4
Es dauerte zwanzig Minuten.
Zwanzig Minuten von dem Moment, als Duff das Krankenzimmer betrat und seine Finger in die Schulterwunde des Mannes mit der tätowierten Stirn drückte, bis zu dem Augenblick, als er verblüfft wieder das Weite suchte – ausgestattet mit so vielen konkreten Informationen über das Wer, Wann und Wo, dass die betreffende Person es unmöglich abstreiten konnte. Und verblüfft, weil – so schlimm es auch erschien, dass es tatsächlich einen Maulwurf in ihren Reihen gab – es fast zu schön war, um wahr zu sein.
Es dauerte dreißig Minuten.
Dreißig Minuten, in seinen Wagen zu steigen, durch den Nieselregen zu fahren, der auf die Stadt niederging, als würde ein alter Mann auf sie hinabpissen, den Wagen vor dem Hauptquartier zu parken, von der Sekretärin des Chief Commissioners mit einem gnädigen Kopfnicken vorgelassen zu werden und schließlich vor Duncan zu sitzen und den entscheidenden Namen auszusprechen. Cawdor. Der Chief Commissioner beugte sich über seinen Schreibtisch, fragte Duff, ob er sich sicher sei, schließlich handelte es sich um den Leiter des Bandendezernats, lehnte sich zurück und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Und dann hörte Duff Duncan zum ersten Mal fluchen.
Es dauerte vierzig Minuten.
Vierzig Minuten, in denen Duncan Cawdor für den Tag beurlaubte, zum Telefonhörer griff und Macbeth die Anweisung erteilte, ihn zu verhaften. Vierzig Minuten, bis acht SWAT-Beamte Cawdors Haus umzingelt hatten, das auf einem großen Grundstück mit Meeresblick lag, und zwar so weit im Westen, dass hier tatsächlich noch der Müll abgeholt und Obdachlose aus dem Stadtbild entfernt wurden. Bürgermeister Tourtell war sein direkter Nachbar. Das SWAT-Team parkte in einigem Abstand und schlich dann auf das Haus zu, je zwei Männer aus jeder Richtung.
Macbeth und Banquo saßen neben dem Tor an der Südseite des Hauses mit dem Rücken zur hohen Mauer auf dem Gehweg. Cawdor hatte – wie die meisten seiner Nachbarn – Glassplitter auf der Mauer angebracht, aber die SWATs verfügten über spezielle Matten, um Hindernisse dieser Art zu überwinden. Die Erstürmung folgte dem üblichen Ablauf, und als die Zweierteams die abgesprochenen Positionen erreicht hatten, verständigten sie sich über ihre Funkgeräte. Macbeth schaute die Straße hinunter. Ein sechs- oder siebenjähriger Junge hatte dort bei ihrer Ankunft einen Ball gegen eine Garagenmauer geworfen. Nun stand er da und starrte mit offenem Mund zu ihnen herüber. Macbeth legte sich einen Finger an die Lippen, und der Junge nickte ihm zu wie ein Schlafwandler. Genau so hatte ihn letzte Nacht auch der junge Mann in Weiß angeschaut, schoss es Macbeth durch den Kopf.
»Wach auf!« Es war Banquo, der ihm ins Ohr flüsterte.
»Was?«
»Alle Teams sind in Position.«
Macbeth atmete einige Male ein und aus. Er musste jetzt alles andere aus seinem Kopf vertreiben, musste in den Tunnel. Er drückte auf den Sender des Funkgeräts. »In fünfzig Sekunden gehen wir rein. Nord? Over.«
Angus’ Stimme ertönte im salbungsvollen Priestertonfall: »Alles klar. Kann drinnen keine Bewegung erkennen. Over.«
»Westen? Over.«
»Alles klar.« Das war die Stimme des Ersatzmannes, Seyton. Monoton, ruhig. »Moment, der Wohnzimmervorhang hat sich bewegt. Over.«
»Okay«, sagte Macbeth. Er musste nicht mal nachdenken; dieser Fall war Teil des Was-wäre-wenn-Ablaufs, den sie tagein, tagaus trainierten. »Vielleicht hat er uns gesehen, Leute. Ich zähle runter, und wir gehen rein. Drei, zwei eins … los!«
Und da war er, der Tunnel. Der Tunnel war wie ein Raum, dessen Tür man schloss und in dem man mit seiner Mission allein blieb. Jetzt existierten nur noch er und seine Männer.
Sie sprangen auf, und als Banquo die Matte über die Glassplitter auf der Mauer warf, bemerkte Macbeth, dass der Junge seinen Ball in der einen Hand hielt und mit der anderen langsam winkte wie ein Roboter.
Innerhalb von Sekunden waren sie über die Mauer, spurteten durch den Garten. Macbeth überkam wieder das Gefühl, alles um sich herum überdeutlich wahrnehmen zu können. Er hörte einen Zweig im Wind knarren, sah, wie eine Krähe vom Nachbardach aufflog, konnte einen fauligen Apfel im Gras riechen. Sie stürmten die Stufen hinauf, Banquo schlug mit dem Kolben seiner Waffe das Fenster neben der Eingangstür ein, streckte seine Hand hindurch und öffnete die Tür von innen. Als sie eintraten, hörten sie im hinteren Teil des Hauses ebenfalls Glas splittern. Acht gegen einen. Macbeth hatte Duncan gefragt, ob er Grund zu der Annahme hätte, dass Cawdor Widerstand leisten würde, aber dieser hatte ihm geantwortet, das sei nicht der Grund, warum er eine Verhaftung im großen Stil anordnete.
»Es geht darum, ein Signal zu senden, Macbeth. Wir schonen unsere eigenen Leute nicht. Ganz im Gegenteil. Schlagt Scheiben zu Bruch, tretet Türen ein, macht viel Krach und führt Cawdor in Handschellen durch die Haustür ab, sodass alle es sehen und weitererzählen können.«
Macbeth ging als Erster hinein. Das Sturmfeuergewehr an die Schulter gepresst, ließ er seinen Blick durch die Eingangshalle schweifen. Stellte sich mit dem Rücken neben die Tür zum Wohnzimmer. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, nachdem es draußen so hell gewesen war. Scheinbar waren sämtliche Vorhänge im Haus zugezogen. Banquo trat an seine Seite und weiter ins Wohnzimmer.
Als Macbeth sich von der Wand abstieß, um ihm zu folgen, passierte es.
Der Angreifer tauchte rasch und leise aus der Dunkelheit der Treppe auf und traf Macbeth an der Brust, sodass dieser im hohen Bogen zu Boden ging.
Macbeth spürte heißen Atem an seiner Kehle, schaffte es aber, den Lauf seiner Waffe zwischen sich und den Hund zu bekommen und die Schnauze zur Seite zu schlagen, sodass sich die großen Zähne stattdessen in seine Schulter bohrten. Er schrie auf vor Schmerz, als der riesige knurrende Hund an seinem Fleisch riss. Macbeth versuchte, nach ihm zu schlagen, aber seine freie Hand hatte sich im Gurt des Gewehrs verfangen. »Banquo!« Cawdor besaß laut Aktenlage keinen Hund. Vor Einsätzen wie diesem überprüften sie so etwas grundsätzlich. Aber dies hier war eindeutig ein Hund, und er war stark, drückte den Waffenlauf beiseite. Er hatte es auf seine Kehle abgesehen. Jeden Augenblick würde er ihm an die Halsschlagader gehen.
»Banq…«
Der Hund versteifte sich. Macbeth wandte den Kopf um und blickte in stumpfe Augen. Dann sackte der Körper des Tieres in sich zusammen und stürzte auf ihn herab. Macbeth stieß ihn von sich und schaute auf.
Seyton stand vor ihm und streckte ihm die Hand entgegen.
