39

Duff schaute auf seine Uhr, gähnte und ließ sich noch tiefer in den Stuhl sinken. Seine langen Beine erstreckten sich beinahe über den ganzen Krankenhausflur bis zu Caithness und Fleance. Duffs Blick traf den von Caithness.

»Du hattest recht«, sagte sie.

»Wir hatten beide recht«, entgegnete er.

Es war weniger als eine Stunde her, seit er in der fünfzehnten Straße fluchend in den Wagen gesprungen war und ihnen zugerufen hatte, dass Macbeth entkommen war. Und dass etwas bevorstand. Macbeth hatte gesagt, der Bürgermeister würde nicht mehr lange leben.

»Ein Anschlag«, hatte Malcolm gesagt. »Ein Putsch. Er ist vollkommen wahnsinnig geworden.«

»Was?«

»Die Kenneth-Verordnungen. Wenn der Bürgermeister stirbt oder den Notstand ausruft, übernimmt der Chief Commissioner bis auf Weiteres die Führung der Stadt und hat im Prinzip unbegrenzte Macht. Tourtell muss gewarnt werden.«

»St. Jordi’s«, hatte Caithness gesagt. »Da ist Seyton.«

»Fahr los!«, hatte Duff gebrüllt, und Fleance war aufs Gas getreten.

Sie hatten weniger als zwanzig Minuten gebraucht. Nachdem sie den Wagen vor dem Haupteingang des St. Jordi’s abgestellt hatten und gerade auf dem Weg die Stufen hinauf gewesen waren, hatten sie den ersten Schuss vom Parkplatz gehört.

Duff schloss die Augen. Er hatte nicht geschlafen, und dies hätte längst vorüber sein sollen. Macbeth hätte hinter Schloss und Riegel sitzen müssen.

»Da sind sie«, sagte Caithness.

Duff schlug die Augen auf. Tourtell und Malcolm kamen ihnen über den Flur entgegen.

»Der Arzt meint, Lennox wird es überleben«, sagte Malcolm und setzte sich. »Er ist bei völligem Bewusstsein, kann wieder reden und die Hände bewegen. Aber vom mittleren Rücken abwärts ist er gelähmt, und das wird wohl auch so bleiben. Die Kugel hat sein Rückgrat getroffen.«

»Seine Wirbelsäule hat sie aufgehalten«, sagte Tourtell. »Sonst wäre sie durch ihn hindurchgegangen und hätte mich getroffen.«

»Seine Familie ist im Wartezimmer«, fügte Malcolm hinzu. »Sie haben ihn schon kurz besucht, aber der Arzt meint, es sei genug für heute. Er hat Morphium bekommen und braucht jetzt Ruhe.«

»Irgendwas von Kasi gehört?«, fragte Caithness.

»Er ist noch nicht nach Hause gekommen«, sagte Tourtell. »Aber er kennt sich aus. Vielleicht ist er zu Freunden gegangen oder versteckt sich irgendwo. Ich mache mir keine Sorgen.«

»Nicht?«

Tourtell verzog das Gesicht. »Noch nicht.«

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Duff.

»Wir warten ein paar Minuten, bis die Familie weg ist«, sagte Malcolm. »Tourtell hat den Arzt überredet, uns noch zwei Minuten mit Lennox zu erlauben. Wir brauchen sein Geständnis so schnell wie möglich, damit wir einen landesweiten Haftbefehl für Macbeth aus Capitol erwirken können.«

»Sind unsere Zeugenaussagen nicht gut genug?«, fragte Duff.

Malcolm schüttelte den Kopf. »Keiner von uns hat eine persönliche Todesdrohung von Macbeth erhalten oder gehört, wie er einen Befehl zum Mord erteilt hat.«

»Was ist mit Erpressung?«, fragte Caithness. »Tourtell, Sie haben doch gerade erzählt, dass, während Sie in einem Hinterzimmer des Inverness Black Jack gespielt haben, Macbeth und Lady versuchten, Ihren Rückzug von den Wahlen zu erzwingen, indem Sie Ihnen Anteile am Obelisken angeboten und Ihnen gedroht haben, ein Gerücht über sexuellen Missbrauch an einem Minderjährigen öffentlich zu machen.«

»In meinem Berufszweig nennen wir diese Art von Erpressung schlicht Politik«, sagte Tourtell. »Schwerlich strafbar.«

»Macbeth hat also recht?«, fragte Duff. »Wir haben nichts gegen ihn in der Hand?«

»Wir hoffen, dass Lennox etwas hat«, sagte Malcolm. »Wer sollte mit ihm reden?«

»Ich«, sagte Duff.

