22

Duff blieb in der Türöffnung stehen. Sah die Decke auf dem Bett. Er wusste, dass es nicht gut war, wenn er durch die Federn watete; er würde lediglich den Tatort kontaminieren und vermutlich Beweise vernichten. Aber er musste sie bedecken. Sie ein letztes Mal zudecken, so konnten sie nicht bleiben. Er trat ein, dann blieb er stehen.

Er hatte etwas gehört. Eine Stimme.

Er trat rückwärts aus dem Raum und ging ins Wohnzimmer, hinüber zu dem zerschossenen Fenster, das nach Osten zeigte, in Richtung See. Da war wieder dieses Rufen. So weit weg, dass er nicht ausmachen konnte, wer da rief, aber in der Nachmittagsstille übertrug sich der Klang ziemlich gut. Die Stimme klang wütend. Sie hatte dasselbe Wort wiederholt, aber Duff konnte es nicht verstehen. Er zog die Überreste einer Kommode auf, nahm das Fernglas heraus, das sie darin aufbewahrten, und richtete es auf die Hütte. Eine der beiden Linsen war zersplittert, aber die andere noch gut genug, um einen Mann mit hellen Haaren zu sehen, der auf der schmalen Straße auf das Sommerhäuschen zueilte. Hinter ihm, vor der Hütte, stand ein Laster, auf dessen Ladefläche sich ein Mann befand, den er erkannte. Seyton. Er stand zwischen Gerätschaften, die aussahen wie zwei gigantische Fleischwölfe. Duff fielen Macbeths Worte wieder ein: Bleib für mindestens zwei Tage im Bett … ein Befehl. Macbeth hatte es gewusst. Hatte von Duffs Plan gewusst, aufzudecken, dass er Duncan umgebracht hatte. Duncan. Lennox. Lennox, der Verräter. Morgen würde kein Richter aus Capitol in die Stadt kommen.

Duff sah, wie sich Seytons Mund bewegte, bevor der Klang ihn erreichte. Dasselbe wutschnaubende Wort: »Angus!«

Duff zog sich vom Fenster zurück, damit das Sonnenlicht sich nicht in seinem Fernglas spiegelte und ihn verriet. Er musste fliehen.


Als sich die Dunkelheit über die Stadt senkte, machte die Nachricht vom Massaker am Clubhaus der Norse Riders bereits die Runde. Um neun Uhr hatten sich die meisten Journalisten, Fernseh- und Radioteams der Stadt in Scone Hall versammelt. Macbeth stand hinter den Kulissen bereit und hörte zu, wie Lennox alle zur Pressekonferenz begrüßte.

»Wir möchten Sie bitten, kein Blitzlicht zu verwenden, bis der Chief Commissioner fertig ist, und bitte geben Sie ein Handzeichen und stellen Sie Ihre Fragen nach Aufforderung. Und hier ist der Chief Commissioner dieser stolzen Stadt, Macbeth.«

Diese Einführung – verstärkt vermutlich von den Gerüchten um den Sieg über die Norse Riders bei der Clubhaus-Schlacht – war Grund genug, um einige weniger erfahrene Journalisten spontan zum Klatschen zu bringen, als Macbeth auf dem Podium auftauchte. Der dünne Applaus erstarb allerdings rasch unter den vielsagenden Blicken der reiferen Kollegen.

Macbeth trat ans Rednerpult. Nein, er nahm das Rednerpult mit Gewalt in Besitz, so fühlte es sich an. Es war seltsam, dass er ausgerechnet dies – vor Publikum zu sprechen – früher am meisten gefürchtet hatte. Nun gefiel es ihm nicht bloß, er sehnte es herbei, er brauchte es. Er räusperte sich und schaute auf seine Papiere hinab. Dann fing er an.

»Heute hat die Polizei zwei bewaffnete Einsätze gegen diejenigen durchgeführt, die hinter den Morden an unseren Polizeibeamten stecken, auch hinter dem an Chief Commissioner Duncan. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass die erste Operation ein hundertprozentiger Erfolg gewesen ist, wenn man die erschwerenden Umstände mit einberechnet. Die kriminelle Vereinigung, die unter dem Namen Norse Riders bekannt ist, existiert faktisch nicht mehr.« Ein einzelnes Hurra aus dem Publikum durchbrach die Stille. »Es handelte sich um eine geplante Aktion. Sie basierte auf neuen Informationen, die uns nach der Freilassung einiger Norse-Riders-Mitglieder zur Kenntnis gelangt waren. Wie gesagt gab es erschwerende Umstände: Die Norse Riders haben Schüsse auf unser SWAT-Team abgefeuert und uns so keine andere Wahl gelassen, als uns entschieden zur Wehr zu setzen.«

Ein Ruf aus dem hinteren Teil des Saals: »War Sweno unter den Toten?«

»Ja«, sagte Macbeth. »Er gehört zu den Toten, die sich aufgrund der spezifischen Natur ihrer Verletzungen nicht mehr identifizieren lassen, aber ich denke, dies hier werden Sie alle erkennen …« Macbeth hielt einen blitzenden Säbel hoch. Weitere Hurras. Nun stimmten auch einige der erfahreneren Journalisten in den spontanen Applaus ein. »Damit ist eine Ära zu Ende. Zum Glück.«

»Es gibt Gerüchte, es würden sich Frauen und Kinder unter den Toten befinden.«

»Ja und nein«, sagte Macbeth. »Erwachsene Frauen, die sich dazu entschlossen hatten, sich mit dem Club zu verbinden, ja. Viele von ihnen haben, wie wir sagen würden, selbst eine ziemlich dicke Akte, und keine von ihnen hat Anstalten gemacht, die Norse Riders davon abzuhalten, das Feuer gegen uns zu eröffnen. Was die angeblichen Kinder anbelangt, ist das völliger Unsinn. Es gab keinerlei unschuldige Opfer.«

»Sie erwähnten einen zweiten Einsatz. Worum handelt es sich dabei?«

»Er fand außerhalb der Stadt statt, in Fife, unmittelbar nach der ersten Operation, daher haben Sie womöglich noch nichts davon gehört. Hierbei ging es um den Versuch, eine Person zu verhaften, von der wir nun wissen, dass sie mit den Norse Riders seit einiger Zeit zusammengearbeitet hat. Es ist selbstverständlich bedauerlich, dass wir einen solchen Polizeibeamten in unseren Reihen hatten, aber es zeigt, dass auch der Chief Commissioner nicht unfehlbar war, als er das Rauschgiftdezernat und später die Mordkommission dem betreffenden Mann übergeben hat. Ich spreche von Inspector Duff. Und wir sind ebenfalls nicht unfehlbar. Wir haben an seine Familie gedacht und sind davon ausgegangen, dass er dasselbe tun und sich stellen würde. Als wir eintrafen, ging Police Officer Seyton, der Leiter des Sondereinsatzkommandos, auf das Haus zu und forderte Duff auf, allein herauszukommen und sich zu stellen. Duff reagierte darauf, indem er Schüsse auf Seyton abgab.«

Er nickte Seyton zu, der bei der Eingangstür des Saals direkt unter der Lampe stand, sodass jeder sehen konnte, dass er seinen Arm in einer Schlinge trug.