»Danke«, sagte Macbeth und rappelte sich ohne Hilfe auf. »Wo ist Banquo?«
»Er und Cawdor sind da drin«, entgegnete Seyton und deutete aufs Wohnzimmer.
Macbeth ging zur Tür. Sie hatten die Vorhänge geöffnet, und im hellen Licht sah er Banquo nur von hinten, wie er zur Decke hinaufstarrte. Über ihm hing ein Engel mit einem Heiligenschein aus Sonnenstrahlen über dem gesenkten Kopf, als bitte er um Vergebung.
Es dauerte eine Stunde.
Eine Stunde von dem Moment, in dem Macbeth »Los!« brüllte, bis zu dem Augenblick, als Duncan alle Leiter der verschiedenen Abteilungen im großen Konferenzraum des Hauptquartiers versammelte.
Duncan stand oben auf dem Podium und blätterte in seinen Unterlagen; Duff wusste, dass er sich genaue Formulierungen aufgeschrieben hatte, am Ende aber frei improvisieren und spontan auf die Situation eingehen würde. Nicht etwa, weil der Chief Commissioner sich schlecht im Griff hatte, ganz und gar nicht. Duff wusste, dass er frei sprechen konnte, er war klug und zugleich beherzt, sagte, was er dachte und umgekehrt. Ein Mann, der sich selbst verstand und deshalb auch andere, überlegte Duff. Ein geborener Anführer. Einer, dem andere folgen würden. Der war, wie Duff selbst gern wäre oder werden würde.
»Sie wissen alle, was passiert ist.« Duncans leise, ernste Stimme füllte den Raum, als hätte er gebrüllt. »Ich möchte Sie nur vor der Pressekonferenz heute Nachmittag mit den vollständigen Informationen versorgen. Einer unserer verdientesten Beamten, Inspector Cawdor, ist in den schweren Verdacht der Vorteilsnahme geraten. Zurzeit sieht es so aus, als sei dieser Verdacht gerechtfertigt. Angesichts seiner engen Verbindung zu den Norse Riders – gegen die wir gestern eine erfolgreiche Operation durchgeführt haben – bestand eindeutig das Risiko, dass er womöglich versuchen würde, Beweise zu vernichten oder sich der Verhaftung zu entziehen. Daher habe ich heute Morgen um zehn Uhr dem SWAT-Team Anweisung gegeben, Inspector Cawdor umgehend festzunehmen.«
Duff hatte gehofft, dass sein Name erwähnt würde, aber ihm war klar, dass Duncan auf keine Details eingehen würde. Denn wenn man im Polizeidienst eines lernte, dann, dass Gesetze immer galten, auch wenn es sich um ungeschriebene handelte. Deshalb war es eine ziemliche Überraschung, als Duncan aufschaute und sagte: »Inspector Macbeth, würden Sie so freundlich sein und hier heraufkommen, um den Ablauf des Einsatzes kurz zusammenzufassen?«
Duff wandte den Kopf und sah zu, wie sein Kollege durch die Stuhlreihen zum Podium ging. Offenbar war er ebenfalls überrascht. Der Chief Commissioner delegierte solche Dinge für gewöhnlich nicht an andere, sagte selbst, was er zu sagen hatte, machte es kurz und schloss die Sitzung rasch, damit alle wieder an ihre Arbeit zurückkehren und die Stadt zu einem besseren Ort machen konnten.
Macbeth sah verlegen aus. Er trug immer noch seine schwarze SWAT-Uniform, aber der Reißverschluss am Hals war so weit aufgezogen, dass der strahlend weiße Verband an seiner rechten Schulter zum Vorschein kam.
»Tja«, setzte er an.
Nicht gerade ein eleganter Einstieg, aber vom Leiter des SWAT-Teams erwartete niemand rhetorische Meisterleistungen. Macbeth schaute auf seine Uhr, als hätte er noch eine Verabredung. Alle im Raum wussten, warum: Es war die instinktive Reaktion von Polizeibeamten, die Bericht erstatten sollen und sich verunsichert fühlen. Sie werfen einen Blick auf ihre Uhr, als wäre die zeitliche Abfolge der Ereignisse dort festgehalten oder als könne die Uhr ihrem Gedächtnis anderweitig auf die Sprünge helfen.
»Um zehn Uhr fünfundfünfzig«, sagte Macbeth und räusperte sich zweimal, »begann das SWAT-Team mit der Erstürmung von Inspector Cawdors Haus. Eine Terrassentür stand offen, es gab aber keine Anzeichen für einen Einbruch oder Gewaltanwendung oder dafür, dass sich jemand vor uns Zutritt verschafft hatte. Abgesehen von einem Hund. Und auch keinerlei Anzeichen für Fremdeinwirkung bei dem Toten …« Jetzt hob Macbeth den Blick von seiner Uhr und schaute die Anwesenden an. »Ein Stuhl neben der Terrassentür war umgestoßen worden. Ich will den Ergebnissen der Spurensicherung nicht vorgreifen, aber es sah aus, als wäre Cawdor nicht bloß von dem Stuhl heruntergestiegen, als er sich erhängt hat, sondern als wäre er regelrecht gesprungen und hätte beim Hin- und Herschwingen den Stuhl quer durch den Raum getreten. Das stimmt auch damit überein, wie die Exkremente des Verstorbenen über den Boden verteilt waren. Der Leichnam war kalt. Selbstmord scheint die offensichtliche Todesursache zu sein. Einer der Jungs hat mich gefragt, ob wir das übliche Prozedere nicht überspringen und den Mann herunterschneiden könnten, schließlich sei Cawdor sein ganzes Leben lang Polizist gewesen. Ich habe das abgelehnt …«
Duff bemerkte Macbeths dramatische Pause, als wolle er dem Publikum Gelegenheit geben, der Stille zu lauschen. Das war ein Trick, den sich Duff merken wollte. Er hatte ihn schon öfter bei Duncan erlebt, aber nicht gedacht, dass der so pragmatische Macbeth ihn ebenfalls im Repertoire hatte. Vielleicht war es auch gar nicht der Fall, denn er schaute schon wieder auf seine Uhr.
»Das war um zehn Uhr neunundfünfzig.«
Macbeth blickte auf und schob seinen Ärmel über die Uhr, wohl um anzudeuten, dass er mit seinem Bericht zu Ende war.
»Cawdor hängt also immer noch da. Nicht wegen unserer Ermittlungen, sondern weil er ein korrupter Polizist war.«
Es war so still im Raum, dass Duff hören konnte, wie der Regen gegen das hoch gelegene Fenster schlug. Macbeth wandte sich Duncan zu und nickte kurz. Dann verließ er das Podium und ging zu seinem Platz zurück.
Duncan wartete, bis Macbeth sich gesetzt hatte. Dann sagte er: »Vielen Dank, Macbeth. Diese letzte Bemerkung wird nicht Teil unserer Pressekonferenz sein, aber ich denke, sie ist ein passender Abschluss für unser internes Briefing. Vergessen Sie nicht: Indem wir das verurteilen, was schwach und schlecht ist in uns, zollen wir all dem Anerkennung, was stark und gut ist. Also, zurück an euer gutes Werk, Leute.«
Die junge Krankenschwester stand an der Tür und sah zu, wie der Patient sein Hemd auszog. Er hielt sich seine langen schwarzen Haare hinter den Kopf, während die Ärztin den blutdurchtränkten Verband von seiner rechten Schulter entfernte. Von dem Patienten wusste sie nur, dass er Polizeibeamter war. Und ziemlich muskulös.
»Ach herrje«, sagte die Ärztin. »Das werden wir nähen müssen. Und Sie brauchen eine Tetanusspritze, das machen wir immer bei Hundebissen. Aber zuerst geben wir Ihnen eine kleine Betäubung. Maria, würden Sie …«
»Nein«, sagte der Patient und starrte krampfhaft die Wand an.