Malcolm betrachtete ihn nachdenklich. »Schön, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand uns erkennt und Alarm schlägt.«

»Ich weiß, wie Lennox aussieht, wenn er lügt«, sagte Duff. »Und er weiß, dass ich das weiß.«

»Aber überreden Sie ihn nicht so, wie Sie den Norse Rider hier im Krankenhaus überredet haben, Duff.«

»Das war ein anderer Mensch, der das getan hat, Sir. Der bin ich nicht mehr.«

»Nicht?«

»Nein, Sir.«

Malcolm hielt Duffs Blick ein paar Sekunden stand. »Gut. Tourtell, könnten Sie Duff bitte zum Krankenzimmer bringen?«

»Aus reiner Neugier«, sagte Duff, als er und Tourtell ein ganzes Stück den Flur hinuntergegangen waren. »Als Macbeth Ihnen das Ultimatum gestellt hat, warum haben Sie ihm da nicht gleich gesagt, dass Kasi Ihr Sohn ist?«

Tourtell zuckte mit den Schultern. »Warum sollte man demjenigen, der eine Waffe auf einen richtet, sagen, dass sie nicht geladen ist? Er wird nur sofort nach einer anderen suchen.«

Der Arzt wartete vor einer geschlossenen Tür auf sie. Er öffnete sie.

»Nur er«, sagte Tourtell und deutete auf Duff.

Duff trat hinein.

Lennox war ebenso weiß wie die Laken, zwischen denen er lag. Röhren und Schläuche führten von seinem Körper zu Infusionsständern und gleichmäßig piependen Maschinen. Er sah aus wie ein überraschtes Kind, starrte Duff mit weit offenen Augen und Mund an. Duff nahm seine Mütze und die Brille ab.

Lennox blinzelte.

»Sie müssen öffentlich aussagen, dass Macbeth hinter alledem steckt«, sagte Duff. »Sind Sie bereit, das zu tun?«

Dünner, glänzender Speichel lief aus einem Winkel von Lennox’ Mund.

»Hören Sie, Lennox, ich habe zwei Minuten und …«

»Macbeth steckt dahinter«, sagte Lennox. Seine Stimme war heiser und brüchig, als wäre er um zwanzig Jahre gealtert. Aber sein Blick wurde klarer. »Er hat Seyton, Olafson und mir den Befehl gegeben, Tourtell zu eliminieren. Weil er die Führung der Stadt an sich reißen will. Und weil er glaubt, dass Tourtell Hecates Informant ist. Aber das stimmt nicht.«

»Wer ist denn der Informant?«

»Ich verrate es Ihnen, wenn Sie mir einen Gefallen tun.«

Duff atmete schwer durch die Nase. Konzentrierte sich darauf, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Sie meinen, ich schulde Ihnen noch einen Gefallen?«

Lennox schloss wieder die Augen. Duff sah, wie eine Träne herausgedrückt wurde. Schmerzen von seiner Verletzung, wie Duff vermutete. »Nein«, flüsterte Lennox mit versiegender Stimme.

Duff beugte sich vor. Ein ekelerregender, süßer Geruch kam aus Lennox’ Mund, wie der Aceton-Atem eines Diabetikers, als er flüsterte: »Ich bin Hecates Informant.«

»Sie?« Duff versuchte, die Information zu verdauen, versuchte, sie ins Bild einzupassen.

