflückt zu werden«, sagte Duff, als Macbeth nach Hause kam und ihm alles berichtete. »Ich geh am Mittwoch zu Rita, lad sie hierher ein.«

Macbeth hatte eine Flasche Wein geöffnet und Kerzen angezündet, als Meredith an der Tür klingelte. Er war vorbereitet. Aber nicht auf das, was passierte. Denn kaum war sie eingetreten, begann sie, seinen Gürtel zu öffnen, und schob ihm ihre Hand in die Hose.

»N-n-nicht«, sagte er.

Sie schaute ihn überrascht an.

»S-s-stop.«

»Warum stotterst du?«

»Ich w-w-will nicht, dass du das machst.«

Als sie ihre Hand zurückzog, brannten ihre Wangen vor Scham.

Anschließend tranken sie schweigend ein Glas Rotwein.

»Ich muss morgen früh raus«, sagte sie. »Bald sind die Abschlussprüfungen und …«

»Natürlich.«

Drei Wochen vergingen. Macbeth versuchte mehrmals, sie anzurufen, aber wenn tatsächlich mal jemand ranging, war es Rita, die ihm sagte, dass Meredith nicht zu Hause sei.

»Du gehst nicht mehr mit Meredith aus, nehme ich an«, sagte Duff.

»Nein.«

»Ich und Rita auch nicht mehr. Hättest du was dagegen, wenn ich mich mit Meredith verabrede?«

»Da frag lieber sie.«

»Hab ich.«

Macbeth schluckte. Es war, als hätte sich eine Klaue um sein Herz gelegt. »Ach, ja? Und was hat sie gesagt?«

»Sie hat Ja gesagt.«

»Hat sie? Und wann habt ihr euch …?«

»Gestern. Wir haben nur eine Kleinigkeit gegessen zusammen, aber … es war nett.«

Am nächsten Tag wachte Macbeth auf und war krank. Erst später wurde ihm klar, was diese Krankheit war und dass es für ein gebrochenes Herz kein Heilmittel gab. Man musste es durchstehen, und das tat er. Er litt still, ohne ihren Namen irgendjemandem gegenüber zu erwähnen, abgesehen von einer alten Eiche auf der freundlichen Seite des Tunnels. Nach einer Weile verschwanden die Symptome. Beinahe vollständig. Und er fand heraus, dass nicht stimmte, was die Leute behaupteten, dass man sich nur einmal wirklich verlieben konnte. Aber im Gegensatz zu Meredith war Lady Krankheit und Heilmittel in einer Person. Durst und Wasser. Begierde und Befriedigung. Jetzt erreichte ihn ihre Stimme durch die tiefe Nacht und übers Meer hinweg.

»Liebster …«

Macbeth trieb durch Wasser und Luft, Licht und Dunkelheit.

»Wach auf!«

Er öffnete die Augen. Er lag im Bett. Es musste immer noch Nacht sein, denn im Zimmer war es dunkel. Aber ein körniges, unfassbares Grau lag über allem und kündigte die Dämmerung an.

»Endlich!«, zischte sie ihm ins Ohr. »Wo warst du denn?«

»Wo ich war?«, sagte Macbeth und versuchte, die Überreste seines Traums festzuhalten. »War ich nicht hier?«

»Dein Körper, ja, aber ich versuche seit Stunden, dich zu wecken. Es war, als wärst du bewusstlos. Was hast du getan?«

Macbeth hielt sich immer noch an seinem Traum fest, aber plötzlich wusste er nicht mehr, ob es ein guter Traum oder ein Albtraum gewesen war. Duncan … er ließ los, und Bilder wirbelten durch die Dunkelheit.