»Wie bitte?«
»Keine Betäubung.«
Stille machte sich breit.
»Keine Betäubung?«
»Keine Betäubung.«
Die Ärztin wollte gerade auf die Schmerzen hinweisen, als ihr Blick auf die Narben in seiner Armbeuge fiel. Alte Narben. Aber von der Art, wie sie sie allzu oft gesehen hatte, seit sie in diese Stadt gezogen war.
»Na gut«, sagte sie. »Keine Betäubung.«
Duff lehnte sich auf seinem Bürostuhl zurück und presste den Hörer ans Ohr.
»Ich bin’s, Schatz. Was macht ihr gerade?«
»Emily ist mit Freunden schwimmen gegangen. Und Ewan hat Zahnschmerzen. Ich fahr ihn jetzt zum Zahnarzt.«
»Okay. Ich werde heute wohl länger arbeiten, Schatz.«
»Warum?«
»Vielleicht werde ich auch über Nacht hierbleiben müssen.«
»Warum?«, wiederholte sie. Ihre Stimme verriet keinerlei Ärger oder Frustration. Sie klang, als hätte sie einfach gern die Information, vielleicht um den Kindern seine Abwesenheit zu erklären. Nicht, weil sie ihn brauchte. Nicht, weil …
»Es wird bald in den Nachrichten kommen«, sagte er. »Cawdor hat Selbstmord begangen.«
»Ach du liebe Zeit. Wer ist Cawdor?«
»Weißt du das nicht?«
»Nein.«
»Der Leiter des Bandendezernats. Er war ein aussichtsreicher Kandidat für den Chefposten in der Organisierten Kriminalität.«
Stille.
Sie hatte sich nie besonders für seine Arbeit interessiert. Ihre Welt bestand aus Fife, den Kindern und – zumindest wenn er zu Hause war – ihrem Ehemann. Eigentlich großartig für ihn. So musste er sie wenigstens nicht mit den Abgründen seiner Arbeit belasten. Andererseits zeigte ihr Desinteresse, dass sie nicht gerade viel Verständnis dafür hatte, was sein Job von ihm forderte. Kein Verständnis für die Opfer, die er brachte. Für das … was er brauchte, Herrgott.
»Der Leiter des Dezernats für Organisierte Kriminalität wird hier im Hauptquartier an dritter Stelle in der Hierarchie stehen, direkt hinter Duncan und Deputy Commissioner Malcolm. Das ist also eine ziemlich große Sache, und es bedeutet, dass ich hierbleiben muss. Wahrscheinlich für die nächsten ein, zwei Tage.«
»Sag mir bitte, dass du für den Vor-Geburtstag hier sein wirst.«
Der Vor-Geburtstag. Ach, Scheiße! Das war so eine gemeinsame Tradition: Den Tag vor dem Geburtstag der Kinder verbrachten sie nur zu viert, mit Fleischbrühe und den Geschenken von Mum und Dad. Hatte er wirklich Ewans Geburtstag vergessen? Wahrscheinlich war er ihm entfallen, weil in den letzten Tagen so viel los gewesen war. Aber immerhin hatte er das Geschenk besorgt, das Ewan sich gewünscht hatte – nachdem Duff ihm erzählt hatte, wie die verdeckten Ermittler im Rauschgiftdezernat arbeiteten. Manchmal verkleideten sie sich, um nicht erkannt zu werden. Vor ihm, in der Schublade seines Schreibtisches, lag ein hübsch verpackter Karton, der einen falschen Bart zum Ankleben, eine Fensterglasbrille und eine grüne Wollmütze enthielt, allesamt in Erwachsenengröße, damit er Ewan glaubhaft versichern konnte, dass Daddy und seine Kollegen tatsächlich genau das trugen.
Auf seinem Telefon leuchtete ein Lämpchen auf. Ein interner Anruf. Er hatte schon so eine Ahnung, um wen es sich handelte.
»Warte mal einen Moment, Schatz.«
Er drückte auf den Knopf unter dem Lämpchen. »Ja?«
»Duff? Duncan hier. Es geht um die Pressekonferenz heute Nachmittag.«
»Ja?«
»Ich würde gern zeigen, dass die Geschehnisse unsere Handlungsfähigkeit nicht beeinträchtigen und dass wir jetzt an die Zukunft denken. Deshalb werde ich den Interimsleiter des Dezernats für Organisierte Kriminalität bekannt geben.«
»Organisierte Kriminalität? Ähm … heute schon?«
»Ich hätte es Ende des Monats sowieso getan, aber da das Bandendezernat ja nun keinen Leiter mehr hat, ist es angebracht, die Stelle mit sofortiger Wirkung zu besetzen. Können Sie in mein Büro kommen?«
»Selbstverständlich.«
Duncan legte auf. Duff starrte regungslos das erloschene Lämpchen an. Es war ungewöhnlich, dass der Chief Commissioner persönlich anrief. Eigentlich waren es immer seine Sekretärin oder eine seiner Assistentinnen, die einen zum Meeting bestellten. Interimsleiter. Der vermutlich den Posten später ganz übernehmen würde, wenn die Formalitäten – Bewerbungsphase, die Beratungen des Ernennungskomitees und so weiter – erledigt waren. Sein Blick fiel auf ein anderes Lämpchen. Er hatte ganz vergessen, dass seine Frau in der Warteschleife hing.
»Schatz, es ist was passiert. Ich muss los.«
»Oh? Nichts Schlimmes, hoffe ich.«
»Nein.« Duff lachte. »Nichts Schlimmes. Ganz und gar nicht. Ich denke, du solltest heute Nachmittag unbedingt das Radio einschalten und hören, was über den neuen Leiter des Dezernats für Organisierte Kriminalität gesagt wird.«
»Ach ja?«
»Küss und drück dich.« Diese Koseworte hatten sie seit Jahren nicht mehr benutzt. Duff legte auf und konnte sich nicht davon abhalten, im Laufschritt aus seinem Büro zu stürmen und die Treppe hinauf ins oberste Stockwerk. Höher, höher, immer höher.
Die Sekretärin sagte Duff, er solle direkt reingehen. »Die warten schon auf Sie.« Sie lächelte. Wirklich? Sie lächelte doch nie.
Um den runden Eichentisch im großen, weiträumigen, aber nüchtern eingerichteten Büro des Chief Commissioners saßen außer Duncan noch vier Personen. Deputy Chief Commissioner Malcolm, vorzeitig ergraut und mit Brille auf der Nase, hatte Philosophie und Betriebswirtschaft an der Universität in Capitol studiert. Er drückte sich entsprechend aus und wurde von vielen im Hauptquartier als schräger Vogel angesehen. Er war ein alter Freund von Duncan, der behauptete, ihn eingestellt zu haben, weil seine ausgeprägten Managementfähigkeiten sich als nützlich erweisen könnten. Andere meinten, es habe eher daran gelegen, dass Duncan Malcolms unqualifizierte Jastimme bei den Budgetverhandlungen brauchte. Neben Malcolm beugte sich Lennox vor, aufmerksam wie immer und albinoblass. Sein Dezernat, die Antikorruptionseinheit, war während Duncans Umstrukturierung eingerichtet worden. Es hatte eine kurze Diskussion darüber gegeben, ob die Vorsilbe Anti in den Namen aufgenommen werden sollte, schließlich, argumentierten einige, sagten sie ja auch nicht Anti-Rauschgiftdezernat oder Anti-Mordkommission. Doch zu Kenneths Zeiten war das Rauschgiftdezernat im Volksmund gern als Korruptionsdezernat bezeichnet worden. Auf Duncans anderer Seite saß eine Assistentin, die Protokoll führte, und neben ihr Inspector Caithness.