»Ja. Wie, glauben Sie, hat Hecate es wohl geschafft, uns all die Jahre über durch die Finger zu schlüpfen, uns immer einen Schritt voraus zu sein?«

»Sie haben für beide spioniert, für …«

»… Hecate und Macbeth. Ohne dass Macbeth es geahnt hat. Aber deshalb weiß ich, dass Tourtell nicht von Hecate gekauft ist. Und auch nicht von Macbeth. Aber ich war es nicht, der Hecate gewarnt hat, also muss es noch einen weiteren Informanten geben. Jemanden, der Macbeth nahesteht.«

»Seyton?«

»Vielleicht. Oder es ist gar kein Mann.«

»Eine Frau? Warum glauben Sie das?«

»Ich weiß nicht. Etwas Unsichtbares, etwas, das einfach da ist.«

Duff nickte langsam. Hob die Augen und schaute in die Dunkelheit vor dem Fenster.

»Wie fühlt sich das an?«

»Wie fühlt sich was an?«

»Es endlich auszusprechen. Dass Sie ein Verräter sind. Ist es eine Erleichterung, oder lastet es nur umso schwerer auf Ihnen, wenn die Worte Sie begreifen lassen, dass es wirklich wahr ist, dass all das Ihre Schuld ist?«

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Weil ich mich das schon selbst gefragt habe«, sagte Duff. Der Himmel draußen war dunkel, bewölkt, gab keine Antwort, kein Zeichen. »Wie es wäre, meiner Familie alles zu sagen.«

»Aber das haben Sie nicht getan«, sagte Lennox. »Wir tun das nicht. Weil wir uns lieber selbst zerstören, als den Schmerz in ihren Gesichtern zu sehen. Aber Sie hatten nicht die Chance, es zu entscheiden.«

»Doch, hatte ich. Ich habe mich entschieden. Jeden Tag. Dazu, untreu zu sein.«

»Wollen Sie mir helfen, Duff?«

Duff wurde aus seinen Gedanken gerissen. Blinzelte. Er musste dringend schlafen. »Helfen?«

»Tun Sie mir einen Gefallen. Das Kissen. Drücken Sie es auf mein Gesicht und halten Sie es fest. Es wird aussehen, als wäre ich an meinen Verletzungen gestorben. Und sagen Sie meinen Kindern, dass ihr Vater, der Mörder und Verräter, am Ende bereut hat?«

»Ich …«

»Ich weiß, dass Sie der Einzige sind, der mich vielleicht versteht, Duff. Dass Sie jemanden so sehr lieben und ihn dennoch betrügen können. Und wenn es zu spät ist, ist es zu spät. Sie können nur noch tun … was richtig ist, aber es ist zu spät.«

»Zum Beispiel das Leben des Bürgermeisters retten.«

»Aber das genügt nicht, oder, Duff?« Lennox trockenes Lachen ging in einen Hustenkrampf über. »Eine letzte verzweifelte Tat, die, von außen betrachtet, wie ein Opfer wirkt, von der Sie aber im tiefsten Innern hoffen, dass sie mit der Vergebung Ihrer Sünden belohnt wird, wenn sich die Himmelspforten öffnen. Aber das ist zu viel verlangt, Duff. Sie glauben nicht, dass man jemals wiedergutmachen kann, was man einmal angerichtet hat, oder?«

»Nein«, sagte Duff. »Ich kann nichts wiedergutmachen. Aber ich kann damit anfangen, Ihnen zu verzeihen.«

»Nein!«, sagte Lennox.

»Doch.«

»Nein, das dürfen Sie nicht! Tun Sie das nicht, nein …« Seine Stimme versagte. Duff schaute ihn an. Kleine, glänzende Tränen rannen seine weißen Wangen hinab.

Duff atmete tief ein. »Ich werde darüber nachdenken, Ihnen nicht zu verzeihen, unter einer Bedingung, Lennox.«

Lennox nickte.

»Dass Sie sich einverstanden erklären, heute Abend ein Radiointerview zu geben, in dem Sie auspacken und Malcolm von allen Anschuldigungen entlasten.«

Mit Mühe hob Lennox eine Hand und wischte sich die Wangen ab. Dann griff er mit seinen tränenfeuchten Fingern nach Duffs Handgelenk. »Rufen Sie Priscilla an und sagen Sie ihr, dass sie herkommen soll.«

Duff nickte, stand auf und befreite sein Handgelenk. Schaute ein letztes Mal auf Lennox hinab. Fragte sich, ob er einen Mann vor sich sah, der sich geändert hatte, oder einen, der nur den einfachsten Ausweg wählte.

