27

Duff stand in der Kombüse und betrachtete die Männer in der Messe. Sie hatten ihr Mittagessen beendet. Jetzt drehten sie sich Zigaretten und sprachen leise miteinander, lachten, zündeten die Zigaretten an, tranken ihren Kaffee. Nur einer saß für sich allein. Hutchinson. Ein großes, hautfarbenes Pflaster auf seiner Stirn verriet denen, die nicht dabei gewesen waren, dass er Prügel bezogen hatte. Hutchinson versuchte so zu tun, als würde er sehr konzentriert über etwas nachdenken, während er an seiner Selbstgedrehten paffte, aber seine schauspielerischen Fähigkeiten waren nicht gut genug, und er sah lediglich verloren aus.

»Wir legen morgen an«, sagte der Steward, der sich ebenfalls eine Zigarette angezündet hatte und sich an den Herd lehnte. »Du hast schnell gelernt. Geht’s denn weiter, Smut?«

»Wie?«

»Bleibst du bei der nächsten Fahrt dabei?«

»Nein«, sagte Duff. »Aber danke fürs Nachfragen.«

Der Steward zuckte mit den Schultern. Duff beobachtete, wie ein Nachzügler seinen Suppenteller auf Hutchinsons Tisch zubalancierte. Dann blickte er jedoch auf, erkannte, wer dort saß, und quetschte sich lieber an einen schon ziemlich vollen Tisch. Duff sah, dass Hutchinson das keineswegs entgangen war und er sich nun noch angestrengter auf seine Kippe konzentrierte, während er mehrmals rasch blinzelte.

»Habt ihr noch was von dem Käsekuchen von gestern?«

Duff drehte sich um.

Es war der Erste Ingenieur, der mit hoffnungsvoller Miene im Türrahmen stand.

»Tut mir leid«, sagte der Steward. »Alles weg.«

»Moment«, sagte Duff. »Ich glaube, ich hab ein kleines Stück beiseitegetan.« Er ging in den Kühlraum, fand einen in Folie eingewickelten Teller, kam damit zurück und reichte ihn dem Ersten Ingenieur. »Ist ein bisschen kalt.«

»Schon okay«, sagte der Erste Ingenieur und leckte sich die Lippen. »Ich mag’s kalt.«

»Eins noch …«

»Ja?«

»Hutchinson ….«

»Hutch?«

»Ja. Er sieht ein bisschen … ähm … niedergeschlagen aus. Ich habe über etwas nachgedacht, was mir der Kapitän gesagt hat. Er meinte, Hutch sei ein guter Ingenieur. Stimmt das?«

Der Erste Ingenieur bewegte den Kopf zögerlich hin und her und sah Duff fragend an. »Er ist ganz okay.«

»Vielleicht wäre es eine gute Idee, ihm das zu sagen.«

»Ihm was zu sagen?«

»Dass er ganz okay ist.«

»Warum?«

»Ich glaube, er muss das mal hören.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Wenn man die Leute zu sehr lobt, wollen sie bloß mehr Geld und längere Pausen.«

»Als Sie ein junger Ingenieur waren, hatten Sie da einen Vorgesetzten, der Ihnen das Gefühl gegeben hat, gute Arbeit zu leisten?«

»Ja, aber das habe ich auch.«

»Versuchen Sie sich mal daran zu erinnern, wie gut Sie damals wirklich waren.«

Der Erste Ingenieur stand mit offenem Mund vor ihm.

In diesem Augenblick kam das Schiff ins Schlingern. Aus der Messe drangen Schreie, und hinter Duff war ein lauter Knall zu hören.

»Verdammte Scheiße!«, brüllte der Steward, und als Duff sich umdrehte, sah er, dass die große Suppenschüssel zu Boden gefallen war. Duff starrte die dicke grüne Erbsensuppe an, die daraus hervorsickerte, und ohne Vorwarnung drehte sich ihm der Magen um. Er spürte die Übelkeit in der Kehle und schaffte es nur noch, sich am Türrahmen festzuhalten, bevor er sich erbrach.