»Zu unserem großen Glück war dieser Schuss nicht tödlich. Police Officer Seyton hat zügig medizinische Versorgung erhalten, und es bestehen gute Chancen, dass er keine Folgeschäden davontragen wird. Trotz der Schwere seiner Verletzung hat Police Officer Seyton den Einsatz weiterhin geleitet. Unglücklicherweise hat sich Duff, in seiner Verzweiflung und Feigheit, dazu entschlossen, die Mitglieder seiner Familie als Schutzschild zu missbrauchen. Mit dem tragischen Ergebnis, dass diese mit ihrem Leben bezahlt haben, während es Duff gelungen ist, aus dem Haus zu entkommen und mit seinem Wagen zu fliehen. Wir haben eine offizielle Fahndung nach ihm eingeleitet. Ich verspreche Ihnen hier und jetzt, dass wir Duff finden und seiner Strafe zuführen werden. Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit hinzufügen, dass wir Police Officer Seyton bald als Inspector Seyton ansprechen können.«

Diesmal stimmten noch mehr der Anwesenden in den Applaus ein. Als er sich gelegt hatte, ertönte ein Räuspern, und eine Stimme sagte mit rollenden Rs: »Das hört sich ja alles sehr erfreulich an, Macbeth, aber wo sind die Beweise …« Der Fragesteller sprach das Wort Beweise ganz langsam und so überdeutlich aus, als handelte es sich um ein schwieriges Wort aus einer fremden Sprache. »… gegen diejenigen, die Sie heute niedergemäht haben?«

»Soweit es die Norse Riders betrifft, haben wir Zeugen, die gesehen haben, wie sie auf Banquos Wagen feuerten, und wir haben Fingerabdrücke sowohl auf als auch im Fahrzeug identifiziert. Darüber hinaus Blut auf Banquos Sitz, das identisch ist mit dem Blut der heute Abend im Clubhaus gefundenen Toten. Die Spurensicherung konnte des Weiteren bestätigen, dass einige der Fingerabdrücke auf der Innenseite der Windschutzscheibe übereinstimmen mit denjenigen von …« Macbeth hielt inne. »… Inspector Duff.«

Ein Raunen ging durch den Saal.

»An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich die Arbeit der Kollegen von der Spurensicherung loben. Duff hat sich unmittelbar nach den Morden an den Tatort begeben. Dies war insofern ungewöhnlich, da es niemandem bei der Mordkommission gelungen war, Duff über die Tat selbst zu informieren. Offenkundig hatte er die Intention, die Fingerabdrücke verschwinden zu lassen, sowie weitere Spuren, die er hinterlassen hatte. Die Spurensicherung hat jedoch niemanden, absolut niemanden, in die Nähe des Toten gelassen. Persönlich kann ich noch hinzufügen, dass mein Verdacht, Duff könnte mit den Norse Riders gemeinsame Sache machen, bereits während unseres Einsatzes am Containerhafen gewachsen war. Sowohl das Rauschgiftdezernat als auch wir vom SWAT-Team hatten einen derart eindeutigen Tipp zugespielt bekommen, dass Duff ihn niemals hätte ignorieren können, ohne den Verdacht auf sich zu ziehen, dass er sie schützen wolle. Duff setzte auf clevere Weise einen Zugriff an, der zum Scheitern verurteilt war, mit unerfahrenen Beamten aus seiner eigenen Einheit, zumal in unzureichender Zahl, ohne um Hilfe des Sondereinsatzkommandos zu bitten, was in solchen Fällen der normale Ablauf gewesen wäre. Zum Glück wurden wir auf den Einsatz aufmerksam, und das SWAT-Team hat unabhängig reagiert. Ohne uns selbst beweihräuchern zu wollen, kann ich wohl sagen, dass damit nicht nur der Untergang der Norse Riders eingeläutet wurde, sondern auch der von Inspector Duff. Sie haben sich ihr eigenes Grab geschaufelt, indem sie den Verlust ihrer Drogenlieferung und fünf ihrer Mitglieder dadurch rächten, dass sie zuerst Duncan und später Banquo und seinen Sohn ermordeten. Dies war nun auch das letzte Mal, dass ich Duffs Dienstrang erwähnt habe, was bei uns immer als Ehre verstanden wird, ganz gleich, ob es den höchsten oder den niedrigsten Rang betrifft.« Zu seinem eigenen Missfallen bemerkte Macbeth, dass die leicht zittrige Empörung in seiner Stimme echt war, vollkommen echt.

»Wollen Sie damit wirklich sagen, Macbeth ….«

»Bitte geben Sie ein Zeichen, bevor ….«, setzte Lennox an, aber Macbeth hob beide Handflächen und gab Kite mit einem Nicken zu verstehen, dass er weitersprechen solle. Er war jetzt bereit, es mit diesem verdammten Querulanten aufzunehmen.

»Wollen Sie damit wirklich sagen, Macbeth, dass sich die Polizei für den Verlauf der beiden Operationen keinerlei Kritik gefallen lassen muss? An einem Nachmittag haben Sie sieben Menschen getötet, die Sie eine Stunde vorher aus dem Gefängnis entlassen hatten, sowie neun weitere Gangmitglieder, von denen die meisten keine Strafakte hatten, und sechs Frauen, die, soweit wir wissen, mit irgendwelchen von den Norse Riders verübten Verbrechen nichts zu tun hatten. Dann erzählen Sie uns, dass es auch noch eine getötete Familie in Fife gibt, per definitionem also unschuldige Opfer. Und Sie wollen uns sagen, dass Sie keinen einzigen Fehler begangen haben?«

Macbeth musterte Kite. Der kahle Kopf des Radioreporters wurde von einem Kranz aus dunklem Haar eingefasst, und sein Schnurrbart formte einen zweiten traurigen Mund unter der Nase. Er machte nur Ärger. Macbeth fragte sich, was für ein Schicksal einen solchen Mann erwartete. Er blätterte seine Papiere durch. Fand die Seite, die er für diesen Fall entworfen hatte und zu der Lady und später auch noch Lennox Details ergänzt hatten. Atmete ein. Wusste, dass er sich in völligem Gleichgewicht befand, dass er die perfekte Dosis seiner Medizin eingenommen hatte.

»Mr Kite hat recht«, sagte Macbeth und ließ seinen Blick über die versammelten Journalisten wandern. »Wir haben Fehler gemacht.« Wartete, wartete, bis die Stille im Raum geradezu nach seiner Stimme flehte. Er schaute auf seine Rede hinab. Er musste sie zum Leben erwecken, musste es klingen lassen, als würde er nicht bloß den Text ablesen.

»In einer Demokratie«, begann er, »gibt es Regeln, die festlegen, wann Verdächtige aus der Haft entlassen werden müssen. An diese Regeln haben wir uns gehalten.« Er nickte, als würde er ein Amen hinter seinen Satz setzen. »In einer Demokratie gibt es auch Regeln, die festlegen, dass die Polizei Verdächtige festnehmen kann und muss, wenn es in einem Fall neue Beweismittel gibt. Auch an diese Regeln haben wir uns gehalten.« Weiteres Nicken. »In einer Demokratie gibt es Regeln, die festlegen, wie die Polizei reagieren muss, wenn sich Verdächtige der Verhaftung widersetzen und, wie in diesem Fall, das Feuer auf die Einsatzkräfte eröffnen. Wir haben uns an diese Regeln gehalten.« Natürlich hätte er so fortfahren können, aber drei Varianten von »Wir haben uns an sie gehalten« waren genug. Er hob den Zeigefinger. »Und mehr haben wir nicht getan. Manche haben unser Vorgehen bereits als heldenhaft bezeichnet. Manche als den wirkungsvollsten und sehnlichst herbeigewünschten Polizeieinsatz in der langen Leidensgeschichte dieser Stadt. Manche haben ihn als Wendepunkt im Kampf gegen das Verbrechen auf unseren Straßen beschrieben.« Er sah, wie sein Nicken auf die Zuhörer abgefärbt hatte, er hörte sogar, wie hier und da leise »Ja« gemurmelt wurde. »Ich als Chief Commissioner bin aber der Ansicht, dass wir lediglich unsere Arbeit getan haben. Nicht mehr, als Sie von uns Polizeibeamten mit Fug und Recht erwarten dürfen.«

Oben, in der leeren Galerie, sah er Lennox neben dem Projektor stehen und die Rede in seiner Kopie des Manuskripts mitlesen.