»Deine Pupillen«, sagte sie und hielt sein Gesicht in ihren Händen. »Du hast was genommen, das ist es.«

Er schreckte vor ihr zurück, vorm Licht. »Ich hab es gebraucht.«

»Aber du hast es getan?«

»Es?«

Sie schüttelte ihn hart. »Macbeth, Liebster, antworte mir! Hast du getan, was du mir versprochen hast?«

»Ja!« Er stöhnte auf und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Nein, ich weiß nicht.«

»Du weißt es nicht?«

»Ich sehe ihn vor mir mit einem Dolch in der Brust, aber ich weiß nicht, ob das wirklich passiert ist oder ob ich es geträumt habe.«

»Hier liegt ein sauberer Dolch auf dem Nachttisch. Du solltest beide Dolche ins Zimmer der Leibwächter legen, nachdem du Duncan getötet hattest, einen neben jeden von ihnen.«

»Ja, ja, ich weiß.«

»Ist der andere Dolch bei ihnen? Reiß dich zusammen!«

»Schlaft nicht mehr. Macbeth mordet den Schlaf!«

»Was?«

»Das hat er gesagt. Oder ich habe es geträumt.«

»Dann gehen wir lieber nachsehen.«

Macbeth schloss die Augen, haschte nach seinem Traum – vielleicht konnte der es ihm sagen. Das war besser, als dorthin zurückzugehen. Aber der Traum war ihm bereits durch die Finger geronnen. Als er seine Augen wieder öffnete, stand Lady an der Wand und presste ein Ohr dagegen.

»Sie schnarchen noch. Los, komm.« Sie nahm den Dolch vom Nachttisch.

Macbeth atmete tief ein. Bald würde der Tag anbrechen, und sein Licht würde alles offenbaren. Er schwang die Beine aus dem Bett und stellte fest, dass er immer noch vollständig angezogen war.

Sie gingen auf den Korridor hinaus. Kein Laut war zu hören. Wer im Inverness übernachtete, stand für gewöhnlich nicht sehr früh auf.

Lady schloss das Zimmer der Leibwächter auf, und sie gingen hinein. Die beiden Leibwächter schliefen in jeweils einem Armsessel. Aber nirgends waren irgendwelche Dolche, und es war auch kein Blut auf ihre Anzüge und Hemden geschmiert worden, wie es der Plan vorgesehen hatte.

»Ich hab es nur geträumt«, flüsterte Macbeth. »Komm, lassen wir das alles.«

»Nein!«, zischte Lady und steuerte die Verbindungstür zu Duncans Zimmer an. Ließ den Dolch in ihre rechte Hand hinüberwandern. Dann, scheinbar ohne jedes Zögern, riss sie die Tür auf und ging hinein.

Macbeth wartete und lauschte.

Nichts.

Er ging zur Türöffnung hinüber.

Graues Licht sickerte durch das Fenster.

Sie stand auf der gegenüberliegenden Seite des Betts und hatte den Dolch bis zu ihrem Mund erhoben. Den Griff umklammerte sie mit beiden Händen, und ihre Augen waren weit aufgerissen vor Entsetzen.

Duncan lag im Bett. Seine Augen standen offen und schienen irgendetwas an der Zimmertür anzustarren. Alles war voller Blut. Die Bettdecke, die Waffe, die darauf lag, die Hand auf der Waffe. Und der Griff des Dolches, der aus Duncans Kehle ragte wie ein Haken.

»Oh, Liebster«, flüsterte Lady. »Mein Mann, mein Held, mein Retter, Macbeth.«

Macbeth öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber in diesem Augenblick wurde die vollkommene Sonntagmorgenstille von einem kaum hörbaren, aber hartnäckigen Läuten durchbrochen, das von unten kam.

Lady schaute auf ihre Uhr. »Das ist Duff. Er ist früh dran! Liebster, geh nach unten und halte ihn auf, während ich das hier in Ordnung bringe.«

»Du hast drei Minuten«, sagte Macbeth. »Fass das Blut nicht an. Es ist halb geronnen und wird Abdrücke hinterlassen. Okay?«

Sie wandte ihm den Kopf zu und lächelte. »Hi«, sagte sie. »Da bist du ja wieder.«

Und er wusste, was sie meinte. Jetzt war er wieder da. Im Tunnel.