»Tja, Smutje«, sagte der Erste Ingenieur, »sonst noch ein paar gute Ratschläge?« Er drehte sich um und ging.

»Zur Hölle, Johnson. Haben Sie das nicht mal langsam hinter sich?«, stöhnte der Steward und reichte Duff eine Rolle Küchenpapier.

»Was ist passiert?«, fragte Duff und wischte sich den Mund ab.

»Haben wohl eine Dünung erwischt«, sagte der Steward. »Das kommt vor.«

»Gönnen Sie sich doch ’ne Pause. Ich mach hier sauber.«

Nachdem Duff den Boden aufgewischt hatte, ging er in die Messe, um das schmutzige Geschirr einzusammeln. Nur noch drei Typen saßen an einem Tisch. Und Hutch, der sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Duff lauschte auf ihr Gerede, während er Teller und Gläser auf sein Tablett stapelte.

»Dieser Brecher muss von ’nem Erdbeben ausgelöst worden sein oder einer Lawine oder irgendwas!«, sagte einer von ihnen.

»Vielleicht war es ein Atomtest«, schlug einer der anderen vor. »Die Sowjets sollen doch in der Barentssee irgendwelche Scheiße abziehen, und die Schockwellen gehen angeblich einmal rund um die Welt.«

»Gibt’s darüber irgendwelche Nachrichten über Funk, Sparks?«

»Nein.« Sparks lachte. »Im Augenblick sind nur alle wie wild hinter irgend so einem Typen her, der ’ne weiße Narbe quer im Gesicht hat.«

Duff versteifte sich. Stapelte weiter Teller und lauschte.

»Ja, wird ganz gut sein, morgen mal an Land zu kommen.«

»Oder ganz schlimm. Meine Alte sagt, sie is’ schon wieder schwanger.«

»Mich musst du da nicht angucken.«

Gut gelauntes Gelächter machte sich breit. Duff drehte sich mit dem Tablett in Händen um. Hutchinson hatte den Kopf gehoben und saß plötzlich kerzengerade da. Die paar Male, seit sie sich nach ihrem Zusammenstoß begegnet waren, hatte er stets zu Boden geschaut und Duffs Blick gemieden, doch nun starrte er ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Wie ein Aasgeier, der die unerwartete Freude hat, ein hilfloses, verletztes Tier zu erspähen.

Duff stieß mit dem Fuß die Tür zur Kombüse auf und hörte sie hinter sich zuklappen. Stellte das Tablett auf die Arbeitsplatte. Verdammt, verdammt, verdammt! Nicht jetzt, nicht, wo sie in weniger als zwanzig Stunden an Land gehen würden.


»Nicht so schnell«, sagte Caithness und spähte durch die Windschutzscheibe.

Der Taxifahrer nahm seinen Fuß vom Gas, und sie fuhren langsam am Obelisken vorbei, aus dessen Haupteingang die Leute scharenweise auf die Straße strömten. Auf dem Gehsteig parkten zwei Polizeiwagen. Das Blaulicht drehte sich träge.

»Was ist denn hier los?«, fragte Lennox und beugte sich zwischen den beiden Vordersitzen nach vorn. Sein Gesicht wurde blau angestrahlt. Er trug – ebenso wie Caithness – noch immer seine Uniform, da das Taxi sie unmittelbar nach Duncans Beerdigung bei der Kirche abgeholt hatte. »Ist der Feueralarm losgegangen?«

»Die Spielbankenaufsicht hat den Laden heute geschlossen«, sagte Caithness. »Verdacht auf Verletzung der Casino-Richtlinien.«

Sie sahen, wie einer der Polizisten einen wütend gestikulierenden Mann mit beeindruckenden Koteletten in leichtem Anzug und gemustertem Hemd hinausführte. Offenbar versuchte er, etwas zu erklären, der Polizist schien dafür jedoch gänzlich taub zu sein.

»Traurig«, sagte der Fahrer.