»Aber ich muss zugeben, dass es mir heute Abend ein gutes Gefühl gibt«, sagte Macbeth, »das Wort Polizeibeamte voller Stolz aussprechen zu können. Und jetzt, Herrgott, Leute, lasst uns die Formalitäten für einen Moment beiseiteschieben. Fakt ist, wir haben heute mal so richtig aufgeräumt. Wir haben es Sweno und seinen Mördern mit gleicher Münze heimgezahlt. Wir haben ihnen gezeigt, was sie zu erwarten haben, wenn sie uns unsere besten Männer nehmen …«

Das Licht leuchtete heller um ihn, und er wusste, dass das Dia von Duncan auf der Leinwand hinter ihm aufgetaucht war; bald würde das Foto von Banquo und Fleance in Uniform unter dem Apfelbaum hinter ihrem Haus folgen.

»Aber, es stimmt, wir haben Fehler gemacht. Vor allem den Fehler, dass wir mit dem Aufräumen nicht viel früher angefangen haben! Bevor es zu spät war für Chief Commissioner Duncan. Bevor es zu spät war für Inspector Banquo, der dieser Stadt sein ganzes Leben lang gedient hat. Und bevor es zu spät war für seinen Sohn, Polizeikadett Fleance, der sich darauf freute, es ihm gleichzutun.« Macbeth musste tief einatmen, um das Zittern in seiner Stimme unter Kontrolle zu halten. »Aber heute Nachmittag haben wir gezeigt, dass eine neue Zeit angebrochen ist. Eine neue Zeit, in der Kriminelle nicht länger das Sagen haben. Eine neue Zeit, an deren erstem Tag die Bürger dieser Stadt aufgestanden sind und Nein gesagt haben. Nein, wir werden das nicht mehr zulassen. Nun ist der erste Abend dieser neuen Zeit gekommen. Und in den nächsten Tagen werden wir nicht aufhören, die Straßen dieser Stadt zu säubern, weil unser großes Aufräumen lange noch nicht beendet ist.«

Nachdem Macbeth geendet und sein »Ich danke Ihnen« hinzugefügt hatte, blieb er stehen. Im Sturm des aufbrandenden Applauses stand er da, während Stühle zurückgeschoben wurden, Menschen aufsprangen und sich die Ovationen mit ungebremster Kraft fortsetzten. Er spürte, wie seine Augen feucht wurden, als er die ehrliche Reaktion des zynischen Journalisten auf seine Unwahrheiten sah. Und als Kite ebenfalls aufstand und klatschte, wenn auch in deutlich müderem Tempo, fragte er sich, ob das daran lag, dass der Mann einfach wusste, was gut für ihn war. Weil er sah, dass Macbeth soeben ihre Liebe gewonnen hatte. Macht. Und weil er sehen und hören konnte, dass der neue Chief Commissioner ein Mann war, der keine Angst hatte, diese Macht zu nutzen.


Macbeth marschierte über den Flur hinter der Scone Hall.

Power. Er konnte den Stoff in seinen Adern spüren; die Harmonie war immer noch da. Nicht mehr ganz so vollkommen wie vor einer Weile – die Unsicherheit und Unruhe würden sehr bald zurückkehren –, aber für den Augenblick hatte er noch genug von seiner Medizin. Er würde den Abend einfach genießen. Das Essen und Trinken, Lady, den Blick auf die Stadt, würde alles genießen, was ihm gehörte.

»Gute Rede, Sir«, sagte Seyton, der keine Probleme zu haben schien, mit Macbeths Schritten mitzuhalten.

Lennox stürmte neben ihm her.

»Fantastisch, Macbeth!«, rief er atemlos aus. »Es sind ein paar Journalisten aus Capitol hier, die mit Ihnen ein Interview führen wollen und …«

»Danke, aber nein«, sagte Macbeth, ohne langsamer zu werden. »Keine voreiligen Sieg-Interviews, keine Lorbeeren, bis wir unser Ziel erreicht haben. Gibt es Neuigkeiten über Duff?«

»Sein Wagen wurde in der Stadt gefunden, er parkte neben dem Obelisken. Die Straßen, die aus der Stadt führen, der Flughafen, Passagierschiffe – alles steht unter Beobachtung, seit wir ihn aus Fife in Richtung Stadt haben fahren sehen. Wir wissen also, dass er immer noch irgendwo hier sein muss. Wir haben Banquos Haus überprüft, waren bei seinen Schwiegereltern, aber da ist er auch nicht. Bei diesem Wetter muss man nachts ein Dach überm Kopf haben, deswegen kämmen wir alle Hotels, alle Pensionen, Pubs und Bordelle durch. Jeder, wirklich jeder Beamte jagt Duff heute Nacht.«

»Jagen ist gut, fangen ist besser.«

»Okay, wir fangen ihn. Es ist bloß eine Frage der Zeit.«

»Schön. Könnten Sie uns eine Minute allein lassen?«

»Okay.« Lennox blieb stehen und fiel sofort ein gutes Stück zurück.

»Bedrückt Sie etwas, Seyton? Ihre Verletzung?«

»Nein, Sir.« Seyton nahm seinen Arm aus der Schlinge.

»Nein? Der Sergeant hat Ihnen doch in den Arm geschossen, oder?«

»Ich habe ungewöhnlich gute Wundheilung«, sagte Seyton. »Liegt bei uns in der Familie.«

»Tatsächlich? Das heißt, etwas anderes macht Ihnen Kopfzerbrechen?«

»Zwei Dinge.«

»Raus damit.«

»Das Baby, das wir nach der Schießerei im Clubhaus gefunden und vom Einsatzort entfernt haben.«

»Ja?«

»Ich weiß nicht, was ich damit machen soll. Ich habe es in meinem Büro eingeschlossen.«

»Ich kümmere mich darum«, sagte Macbeth. »Und die zweite Sache?«

»Angus, Sir.«

»Was ist mit ihm?«

»Er hat sich in Fife den Befehlen widersetzt. Er hat sich geweigert, zu schießen, und sich vom Einsatzort zurückgezogen, bevor der Einsatz beendet war. Er nannte ihn ein Abschlachten. Er habe sich nicht zum SWAT-Team gemeldet, um bei so etwas mitzumachen. Ich glaube, es besteht das Risiko, dass er nicht dichthält. Wir müssen etwas unternehmen.«

Sie blieben vor dem Fahrstuhl stehen.

Macbeth rieb sich das Kinn. »Sie glauben also, Angus hat seinen Glauben verloren? Wäre nicht das erste Mal. Hat er Ihnen erzählt, dass er früher Theologie studiert hat?«

»Nein, aber ich rieche so was. Außerdem rennt er immer mit dem scheißhässlichen Kreuz um den Hals in der Gegend rum.«

»Sie sind jetzt der Leiter des SWAT-Teams, Seyton. Was meinen Sie, sollte getan werden?«

»Wir müssen ihn loswerden, Chef.«

»Endgültig?«

»Sie haben selbst gesagt, wir wären im Krieg, Sir. Im Krieg werden Verräter und Feiglinge mit dem Tode bestraft. Wir machen es genauso wie bei Duff: Wir lassen durchsickern, dass er korrupt ist, und tun so, als hätte er sich der Verhaftung widersetzt.«

»Lassen Sie mich darüber nachdenken. Im Augenblick stehen wir zu sehr im Rampenlicht und müssen Zusammenhalt und Einigkeit demonstrieren. Cawdor, Malcolm, Duff und nun auch noch Angus. Das sind zu viele. Der Stadt gefallen tote Verbrecher besser als scheinheilige Polizisten. Wo steckt er?«

»Er sitzt allein im Untergeschoss und schmollt. Will mit niemandem reden.«

»Okay. Ich werde mich mal mit ihm unterhalten, bevor wir etwas unternehmen.«


Macbeth fand Angus im SWAT-Aufenthaltsraum. Er hatte den Kopf auf die Hände gestützt und reagierte kaum, als Macbeth einen großen Schuhkarton auf den Tisch stellte und sich ihm gegenüber auf einen Stuhl setzte.