Zitternd stand Duff vor der Tür des Inverness und sehnte sich zurück in Caithness’ warmes Bett. Er wollte gerade zum zweiten Mal auf die Klingel drücken, als die Tür geöffnet wurde.

»Der Eingang zum Casino ist da unten, Sir.«

»Nein. ich bin hier, um Chief Commissioner Duncan abzuholen.«

»Ach so. Kommen Sie rein. Ich läute und sage Bescheid, dass Sie hier sind. Inspector Duff, richtig?«

Duff nickte. Sie hatten wirklich eine erstklassige Belegschaft im Inverness. Er ließ sich in einen der tiefen Armsessel fallen.

»Es meldet sich niemand, Sir«, sagte der Rezeptionist. »Weder in seinem Zimmer noch in dem seiner Leibwächter.«

Duff schaute auf seine Uhr. »Welche Zimmernummer hat der Chief Commissioner?«

»Zweihundertdreizehn, Sir.«

»Wäre es in Ordnung, wenn ich raufginge, um ihn zu wecken?«

»Selbstverständlich.«

Duff begann die Treppe hinaufzusteigen, als ihm von oben eine vertraute Gestalt entgegenkam.

»Morgen, Duff«, rief Macbeth fröhlich. »Jack, könnten Sie in die Küche gehen und uns beiden eine starke Tasse Kaffee holen?«

Der Rezeptionist nickte und machte sich auf den Weg.

»Danke, Macbeth, aber ich habe den Auftrag, Duncan abzuholen.«

»Ist das so dringend? Und bist du nicht ein bisschen früh dran?«

»Wir hatten uns auf eine bestimmte Zeit geeinigt, zu der wir wieder zu Hause sein wollten. Und mir ist eingefallen, dass die Kenneth-Brücke noch gesperrt ist, deshalb müssen wir den Umweg über die alte Brücke nehmen.«

»Entspann dich mal.« Macbeth lachte und hakte ihn unter. »Sie wird ja keine Stoppuhr gestellt haben, oder? Außerdem siehst du ziemlich fertig aus. Wenn du fahren musst, brauchst du erst mal einen starken Kaffee. Komm, wir setzen uns.«

Duff zögerte. »Danke, mein Freund, aber das wird warten müssen.«

»Eine Tasse Kaffee, dann riecht sie auch den Whiskey nicht so leicht.«

»Ich überlege, ob ich abstinent werden sollte wie du.«

»Ach ja?«

»Vom Alkohol wird die Nase rot, die Pisse auch, und man kommt nicht aus dem Bett. Letzteres scheint ja heute auch bei Duncan der Fall zu sein. Ich gehe mal rauf und …«

Macbeth hielt ihn am Arm fest. »Und der Alkohol erhöht die Lust, verschlechtert aber die Leistung, habe ich gehört. Wie war deine Nacht? Erzähl’s mir. Langsam und in allen Einzelheiten.«

Duff zog eine Augenbraue hoch. Langsam und in allen Einzelheiten. Benutzte er diese typische Verhörformulierung aus ihren alten Polizeischultagen als ironischen Scherz, oder wusste er etwas? Nein, Macbeth sprach nie in Rätseln. Dafür fehlten ihm Geduld und Raffinesse. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich hab bei einem Cousin übernachtet.«

»Ach? Du hast mir nie erzählt, dass du noch Familie hast. Ich dachte, dein Großvater wäre dein letzter lebender Verwandter gewesen. Schau, da kommt ja schon der Kaffee. Stellen Sie ihn einfach auf den Tisch, Jack. Und versuchen Sie noch mal Duncan anzurufen.«

Beruhigt, dass der Rezeptionist die Sache in die Hand nahm, ging Duff wieder die Treppe hinunter und griff gierig nach dem Kaffee. Blieb aber stehen.