»Was ist traurig?«, fragte Lennox. »Dass für Recht und Ordnung gesorgt wird?«

»Manchmal ja. Im Obelisken konnte man wenigstens mal ein Bier trinken und Karten spielen, ohne sich rausputzen zu müssen und anschließend bankrott nach Hause zu kommen. Übrigens, wissen Sie, dass die Fabrik, zu der ich Sie fahren soll, auch dichtgemacht hat?«

»Ja«, erwiderte Caithness.

Das war allerdings auch alles, was sie über sie wusste. Police Officer Angus hatte heute Morgen angerufen und sie dringlich gebeten, Inspector Lennox von der Antikorruptionseinheit mit zur Estex zu bringen. Alles Weitere würden sie erfahren, wenn sie dort ankämen. Es gehe um Korruption auf höchster Ebene, und vorläufig dürften sie das Treffen niemandem gegenüber erwähnen. Als sie entgegnet hatte, sie kenne keinen Police Officer Angus, hatte er ihr erklärt, dass er der Beamte aus dem SWAT-Team mit den langen Haaren sei, den sie manchmal anlächelte und im Fahrstuhl grüßte. Sie erinnerte sich an ihn. Sah eigentlich eher wie ein freundlicher, weltfremder Hippie aus und nicht wie ein SWAT-Mann.

Sie rauschten weiter durch die Straßen. Sie sah, wie sich die arbeitslosen Männer zum Schutz vor dem Regen in nassen Mänteln gegen die Häuserwände drückten, mit Kippen im Mund und hungrigen, feuchten Augen: Hyänen. Sie waren nicht so auf die Welt gekommen, es war die Stadt, die sie dazu machte. Duncan hatte mal gesagt, wenn nur Aas auf dem Speiseplan stand, verschlang man eben Aas, ganz gleich für wen man sich hielt. Und was auch immer sie vom Polizeihauptquartier aus unternähmen, der beste Weg, die Kriminalität zu senken, sei, die Bürger der Stadt wieder in Arbeit zu bringen.

»Macht ihr die Estex-Fabrik wieder auf?«, fragte der Fahrer und zwinkerte Caithness zu.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Ich glaube, Macbeth ist cleverer als Duncan, der alte Holzkopf.«

»Ach ja?«

»Eine Fabrik dichtzumachen, bloß weil da so ’n bisschen Brühe rausläuft? Herrgott, alle, die da gearbeitet haben, waren auch Raucher. Die sterben eh. Das waren fünftausend Jobs. Fünftausend Jobs, die diese Stadt gebraucht hat! Nur so ein dämlicher Oberschichten-Depp aus Capitol konnte so eingebildet sein. Macbeth ist einer von uns – der versteht uns und tut auch was. Soll ruhig Macbeth für ’ne Weile ans Ruder, dann können es sich die Leute hier vielleicht auch mal wieder leisten, mit dem Taxi zu fahren.«

»Apropos Macbeth«, sagte Caithness und drehte sich zum Rücksitz um. »Er hat schon zwei Tage hintereinander die Morgenmeetings abgesagt, und in der Kirche sah er ziemlich blass aus. Ist er krank?«

»Er nicht«, sagte Lennox. »Aber Lady. Er war kaum im Hauptquartier.«

»Es ist natürlich gut, dass er sich um sie kümmert, aber er ist Chief Commissioner, und wir müssen hier eine ganze Stadt im Griff behalten.«

»Zum Glück hat er ja uns.« Lennox lächelte.

Das Taxi hielt vor dem Tor, an dem eine Kette mit Vorhängeschloss angebracht war. Das GESCHLOSSEN-Schild war auf die löchrige Fahrbahn herabgefallen. Caithness stieg aus, blieb vor dem offenen Fenster des Fahrers stehen und ließ, während sie auf das Wechselgeld wartete, den Blick über die verlassene Industriebrache gleiten. Keine Telefonzellen, und die Telefone in der Estex-Fabrik waren vermutlich abgeschaltet worden. »Wie sollen wir hier an ein Taxi kommen, wenn wir zurückwollen?«, fragte sie.