»Ich habe gehört, was passiert ist. Wie geht’s Ihnen?«

Keine Antwort.

»Sie sind ein Bursche mit Prinzipien, Angus. Das gehört zu dem, was ich an Ihnen so mag. Prinzipien sind Ihnen wichtig, nicht wahr?«

Angus hob den Kopf und schaute Macbeth mit blutunterlaufenen Augen an.

»Ich kann sehen, wie es Ihnen gerade in den Augen brennt«, sagte Macbeth. »Die rechtschaffene Empörung wärmt Ihnen das Herz, nicht wahr? Jetzt kommen Sie sich vor wie der Mensch, der Sie gerne wären. Aber wenn die Bruderschaft ein echtes Opfer fordert, wollen wir manchmal genau dies von Ihnen, Angus. Ihre Prinzipien. Dass Sie die gemütliche Wärme eines reinen Gewissens aufgeben. Dass Sie von denselben Albträumen geweckt werden wie wir. Dass Sie das aufgeben, was Ihnen am Kostbarsten ist. So wie Ihr früherer Gott von Abraham verlangt hat, seinen Sohn aufzugeben.«

Angus räusperte sich, aber seine Stimme klang immer noch heiser. »Ich kann etwas aufgeben. Aber wofür?«

»Für das langfristige Ziel. Für das Gemeinwohl. Für die Stadt, Angus.«

Angus schnaufte verächtlich. »Können Sie mir erklären, wie das Töten von unschuldigen Menschen dem Gemeinwohl dienen soll?«

»Vor fünfundzwanzig Jahren hat ein amerikanischer Präsident über zwei japanischen Städten Atombomben abwerfen lassen, die bevölkert waren mit Kindern, Zivilisten und Unschuldigen. Das hat einen Krieg beendet. Mit dieser Art von Paradox quält uns Gott.«

»Das ist leicht gesagt. Sie waren ja nicht dort.«

»Ich weiß, was es kostet, Angus. Vor Kurzem habe ich einem Unschuldigen zum Wohl der Gemeinschaft die Kehle durchgeschnitten. Ich schlafe nachts nicht gut. Der Zweifel, die Scham, das Schuldgefühl, sie gehören zu dem Preis, den wir zahlen müssen, wenn wir wirklich etwas Gutes bewirken und uns nicht bloß in unserer allzu bequemen Selbstgerechtigkeit sonnen wollen.«

»Gott existiert nicht, und ich bin kein Präsident.«

»Das stimmt«, sagte Macbeth und hob den Deckel vom Schuhkarton. »Aber da ich hier im Haus beides bin, gebe ich Ihnen die Chance, den Fehler, den Sie in Fife begangen haben, wiedergutzumachen.«

Angus spähte in den Karton. Und zuckte entsetzt in seinem Stuhl zurück.

»Nehmen Sie das hier und verbrennen Sie es heute Nacht in einem der Estex-Hochöfen.«

Angus schluckte, bleich wie der Tod. »Das ist das B-b-baby aus dem Clubhaus …«

»Soldaten, die an vorderster Front kämpfen, wie Sie und ich, wissen, dass im Krieg Unschuldige ihr Leben lassen müssen, aber die Leute zu Hause, für die wir kämpfen, wissen das nicht. Deshalb halten wir solche Dinge vor ihnen verborgen, damit sie nicht hysterisch werden. Werden Sie jetzt hysterisch, Angus?«

»Ich … ich …«

»Hören Sie zu, mit diesem Auftrag beweise ich mein Vertrauen in Sie. Sie können damit zur Estex-Fabrik fahren oder es dazu nutzen, ihre SWAT-Brüder anzuzeigen. Ich lasse Ihnen die Wahl. Weil ich wissen muss, dass ich Ihnen vertrauen kann.«

Angus schüttelte den Kopf, ein Schluchzen brach aus ihm hervor. »Sie müssen mich zu Ihrem Komplizen machen, damit Sie mir vertrauen können!«

»Sie sind bereits ein Komplize«, entgegnete Macbeth. »Ich muss nur wissen, ob Sie wirklich stark genug sind, die Schuld zu tragen, ohne dass unsere Mitbürger herausfinden, welchen Preis wir zahlen, um sie zu verteidigen. Nur dann kann ich sicher sein, dass Sie ein richtiger Mann sind, Angus.«

»Das klingt so, als wären wir die Opfer und nicht dieses Kind. Ich kann das nicht tun! Dann lasse ich mich lieber erschießen.«

Macbeth schaute Angus an. Er verspürte keine Wut. Vielleicht weil er Angus mochte. Vielleicht weil er wusste, dass Angus ihnen nichts anhaben konnte. Vor allem aber, weil er ihm leidtat. Macbeth legte den Deckel wieder auf den Schuhkarton und stand auf.

»Warten Sie«, sagte Angus. »W-wie werden Sie mich bestrafen?«

»Oh, Sie werden sich schon selbst bestrafen«, entgegnete Macbeth. »Lesen Sie, was auf unserem Banner steht. Es wird nicht das Schreien des Kindes sein, das Sie hören werden, wenn Sie schwitzend aus Ihren Albträumen erwachen, sondern diese Worte: Treue, Brüderlichkeit, getauft in Feuer, vereint in Blut.«

Er nahm den Schuhkarton und verließ den Raum.


Es war immer noch mehr als eine Stunde Zeit bis Mitternacht, als Macbeth die Tür der Suite aufschloss.

Lady stand mit dem Rücken zu ihm am Fenster. Der Raum war schwach beleuchtet von einer einzelnen Kerze, und sie trug ein Abendkleid. Er legte den Schuhkarton auf den Tisch unter dem Spiegel, ging zu ihr hinüber und küsste sie in den Nacken.

»Der Strom fiel gerade aus, als ich hier angekommen bin«, sagte er. »Jack überprüft den Sicherungskasten. Ich hoffe, keiner der Gäste nutzt die Gelegenheit, um mit der Kaffeekasse durchzubrennen.«

»Über die Hälfte der Stadt hat keinen Strom mehr«, sagte sie und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Ich kann es von hier aus sehen. Was hast du da in dem Schuhkarton?«

»Was hat man denn normalerweise in einem Schuhkarton?«

»Du hast ihn hier reingetragen, als wäre eine Bombe drin.«

In diesem Augenblick zuckte ein riesiger Blitz wie eine leuchtend weiße Ader über den Himmel, und kurz erhaschten sie einen Blick auf die Stadt. Dann war es wieder finster, und der Donner rollte herbei.

»Ist es nicht schön?«, fragte er und atmete den Duft ihrer Haare ein.

»Ich weiß ja nicht, was es ist.«

»Ich meinte die Stadt. Und sie wird noch schöner werden. Wenn Duff nicht mehr in ihr lebt.«

»Sie wird immer noch einen Bürgermeister haben, der sie hässlich macht. Willst du mir nicht sagen, was in dem Karton ist?« Ihre Stimme klang belegt, als wäre sie gerade erst aufgewacht.