»Und?«, sagte Tourtell und stand von dem Stuhl an der Flurwand auf, als Duff aus dem Raum trat.

»Er hat bestätigt, dass Macbeth Sie umbringen lassen wollte, und er macht das Interview«, sagte Duff. »Aber Hecate hat einen Informanten, jemanden, der Macbeth nahesteht. Es könnte jeder aus dem Hauptquartier …«

»Wie auch immer«, platzte Tourtell heraus, als sie den Flur hinuntereilten, »mit Lennox’ Aussage ist Macbeth erledigt! Ich rufe sofort in Capitol an und lasse einen Haftbefehl ausstellen.«

Eine Krankenschwester kam auf sie zu. »Herr Bürgermeister, Sir?«

»Ja?«

»Ihr Hausmädchen Agnes hat bei uns angerufen. Sie sagt, Kasi sei immer noch nicht nach Hause gekommen.«

»Vielen Dank«, entgegnete Tourtell. Sie gingen weiter. »Sie werden schon sehen, er ist bei Freunden untergekrochen und wartet jetzt, bis die Luft rein ist.«

»Wahrscheinlich«, sagte Duff. »Ihr Dienstmädchen …«

»Ja?«

»Ich hatte nie Hausangestellte, aber ich nehme an, nach einer Weile gehören sie gewissermaßen zum Mobiliar. Man spricht ganz offen und geht davon aus, dass sie nichts weitererzählen, was die eigenen vier Wände nicht verlassen soll. Ist es nicht so?«

»Agnes? Ja. Ja, zumindest ist es bei ihr so, seit ich weiß, dass ich ihr vertrauen kann. Aber das hat Zeit gebraucht.«

»Und doch kann man nie sicher sein, was ein anderer Mensch denkt und fühlt, oder?«

»Hm. Sie fragen sich, ob Macbeth eine persönliche Sekretärin im Hauptquartier hat, die womöglich …«

»Priscilla?«, sagte Duff. »Na ja, wie Sie schon sagten, es braucht Zeit, bis man jemandem vertrauen kann.«

»Und?«

»Sie sagten, Sie hätten Black Jack in einem Hinterzimmer gespielt, als Macbeth und Lady Pläne geschmiedet haben, um Hecate umzubringen. Aber braucht man dafür nicht eine vierte Person?«

»Wie bitte?«

»Black Jack. Braucht man dafür nicht einen Croupier?«


»Jack?«

»Ja, Lady?« Jack zog seine Hand zurück. Sie hatte lässig auf Billys Rücken gelegen, während sich die beiden über das Gästebuch beugten und Jack sich anschickte, ihm zu erklären, wie sie neue Gäste eintrugen.

»Ich muss mit Ihnen über etwas sprechen, Jack. Lassen Sie uns nach oben gehen.«

»Selbstverständlich. Hältst du hier die Stellung, Billy?«

»Ich tue mein Bestes, Mr Bonus.«

Jack lächelte und wusste, dass er den Blick des frisch eingestellten Jungen einen Moment zu lange gehalten hatte. Dann eilte er Lady hinterher die Treppe hinauf.

»Was halten Sie von dem neuen Jungen?«, fragte sie, nachdem er zu ihr aufgeschlossen hatte.

»Noch etwas früh, um das zu sagen, Ma’am. Ein bisschen jung und unerfahren, aber er scheint keine Katastrophe zu sein.«

»Gut. Wir brauchen zwei Kellner fürs Restaurant. Die beiden, die sich heute vorgestellt haben, waren absolut unmöglich. Wie wollen junge Leute in dieser Welt überleben, wenn sie nichts ernst nehmen und sich weigern, etwas zu lernen? Glauben die, es würde ihnen alles auf dem Silbertablett serviert werden?«

»Wohl wahr«, sagte Jack und betrat die Suite, deren Tür Lady aufhielt. Als er sich umdrehte, sah er, dass sie sie wieder geschlossen hatte und unter Tränen auf einem Stuhl zusammengebrochen war.

»Lady, was ist denn los?«

»Lily«, schluchzte sie. »Lily. Er hat ihren Namen gesagt.«

»Lily, Ma’am?«

Lady verbarg ihr Gesicht in den Händen, und Schluchzer ließen ihren Körper erzittern.