»Die Familie, ja«, sagte Macbeth. »Die Quelle eines ewigen schlechten Gewissens, was?«

»Ja, vielleicht«, sagte Duff, der sich beim ersten Schluck die Zunge verbrannt hatte und nun auf den Kaffee pustete.

»Wie geht es denn deiner Frau und den Kindern? Gefällt’s ihnen in Fife?«

»Jedem gefällt’s in Fife.«

»Chief Commissioner Duncan geht immer noch nicht ans Telefon, Sir.«

»Danke, Jack. Versuchen Sie’s weiter. Heute Morgen werden wohl einige Leute einen schweren Kopf haben.«

Duff stellte seine Tasse ab. »Macbeth, ich glaube, ich wecke ihn erst mal und trinke dann den Kaffee, damit wir loskönnen.«

»Ich komme mit dir rauf. Er hat das Zimmer neben uns«, sagte Macbeth und trank einen Schluck. Dabei verschüttete er etwas von seinem Kaffee auf seine Hand und den Sakkoärmel. »Ups. Haben Sie vielleicht eine Serviette für mich, Jack?«

»Ich hole Ihnen …«

»Warte den Moment, Duff. Ah ja, wunderbar. Danke schön, Jack. Na los, gehen wir.«

Sie gingen die Treppe hinauf.

»Hast du dich verletzt?«, fragte Duff.

»Nein. Warum?«

»Ich hab dich noch nie so langsam eine Treppe raufgehen sehen.«

»Kann sein, dass ich mir bei unserer Norse-Riders-Verfolgung einen Muskel gezerrt habe.«

»Hm.«

»Davon abgesehen. Hast du gut geschlafen?«

»Nein«, sagte Duff. »Es war eine furchtbare Nacht. Donner, Blitze und der ganze Regen.«

»Ja, eine schlimme Nacht.«

»Du hast also auch nicht geschlafen?«

»Na ja, doch …«

Duff drehte sich um und schaute ihn an.

»Nachdem der schlimmste Sturm abgezogen war«, ergänzte Macbeth. »Da wären wir.«

Duff klopfte. Wartete und klopfte erneut. Griff nach dem Türknauf. Die Tür war abgeschlossen. Ihn überkam das Gefühl, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte.

»Gibt es einen Generalschlüssel?«

»Ich gehe und frage Jack«, sagte Macbeth.

»Jack!«, brüllte Duff. Und dann noch einmal aus voller Kehle: »Jack!«

Nach einigen Sekunden tauchte der Rezeptionist am Treppenabsatz auf. »Ja, Sir?«

»Haben Sie einen Generalschlüssel?«

»Ja, Sir.«

»Dann kommen Sie und öffnen sofort diese Tür.«

Der Rezeptionist rannte mit kurzen Schritten auf sie zu und kramte in seiner Jackentasche.

Er zog einen Schlüssel hervor, steckte ihn ins Schloss und drehte ihn herum. Duff öffnete die Tür. Sie standen da und starrten. Der Erste, der ein Wort sagte, war der Rezeptionist.

»Heiland.«


Macbeth ließ seinen Blick über den Tatort gleiten, spürte überdeutlich die Türschwelle unter seinen Fußsohlen und hörte, wie Duff die Glasscheibe des Feuermelders zerschlug, der sofort zu heulen begann. Der Dolch war aus der rechten Seite von Duncans Kehle gezogen worden, und Lady hatte noch einmal auf der linken Seite zugestochen. Ansonsten schien alles so geblieben zu sein wie zuvor.

»Jack!«, brüllte Duff über das Heulen des Alarms hinweg. »Holen Sie alle Gäste aus ihren Zimmern. Sie sollen sich an der Rezeption einfinden. Kein Wort über das hier, okay?«

»O-okay, Sir.«

Im Korridor öffneten sich einzelne Türen. Aus der direkt nebenan trat Lady, barfuß und in einem Bademantel.