»Ich parke hier und warte«, sagte der Fahrer. »In der Stadt ist eh nichts los.«

Hinter dem Fabriktor ragten ein rostiger Gabelstapler und ein Turm verrottender Holzpaletten auf. Der Personaleingang neben dem großen Rolltor stand offen.

Caithness und Lennox traten in das Fabrikgebäude. Draußen war es kalt, unter der hohen gewölbten Decke jedoch noch kälter. So weit das Auge reichte, standen die Brennöfen wie riesige Kirchenbänke in der rechteckigen Halle.

»Hallo?«, rief Caithness. Die Echos ließen es ihr kalt den Rücken herunterlaufen.

»Hier!«, ertönte die Antwort von oben, wo das Büro des Vorarbeiters und eine Kontrollplattform in die Werkhalle hineinragten. Wie ein Wachturm in einem Gefängnis, dachte Caithness. Oder eine Kanzel.

Der junge Mann, der dort oben stand, deutete auf eine schmale Stahltreppe. Caithness und Lennox gingen die Stufen hinauf.

»Police Officer Angus«, sagte er und schüttelte ihnen die Hand. Sein offenes Gesicht zeigte Nervosität, aber auch Entschlossenheit.

Sie folgten ihm ins Vorarbeiterbüro, das roch, als sei es mit getrocknetem Schweiß und Tabak mariniert worden. In die großen Fensterscheiben, die auf die Werkhalle hinausgingen, schien ein merkwürdiger gelber Belag eingebrannt. Auf den Tischen lagen aufgeschlagene Akten, die offenbar aus den Regalen an der Wand genommen worden waren. Der junge Mann war unrasiert und trug enge, ausgeblichene Jeans und eine grüne Militärjacke.

»Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten«, sagte Angus und deutete auf die abblätternden Holzstühle.

»Ich möchte nicht drängeln, aber ich hoffe, dies ist wichtig«, sagte Lennox und nahm Platz. »Ich musste ein wichtiges Meeting verlassen.«

»Da Sie nicht viel Zeit haben und auch sonst keiner von uns, komme ich gleich zum Punkt.«

»Vielen Dank.«

Angus verschränkte die Arme. Sein Kiefer malmte, und seine Blicke huschten hin und her, aber er strahlte doch Entschlossenheit aus – wie ein Mann, der genau weiß, dass er im Recht ist.

»Zweimal bin ich in meinem Leben gläubig gewesen.« Angus schluckte, und Caithness spürte, dass er sich etwas ins Gedächtnis rief, das er eigens auswendig gelernt haben musste. »Und zweimal habe ich meinen Glauben verloren. Der erste Glaube galt Gott. Der zweite Macbeth. Macbeth ist kein Heiland, er ist ein korrupter Mörder. Ich wollte das gleich als Erstes loswerden, damit Sie verstehen, warum ich das hier tue. Es geht mir darum, die Stadt von Macbeth zu befreien.«

In der Stille, die sich nun breitmachte, konnten sie hören, wie einzelne Wassertropfen auf den Boden der Werkhalle fielen. Sie klangen wie Seufzer.

Angus atmete ein. »Wir waren …«

»Halt!«, sagte Caithness. »Haben Sie vielen Dank für Ihre Ehrlichkeit, Angus, aber bevor Sie noch irgendetwas sagen, müssen Inspector Lennox und ich entscheiden, ob wir das hören wollen.«

»Lassen Sie Angus weiterreden«, meinte Lennox. »Dann können wir später unter vier Augen darüber sprechen.«

»Warten Sie«, sagte Caithness. »Es gibt kein Zurück, wenn wir von Ihnen gewisse Informationen erhalten, die …«

»Wir wurden zu dem Clubhaus geschickt, um alle dort Anwesenden zu töten«, sagte Angus.

»Ich will das nicht hören«, erwiderte Caithness und stand auf.