Jack hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Er ging auf sie zu, hielt aber inne. »Würden Sie gern … darüber sprechen?«

»Nein!«, schrie sie auf. Atmete zitternd ein. »Nein, ich will nicht darüber sprechen. Dr. Alsaker wollte darüber sprechen. Er ist verrückt, wussten Sie das? Er hat es mir selbst gesagt. Aber das mache ihn nicht zu einem schlechten Psychiater, behauptet er, eher im Gegenteil. Ich brauche keine Worte, Jack, ich habe alle schon gehört. Meine eigenen und die der anderen, und sie können mich nicht mehr beruhigen. Ich brauche Medizin.« Sie zog die Nase hoch und wischte sich mit dem Handrücken vorsichtig die Tränen unter ihren Augen weg. »Schlicht und einfach: Medizin. Ohne sie kann ich nicht der Mensch sein, der ich sein muss.«

»Und wer ist dieser Mensch?«

»Lady, Jack.« Sie betrachtete die verschmierte Wimperntusche auf ihrer Hand. »Die Frau, die lebt und sterben lässt. Aber Macbeth nimmt keine Medizin mehr, und deshalb ist keine hier. Stellen Sie sich vor. Er ist stärker als ich. Das hätten Sie nicht erwartet, was? Deshalb müssen Sie mir jetzt welche besorgen, Jack.«

»Lady …«

»Ansonsten bricht hier alles zusammen. Ich höre die ganze Zeit ein Kind weinen, Jack. Ich gehe in den Spielsaal, ich lächele und rede.« Neue Tränen begannen zu fließen. »Spreche laut und lache, damit ich das Weinen dieses Kindes nicht hören muss, aber jetzt schaffe ich das nicht mehr. Er kannte den Namen des Kindes. Er hat die letzten Worte wiederholt, die ich damals zu ihr gesagt habe.«

»Was meinen Sie?«

»Hecate. Er kannte sie. Die Worte, die ich gesagt habe, bevor ich den Kopf mit diesen großen fragenden Augen zerschlagen habe. In einem anderen Leben, meine kleine Lily. Ich habe das nie einer menschlichen Seele erzählt. Niemals! Zumindest nicht, solange ich bei Bewusstsein war. Aber vielleicht im Traum. Vielleicht, wenn ich schlafgewandelt bi…« Sie hielt inne. Runzelte die Stirn, als wäre ihr etwas klar geworden.

»Hypnose«, sagte Jack. »Sie haben es während der Hypnose gesagt. Hecate weiß es von Dr. Alsaker.«

»Hypnose?« Sie nickte langsam. »Glauben Sie? Meinen Sie, Alsaker hat mich betrogen? Und wurde dafür bezahlt?«

»Die Menschen sind gierig, das liegt in ihrer Natur, Ma’am. Ohne seine Gier hätte der Mensch den Kampf um diese Erde nicht gewonnen. Sehen Sie doch nur, was Sie selbst geschaffen haben, Ma’am.«

»Sie meinen, das liegt alles nur an der Gier?«

»Nicht nach Geld, Ma’am. Ich denke, unterschiedliche Menschen sehnen sich nach unterschiedlichen Dingen. Nach Macht, Sex, Bewunderung, Nahrung, Liebe, Wissen, Angst …«

»Wonach sehnen Sie sich denn, Jack?«

»Ich?« Er zuckte mit den Schultern. »Ich mag glückliche, zufriedene Gäste. Ja, ich sehne mich nach der Zufriedenheit der anderen. Auch nach Ihrer, Ma’am. Wenn Sie glücklich sind, bin ich es auch.«

Sie richtete fest ihren Blick auf ihn. Dann stand sie auf, ging zum Spiegel hinüber und griff nach der Haarbürste, die auf dem Tisch darunter lag. »Jack …«

Der Klang ihrer Stimme gefiel ihm nicht, trotzdem fing er ihren Blick im Spiegel auf. »Ja, Ma’am.«