»Bloß etwas, das ich verbrennen muss. Ich werde Jack bitten, es morgen zum Hochofen von Estex zu fahren.«

»Ich will auch verbrannt werden, Liebster.«

Macbeth versteifte sich. Was hatte sie gesagt? Schlafwandelte sie? Aber Schlafwandler konnten doch keine Gespräche führen, oder?

»Ihr habt Duff also noch nicht gefunden?«, fragte sie.

»Noch nicht, aber wir suchen überall.«

»Der arme Mann. Hat seine Kinder verloren und ist jetzt ganz allein.«

»Irgendwer hilft ihm. Sonst hätten wir ihn längst gefunden. Ich traue Lennox nicht.«

»Weil du weißt, dass er Hecate dient – und seiner Droge?«

»Weil Lennox im Grunde schwach ist. Womöglich wird er weich und lässt sich in eine Verschwörung gegen uns hineinziehen, so wie Banquo. Vielleicht versteckt er Duff. Ich sollte ihn verhaften lassen. Seyton hat mir erzählt, dass sie den Häftlingen unter Kenneth Elektroschocks im Schritt verpasst haben, wenn sie nicht reden wollten. Und dann noch einen letzten, um sie vom Reden abzuhalten.«

»Nein.«

»Nein?«

»Nein. Einen deiner eigenen Abteilungsleiter zu verhaften, würde im Augenblick nicht gut aussehen. Vorläufig ist der allgemeine Eindruck, dass du mit Duff und Malcolm zwei verrottete Äpfel vom Baum gerissen hast. Bei dreien würde es aussehen wie eine Säuberungsaktion. Und so was wirft kein gutes Licht auf die, die nicht davon betroffen sind, und auch nicht auf den Mann an der Spitze. Wir wollen doch nicht, dass Tourtell Bedenken gegen deine Ernennung kommen. Und was die Elektroschocks anbelangt – im Augenblick gibt es keine Elektrizität in diesem Teil der Stadt.«

»Was soll ich dann tun?«

»Klingle den Elektriker aus dem Bett, damit er den Schaden repariert.«

»Du bist schwierig heute Abend, Liebste. Heute Abend solltest du dich mit mir verbünden, mich als Held feiern.«

»Und du mich als Heldin, Macbeth. Hast du Caithness überprüft?«

»Caithness? Was bringt dich auf die Idee, dass sie etwas damit zu tun hat?«

»Während des Abendessens damals hat Duff behauptet, er würde bei einem Cousin übernachten.«

»Ja, das hat er erwähnt.«

»Und du warst nicht überrascht, dass ein Waisenjunge einen Onkel in der Stadt hat?«

»Nicht alle Onkel können ein Kind auf….« Macbeth runzelte die Stirn. »Du meinst, Duff und Caithness …«

»Lieber Macbeth, mein Held, du warst immer ein schlichtes Gemüt und wirst es auch bleiben. Du brauchst den Blick einer Frau, um zu erkennen, wie sich zwei verliebte Menschen anschauen.«

Macbeth blinzelte in der Dunkelheit. Dann legte er seine Arme um sie, schloss die Augen und zog sie an sich. Wie hätte er ohne sie überleben sollen? »Nur wenn wir beide vor dem Spiegel stehen, kann ich es sehen«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Danke dir, mein Schatz. Geh jetzt ins Bett. Ich sage Lennox Bescheid, dass er sofort zu Caithness fahren soll.«

»Er ist wieder da«, sagte sie.

»Wer?«

»Der Strom. Unsere Stadt hat wieder Licht.«

Macbeth öffnete die Augen und sah in ihr Gesicht. Schaute an ihrer beider Körper herab. Sie leuchteten rot von der Bacardi-Neonreklame auf der anderen Seite der Thrift Street.


»Lennox?« Caithness war bereits derartig durchgefroren, dass ihr die Zähne klapperten, während sie mit verschränkten Armen in der Tür zu ihrer Wohnung stand. »Police Officer Seyton?«

»Inspector Seyton«, sagte der dünne Beamte, schob sie beiseite und trat ein.

»Was soll das denn bedeuten?«, fragte sie.

»Tut mir leid, Caithness«, sagte Lennox. »Wir haben unsere Order. Ist Duff hier?«

»Duff? Warum in aller Welt sollte der hier sein?«

»Und warum in aller Welt sollten Sie es zugeben?«, entgegnete Seyton und wies die vier mit Maschinenpistolen bewaffneten Männer in SWAT-Uniformen an, sich auf die vier Räume der Wohnung zu verteilen. »Wenn er hier ist, dann weil Sie ihn versteckt halten. Sie wissen sehr wohl, dass nach ihm gefahndet wird.«

»Fühlen Sie sich wie zu Hause.«

»Herzlichen Dank für Ihre Erlaubnis«, entgegnete Seyton bissig. Musterte sie so, dass sie sich wünschte, mehr am Leib zu tragen als ihr dünnes Nachthemd. Dann lächelte er. Caithness erschauderte. Seine Mundwinkel hoben sich, fast bis zu seinen leicht schrägen Augen, sodass er aussah wie eine Schlange.

»Versuchen Sie hier gerade, Zeit zu schinden?«, fragte er.

»Zeit schinden?«, wiederholte sie und hoffte, er würde die Angst in ihrer Stimme nicht bemerken.

»Sir?« Es war einer der Männer. »Es gibt hier eine Tür zur Feuertreppe.«

»Ach ja?«, erwiderte Seyton, ohne seine Augen von Caithness zu nehmen. »Wie interessant. Als wir unten geklingelt haben, haben Sie die Katze also rasch durch die Klappe huschen lassen, was?«

»Keineswegs.«

»Ihnen ist das Strafmaß für eine Falschaussage gegenüber Polizeibeamten natürlich bekannt – zuzüglich zu dem für das Verstecken eines Kriminellen?«

»Ich lüge nicht, Police Officer Seyton.«

»Inspec…« Er hielt inne, setzte erneut sein Lächeln auf. »Hier haben Sie es mit den SWATs zu tun, Miss Caithness. Wir verstehen etwas von unserem Job. Wir studieren beispielsweise den Grundriss eines Gebäudes, bevor wir es betreten.« Er hob sein Funkgerät zum Mund. »Alpha ruft Charlie. Irgendwelche Anzeichen von Duff bei der Feuertreppentür? Over.«

Das kurze rauschende Knacken, als er den Knopf des Funkgerätes drückte, erinnerte sie an Wellen, die in weiter, weiter Ferne auf einen Strand rollen.

»Noch nicht, Alpha«, ertönte als Antwort. »Bedingungen für eine kontrollierte Festnahme sind sehr gut hier. Können Sie bestätigen, dass auf die Zielperson bei Sichtkontakt sofort geschossen werden soll? Over.«

Caithness bemerkte, wie sich Seytons Blick verhärtete und seine Stimme schärfer wurde. »Duff ist gefährlich. Der Befehl kommt direkt vom Chief Commissioner und muss buchstabengetreu ausgeführt werden.«

»Roger. Over.«

Die vier Männer kamen zurück ins Wohnzimmer. »Er ist nicht hier, Sir.«

»Nichts?«

»Ich hab das hier auf dem Schlafzimmerboden gefunden, neben der Tür zur Feuertreppe.« Einer von ihnen hatte einen Tennisschläger und Damenschmuck in der Hand.

Seyton nahm ihm den Schläger ab und beugte sich über die Hand, die den Schmuck hielt. Caithness kam es fast vor, als schnupperte er daran. Dann drehte er sich wieder zu ihr um und streckte auf obszöne Art den Griff des Schlägers aus.