»Niemand sollte verhaftet werden«, sagte Angus mit lauterer Stimme. »Wir haben sofort das Feuer auf die Norse Riders eröffnet, und sie haben es geschafft, einen …« Er erhob einen Zeigefinger, der ebenso zitterte wie seine Stimme. »… einen einzigen verdammten Schuss zur Verteidigung abzugeben. Genauso war es bei …«

Caithness stampfte mit dem Fuß auf, um Angus’ Stimme zu übertönen, öffnete die Tür und wollte hinaustreten, als sie seinen Namen hörte und erstarrte.

»… Duffs Haus in Fife. Kein einziger Schuss wurde da auf uns abgefeuert. Weil er überhaupt nicht zu Hause war. Als wir das Haus betraten, nachdem wir es in tausend Stücke zerschossen hatten, haben wir bloß ein kleines Mädchen, einen Jungen und ihre Mutter gefunden …« Angus’ versagte die Stimme.

Caithness wandte sich zu ihm um. Der junge Mann lehnte am Tisch und hatte die Augen zusammengekniffen. »… die versucht hatte, sie im Schlafzimmer mit ihrem Körper zu schützen.«

»Oh, nein, nein, nein«, hörte sich Caithness flüstern.

»Macbeth hat den Befehl gegeben«, sagte Angus, »und Seyton hat dafür gesorgt, dass das gesamte SWAT-Team ihn buchstabengetreu ausführt. Und dazu …« Er hustete. »… gehörte auch ich.«

»Warum in aller Welt sollte Macbeth solche … Liquidationen anordnen?«, fragte Lennox ungläubig. »Er hätte sie doch einfach verhaften können, sowohl Duff als auch die Norse Riders?«

»Vielleicht nicht«, sagte Angus. »Vielleicht hatten sie etwas gegen Macbeth in der Hand, und er musste sie deshalb zum Schweigen bringen.«

»Was sollte das sein?«

»Haben Sie sich noch nie gefragt, warum die Norse Riders ausgerechnet an Banquo Rache geübt haben? Warum haben sie nicht denjenigen umgebracht, der den Befehl gegeben hatte, Macbeth selbst?«

»Ganz einfach«, schnaufte Lennox. »Macbeth ist besser geschützt. Haben Sie eigentlich irgendwelche Beweise?«

»Meine eigenen Augen«, sagte Angus und zeigte darauf.

»Es sind Ihre Augen und Ihre Beschuldigungen. Geben Sie mir einen Grund, warum wir Ihnen glauben sollten.«

»Es gibt einen Grund«, sagte Caithness und ging langsam zu ihrem Stuhl zurück. »Es wird nicht schwer sein, Angus’ Beschuldigungen von den anderen SWAT-Leuten bestätigen oder aus der Welt schaffen zu lassen. Wenn sie falsch sind, wird er seinen Job verlieren, eine Klage am Hals haben, und seine Zukunftsaussichten werden, vorsichtig ausgedrückt, bescheiden sein. Und das weiß er.«

Angus lachte auf.

Caithness hob eine Braue. »Entschuldigen Sie, habe ich etwas Dummes gesagt?«

»Wir sprechen vom SWAT-Team«, sagte Lennox. »Treue, Brüderlichkeit, getauft im Feuer, vereint im Blut.«

»Pardon?«

»Sie werden niemals jemanden aus dem SWAT-Team dazu bringen, ein Wort zu sagen, das Macbeth schaden könnte«, sagte Angus. »Oder Seyton. Oder einem der anderen Brüder.«

Caithness ließ ihre Hände sinken. »Sie kommen also zu uns mit Behauptungen, es habe Exekutionen gegeben, obwohl Sie wissen, dass Sie sie unmöglich beweisen können?«

»Macbeth hat mich dazu aufgefordert, die Leiche eines Babys, das beim Clubhaus-Massaker getötet wurde, zu verbrennen«, sagte Angus. Er fingerte an seiner Halskette herum. »Hier, in einem der Brennöfen.«

Caithness erschauderte. Und bereute es, geblieben zu sein. Warum hatte sie nicht auf dem Absatz kehrtgemacht? Warum saß sie nicht bereits im Taxi und ließ all das hinter sich?