»Sie sollten sich doch eigentlich mit Einsamkeit auskennen.«

»Sie wissen, dass es so ist, Ma’am.«

Sie begann, ihr langes, feuerrotes Haar zu kämmen, von dem Männer sich angezogen oder bedroht gefühlt hatten, je nachdem. »Aber wissen Sie, was noch einsamer ist, als niemals jemanden an seiner Seite zu haben? Wenn man glaubt, man hätte jemanden, doch dann stellt sich heraus, dass der Mensch, den man für seinen engsten Freund gehalten hat, es in Wirklichkeit niemals war.« Die Bürste blieb stecken, aber sie zwang sie durch die dicken, unbändigen Haare. »Dass man die ganze Zeit betrogen wurde. Können Sie sich vorstellen, wie einsam man sich dann fühlt, Jack?«

»Nein, das kann ich nicht, Ma’am.«

Jack schaute sie an. Er wusste nicht, was er sagen oder tun sollte.

»Seien Sie froh, dass man Sie noch nicht getäuscht hat, Jack.« Sie legte die Bürste ab und reichte ihm einige Zettel. »Sie sind wie einer dieser winzigen Fische, die sich an Schiffen und anderen Fischen festsaugen, zu klein, um getäuscht zu werden, Sie können nur selber täuschen. Die Haie lassen Sie bei sich mitschwimmen, weil Sie andere, schlimmere Parasiten vertilgen. Im Gegenzug schippern sie Sie durch die Meere der Welt. So reisen sie gemeinsam, zum gegenseitigen Vorteil, und die Beziehung ist so intim und eng, dass man sie glatt mit Freundschaft verwechseln könnte. Bis ein größerer, gesünderer Hai vorbeigeschwommen kommt. Na los, Jack. Gehen Sie und kaufen Sie mir Brew.«

»Sind Sie sicher, Ma’am?«

»Verlangen Sie etwas Wirksames. Etwas Starkes. Das einen hoch hinausbringt und weit weg. So hoch, dass man sich den Schädel aufschlagen würde beim Absturz. Denn wer will schon ohne Freunde in einer kalten Welt wie dieser leben?«

»Ich werde mein Bestes tun, Ma’am.«

Er schloss die Tür hinter sich ohne jedes Geräusch.

»Oh, ich bin mir sicher, Sie wissen, wo Sie es finden, Jack Bonus«, flüsterte sie ihrem Bild im Spiegel zu. »Und grüßen Sie Hecate von mir.« Eine Träne rann ihre Wange hinab, in der salzigen Spur der vorherigen. »Mein guter, lieber Jack. Mein armer kleiner Jack.«


»Mr Lennox?«

Lennox öffnete die Augen. Schaute auf die Uhr. Anderthalb Stunden bis Mitternacht. Seine Lider schlossen sich erneut. Er hatte um mehr Morphium gebeten. Er wollte bloß schlafen, wenn es auch ein quälender, schuldgeplagter Schlaf war.

»Mr Lennox.«

Er öffnete noch einmal die Augen. Das Erste, was er sah, war eine Hand, die ein Mikrofon hielt. Dahinter erkannte er etwas Gelbes. Langsam stellte es sich scharf. Ein Mann in Öljacke, der neben einem Krankenhausbett auf einem Stuhl saß.

»Sie?«, flüsterte er. »Von allen Reportern der Welt schicken die ausgerechnet Sie?«

Walt Kite rückte seine Brille zurecht. »Tourtell, Malcolm und die anderen wissen, dass ich … dass ich …«

»Dass Macbeth Sie in der Hand hat?« Lennox hob den Kopf vom Kissen. Sie waren allein im Zimmer. Er krümmte sich, um den Rufknopf am Kopfende zu erreichen, aber der Reporter legte seine Hand darüber.

»Das ist nicht nötig«, sagte Kite ruhig.

Lennox versuchte, Kites Hand von dem Rufknopf zu ziehen, aber ihm fehlte die Kraft.

»Damit Sie mich Macbeth zum Fraß vorwerfen können?«, schnaubte Lennox. »So wie Sie uns Angus zum Fraß vorgeworfen haben?«

»Ich war in derselben misslichen Lage wie Sie, Lennox. Ich hatte keine Wahl. Er hat meine Familie bedroht.«

Lennox gab auf und ließ sich zurücksinken. »Und was wollen Sie jetzt? Haben Sie ein Messer dabei? Oder Gift?«

»Nein. Aber das hier.« Kite hob sein Mikrofon.