Da Duncan in seinem Büro das Rauchen untersagte, standen keine Aschenbecher mit Kippen auf dem Tisch, an denen Duff hätte ablesen können, wie lange sie hier schon saßen. Aber ihm fiel auf, dass einige der Notizblöcke auf dem Tisch Kaffeeflecken aufwiesen und einige der Tassen fast leer waren. Die offene, freundliche, beinahe entspannte Atmosphäre ließ jedenfalls darauf schließen, dass sie zu einer Entscheidung gelangt waren.
»Vielen Dank, dass Sie so rasch gekommen sind, Duff«, sagte Duncan und deutete mit offener Handfläche auf den letzten freien Stuhl. »Lassen Sie mich direkt zur Sache kommen. Wir treiben die Zusammenlegung Ihres Rauschgiftdezernats mit dem Bandendezernat zum Dezernat für Organisierte Kriminalität voran. Dies ist unsere erste Krise, seit ich auf diesem Stuhl sitze …« Duff schaute in die Richtung, in die Duncan nickte, zum Schreibtisch. Der Stuhl des Chief Commissioners hatte eine hohe und breite Rückenlehne, sah aber nicht sonderlich bequem aus. Etwas zu starr. Kein weiches Polster. Es war ein Stuhl ganz nach Duffs Geschmack. »… Daher glaube ich, dass es wichtig ist, dass wir etwas Mumm beweisen.«
»Klingt vernünftig«, sagte Duff. Und bereute es sofort. Es klang, als würde er sich anmaßen, die Entscheidungen der oberen Leitungsebene zu beurteilen. »Ich meine, Sie haben bestimmt recht.«
Es herrschte einen Augenblick Stille am Tisch. War er jetzt zu weit in die andere Richtung geschwenkt, als hätte er gar keine eigene Meinung?
»Wir müssen zu einhundert Prozent sichergehen, dass unser Kandidat für den Posten nicht bestechlich ist«, sagte Duncan.
»Natürlich«, sagte Duff.
»Nicht nur, weil wir uns nicht noch einmal einen ähnlichen Skandal erlauben können wie mit Cawdor, sondern auch weil wir jemanden brauchen, um den ganz großen Fisch zu fangen. Und damit meine ich nicht Sweno, sondern Hecate.«
Hecate. Die Stille, die nach der Nennung dieses Namens im Raum herrschte, sprach Bände.
Duff richtete sich in seinem Stuhl auf. Dies war in der Tat eine große Mission. Aber es war klar, dass es bei diesem Job genau darum ging: den Drachen zu töten. Und das war großartig. Hier begann es also: das Leben als ein anderer, ein besserer Mann.
»Sie haben den erfolgreichen Einsatz gegen die Norse Riders geleitet«, sagte Duncan.
»Ich habe das nicht allein geschafft, Sir«, sagte Duff. Es zahlte sich immer aus, ein bisschen Bescheidenheit an den Tag zu legen. Insbesondere wenn es nicht verlangt wurde, konnte man es sich erlauben, bescheiden zu sein.
»Das ist wahr«, sagte Duncan. »Macbeth hat Sie unterstützt. In hohem Maße, wenn ich das richtig sehe. Was ist Ihr allgemeiner Eindruck von ihm?«
»Mein Eindruck, Sir?«
»Ja, Sie waren im selben Jahrgang auf der Polizeischule. Er hat offensichtlich mit dem SWAT-Team gute Arbeit geleistet, und seine Mitarbeiter sind allesamt begeistert von seinen Führungsqualitäten. Aber das SWAT ist selbstverständlich eine hoch spezialisierte Einheit. Sie kennen ihn, und deshalb würden wir gerne von Ihnen hören, ob Sie glauben, dass Macbeth der richtige Mann sein könnte für den Posten.«
Duff musste zweimal schlucken, bevor seine Stimmbänder einen Ton herausbringen konnten. »Ob Macbeth der Richtige sein könnte, um das Dezernat für Organisierte Kriminalität zu leiten, meinen Sie?«
»Ja.«
Duff brauchte einige Sekunden. Er legte sich eine Hand vor den Mund, senkte die Stirn und zog die Augenbrauen zusammen, in der Hoffnung, er würde so nachdenklich aussehen – und nicht wie ein zutiefst enttäuschter Mann.
»Nun, Duff?«
»Es ist eine Sache, seine Männer bei der Stürmung eines Hauses zu leiten, Zielpersonen auszuschalten und Geiseln in Sicherheit zu bringen«, sagte Duff. »Und in diesen Dingen ist Macbeth zweifellos gut. Ein ganzes Dezernat für Organisierte Kriminalität zu leiten, erfordert aber doch etwas andere Qualifikationen.«
»Das sehen wir auch so«, sagte Duncan. »Es erfordert etwas andere Qualifikationen, aber nicht vollkommen andere. Beides sind Führungspositionen. Wie steht es mit seinem Charakter? Ist er vertrauenswürdig?«
Duff presste seine Oberlippe zwischen Daumen und Zeigefinger. Macbeth. Der verdammte Macbeth! Was sollte er sagen? Diese Beförderung gehörte ihm. Duff stand sie zu und nicht einem Typen, der ebenso gut als Jongleur oder Messerwerfer im Wanderzirkus anheuern könnte! Er richtete seinen Blick auf das Gemälde an der Wand hinter dem Schreibtisch. Loyalität, Führungsqualitäten und Solidarität. Vor seinem Auge konnte er sie auf jener Landstraße sehen: Macbeth, sich selbst und die zwei toten Männer. Den Regen, der das Blut fortspülte.
»Ja«, sagte Duff. »Macbeth ist vertrauenswürdig. Aber insgesamt würde ich ihn doch eher als ordentlichen Handwerker bezeichnen. Das hat man ja auch heute gesehen, als er auf dem Podium Bericht erstattet hat.«
»Dem stimme ich zu«, sagte Duncan. »Deswegen habe ich ihn auch dort hinaufgerufen, um zu sehen, wie er sich schlägt. Wir sind uns hier am Tisch alle einig, dass er heute ein hervorragendes Beispiel geliefert hat für das Selbstverständnis eines echten Praktikers, der genau weiß, wie man Bericht erstattet. Zugleich hat er aber auch die Fähigkeit eines Teamleiters bewiesen, der seine Untergebenen begeistert und inspiriert. Cawdor hängt immer noch da, weil er ein korrupter Polizist war.«
Gedämpftes Gelächter ertönte um den Tisch herum, als Duncan Macbeths ungeschliffenen Arbeiterakzent imitierte.