»Ich habe mich geweigert«, fuhr Angus fort. »Aber das bedeutet, dass es jemand anderer getan haben muss. Vielleicht er selbst. Ich habe die Brennöfen überprüft, und einer von ihnen ist vor Kurzem benutzt worden. Ich dachte, wenn Sie Ihre Kriminaltechniker dazu bringen würden, den Ofen zu untersuchen, würden Sie vielleicht Spuren finden. Fingerabdrücke, Knochenreste, was weiß ich? Und wenn ja, könnte die Antikorruptionseinheit den Fall weitertragen.«

Lennox und Caithness wechselten einen Blick.

»Die Polizei kann nicht gegen ihren eigenen Chief Commissioner ermitteln«, sagte Lennox. »Haben Sie das nicht gewusst?«

Angus runzelte die Stirn. »Aber … die Antikorruptionseinheit, ist die nicht …?«

»Nein, wir können keine internen Ermittlungen aufnehmen«, sagte Lennox. »Wenn Sie es auf den Chief Commissioner abgesehen haben, müssen Sie den Fall dem Stadtrat und Tourtell vorlegen.«

Angus schüttelte verzweifelt den Kopf. »Nein, nein, nein, die sind doch alle bestochen, die ganze Bande! Wir müssen das selbst in die Hand nehmen. Wir müssen Macbeth intern zur Strecke bringen.«

Caithness sagte nichts. Bestätigte damit nur, dass Angus recht hatte. Niemand im Stadtrat, Tourtell eingeschlossen, würde es wagen, sich offen gegen Macbeth zu stellen. Kenneth hatte dafür gesorgt, dass der Chief Commissioner die rechtlichen Befugnisse besaß, so eine Form politischer Rebellion gnadenlos niederzuschlagen.

Lennox schaute auf seine Uhr. »Ich habe ein Meeting in zwanzig Minuten. Ich empfehle Ihnen, die Sache fallenzulassen, bis Sie etwas Konkretes vorzuweisen haben, Angus. Dann können Sie Ihr Glück ja beim Stadtrat versuchen, nicht wahr?«

Angus blinzelte ungläubig. »Mein Glück?«, wiederholte er mit belegter Stimme. Er wandte sich an Caithness. Verzweiflung, Demut, Angst und Hoffnung waren überdeutlich von seinem Gesicht abzulesen. Augenblicklich begriff sie, dass Angus sie nicht nur deshalb hierhergebeten hatte, damit die Spurensicherung die Brennöfen untersuchte. Angus brauchte eine Zeugin, eine dritte Person, die dafür sorgte, dass Lennox nicht so tun konnte, als hätte er die Informationen nie erhalten, und ihm das Leben schwer machen konnte. Angus hatte Caithness nur deshalb gewählt, weil sie ihm im Aufzug zugelächelt hatte. Weil sie wie jemand aussah, dem er trauen konnte.

»Inspector Caithness?«, flehte er mit leiser Stimme.

Sie atmete tief ein. »Lennox hat recht, Angus. Sie bitten uns, einen Bär anzugreifen, und dabei haben wir nur ein Pappschwert in der Hand.«

Angus’ Augen waren feucht. »Sie haben Angst«, stammelte er. »Sie glauben mir. Sonst wären Sie nicht immer noch hier. Aber Sie haben Angst. Sie haben Angst, weil Sie mir glauben. Weil ich Ihnen gezeigt habe, wozu Macbeth imstande ist.«

»Einigen wir uns doch darauf, dass dieses Treffen niemals stattgefunden hat«, sagte Lennox und wandte sich der Tür zu. Caithness wollte ihm folgen, als Angus sie am Arm packte.

»Ein Baby«, flüsterte er den Tränen nahe. »Es lag in einem Schuhkarton.«

»Es war ein unschuldiges Opfer im Kampf gegen ein Verbrechersyndikat«, sagte sie. »So etwas passiert. Dass Macbeth es vor der Presse verstecken wollte, um einen Polizeiskandal zu verhindern, macht ihn noch nicht zum Mörder.«

Caithness sah, wie Angus ihren Arm losließ, als hätte er sich verbrannt. Er trat einen Schritt zurück und starrte sie an. Caithness drehte sich um und ging hinaus.