»Ein ziemlich großer Schläger für Ihre kleine Hand, Miss Caithness. Und schmeißen Sie Ihre Ohrringe immer auf den Boden?«

Caithness streckte sich. Atmete ein. »Ich würde sagen, es ist keine ungewöhnliche Angewohnheit, Police Officer. Man nennt es Perlen vor die Säue werfen. Aber man lernt ja nie aus. Wenn Sie hier mit dem Durchsuchen fertig sind und die Katze auf der Treppe liquidiert wurde, würde ich jetzt gerne wieder schlafen gehen. Gute Nacht, meine Herren.«

Sie sah, wie Seytons Augen schwarz wurden und sich sein Mund öffnete, aber er biss sich auf die Zunge, als Lennox ihm eine Hand auf die Schulter legte.

»Bitte entschuldigen Sie die Störung, Caithness. Aber als Kollegin müssen Sie verstehen, dass wir in diesem Fall keinen Stein auf dem anderen lassen dürfen.«

Lennox und die Übrigen bewegten sich auf die Wohnungstür zu, aber Seyton rührte sich nicht vom Fleck. »Auch wenn uns der Dreck, den wir darunter finden, nicht immer gefällt«, sagte er. »Dann hat er Ihnen wohl keinen Ehering gekauft, nehme ich an?«

»Was wollen Sie, Seyton?«

Sein abstoßendes Lächeln kehrte zurück. »Ja, was wollen wir?«

Dann drehte er sich um und ging.

Sie schloss hinter ihm die Tür. Drückte ihren Rücken dagegen. Wo war Duff? Wo war er letzte Nacht gewesen? Und was wünschte sie ihm? Die Hölle, in der er sich befinden musste, oder die Erlösung, die er nicht verdient hatte?


Lennox starrte durch den Regen, der die Windschutzscheibe hinunterrann und das rote Licht der Ampel verschwimmen ließ. Gott, wie er sich danach sehnte, diese Stunden, diese Schicht, diese ganze Nacht endgültig hinter sich zu haben. In seinem Wohnzimmer zu entspannen, sich ein Glas Whiskey einzuschenken und etwas Brew unterzumischen. Er war nicht süchtig. Zumindest nicht so sehr, dass es ein Problem gewesen wäre. Er war Konsument, aber er hielt Maß, er hatte immer noch die Kontrolle, nicht der Stoff. Einer der wenigen Glücklichen, die Drogen nehmen konnten und trotzdem in einem fordernden Beruf und als Ehemann und Vater funktionierten. Ja, der Stoff half ihm sogar zu funktionieren. Er war sich nicht sicher, ob er ohne die Pausen bei der Arbeit klargekommen wäre, ob er es geschafft hätte, alles im Gleichgewicht zu halten, einen Schritt nach dem anderen zu tun. Kompromisse zu machen, wo es nötig war, lächelnd Scheiße zu fressen, das Boot nicht zum Kentern zu bringen, zu verstehen, dass andere das Kommando gaben, sich nach dem Wind zu drehen. Aber eines Tages würde er wohl an der Reihe sein und selbst das Kommando übernehmen. Und wenn nicht, waren andere Dinge ohnehin wichtiger. Seine Familie – für sie arbeitete er. Damit er und Sheila sich ein geräumiges Haus in einem sicheren Viertel im Westen der Stadt leisten und ihre drei reizenden Kinder auf eine gute Schule schicken konnten, wo ihnen anständige Werte beigebracht wurden. Damit sie sich einmal pro Jahr einen wohlverdienten Urlaub am Mittelmeer erlauben und ihre Krankenversicherung zahlen konnten, den Zahnarzt und all diese Dinge. Gott, wie sehr er seine Familie liebte. Manchmal senkte er die Zeitung und schaute sie bloß an, wie sie geschäftig im Haus hin und her huschten. Dann dachte er: Das ist ein Geschenk, ein Glück, das ich nie erwartet habe. Die Liebe von anderen. Er, den sie früher Albert Albino genannt hatten, der in jeder Schulpause zusammengeschlagen worden war, bis er ein ärztliches Attest erhalten hatte, das besagte, dass er kein Sonnenlicht vertrug und in den Pausen alleine im Klassenraum zurückbleiben durfte. Weiß, klein und empfindlich war er gewesen, aber er hatte auch eine große Klappe gehabt. So hatte er sich auch Sheila geangelt – indem er laut und wortgewandt für sie beide redete. Umso mehr, nachdem er zum ersten Mal Kokain ausprobiert hatte. Nur der Stoff hatte ihn zu einer besseren Version seiner selbst gemacht, energisch, hartnäckig und furchtlos. Zumindest für eine Weile. Später war der Stoff eine Notwendigkeit geworden, damit er nicht zu einer schlechteren Version seiner selbst verkam. Dann hatte er die Droge gewechselt in der Hoffnung, dass es für ihn noch einen anderen Weg geben würde außer der Sackgasse Kokain. Maximal ein Schuss pro Tag. Nicht mehr. Manche brauchten fünf. Die, die nicht mehr funktionierten. Davon war er weit entfernt. Sein Vater hatte sich geirrt, er hatte durchaus Rückgrat. Er hatte die Kontrolle und alles im Griff.

»Alles im Griff?«

Lennox zuckte zusammen. »Was?«

»Ihre Liste«, sagte Seyton vom Rücksitz. »Was ist noch übrig?«

Lennox gähnte. »Hauptquartier. Das ist die letzte Möglichkeit.«

»Das Hauptquartier ist riesig.«

»Ja, aber laut dem Hausmeister hat Duff nur drei Schlüssel. Einen fürs Rauschgiftdezernat und einen für die Mordkommission.«

»Und der dritte?«

»Die Garage der Spurensicherung. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass er sich da unten im Keller eine Lungenentzündung einhandeln will, wenn er sich ebenso gut unter einem Schreibtisch in einem warmen, trockenen Büro verstecken kann.«

Im Funkgerät knackte es, und eine nasale Stimme informierte sie darüber, dass sämtliche Räume im Obelisken, einschließlich der Penthouse-Suite, erfolglos durchsucht worden waren.

Der Hausmeister wartete bereits mit einem großen Schlüsselbund vor dem Personaleingang des Hauptquartiers. Lennox, Seyton und acht Beamte benötigten weniger als zwanzig Minuten, um die Räume des Rauschgiftdezernats zu durchsuchen. Noch weniger für die Mordkommission. Sogar unter den Deckenplatten und in den Rohren des Lüftungssystems sahen sie nach.

»Das war’s dann wohl.« Lennox gähnte. »Schluss für heute. Gönnt euch ein paar Stunden Schlaf. Wir machen morgen weiter.«

»Die Garage«, wandte Seyton ein.

»Wie schon gesagt …«

»Die Garage.«

Lennox zuckte mit den Schultern. »Sie haben ja recht. Wird nicht lange dauern. Jungs, ihr fahrt nach Hause, Seyton, Olafson und ich überprüfen die Garage.«

Sie stiegen in den Fahrstuhl und fuhren ins Untergeschoss, begleitet vom Hausmeister, der ihnen aufschloss und das Licht anschaltete.

Während der Strom seine Zeit brauchte, um die Phosphate in den Neonröhren zum Fluoreszieren zu bringen, horchte Lennox auf.

»Haben Sie das gehört?«, flüsterte er.

»Nein«, sagte der Hausmeister. »Aber wenn überhaupt, waren es garantiert die Ratten.«

Lennox hatte seine Zweifel. Es war kein Rascheln oder Trippeln gewesen, sondern ein Quietschen. Wie von Schuhen.