»Wollen Sie mich damit umbringen?«

»Nicht Sie, aber Macbeth.«

»Ach ja?«

Walt Kite legte das Mikrofon ab, knöpfte die Jacke auf und putzte seine beschlagene Brille.

»Als Tourtell mich anrief, wusste ich, dass ich genug hatte, um ihn zu kriegen. Tourtell hat den Arzt überredet, mir fünf Minuten zu geben, also müssen wir uns beeilen. Erzählen Sie mir die Geschichte, und ich fahre direkt zum Funkhaus und sende es, roh und ungeschnitten.«

»Mitten in der Nacht?«

»Ich kann es noch vor Mitternacht schaffen. Und es genügt, wenn einige Leute es hören. Hören, dass es eindeutig Ihre Stimme ist. Ich breche hier mit allen Prinzipien von gutem Journalismus – dem Recht zur Gegenrede, der Pflicht, Aussagen zu überprüfen –, und nur weil …«

»Sie Ihre eigene Haut retten wollen«, sagte Lennox. »Um wieder die Seiten zu wechseln. Damit Sie auch auf jeden Fall zum Siegerteam gehören.«

Er sah, wie Kite seinen Mund öffnete und wieder schloss. Schluckte. Und hinter seinen noch immer beschlagenen Brillengläsern blinzelte.

»Geben Sie es zu, Kite. Das ist schon in Ordnung. Sie sind nicht allein. Wir sind keine Helden. Wir sind vollkommen gewöhnliche Leute, die vielleicht davon träumen, Helden zu sein. Aber wenn wir uns entscheiden müssen zwischen unserem Leben und unseren Prinzipien, von denen wir so gern reden, sind wir ziemlich gewöhnlich.«

Ein kurzes Lächeln huschte über Kites Gesicht. »Sie haben recht. Ich bin immer ein arroganter, großmäuliger, feiger Moralprediger gewesen.«

Lennox rang nach Atem. Er war sich nicht sicher, ob er selbst redete oder ob es das Morphium war, das aus ihm sprach. »Aber wenn Sie die Chance bekämen, glauben Sie, Sie könnten die Dinge anders angehen?«

»Was meinen Sie?«

»Könnten Sie ein anderer Mensch sein? Könnten Sie sich dazu bringen, sich für etwas Höheres aufzuopfern als für Ihr eigenes Ansehen?«

»Wie sollte das gehen?«

»Indem Sie etwas wirklich Heroisches tun, das den Ruf des angesehenen Journalisten Kite für alle Zeiten ruiniert.«


Macbeth schloss die Augen. Er hoffte, wenn er sie wieder öffnete, wären der schlimme Traum und die viel zu lange Nacht zu Ende. Während die Stimme aus dem Radio, das auf dem Regal hinter seinem Schreibtisch stand, munter weiter brummte. Jedes gerollte R klang wie eine Maschinengewehrsalve.

»Also, Inspector Lennox, ich fasse noch mal zusammen. Sie sagen, dass Chief Commissioner Macbeth hinter den Morden an Chief Commissioner Duncan und Inspector Banquo steckt, ebenso wie hinter dem Massaker im Norse-Riders-Clubhaus, der Ermordung von Inspector Duffs Familie sowie der Liquidierung von Police Officer Angus, die auf Macbeths Befehl von Ihnen selbst und Inspector Seyton durchgeführt wurde. Und dass Chief Commissioner Macbeth, zusammen mit dem Leiter des SWAT-Teams, Inspector Seyton, und Police Officer Olafson, darüber hinaus verantwortlich ist für den gescheiterten Anschlag auf Bürgermeister Tourtell, der heute am frühen Abend stattgefunden hat.«