»Was ist los, Liebling? Brennt es?«

Sie war gut. Jetzt folgten sie wieder dem Plan. Er befand sich noch immer im Tunnel, und in diesem Augenblick wurde Macbeth klar, dass trotz des scheinbaren Chaos alles in den richtigen Bahnen lief. In diesem Augenblick waren er und die Frau, die er liebte, unschlagbar, in diesem Augenblick hatten sie die vollständige Kontrolle – über die Stadt, das Schicksal, den Lauf der Sterne. Das Gefühl war wie ein Rausch, stärker als alles, was Hecate ihm anbieten konnte.

»Wo zum Teufel stecken denn seine Leibwächter?«, brüllte Duff wutentbrannt.

Sie hatten nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet Duff Zeuge der bevorstehenden Ereignisse sein würde. Die Rolle hatten sie einem der verblüffteren und ängstlicheren Übernachtungsgäste zugedacht, die sie in den Nachbarzimmern untergebracht hatten. Malcolm zum Beispiel. Aber nun, da Duff hier war, kam man unmöglich an ihm vorbei.

»Hier rein, Schatz«, sagte Macbeth. »Du auch, Duff.«

Er schob sie in Duncans Zimmer und schloss die Tür. Zog seine Dienstwaffe aus dem Holster an seinem Hosengürtel. »Hört mir genau zu. Die Tür war abgeschlossen, und es gibt kein Anzeichen für einen Einbruch. Der Einzige, der einen Generalschlüssel zu diesem Zimmer hatte, war Jack …«

»Und ich«, sagte Lady. »Das glaube ich zumindest …«

»Abgesehen davon gibt es nur eine Möglichkeit.« Macbeth deutete auf die Tür zum angrenzenden Zimmer.

»Seine eigenen Leibwächter?«, sagte Lady entsetzt und schlug sich die Hand vor den Mund.

Macbeth entsicherte seine Waffe. »Ich schaue mal nach.«

»Ich komme mit«, sagte Duff.

»Nein, das tust du nicht«, entgegnete Macbeth. »Das ist meine Angelegenheit, nicht deine.«

»Und ich entscheide, dass ich …«

»Du entscheidest, dass du tust, was ich dir sage, Duff.«

Macbeth sah zuerst Überraschung in Duffs Augen, bis dieser begriff: Der Leiter des Dezernats für Organisierte Kriminalität war dem der Mordkommission übergeordnet.

»Du passt auf Lady auf, okay, Duff?« Ohne auf Antwort zu warten, öffnete Macbeth die Tür zum Zimmer der Leibwächter, trat ein und schloss die Tür hinter sich. Die Leibwächter lagen noch immer in den Sesseln. Einer von ihnen grunzte; vielleicht durchdrang der Feueralarm den schweren Drogenschleier.

Macbeth versetzte ihm eine Ohrfeige mit dem Handrücken.

Ein Auge öffnete sich halb, ließ den Blick durch den Raum gleiten und blieb schließlich an Macbeth hängen. Eine ganze Weile verharrte er dort, bis er schließlich auf seinen eigenen Körper hinunterwanderte.


Andrianov bemerkte, dass sowohl sein schwarzes Anzugsakko als auch sein weißes Hemd mit Blut bedeckt waren. Dann spürte er, dass etwas fehlte. Das Gewicht seiner Waffe im Holster. Er fuhr mit der Hand ins Sakko, aber seine Finger fanden statt der Dienstwaffe kalten, scharfen Stahl und etwas Klebriges … Der Leibwächter zog seine Hand wieder heraus und sah sie an. Blut? Träumte er noch? Er stöhnte auf. Im Hinterkopf registrierte er etwas, das auf drohende Gefahr schließen ließ, und er versuchte verzweifelt, sich zu sammeln. Unwillkürlich schaute er sich um und entdeckte dort, auf dem Boden neben dem Sessel, seine Waffe. Und die seines Kollegen neben dem Sessel, in dem er scheinbar immer noch schlief.

»Was …«, murmelte Andrianov und blickte in den Lauf der Waffe, die auf ihn gerichtet war.