»Die reinste Plage«, seufzte der Hausmeister. »Ich werde die Viecher einfach nicht los, nicht hier unten.«

Der große Kellerraum war leer, abgesehen von einem Laborwagen, auf dem verschiedene Werkzeuge lagen, und Banquos Volvo, der neben der Garagentür von einer Plane bedeckt war. Entlang der Wand sahen sie fünf verschlossene Türen.

»Wenn Sie Ratten loswerden wollen«, sagte Seyton und entsicherte seine Maschinenpistole, »wenden Sie sich einfach an mich. Olafson, fangen wir links an.«

Lennox sah zu, wie der kahlköpfige Mann sich rasch und lautlos durch den Raum bewegte. Olafson blieb ihm dicht auf den Fersen. Sie nahmen sich eine Tür nach der anderen vor, als würden sie einen perfekt choreografierten Tanz aufführen. Seyton öffnete sie, Olafson ging mit seiner an die Schulter gepressten Waffe hinein und auf die Knie, dann folgte ihm Seyton und trat an ihm vorbei. Lennox zählte die Minuten. So langsam war er spät dran für seinen Schuss, das spürte er. Da, endlich der letzte Raum. Seyton griff nach der Klinke.

»Abgeschlossen!«, brüllte er.

»Ach ja, die Dunkelkammer ist immer abgeschlossen«, sagte der Hausmeister. »Fotos sind schließlich Beweismittel. Für den Raum hat Duff keinen Schlüssel. Zumindest hat er von mir keinen bekommen.«

»Dann können wir ja jetzt gehen«, sagte Lennox.

Seyton und Olafson senkten die kurzen Läufe ihrer Maschinenpistolen und kamen auf sie zu. Der Hausmeister hielt ihnen die Tür auf.

Endlich.

Seyton streckte seine Hand aus. »Den Schlüssel.«

»Was?«

»Zur Dunkelkammer.«

Der Hausmeister zögerte und warf einen Seitenblick auf Lennox. Als dieser seufzend nickte, zog er einen der Schlüssel von seinem Bund und reichte ihn Seyton.

»Was macht er da?«, fragte der Hausmeister, während sie zusahen, wie Seyton und Olafson an dem Volvo vorbei zur Dunkelkammertür gingen.

»Seinen Job«, knurrte Lennox.

»Ich meine mit seiner Nase. Sieht aus, als würde er irgendwas wittern, wie ein Tier.«

Lennox nickte. Er war also nicht der Einzige, der bemerkte, dass Seyton dazu in der Lage war, seine Gestalt zu verändern in ein … er wusste nicht, was. Jedenfalls in etwas, das nicht menschlich war.


Seyton konnte ihn jetzt riechen. Dieser Geruch. Derselbe wie in dem Haus in Fife und in Caithness’ Wohnung. Entweder war er hier oder erst kürzlich hier gewesen. Seyton drehte den Schlüssel im Schloss und stieß die Tür auf. Olafson ging in die Knie. Als der Hausmeister den Lichtschalter an der Eingangstür gedrückt hatte, waren sämtliche Lampen in der Garage und in den angrenzenden Räumen angegangen, aber hier drin war es noch immer dunkel. Natürlich. Eine Dunkelkammer.

Seyton ging hinein. Die Chemikalien überdeckten den Geruch seiner Beute, Duffs Geruch. Er fand den Lichtschalter neben der Tür, legte ihn um, aber noch immer wurde es nicht hell. Vielleicht war während des Stromausfalls die Sicherung durchgebrannt. Oder jemand hatte die Glühbirne herausgedreht. Seyton schaltete seine Taschenlampe ein. Über dem Arbeitstisch hingen mehrere große Fotos an einer Schnur. Seyton ließ das Licht darübergleiten. Sie zeigten einen Dolch, dessen Griff und Klinge mit Blut bedeckt waren. Duff war hier gewesen. Seyton war sich vollkommen sicher.

»Hey! Was ist denn los da drin?« Das war Lennox. Das kleine Albino-Weichei wollte nach Hause. Er schwitzte und gähnte schon die ganze Zeit. Das verdammte alte Weib.

»Komme«, rief Seyton und schaltete die Taschenlampe aus. »Na los, Olafson.«

Seyton ließ Olafson vorgehen. Schloss hinter ihm die Tür, blieb aber im Raum zurück. Lauschte in die Dunkelheit. Bis Duff glauben würde, die Luft sei rein, und sich entspannte. Seyton hob seine Waffe vor den Fotos. Drückte ab. Die Waffe erzitterte in seinen Händen, während er sie kreuzförmig führte, und das Knallen schlug mit voller Wucht gegen sein Trommelfell. Dann schaltete er wieder die Taschenlampe ein, ging zu den perforierten Fotos hinüber und zog sie beiseite.

Starrte die Einschusslöcher in der Wand dahinter an.

Kein Duff.

Die Explosionen klirrten immer noch in seinen Ohren. Ihm fiel auf, dass eins der beiden Löcher besonders tief war – zwei Kugeln mussten dieselbe Stelle getroffen haben. Zufall.

Natürlich.

Seyton marschierte zu den anderen hinaus.

»Was war das denn?«, fragte Lennox.

»Mir haben die Fotos nicht gefallen«, sagte Seyton. »Es gibt noch einen Ort, den wir vergessen haben.«

»Ja«, stöhnte Lennox. »Unsere Betten.«

»Duff denkt wie die Leute damals bei den Bombenangriffen im Krieg. Er versteckt sich in einem Krater, weil er glaubt, dass niemals zwei Bomben auf dieselbe Stelle fallen.«

»Was zur Hölle …?«

»Er ist wieder in seinem Haus in Fife. Na los, kommt!«


Die Ratte schoss aus ihrem Versteck, sobald das Licht in der Garage wieder ausgegangen war. Als sie hörte, wie die Tür zugeschlagen wurde und sich die Schritte entfernten, trippelte sie über den feuchten Backsteinboden auf den Wagen in der Mitte des Raumes zu. Auf dem Fahrersitz war Blut, das sie anzog. Süß, nahrhaft und Tage alt. Sie musste lediglich durch die Plane, die über das Auto gebreitet worden war. Vorhin, bevor sie gestört worden war, hatte sie es fast geschafft. Jetzt knabberte sie sich durch das letzte Stück und zwängte sich hinein. Sie huschte über den Boden auf der Beifahrerseite, am Schaltknüppel vorbei und bis zur Gummimatte auf der Fahrerseite. Über ein Paar Lederschuhe. Zuckte zurück, als einer der beiden Schuhe quietschte und sich bewegte. Sie bäumte sich auf und stieß ein Zischen aus. Der schöne, blutbefleckte Fahrersitz war besetzt.


Duff hörte das Rascheln der flüchtenden Ratte. Dann löste er seinen angespannten Griff vom Lenkrad. Er spürte, dass sein Herz nicht mehr hämmerte, es schlug nur noch. Während Seyton und seine Männer in der Garage gewesen waren, hatte es so laut geklopft, dass er sicher gewesen war, sie müssten es hören. Er schaute auf seine Uhr. Immer noch fünf Stunden bis Tagesanbruch. Er versuchte, seine Position zu ändern, aber seine Hose klebte an dem Blut auf dem Sitz fest. Banquos Blut. Er kam nicht vom Fleck. Aber er musste. Weg. Weiterziehen.

Aber wohin? Und wie?