»Wenn er diese Qualitäten wirklich hat«, sagte Duff und hörte zugleich, wie ihm eine innere Stimme sagte, dass es besser wäre, den Mund zu halten, »sollten Sie sich fragen, warum er es seit seinen Tagen auf der Polizeischule noch nicht weiter gebracht hat.«
»Wohl wahr«, sagte Lennox. »Aber das ist eines der stärksten Argumente für Macbeth.« Er lachte etwas zu schrill. »Keiner von uns, die wir an diesem Tisch sitzen, hatte einen hohen Posten unter dem letzten Chief Commissioner. Weil wir, genau wie Macbeth, nicht mitgespielt haben, weil wir uns geweigert haben, Bestechungsgelder anzunehmen. Ich habe Quellen, die mit absoluter Sicherheit bestätigen, dass Macbeths Karriere genau aus diesem Grund nicht vorangekommen ist.«
»Dann haben Sie die Frage ja bereits beantwortet«, sagte Duff steif. »Und gewiss haben Sie auch seine Beziehung zu der Frau mit in Betracht gezogen, der das Casino gehört.«
Malcolm warf Duncan einen Seitenblick zu, erntete ein Nicken und ergriff das Wort. »Das Betrugsdezernat untersucht zurzeit die krummen Geschäfte, die unter unserer früheren Leitung florieren durften, und es hat in diesem Zusammenhang auch eine gründliche Überprüfung des Casinos durchgeführt. Die Ergebnisse sind eindeutig: Das Inverness wird, was Buchführung, Steuern und Umgang mit den Beschäftigten anbelangt, in geradezu vorbildlicher Weise geführt. Und das ist ja in Glücksspielbetrieben wahrlich keine Selbstverständlichkeit. Zurzeit schauen sie gerade dem Obelisken genauer in die …«, er lächelte sarkastisch, »Karten. Und lassen Sie mich ganz offen hinzufügen, dass die Sache dort ganz anders aussieht. Fortsetzung folgt, wie man so sagt. Mit anderen Worten, wir haben keinerlei Einwände gegen Lady und ihr Geschäft.«
»Macbeth kommt aus dem Ostteil der Stadt und ist ein Außenseiter«, sagte Duncan, »während man von uns allen behaupten könnte, dass wir zu einem inneren Zirkel gehören. Man weiß, dass wir uns gegen Kenneth gestellt haben, wir stehen für einen Richtungswechsel der Polizei, aber wir haben alle private Schulbildung genossen und stammen aus privilegiertem Elternhaus. Ich denke, wir könnten auf diese Weise ein gutes Signal senden. Bei der Polizei, bei unserer Polizei, kann es jeder nach oben schaffen, ganz gleich, welchen Hintergrund oder welche Verbindungen er hat, solange er oder sie hart arbeitet und ehrlich ist, mit besonderer Betonung auf der Ehrlichkeit.«
»Ein guter Gedanke, Sir«, sagte Lennox.
»Schön.« Duncan legte seine Hände zusammen. »Duff, gibt es noch etwas, was Sie hinzufügen möchten?«
Haben Sie die Narben auf seinen Armen nicht gesehen?
»Duff?«
Haben Sie die Narben auf seinen Armen nicht gesehen?
»Stimmt etwas nicht, Duff?«
»Nein, Sir, ich habe nichts hinzuzufügen. Ich bin mir sicher, Macbeth ist eine gute Wahl.«
»Gut. Dann möchte ich Ihnen allen für die Teilnahme an diesem Meeting danken.«
Macbeth starrte auf die rote Ampel, während die Scheibenwischer über die Windschutzscheibe von Banquos Volvo PV544 glitten. Der Wagen war so klein wie Banquo selbst und ein gutes Stück älter als die Fahrzeuge um ihn herum, dafür aber voll funktionsfähig und verlässlich. Mit seiner ausladenden, buckligen Motorhaube wirkte das Modell wie ein Rückfall in die Vorkriegszeit, sein Halter bestand jedoch darauf, dass der Wagen unter der Haube alles zu bieten hatte, was man sich von einem modernen Auto wünschen konnte. Die Scheibenwischer kämpften mit dem Regen, und das herabrinnende Wasser erinnerte Macbeth an schmelzendes Glas. Vor ihnen stürmte ein Junge in nassem Mantel über die Straße. Macbeth stellte fest, dass die Fußgängerampel von Grün auf Rot geschaltet hatte, sah das Symbolmännchen aufleuchten. Eine menschliche Gestalt, von Kopf bis Fuß mit Blut bedeckt. Macbeth schauderte.
»Was ist los?«, fragte Banquo.
»Ich glaube, ich bekomme Fieber«, sagte Macbeth. »Ich seh dauernd Sachen.«
»Visionen, was?«, sagte Banquo. »Dann hast du dich erkältet. Ist ja auch kein Wunder. Immerhin bist du gestern pitschnass geworden, und heute hat dich auch noch ein Hund gebissen.«
»Apropos. Haben wir rausgefunden, wo der hergekommen ist?«
»Nur, dass es nicht Cawdors Hund war. Er muss durch die offene Verandatür hereingekommen sein. Ich frage mich, wie er wohl gestorben ist.«
»Hab ich dir das nicht gesagt? Seyton hat ihn getötet.«
»Das weiß ich, aber ich habe keine Spuren an ihm gesehen. Hat er ihn erwürgt?«
»Weiß ich nicht. Frag ihn.«
»Hab ich, aber er hat mir keine ordentliche Antwort gegeben, bloß …«
»Es ist grün, Dad.« Der Junge auf dem Rücksitz lehnte sich zwischen den beiden Männern nach vorn. Macbeth warf dem schlanken Neunzehnjährigen einen Seitenblick zu. Fleance hatte mehr von der Bescheidenheit seiner Mutter geerbt als von der fröhlichen Jovialität seines Vaters.
»Wer fährt hier, mein Sohn, du oder dein Dad?« Banquo lächelte sanftmütig und trat aufs Gas. Macbeth betrachtete die Leute auf dem Bürgersteig, die einkaufenden Hausfrauen, die arbeitslosen Männer vor den Bars. In den letzten Jahren war es in der Stadt morgens zunehmend voller geworden. Man hätte meinen sollen, dass dies zu einer geschäftigeren, belebteren Atmosphäre geführt hätte, doch das Gegenteil war der Fall. Die apathischen, resignierten Gesichter erinnerten eher an lebende Tote. In den vergangenen Monaten hatte Macbeth nach Anzeichen einer Veränderung gesucht, sich gefragt, ob Duncans neuer Führungsstil bereits Wirkung zeigte. Die allerschlimmsten und brutalsten Straßenverbrechen waren immerhin zurückgegangen, vermutlich weil mehr Streifenpolizisten unterwegs waren. Vielleicht fanden sie jetzt aber auch nur in den stilleren Gassen statt, in den zwielichtigen Ecken.
»Nachmittags noch Unterricht in der Polizeischule«, sagte Macbeth. »So was gab’s nicht zu unserer Zeit.«
»Kein Unterricht«, sagte der Junge, »ich mache mit einigen von den anderen ein Colloquium.«
»Ein Colloquium? Was soll das denn sein?«
»Fleance tut sich mit einigen der fleißigeren Schüler zusammen, und sie lernen gemeinsam für die Abschlussprüfungen«, sagte Banquo. »Ist eine gute Idee.«
»Dad meint, ich müsse Jura studieren. Die Polizeischule sei nicht genug. Was meinst du, Onkel Mac?«
»Ich meine, du solltest auf deinen Dad hören.«
»Aber du hast doch auch nicht Jura studiert.«
»Und du siehst ja, wohin ihn das gebracht hat!« Banquo lachte. »Komm schon, Fleance. Du musst doch mehr vom Leben wollen als dein abgehalfterter Vater und dieser faule Sack.«
»Du sagst doch, ich hätte keine Führungsqualitäten«, entgegnete Fleance.
Macbeth hob eine Augenbraue und warf Banquo einen Blick zu. »Wirklich? Ich dachte, ein Vater müsste seinen Kindern immer das Gefühl geben, dass sie alles schaffen können, wenn sie sich genug ins Zeug legen.«
»Das stimmt auch«, sagte Banquo. »Und ich habe nie behauptet, er hätte keine Führungsqualitäten. Ich habe lediglich gesagt, dass er noch an ihnen arbeiten muss. Er ist clever, er muss nur noch lernen, seinem eigenen Urteil zu trauen. Mal selbst die Initiative zu ergreifen und nicht immer nur anderen zu folgen.«
Macbeth drehte sich zum Rücksitz um. »Dein Vater ist wirklich ’ne harte Nuss.«
Fleance zuckte mit den Schultern. »Manche Leute wollen immer Befehle geben und die Verantwortung übernehmen und andere nicht – ist das denn so verrückt?«
»Verrückt nicht«, sagte Banquo. »Aber wenn du es zu was bringen willst, musst du dich in der Hinsicht einfach noch ändern.«
»Hast du dich geändert?« Fleances Tonfall war leicht genervt.