»Polizei!«, rief der Mann vor ihm. Es war Macbeth. Der neue Leiter des … des … »Halten Sie Ihre Waffen so, dass ich sie sehen kann, sonst schieße ich.«

Andrianov blinzelte verwirrt. Warum fühlte es sich an, als würde er in einem Sumpf feststecken? Was hatte er nur genommen?

»Nehmen Sie sofort Ihre Waffe runter!«, brüllte Macbeth. »Ich wiederhole es nicht noch einmal …«

Irgendetwas sagte Andrianov, dass er besser nicht nach der Waffe auf dem Boden greifen sollte. Der Mann vor ihm würde ihn nicht erschießen, wenn er ganz still dasaß. Aber es nützte nichts. Vielleicht hatte er in all den Stunden, Tagen, Jahren als Leibwächter einen Instinkt entwickelt, einen Reflex, über den sein Wille keine Kontrolle hatte: zu schützen, ohne an das eigene Leben zu denken. Vielleicht lag das aber auch einfach in seiner Natur, und er hatte sich deshalb für einen Job in diesem Bereich beworben.

Andrianov griff nach seiner Waffe, aber seine Gedanken ebenso wie sein Leben wurden von der Kugel beendet, die durch seine Stirn drang, durch sein Gehirn und die Rücklehne des Sessels und erst gestoppt wurde, als sie auf die Wand mit ihrer Goldfadentapete traf, die Lady für ein kleines Vermögen in Paris erstanden hatte. Die Explosion ließ den Körper seines Kollegen zusammenzucken, aber er schaffte es nicht, das Bewusstsein wiederzuerlangen, bevor auch ihn eine Kugel in die Stirn traf.


Duff stürzte auf die Tür zu, als der erste Schuss abgegeben wurde.

Lady hielt ihn zurück. »Er hat doch gesagt, Sie sollen …«

Ein zweiter Schuss ertönte, und Duff befreite sich aus ihrem Griff. Riss die Tür auf und stürmte hinein. Stand mitten im Raum und schaute sich um. Zwei Männer, beide in einem Sessel, beide mit einem dritten Auge in der Stirn.

»Norse Riders«, sagte Macbeth und steckte seine noch rauchende Pistole zurück ins Holster. »Dahinter steckt Sweno.«

Irgendjemand brüllte und hämmerte gegen die Tür zum Korridor.

»Lass sie rein«, sagte Macbeth.

»Was geht hier vor?«, keuchte Malcolm außer Atem. »Heiliger Himmel, sind sie …? Wer hat …?«

»Ich«, sagte Macbeth.

»Sie haben ihre Waffen gezogen«, sagte Duff.

Malcolms Blick sprang fassungslos von Duff zurück zu Macbeth. »Gegen Sie? Weshalb?«

»Weil ich sie verhaften wollte«, sagte Macbeth.

»Weswegen?«, fragte Lennox.

»Wegen Mordes.«

»Sir.« Duff schaute Malcolm an. »Ich fürchte, wir haben schlechte Neuigkeiten.«

Er sah, wie sich Malcolms Augen hinter den rechteckigen Brillengläsern verengten, als er sich vorbeugte, wie ein Boxer, der sich auf den Schlag vorbereitet, mit dem er jeden Moment rechnet.

Aber jetzt wandten sich alle der Frau zu, die im Türrahmen zum angrenzenden Zimmer aufgetaucht war. »Chief Commissioner Duncan ist tot«, sagte Lady. »Er wurde im Schlaf mit einem Messer erstochen.«

Dieser Satz brachte Duff unwillkürlich dazu, Macbeth anzuschauen. Nicht, weil er irgendetwas ausgedrückt hätte, was er nicht schon wusste, sondern weil er das Echo eines Satzes war, den er schon einmal gehört hatte, eines Morgens vor vielen Jahren in einem Waisenhaus.

Ihre Blicke trafen sich für einen winzigen Augenblick, bevor beide sie rasch wieder abwandten.

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