Auf der Stahltreppe zur Werkhalle traf die Kälte ihre erhitzten Wangen wie ein Schlag.

Sie hatte sich dem Ausgang zugewandt, blieb aber vor einem der Öfen stehen. Sie sah Streifen und Flecken aus grauem Staub.

Lennox stand in der Fabriktür und winkte den Taxifahrer heran, damit sie nicht durch den strömenden Regen laufen mussten. »Was glauben Sie, worauf hat es Angus abgesehen?«

»Abgesehen?« Caithness drehte sich um und schaute zu dem schuppenähnlichen Vorarbeiterbüro hinauf.

»Er muss doch wissen, dass er für eine leitende Position zu jung ist«, sagte Lennox. »Hey! Hier drüben! Geht es ihm um Ruhm und Ehre?«

»Vielleicht ist es einfach so, wie er gesagt hat. Jemand muss Macbeth aufhalten.«

»Pflichtgefühl?« Lennox kicherte, und Caithness hörte das Knirschen von Reifen auf dem Kies. »Jeder will irgendwas haben, Caithness. Kommen Sie?«

»Ja.« Caithness konnte gerade so Angus’ Umrisse hinter dem Fenster erkennen – er hatte sich nicht von der Stelle gerührt, seit sie ihn zurückgelassen hatten. Er stand einfach nur da. Als warte er auf etwas.

Wie lange würde es dauern, bis Lennox Macbeth über diese versuchte Meuterei informierte?

Was sollte sie mit dem anfangen, was Angus ihnen erzählt hatte?

Sie hielt sich die Hand an die Wange. Sie wusste, warum sie so warm war. Sie war errötet. Errötet vor Scham.


Lennox nahm die Abkürzung durch die Bahnhofshalle. Er mochte Abkürzungen. Schon immer. Schon als Kind hatte er sich seine Freunde mit Süßigkeiten gekauft und gelogen, hatte geleugnet, vom Kran am Hafen gesprungen zu sein und dafür gezahlt zu haben, dass das Mädchen vom Indigo-Kiosk ihm einen runtergeholt hatte. Er hatte Schuhe mit höheren Absätzen als alle anderen getragen, bei Prüfungen abgeschrieben und danach immer noch schwindeln müssen, was die Note anbetraf. Sein Vater hatte immer gesagt – gern ganz unverblümt bei Familienfeiern –, dass nur jemand ohne Rückgrat solche Abkürzungen nahm und es sich zu leicht machte. Nachdem sein Vater der privaten Universität der Stadt ein kleineres Geldgeschenk gemacht und damit sich und Lennox die Schande erspart hatte, dass sein Sohn an einer staatlichen Uni studieren musste, hatte Lennox auch sein Abschlussdiplom gefälscht. Nicht, um es möglichen Arbeitgebern zu zeigen, sondern nur seinem Vater, der es sehen wollte. Natürlich war es ein Fiasko gewesen. Den misstrauischen Blicken und Nachfragen hatte Lennox nicht standhalten können. Er hatte noch die Worte im Ohr: Sein Vater wisse nicht, wie eine Molluske wie er überhaupt aufrecht stehen könne, er habe ja keinen einzigen Knochen im Körper!

Durchaus angemessen, aber immerhin hatte er Rückgrat genug, um die Drogendealer zu ignorieren, die hier auf ihn zukamen und ihre Angebote murmelten. Sie erkannten einen Konsumenten auf Anhieb. Aber sein Brew bekam er nicht auf diese Art, er ließ es sich in anonymen braunen Briefumschlägen schicken. Und wenn er dann und wann eine spezielle Behandlung wünschte, verbanden sie ihm die Augen und führten ihn – wie einen Kriegsgefangenen vors Erschießungskommando – in die geheime Küche, wo er seinen Schuss frisch aus dem Kessel erhielt.