»Nein, ich war wie du«, sagte Banquo. »Immer bereit, andere vorweg laufen zu lassen. Aber ich wünschte, mir hätte früher mal einer gesagt, dass meine Ideen nicht schlechter waren als die der anderen. Manchmal sogar besser. Und wenn du Dinge besser einschätzen kannst als andere, dann solltest du auch vorangehen, das ist deine verdammte Pflicht gegenüber der Gesellschaft.«
»Was meinst du, Onkel Mac? Kann man sich einfach so zum Anführer machen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Macbeth. »Ich glaube, manche Menschen sind einfach geborene Anführer. Die werden dann natürlich auch welche. Wie Chief Commissioner Duncan. Wenn jemand so eine tiefe Überzeugung hat, färbt das auf dich ab, diese Leute können dich dazu bringen, für eine Sache zu sterben. Aber ich kenne auch andere, die haben überhaupt keine innere Überzeugung und keine Führungsqualitäten. Sie werden nur von dem Wunsch getrieben, die Karriereleiter hochzuklettern, bis sie endlich auf dem Stuhl ihres Chefs sitzen. Sie sind vielleicht intelligent, haben Charme, können reden, aber im Grunde verstehen sie die Menschen nicht. Weil sie sie nicht sehen. Weil sie nur eins verstehen und sehen: sich selbst.«
»Redest du von Duff?« Banquo lächelte.
»Wer ist Duff?«, warf Fleance ein.
»Spielt keine Rolle«, sagte Macbeth.
»Doch, tut es. Komm schon, Onkel Mac. Angeblich soll ich doch hier was lernen, oder?«
Macbeth seufzte. »Duff und ich waren Freunde in einem Waisenhaus und auf der Polizeischule, und jetzt ist er Leiter des Rauschgiftdezernats. Hoffentlich wird er seine Lektion noch lernen und sich ändern.«
»Der nicht.« Banquo lachte.
»Der vom Rauschgiftdezernat«, sagte Fleance. »Ist das dieser Typ mit der Narbe quer überm Gesicht?«
»Ja«, sagte sein Vater.
»Wo hat er sich die geholt?«
»Er ist schon mit ihr zur Welt gekommen«, sagte Macbeth. »Aber da ist die Schule. Streng dich an.«
»Ja, ja, Onkel Mac.«
Der »Onkel« stammte noch aus der Zeit, als Fleance klein gewesen war; heute benutzte er ihn eigentlich nur noch ironisch. Aber als Macbeth zusah, wie er durch den Regen auf die Pforte der Polizeischule zueilte, wurde ihm ziemlich warm ums Herz.
»Ist ein guter Junge«, sagte er.
»Du solltest selbst auch Kinder haben«, sagte Banquo und scherte den Wagen aus. »Kinder sind ein großes Geschenk.«
»Ich weiß, aber für Lady ist es schon ein bisschen spät.«
»Dann mit einer Jüngeren. Wie wär’s mit jemandem in deinem Alter?«
Macbeth antwortete nicht, starrte nur gedankenverloren aus dem Fenster. »Als ich die rote Ampel gesehen habe, musste ich an den Tod denken.«
»An Cawdor hast du gedacht«, entgegnete Banquo. »Übrigens habe ich Angus gefragt, warum er Cawdor so groß angestarrt hat, als er da von der Decke hing.«
»Religiöse Gedanken?«
»Nein. Er meinte nur, er würde reiche, privilegierte Leute nicht verstehen, die sich selbst das Leben nehmen. Selbst wenn Cawdor seinen Job verloren und selbst wenn er eine kurze Zeit hätte einsitzen müssen, hatte er immer noch genug in der Hinterhand für ein langes, sorgenfreies Leben. Ich hab dem Jungen erklärt, dass der Absturz das Problem ist. Und die Enttäuschung, wenn man feststellt, dass die Zukunft nicht die eigenen Erwartungen erfüllt. Deshalb ist es so wichtig, die Erwartungen nicht zu groß werden zu lassen, langsam anzufangen und nicht zu früh Erfolg zu haben. Ein wohlüberlegter, langsamer Aufstieg ist die bessere Alternative, meinst du nicht?«
»Du versprichst deinem Sohn ein besseres Leben, als du es gehabt hast, wenn du ihn Jura studieren lässt.«
»Mit Söhnen ist das was anderes. Sie sind eine Verlängerung deines eigenen Lebens. Es ist ihre Aufgabe, für einen kontinuierlichen Aufstieg zu sorgen.«
»Es war nicht Cawdor.«
»Was?«
»Es war nicht Cawdor, an den ich gedacht habe.«
»Ach nein?«
»Es war einer der jungen Männer auf der Landstraße. Er war …« Macbeth schaute aus dem Fenster. »… rot. Blutüberströmt.«
»Denk nicht daran.«
»Kaltes Blut.«
»Kalt … was meinst du damit?«
Macbeth atmete tief ein. »Die zwei Männer vor Forres hatten sich ergeben. Aber Duff hat den, der Swenos Helm aufhatte, trotzdem erschossen.«
Banquo schüttelte den Kopf. »Ich wusste doch, dass so etwas dahintersteckte. Und der andere?«
»Er war ein Zeuge.« Macbeth verzog das Gesicht. »Sie waren von der Party davongestürmt, und er hatte bloß ein weißes Hemd und weiße Hosen an. Ich habe meine Dolche rausgeholt. Er hat angefangen zu betteln. Er wusste, was auf ihn zukommt.«
»Mehr muss ich nicht hören.«
»Ich habe hinter ihm gestanden. Aber ich konnte es nicht tun. Ich stand da, mit dem erhobenen Dolch, wie paralysiert. Aber dann hab ich Duff gesehen. Er hat dagesessen, mit dem Kopf in den Händen, und geheult wie ein Kind. Dann hab ich zugestochen.«
In der Ferne ertönte eine Sirene. Ein Feuerwehrwagen. Was zur Hölle kann bei dem Regen überhaupt brennen, dachte Banquo.
»Ich weiß nicht, ob es daran lag, das sich seine Sachen vollgesogen hatten«, sagte Macbeth, »aber das Blut hat ihn vollkommen bedeckt. Sein gesamtes Hemd und die Hose. Und wie er da so mit ausgestreckten Armen auf der Fahrbahn lag, hat er mich an das dämliche Ampelmännchen erinnert. Wie es Stopp sagt, jetzt stehen bleiben.«
Sie fuhren schweigend weiter, an der Einfahrt zur Tiefgarage des Hauptquartiers vorbei. Nur Leiter der Dezernate und hochrangige Beamte hatten dort Stellplätze. Banquo bog stattdessen auf den Parkplatz auf der Rückseite des Gebäudes ein. Er hielt an und schaltete den Motor aus. Der Regen trommelte auf das Dach des Wagens.
»Ich verstehe«, sagte Banquo.
»Was verstehst du?«
»Duff wusste, was passieren würde, wenn ihr Sweno verhaftet hättet. Ihr hättet ihn in der korruptesten Stadt des Landes einem habgierigen Richter vorgeführt – was hätte er wohl aufgebrummt bekommen? Zwei Jahre? Maximal drei? Oder doch gleich einen Freispruch? Und dich verstehe ich auch.«
»Ach ja?«
»Ja. Was hätte Duff bekommen, wenn Swenos Lakai im Zeugenstand gegen ihn ausgesagt hätte? Zwanzig Jahre? Fünfundzwanzig? Bei uns in der Truppe kümmern wir uns umeinander. Wir überlassen das nicht anderen. Außerdem, und das ist noch viel wichtiger, hätte ein neuer Polizeiskandal massiven Schaden angerichtet – gerade jetzt, wo wir einen Chief Commissioner haben, der den Bürgern ein wenig Vertrauen in Gesetz und Ordnung zurückgibt. Du musst das große Ganze sehen. Und manchmal steht auch Grausamkeit auf der guten Seite, Macbeth.«
»Vielleicht.«
»Denk einfach nicht mehr darüber nach, mein Freund.«
Der Regen, der die Windschutzscheibe herunterrann, ließ das Polizeihauptquartier vor ihnen verschwimmen. Sie rührten sich nicht. Als müssten sie ihre Worte erst einmal sacken lassen, bevor sie aussteigen konnten.
