21
Meredith hängte Laken an die Wäscheleine, die auf der Veranda vor der Eingangstür gespannt war. Sie liebte dieses unprätentiöse, traditionelle Haus, seine nüchterne, aber praktische Essenz. Wenn die Leute hörten, dass sie und Duff in einem Bauernhaus in Fife lebten, gingen sie automatisch davon aus, dass es sich um ein luxuriöses Anwesen handelte, und hielten sie bloß für bescheiden, wenn sie beschrieb, wie einfach ihr Leben dort aussah. Was sollte eine Frau mit ihrem Nachnamen in einer ehemaligen Bauernkate zu suchen haben, dachten sie vermutlich.
Sie hatte die gesamte Bettwäsche im Haus gewaschen, damit Duff nicht glaubte, sie hätte bloß die Laken ihres Ehebetts ausgetauscht. In dem sie heute Nacht schlafen würden. Um all das Schlimme zu vergessen, die Vergangenheit zurückzudrängen. Um wiederzuerwecken, was sie einst gehabt hatten. Es hatte nur eine Weile geschlummert, das war alles. Sie spürte, wie ihr warm ums Herz wurde bei diesem Gedanken. Die Intimität, die sie heute Morgen auf dem Felsen miteinander geteilt hatten, war so wundervoll gewesen. So wundervoll wie in ihren ersten Jahren. Nein, noch wundervoller. Sie summte eine Melodie, die sie im Radio gehört hatte – sie wusste nicht, was es für ein Lied gewesen war. Nachdem sie das letzte Laken aufgehängt hatte, fuhr sie mit der Hand über die feuchte Baumwolle, atmete den Geruch des Waschmittels ein. Der Wind blies das Laken hoch in die Luft, und das Sonnenlicht fiel über ihr Gesicht und ihr Kleid. Warm, angenehm, hell. So sollte das Leben sein. Sex haben, arbeiten, leben. Dazu war sie erzogen worden, und es war immer noch ihr Credo.
Sie hörte eine Möwe schreien und beschirmte die Augen. Was hatte die hier zu suchen, so weit weg vom Meer?
»Mum!«
Sie hatte die Wäsche an mehreren Leinen aufgehängt und musste sich zwischen ihnen hindurch bis zur Haustür ducken.
»Ja, Ewan?«
Ihr Sohn saß auf einer Bank, das Kinn auf eine Hand gestützt, und schaute mit zusammengekniffenen Augen der tief stehenden Nachmittagssonne entgegen. »Wird Dad nicht bald kommen?«
»Ja, wird er. Was macht die Suppe, Emily?«
»Die war schon vor Ewigkeiten fertig«, sagte ihre Tochter und rührte pflichtschuldig in dem großen Topf herum.
Brühe. Einfache, nahrhafte Bauernkost.
Ewan schob seine Unterlippe vor. »Er hat doch gesagt, er würde vor dem Essen wieder da sein.«
»Wenn er sein Versprechen bricht, werden wir ihn wohl am nächsten Baum aufhängen müssen, was?«, sagte Meredith und strich ihm über die Haare in seiner Stirn.
»Sollte man Leute, die lügen, aufhängen?«
»Ohne Ausnahme.« Meredith schaute auf die Uhr. Es war möglich, dass er im Feierabendverkehr stecken geblieben war, schließlich war im Augenblick nur die alte Brücke befahrbar.
»Wer?«, fragte der Junge.
»Was meinst du mit wer?«
»Wer sollte Leute aufhängen, die lügen?« Ewans Augen hatten einen abwesenden Ausdruck angenommen, als spräche er mit sich selbst.
»Na die, die selber ehrlich sind, natürlich.«
Ewan schaute seine Mutter an. »Dann sind Lügner aber dumm, denn von denen gibt’s doch viel mehr als von den Ehrlichen. Dann könnten die Lügner sie doch eigentlich besiegen und die Ehrlichen aufhängen.«
»Hört mal!«, sagte Emily.
Meredith spitzte die Ohren. Jetzt hörte sie es auch. Das entfernte Rumpeln eines näher kommenden Motors.
Der Junge sprang von der Bank. »Da kommt er! Los, Emily, wir verstecken uns und erschrecken ihn.«
»Ja.«
Die Kinder verschwanden im Schlafzimmer, während Meredith ans Fenster trat. Sie versuchte, ihre Augen gegen die Sonne abzuschirmen. Sie spürte eine Beklemmung, die sie sich nicht erklären konnte. Vielleicht fürchtete sie, dass der Duff, der nun nach Hause kam, nicht mehr derselbe war, der heute Morgen von hier aufgebrochen war.