»Das ist korrekt.«

»Damit bedanken wir uns bei Inspector Lennox, der von seinem Bett im St. Jordi’s Hospital mit uns gesprochen hat. Die Aufzeichnung des Gespräches ist unter Zeugen durchgeführt worden, sodass es vor Gericht als Beweismaterial Verwendung finden kann, auch in dem Fall, dass Lennox ebenfalls ermordet werden sollte. Und nun möchte ich, liebe Hörer, zum Schluss noch hinzufügen, dass ich, Walt Kite, selbst Mittäter bei der Ermordung von Police Officer Angus gewesen bin, insofern ich das hohe Ansehen, das ich bei Ihnen genieße, vom Chief Commissioner und Mörder Macbeth habe missbrauchen lassen. In dem Gerichtsprozess, der mir bevorsteht, und in den Gesprächen mit den mir Nahestehenden mag es einen mildernden Umstand geben, auf den ich mich berufen kann: dass ich und meine Familie bedroht wurden. In beruflicher Hinsicht jedoch zählt das nicht. Ich habe gezeigt, dass man mich erpressen, mich benutzen und dazu bringen kann, meine Hörer anzulügen. Ich habe mich selbst enttäuscht, und ich habe Sie enttäuscht, und das bedeutet, dass Sie Walt Kite heute zum letzten Mal auf Sendung hören. Ich werde Sie mehr vermissen als Sie mich. Zeigen Sie, dass Sie bessere Bürger sind als ich. Gehen Sie auf die Straße und entmachten Sie Macbeth. Ich sage: Gute Nacht. Gott segne unsere Stadt.«

Der Signalton.

Macbeth öffnete die Augen. Aber er war immer noch in seinem Büro, Seyton saß noch immer auf dem Sofa, Olafson noch immer auf dem Stuhl, und immer noch lief das Radio.

Macbeth stand auf und schaltete es aus.

»Und nun?«, sagte Seyton.

»Schhh«, sagte Macbeth.

»Was?«

»Halten Sie mal für ’ne Sekunde die Klappe!« Er presste Daumen und Zeigefinger gegen seinen Nasenrücken. Er war müde, so müde, dass es ihm schwerfiel, so klar zu denken, wie es nötig war. Denn er musste jetzt klar denken. Seine nächsten Entscheidungen würden folgenschwer sein, die nächsten Stunden würden den Kampf um die Stadt entscheiden.

»Mein Name«, sagte Olafson.

»Was?«

»Sie haben meinen Namen im Radio gesagt.« Er lächelte versonnen. »Ich glaube nicht, dass jemand aus meiner Familie schon mal seinen Namen im Radio gehört hat.«

Macbeth lauschte auf die Stille. Der Verkehr. Wo war das übliche Dröhnen des Verkehrs? Es war, als würde die Stadt den Atem anhalten. Er stand auf. »Kommen Sie!«

Sie fuhren mit dem Fahrstuhl ins Untergeschoss.

Gingen an der SWAT-Flagge mit dem roten Drachen vorbei.

Seyton schloss die Munitionskammer auf und schaltete das Licht an.

Der Junge saß, geknebelt und an den Safe gefesselt, zwischen den Ständern mit den Maschinengewehren. Die braune Iris seiner Augen bildete nur dünne Ringe um die Pupillen, die vor lauter Angst groß und schwarz waren.

»Wir bringen ihn ins Inverness«, sagte Macbeth.

»Ins Inverness?«

»Hier sind wir nicht mehr sicher, keiner von uns. Aber vom Inverness aus können wir Tourtell in die Knie zwingen.«

»Wer ist wir?«

»Die letzten Getreuen. Die belohnt werden, wenn der Sieg unser ist.«

»Sie, ich und Olafson? Wir sollen die Stadt in die Knie zwingen?«

»Vertrauen Sie mir.« Macbeth streichelte Kasis Kopf, als wäre er ein treuer Hund. »Hecate braucht uns und wird uns verteidigen.«

»Gegen die gesamte Stadt?«, fragte Olafson.

»Hecates Helfer bilden eine Armee, Olafson. Sie sind ebenso unsichtbar wie er, aber sie sind da – sie haben mich schon zweimal gerettet. Und wir haben unsere Gatling-Schwestern und die Kenneth-Verordnungen auf unserer Seite. Wenn Tourtell nachgibt und den Notstand ausruft, gehört die Stadt mir. Nun? Treue, Brüderlichkeit?«

Olafson schloss die Augen. »Getauft in Feuer«, flüsterte er.

Seyton schaute sie abfällig an. Aber dann breitete sich, ganz langsam, ein Lächeln auf seinen schmalen Lippen aus. »Vereint in Blut.«

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