»Duff sollte dir dankbar sein«, sagte Banquo. »Wenn du es nicht getan hättest, hätte er es selbst tun müssen, das habt ihr beide gewusst. Aber nun habt ihr beide etwas gegeneinander in der Hand. Das ist ein Kräfteausgleich, gegenseitige Abschreckung, so könnt ihr beide besser schlafen.«
»Duff und ich sind nicht die USA und die Sowjetunion.«
»Nein? Was seid ihr dann? Damals auf der Polizeischule wart ihr noch unzertrennlich, heute redet ihr kaum noch miteinander. Was ist passiert?«
Macbeth zuckte mit den Schultern. »Nicht viel. Wir waren vermutlich sowieso ein komisches Paar. Er ist ein Duff. Seine Familie war mal ziemlich wohlhabend, und so was prägt einfach. Die Ausdrucksweise, die Oberschichtmanieren. Im Waisenhaus hat ihn das zum Außenseiter gemacht und isoliert. Damals hat er sich mir zugewandt. Wir wurden ein Duo, mit dem man sich besser nicht anlegte. Aber auf der Polizeischule hat man gemerkt, dass er sich zu seinesgleichen hingezogen fühlt. Er wurde im Dschungel ausgesetzt wie ein gezähmter Löwe. Duff hat studiert, hat sich ein Mädchen aus besseren Kreisen gesucht und geheiratet. Kinder bekommen. Wir sind einfach getrennte Wege gegangen.«
»Oder warst du’s vielleicht einfach leid, dass er sich immer wie der egoistische arrogante Bastard aufspielt, der er auch wirklich ist?«
»Die Leute haben oft ein falsches Bild von Duff. Damals auf der Polizeischule haben wir uns geschworen, wir würden die ganz großen Fische fangen. Duff will diese Stadt wirklich verändern, Banquo.«
»Hast du deshalb seine Haut gerettet?«
»Duff ist kompetent und arbeitet hart. Er hat gute Chancen, das neue Dezernat zu bekommen, alle wissen das. Warum sollte ein einziger Fehler in der Hitze des Gefechts die Karriere eines Mannes beenden, der für uns alle etwas Gutes leisten kann?«
»Weil es nicht zu dir passt, einen wehrlosen Mann auf diese Weise zu töten.«
Macbeth zuckte mit den Schultern. »Vielleicht habe ich mich geändert.«
»Die Menschen ändern sich nicht. Aber ich verstehe es jetzt. Du hast einfach deine Soldatenpflicht erfüllt. Du, Duff und ich kämpfen in diesem Krieg auf derselben Seite. Du hast zwei Bikern das Leben genommen, damit sie nicht weiterhin unseren Kindern mit ihrem Gift das Leben nehmen können. Aber du hast dir deine Pflicht nicht selbst ausgesucht. Ich weiß, was dich das kostet, wenn du schon anfängst, deine toten Feinde in Ampeln zu sehen. Du bist ein besserer Mensch als ich, Macbeth.«
Macbeth grinste. »Du siehst im Nebel der Schlacht viel klarer als ich, alter Mann. Deshalb ist es ein gewisser Trost für mich, dass ich deine Vergebung bekomme.«
Banquo schüttelte den Kopf. »Ich sehe auch nicht besser als alle anderen. Ich bin bloß ein alter Quatschkopf, und die Selbstzweifel sind meine einzige Richtschnur.«
»Selbstzweifel, ja. Fressen sie dich manchmal auf?«
»Nein«, erwiderte Banquo und starrte durch die Windschutzscheibe. »Nicht manchmal. Immer.«
Macbeth und Banquo verließen den Parkplatz und gingen zum Mitarbeitereingang am hinteren Ende des Polizeihauptquartiers, einem zweihundert Jahre alten Steingebäude im Zentrum von Distrikt 3. Einst war es als Gefängnis genutzt worden. Angeblich hatten dort Hinrichtungen stattgefunden, und hinter vorgehaltener Hand sprach man zudem von Folter. Viele, die spätnachts dort arbeiteten, behaupteten, bisweilen einen unerklärlichen kalten Windzug zu spüren, der durch die Büroräume fuhr. Und entfernte Schreie waren angeblich ebenfalls zu hören. Banquo war sich jedoch sicher, dass es bloß an ihrem ziemlich eigensinnigen Hausmeister lag, der jeden Tag um Punkt fünf die Heizung abstellte und gerne mal entsetzt aufschrie, wenn er feststellte, dass jemand seinen Arbeitsplatz verlassen hatte, ohne das Licht auszuschalten.
Macbeth bemerkte zwei asiatisch aussehende Frauen, die bibbernd zwischen den arbeitslosen Männern auf dem Bürgersteig standen und sich umschauten, als würden sie auf jemanden warten. Früher hatten sich die Prostituierten der Stadt in der Thrift Street versammelt, hinter den Büros des National Railway Network. Der Stadtrat hatte sie jedoch vor einigen Jahren von dort vertrieben, und nun hatte sich das Gewerbe zweigeteilt: Es gab diejenigen, die attraktiv genug waren, um in den Casinos zu arbeiten, und die anderen, die gezwungen waren, die harten Bedingungen der Straße auf sich zu nehmen, und sich Wand an Wand mit den Gesetzeshütern sicherer fühlten. Außerdem war es bequem für beide Seiten, wenn sich die Polizei durch den Druck von Politik und Presse mal wieder dazu veranlasst sah, auf der Straße aufzuräumen. Die Massenverhaftungen gingen dann schnell und zügig vonstatten, und bald war alles wieder beim Alten. Man konnte auch die Möglichkeit nicht ausschließen, dass die Mädchen einige ihrer Freier ohnehin aus dem Polizeihauptquartier bezogen. Macbeth hatte ihre Angebote allerdings schon so oft freundlich abgelehnt, dass sie ihn mittlerweile in Frieden ließen. Als er sah, dass die beiden Frauen auf Banquo und ihn zukamen, schoss ihm daher sofort durch den Kopf, dass sie neu in der Gegend sein mussten. Außerdem hätte er sich an sie erinnert. Selbst bei dem relativ niedrigen Standard dieser Straßen machte ihr Erscheinungsbild keinen allzu vorteilhaften Eindruck. Macbeths Erfahrung nach war es immer schwierig, das genaue Alter von asiatischen Frauen zu schätzen, aber wie alt sie auch waren, diese beiden hatten offenkundig einiges hinter sich. Man sah es an ihren Augen. Es waren jene kalten, undurchdringlichen Augen, die wie eine Barriere wirken und nur die Umgebung widerspiegeln. Die beiden gingen gebückt und trugen billige Kleidung, aber noch etwas anderes erregte seine Aufmerksamkeit, etwas, das nicht zum Rest passte: ihre entstellten Gesichter. Eine öffnete den Mund und offenbarte eine Reihe dreckiger, brauner Zähne.
»Tut mir leid, Ladys«, sagte Macbeth munter, bevor sie es schaffte, etwas zu sagen. »Wir würden ja gerne, aber bei mir zu Hause sitzt eine furchtbar eifersüchtige Ehefrau, und mein Kumpel hier hat sowieso schon einen schlimmen Ausschlag untenrum.«
Banquo murmelte kopfschüttelnd vor sich hin.
»Macbeth«, sagte eine von ihnen. Das fremdartige Stakkato ihrer schrillen Puppenstimme passte nicht recht zu ihren harten Augen.