Er kam an Bertha Birnham vorbei, wo Duff auf seinen Bluff wegen des Richters aus Capitol hereingefallen war. Aber Hecate hatte nichts darüber gesagt, dass Macbeth Duffs Frau und Kinder hatte umbringen lassen. Lennox beschleunigte sein Tempo, während er den Worker’s Square überquerte, als müsse er sich beeilen, bevor etwas Schlimmes passierte. Etwas in seinem Inneren.

»Macbeth ist beschäftigt«, sagte der kleine Rezeptionist im Inverness.

»Sagen Sie ihm, dass Inspector Lennox hier ist. Es ist wichtig und wird nur eine Minute dauern.«

»Ich rufe ihn an, Sir.«

Während Lennox wartete, schaute er sich um. Er war sich nicht sicher, was es war, aber irgendetwas fehlte. Eine Art letzter Schliff. Vielleicht hatte sich nur die Atmosphäre verändert; vielleicht lag es daran, dass einige weniger gut gekleidete Typen zu laut lachten, als sie in den Spielsaal traten. Diese Art von Kundschaft war neu.

Macbeth kam die Treppe herunter.

»Hallo, Lennox.«

»Hallo, Chief Commissioner. Im Casino ist heute ja einiges los.«

»Tagesspieler direkt aus dem Obelisken. Die Spielbankenaufsicht hat den Laden vor ein paar Stunden dichtgemacht. Ich habe nicht viel Zeit. Wollen wir uns hier hinsetzen?«

»Vielen Dank, Sir. Ich wollte Sie nur über ein Treffen informieren, das heute stattgefunden hat.«

Macbeth gähnte. »Ach ja?«

Lennox atmete ein. Zögerte. Weil es Millionen Wege gab, wie man anfangen konnte. Tausende Wege, dieselbe Nachricht zu überbringen. Hunderte erster Worte. Und doch nur zwei Möglichkeiten.

Macbeth runzelte die Stirn.

»Sir«, sagte der Rezeptionist. »Nachricht vom Black-Jack-Tisch. Sie fragen, ob wir ihnen noch einen weiteren Croupier zur Verfügung stellen können. Da bildet sich schon eine Schlange.«

»Ich komme gleich, Jack. Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Lennox. Normalerweise kümmert sich Lady um diese Dinge. Nun?«

»Ja. Das Treffen …« Lennox dachte an seine Familie. Ihr Haus. Den Garten. Die sichere Nachbarschaft, in der die Kinder mit keinerlei Gräueln konfrontiert wurden. An die Universität, auf die sie gehen würden. An den Gehaltsscheck, der all das ermöglichte. Und die Nebeneinkünfte, die inzwischen zur Notwendigkeit geworden waren, um überhaupt zurechtzukommen. Nicht für ihn; für die Familie, die Familie, die Familie. Seine Familie, kein Haus in Fife, kein …

»Ja?«

Die Eingangstür öffnete sich.

»Sir!«

Sie drehten sich um. Es war Seyton. Völlig außer Atem. »Wir haben ihn, Chef.«

»Wen?«

»Duff. Und Sie hatten recht. Er ist an Bord eines Schiffes, das von hier aus in See gestochen ist. Die MS Glamis.«

»Fantastisch!« Macbeth wandte sich Lennox zu. »Das hier wird warten müssen, Inspector. Ich muss sofort los.«

Lennox blieb sitzen, während die anderen beiden durch die Tür hinausstürmten.

»Ein beschäftigter Mann.« Der Rezeptionist lächelte. »Möchten Sie einen Kaffee, Sir?«

»Nein, danke«, sagte Lennox und starrte vor sich hin. Die Dunkelheit hatte bereits begonnen sich herabzusenken, aber es lagen noch viele Stunden vor seinem nächsten Schuss. Eine Ewigkeit. »Ich glaube, ich nehme Ihr Angebot doch an. Ja gern, einen Kaffee bitte.« Eine Ewigkeit für einen Mann ohne Rückgrat.

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