Auf seiner Flucht hatte er sich überlegt, dass es leichter sein würde, in die Stadt zu fahren und in der Menge unterzutauchen, als über eine Landstraße zu entkommen. Er hatte seinen Wagen nicht weit entfernt vom Obelisken abgestellt und war ins Casino gegangen, schließlich war dies, neben dem Inverness, der einzige Laden der Stadt, der die ganze Nacht offen hatte. Natürlich konnte er sich kein Zimmer nehmen; Übernachtungsgäste wären die Ersten, die Macbeth überprüfen ließ. Aber er konnte in einer der langen Reihen einarmiger Banditen sitzen, so einsam und ungestört wie der Nebenmann am nächsten Apparat, Münzen einwerfen und sich langsam ausrauben lassen. Das hatte er auch getan und darüber nachgedacht – versucht, darüber nachzudenken –, wie er fliehen konnte, während er die sich drehenden Symbole in den drei kleinen Fenstern angestarrt hatte. Ein Herz. Ein Dolch. Eine Krone. Nach ein paar Stunden ging er zur Bar, um ein Bier zu trinken und zu sehen, ob das seine Laune bessern könnte. Im stumm geschalteten Fernseher über dem Barkeeper sah er die Pressekonferenz im Polizeihauptquartier. Plötzlich tauchte ein vertrautes Gesicht auf dem Bildschirm auf, über das diagonal eine weiße Narbe verlief wie bei einem Verkehrsschild. Eine Großaufnahme von ihm selbst. Darüber das Wort GESUCHT. Tief gebeugt und mit hochgestelltem Kragen huschte Duff zum Ausgang. Die frische Abendluft kühlte seinen Kopf immerhin so weit, dass ihm ihr altes Liebesnest wieder einfiel: Die Garage war die beste Option für eine Übernachtung.

Aber bald würde der Freitag anbrechen, ein Arbeitstag, und er musste hier raus, bevor die Kollegen auftauchten. Draußen wiederum würde sein Gesicht an sämtlichen Zeitungsständen prangen.

Duff schob die Hand in seine Jackentasche. Spürte das glatte Papier unter seinen Fingern. Holte das Paket heraus. Er konnte nichts dagegen tun: Er musste sich Ewans Gesicht vorstellen, wenn er sah, dass er genau das bekam, was er sich gewünscht hatte. Duff hörte sein eigenes wildes Schluchzen. Halt! Er musste aufhören damit! Er hatte sich versprochen, jetzt nicht an sie zu denken. Trauer war ein Luxus, den er sich später erlauben konnte, falls er überlebte. Er schaltete das Innenlicht des Volvos ein, wischte sich die Tränen ab und entfernte das Geschenkpapier. Dann holte er den falschen Bart heraus und öffnete die kleine Tube. Er drückte den glänzenden Klebstoff heraus, verteilte ihn auf seinem Kinn, um seine Lippen herum und auf der Innenseite des Bartes. Benutzte den Rückspiegel, um ihn an den richtigen Stellen festzudrücken. Zog sich die enge Wollmütze über die Stirn, sodass der obere Teil seiner Narbe verborgen war. Dann setzte er die Brille auf. Das geradezu lächerlich breite Gestell bedeckte die Narbe auf seiner Wange oberhalb des Bartes. Im Spiegel sah er, dass er Klebstoff auf der Wange hatte. Suchte vergebens in seinen Taschen nach etwas zum Abwischen. Er öffnete das Handschuhfach, fand ein Notizbuch, nahm es heraus und war gerade im Begriff, die erste Seite herauszureißen. Dann hielt er inne. Im Licht sah er Abdrücke auf dem Papier. Jemand hatte in diesem Notizbuch erst vor Kurzem etwas aufgeschrieben. Na und? Er riss die Seite heraus, wischte sich den Klebstoff ab. Knüllte den Zettel zusammen und steckte ihn in seine Jackentasche. Legte das Notizbuch zurück ins Handschuhfach.

Also.

Er lehnte sich im Sitz zurück. Schloss die Augen.

Fünf Stunden. Warum hatte er den Bart nur so früh angelegt? Das Ding juckte jetzt schon. Er fing neuerlich an zu grübeln. Kämpfte dagegen an, seine Gedanken auf Fife zu richten. Er musste einen Ort finden, an dem er sich verstecken konnte. Alle Straßen raus aus der Stadt würden abgeriegelt sein. Nirgends konnte er unterschlüpfen, alle Herbergen und Hotels waren natürlich gewarnt, und auch außerhalb der Stadt würde niemand einen gesuchten Polizistenmörder bei sich aufnehmen. Dann wurde ihm blitzartig etwas klar. Er kannte niemanden, der ihm helfen würde. Nicht hier und nirgendwo sonst. Er war die Art Mensch, mit der die Leute einigermaßen zurechtkamen. Es war nicht so, dass sie ihn bewusst nicht ausstehen konnten, aber sie mochten ihn auch nicht. Und warum sollten sie? Was hatte er je für einen anderen getan, das ihm nicht selbst einen Vorteil verschafft hätte? Er hatte Verbündete, keine Freunde. Und jetzt, da Duff wirklich Hilfe brauchte, einen Freund, eine Schulter, an der er sich ausweinen konnte, war es hoffnungslos, er konnte auf niemanden zählen. Er musterte sein erbärmliches, verkrampftes, bärtiges Spiegelbild. Der Fuchs. Die Jäger kesselten ihn immer weiter ein, und Seyton, Macbeths neuer Jagdhund an der Spitze des Rudels, kläffte bereits an seinen Fersen. Er musste weg. Doch wohin? Wo würde der Fuchs ein Loch finden, in dem er sich verkriechen konnte?

Fünf Stunden bis Tagesanbruch. Bis Freitag. Ewans Geburtstag …

Nein! Nicht weinen! Überleben! Ein toter Mann kann keine Rache üben.

Er musste wach bleiben, bis es hell wurde, und dann nach einem neuen Versteck suchen. Vielleicht in einer der stillgelegten Fabriken. Nein, die Idee hatte er bereits verworfen. Macbeth wusste ebenso gut wie er, wo er versuchen würde abzutauchen. Scheiße! Jetzt drehte er sich im Kreis, stieß bloß immer wieder auf seine eigenen Spuren, wie alle, die sich verliefen.

Er war so müde, aber er musste wach bleiben, bis es hell wurde. Ewan war nicht mal zehn Jahre alt geworden. Scheiße! Er suchte nach etwas, womit er sich ablenken konnte. Er las alle Anzeigen auf dem Armaturenbrett. Holte den zerknüllten Zettel aus seiner Jackentasche und strich ihn glatt. Versuchte die Schrift zu entziffern. Kramte im Handschuhfach, bis er einen Bleistift gefunden hatte. Hielt ihn seitlich übers Papier und schraffierte über die Abdrücke hinweg. Was auf die ausgerissene Seite geschrieben worden war, hob sich jetzt leuchtend weiß ab:


Dolphin. Tannery Str. 66, Distrikt 6. Alfie. Sicherer Unterschlupf.


Eine Adresse. Es gab eine Tannery Street in der Stadt, aber keinen Distrikt 6. Und er kannte auch nur eine weitere Stadt, die in Distrikte unterteilt war. Capitol. Wann diese Notiz wohl geschrieben worden war? Er hatte keine Ahnung, wie lange der Abdruck eines Bleistifts brauchte, um wieder zu verschwinden. Und was sollte Sicherer Unterschlupf bedeuten?

Duff schaltete das Licht aus und schloss die Augen. Vielleicht ein kleines Nickerchen?

Capitol. Freitag. Diese Kombination hatte er doch erst kürzlich irgendwo gesehen.

Duff versank in einen Traum, in dem beide Worte vorzukommen schienen, bis er unvermittelt aufschreckte.

Jetzt schaltete er das Licht wieder an.

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