»Banquo«, sagte die andere Frau – im selben Akzent, mit derselben Stimme.
Macbeth blieb stehen. Beide Frauen hatten sich das lange, rabenschwarze Haar in ihre Gesichter gebürstet, wohl, um diese zu verbergen, konnten jedoch die unasiatisch großen, feuerroten Nasen nicht verstecken, die über ihren Mündern hingen wie glühendes Glas an der Pfeife des Glasbläsers.
»Ihr kennt unsere Namen«, sagte er. »Was können wir denn für euch tun, Ladys?«
Sie antworteten nicht. Nickten nur einem Haus auf der anderen Straßenseite zu. Dort trat eine dritte Gestalt aus dem Schatten eines Torbogens ins Tageslicht. Der Kontrast zu den beiden anderen hätte gar nicht größer sein können. Diese Frau – wenn es sich denn überhaupt um eine handelte – war so groß und breitschultrig wie ein Türsteher. Ihr enges Leopardenprint-Kleid betonte ihre weiblichen Kurven wie ein Quacksalber, der seine Waren mit falschen Versprechungen anpreist. Aber Macbeth wusste genau, was sie verkaufte, zumindest was sie früher verkauft hatte. Und kannte ihre falschen Versprechungen. Alles an ihr schien ins Extrem übersteigert: ihre Größe, Breite, die gewaltigen Brüste, die klauenartigen roten Nägel, die sich um ihre kräftigen Finger bogen, die weit geöffneten Augen, das theatralische Make-up, die bis über die Knie reichenden Stiefel mit den Stilettoabsätzen. Ihn schockierte jedoch nur eines: dass sie sich nicht verändert hatte. So viele Jahre waren vergangen, scheinbar ohne die geringste Spur an ihr zu hinterlassen.
Fürs Überqueren der Straße schien sie nur zwei riesige Schritte zu brauchen.
»Gentlemen«, sagte sie mit einer Stimme, die so tief war, dass Macbeth glaubte, die Glasscheiben hinter sich vibrieren zu hören.
»Strega«, sagte Macbeth. »Lange nicht gesehen.«
»Stimmt. Du warst damals ja noch ein Junge.«
»Du erinnerst dich also an mich?«
»Ich erinnere mich an all meine Kunden, Inspector Macbeth.«
»Und wer sind die zwei?«
»Meine Schwestern.« Strega lächelte. »Wir überbringen Glückwünsche von Hecate.«
Macbeth sah, wie Banquo bei der Nennung des Namens automatisch in seine Jacke griff, und legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »Wozu?«
»Zu deiner Ernennung zum Leiter des Dezernats für Organisierte Kriminalität«, sagte Strega. »Heil dir, Macbeth.«
»Heil dir, Macbeth«, echoten die Schwestern.
»Wovon redest du?«, fragte Macbeth und ließ seinen Blick zu den Arbeitslosen auf der anderen Straßenseite hinüberwandern. Als Banquo nach seiner Waffe gegriffen hatte, war ihm eine Bewegung aufgefallen.
»Der eine verliert, der andere gewinnt«, sagte Strega. »Dies sind die Gesetze des Dschungels. Mehr Tote, mehr Brot. Und wer bekommt wohl das Brot, frage ich mich, wenn Chief Commissioner Duncan stirbt?«
»Hey!« Banquo machte einen Schritt auf sie zu. »Wenn Hecate uns drohen will …«
Macbeth hielt ihn zurück. Diesmal hatte er es genau gesehen. Drei der Männer auf der anderen Straßenseite hatten aufgeschaut, hielten sich bereit. Sie standen getrennt voneinander in der Menge, aber es gab eine Gemeinsamkeit: Sie alle trugen leichte, graue Regenmäntel. »Lass sie einfach reden«, flüsterte Macbeth.
Strega lächelte. »Niemand droht. Hecate wird gar nichts tun; er macht nur eine interessante Voraussage. Er glaubt, du wirst der nächste Chief Commissioner.«
»Ich?« Macbeth lachte. »Duncans Stellvertreter würde seinen Posten übernehmen, und dessen Name lautet Malcolm. Jetzt scher dich weg.«
»Hecates Voraussagen sind niemals falsch«, sagte das Mannweib. »Und das weißt du.« Sie stand Macbeth gegenüber, ohne sich zu regen, und Macbeth fiel auf, dass sie immer noch größer war als er.
»Und?«, sagte sie. »Sorgt jetzt deine Lady vom Casino dafür, dass du clean bleibst?«
Banquo sah, wie Macbeth sich versteifte. Und dachte, dass diese Strega sich glücklich schätzen konnte, als Frau durchzugehen. Macbeth schnaubte, sah aus, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. Trat von einem Fuß auf den anderen. Öffnete wieder den Mund. Auch diesmal kam nichts heraus. Dann drehte er sich um und marschierte auf den Eingang des Hauptquartiers zu.
Die große Frau sah ihm nach. »Und was ist mit dir, Banquo, bist du gar nicht neugierig, was die Zukunft für dich bereithält?«
»Nein«, sagte er und folgte Macbeth.
»Oder für Fleance, deinen Sohn?«
Banquo erstarrte mitten in der Bewegung.
»Ein guter, fleißiger Junge«, sagte Strega. »Und Hecate verspricht, wenn er und sein Vater sich brav an die Spielregeln halten, wird auch er, wenn die Zeit reif ist, Chief Commissioner sein.«
Banquo wandte sich ihr zu.
»Ein kontinuierlicher Aufstieg«, sagte sie. Deutete eine kleine Verbeugung an und lächelte. Dann drehte sie sich um und hakte die beiden anderen unter. »Kommt, Schwestern.«
Banquo starrte dem bizarren Trio hinterher, bis es um die Ecke des Hauptquartiers gebogen war. Die drei hatten so irreal gewirkt, dass er sich fragte, ob sie überhaupt da gewesen waren.
»Jede Menge Verrückte auf den Straßen heutzutage«, sagte Banquo, als er Macbeth im Foyer vor dem Empfangstresen eingeholt hatte.
»Heutzutage?« Ungeduldig drückte Macbeth den Fahrstuhlknopf. »Diese Stadt war doch immer voller Verrückter. Ist dir aufgefallen, dass die Damen Aufpasser dabeihatten?«
»Hecates unsichtbare Armee?«
Die Fahrstuhltüren glitten auf.
»Duff«, sagte Macbeth und trat beiseite. »Was ist denn …«
»Macbeth und Banquo«, sagte der blonde Mann und marschierte rasch an ihnen vorbei zum Ausgang.
»Du liebe Güte«, sagte Banquo. »Der ist aber auch im Stress.«
»So ist das, wenn du den Job an der Spitze ergattert hast.« Macbeth lächelte, trat in den Fahrstuhl und drückte auf den Knopf zum Untergeschoss, wo das SWAT-Team untergebracht war.
»Ist dir schon mal aufgefallen, dass Duffs Schuhe immer quietschen?«
»Weil er sich grundsätzlich Schuhe kauft, die ihm zu groß sind«, sagte Macbeth.
»Warum?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Macbeth und schaffte es gerade noch, die Tür für den Kollegen aufzuhalten, der ihnen vom Empfang aus hinterhergerannt kam.
»Ich habe eben einen Anruf vom Büro des Chief Commissioners erhalten«, sagte dieser außer Atem. »Sie sollen zu ihm raufkommen, sobald Sie hier eintreffen.«
»Okay«, sagte Macbeth und ließ die Tür los.
»Ärger?«, fragte Banquo, nachdem sie sich geschlossen hatte.
»Wahrscheinlich«, entgegnete Macbeth und drückte auf den Knopf zum vierten Stock. Er spürte, dass die Stiche an seiner Schulter anfingen zu jucken.