Duff nahm den Gang heraus und ließ den Wagen das letzte Stück auf dem Weg vor dem Haus ausrollen. Der Kies murmelte und meckerte wie unterirdische Trolle unter den Rädern. Er war gefahren wie ein Besessener, hatte ein Prinzip gebrochen, das er immer hochgehalten hatte: nie das Blaulicht zu missbrauchen, das er im Handschuhfach aufbewahrte. Mit dem Blaulicht auf dem Dach hatte er es geschafft, aus dem Stau auf der Straße zur alten Brücke auszuscheren, aber dort angekommen, war die Fahrbahn so eng geworden, dass er trotzdem die Zähne zusammenbeißen und im Schneckentempo vorwärtskriechen musste. Jetzt trat er auf die Bremse, und die unterirdischen Stimmen verstummten. Er stellte den Motor ab und stieg aus. Die Sonne schien auf die weißen Laken, die sich auf der Veranda bauschten, als wollten sie ihn zu Hause willkommen heißen. Sie hatte die Wäsche gewaschen. Das gesamte Bettzeug, damit er nicht auf die Idee käme, sie hätte nur die Bettwäsche ihres Ehebetts ausgetauscht. Obwohl er genug Sex gehabt hatte an diesem Tag, wärmte die Vorstellung sein Herz. Weil er Caithness verlassen hatte. Und Caithness ihn. Sie hatte in der Tür gestanden, sich eine letzte Träne abgewischt, ihm einen letzten Abschiedskuss gegeben und ihm gesagt, dass ihm ihre Tür nicht mehr offen stand. Sie war dazu in der Lage, weil sie sich entschieden hatte. Eines Tages würde vielleicht ein anderer durch die Tür kommen, durch die er nun ging. Und er erwiderte, dass er es hoffe und dass dieser andere ein sehr glücklicher Mann sein würde. Auf der Straße war er regelrecht in die Luft gesprungen – vor Erleichterung und in dem Gefühl, sein Glück und seine Freiheit wiedergewonnen zu haben. Ja, allein die Vorstellung: frei zu sein. Um bei seiner Frau und seinen Kindern zu sein! Das Leben war schon merkwürdig. Und wundervoll.
Er ging auf die Veranda zu. »Ewan! Emily!« Normalerweise stürmten sie ihm immer schon entgegen, wenn er nach Hause kam. Aber manchmal versteckten sie sich auch, um ihn plötzlich und unvermutet anzuspringen.
Er duckte sich unter den Laken an der Wäscheleine hindurch.
»Ewan! Emily!«
Er blieb stehen, verborgen zwischen den Laken, deren lange Schatten sich über den Boden der Veranda schoben. Er atmete den Geruch des Waschmittels und des Wassers ein, in dem sie gewaschen worden waren. Da war auch noch ein anderer Geruch. Er lächelte. Brühe. Sein Lächeln wurde sogar noch breiter, als er sich daran erinnerte, wie vehement Ewan darauf bestanden hatte, dass man ihm den Bart ankleben sollte, bevor er seine Suppe aß. Es war vollkommen still. Der Überraschungsangriff konnte jeden Augenblick kommen.
Kleine Punkte aus Sonnenlicht durchbrachen die Schatten, die von den Laken geworfen wurden.
Er stand da und starrte sie an.
Dann schaute er an sich selbst hinab. Betrachtete seinen Pullover und die Hose, die ebenfalls von kleinen Punkten aus Licht übersät waren. Er spürte, wie ihm das Herz aussetzte. Fuhr mit dem Finger über ein Laken. Sofort fand er ein Loch. Und noch eins. Er konnte nicht mehr atmen.
Riss das letzte Laken zur Seite.
Das Küchenfenster war verschwunden. Die Wand war so stark zersiebt, dass sie weniger wie eine Wand, sondern mehr wie ein Loch aussah. Er schaute durch die Öffnung hinein, wo einmal das Fenster gewesen war. Der Topf auf dem Herd sah aus wie ein Sieb. Der Ofen und der Boden darum herum waren von dampfender gelblich-grüner Brühe bedeckt.
Er wollte hineingehen. Er musste hineingehen. Aber er konnte nicht; es war, als wären seine Füße auf dem Verandaboden festgewachsen und seine gesamte Willenskraft abgeschaltet worden.
Aber es ist niemand in der Küche, sagte er sich. Leer. Vielleicht war auch der Rest des Hauses leer. Zerstört, aber leer. Vielleicht waren sie zur Hütte entkommen. Vielleicht. Vielleicht hatte er nicht alles verloren.
Er zwang sich, durch die Öffnung zu treten, wo zuvor die Tür gewesen war. Er ging in die Kinderzimmer. Zuerst in das von Emily, dann in das von Ewan. Überprüfte die Schränke, die das Maschinengewehrfeuer durchpflügt hatte, und sah unter den Betten nach. Niemand. Auch nicht im Gästezimmer. Er ging auf das letzte Zimmer zu, auf ihr gemeinsames Schlafzimmer mit dem breiten Doppelbett, in dem sie sonntags Platz für alle vier machten, unter lautem Gekreisch der Kinder nackte Zehen kitzelten, sich zärtlich den Rücken streichelten, über alle möglichen verrückten und wunderbaren Dinge redeten und darüber stritten, wer als Erstes aufstehen sollte.
Die Schlafzimmertür hing noch in den Angeln, aber die Abstände zwischen den Einschusslöchern waren ebenso gering wie überall sonst im Haus. Duff atmete tief ein.
Vielleicht war noch nicht alles verloren.
Er griff nach der Klinke. Öffnete die Tür.
Natürlich wusste er, dass er sich etwas vorgemacht hatte. Darin war er gut geworden: Je länger er die Selbsttäuschung geübt hatte, desto leichter war es geworden, nur das zu sehen, was er sehen wollte. Doch in den letzten Tagen war ihm der Schleier von den Augen abgefallen, und nun war er hier und konnte nicht ertragen, was vor ihm lag. Die Federn aus der Bettdecke waren überall, als wäre Schnee gefallen. Vielleicht machte deshalb alles einen so friedlichen Eindruck. Meredith sah aus, als habe sie versucht, Ewan und Emily warm zu halten, wie sie so in der äußersten Ecke des Zimmers kauerte und ihre Arme um sie geschlungen hatte. Um sie herum klebten rote Federn an der Wand.
Duffs Atem kam in einzelnen Stößen. Und dann ein Schluchzen. Ein einzelnes bitteres, rasendes Schluchzen.
Alles war verloren.
Absolut alles.