28

»Wo willst du hin?«, flüsterte Meredith.

»Ich weiß nicht«, sagte Duff und versuchte, ihren Hals zu streicheln, kam jedoch nicht nah genug heran. »Ich habe eine Adresse, aber ich weiß nicht, wem sie gehört.«

»Warum willst du denn dann da hin?«

»Jemand hat sie aufgeschrieben, kurz bevor Fleance und Banquo umgekommen sind. Sicherer Unterschlupf steht darüber, und wenn sie auf der Flucht waren, dann ist es dort für mich vielleicht auch sicher. Ich weiß es nicht. Mehr habe ich nicht, Liebste.«

»Wenn das so ist …«

»Wo bist du?«

»Hier.«

»Wo ist das? Und was machst du?«

Meredith lächelte. »Wir warten auf dich. Es ist immer noch der Geburtstag.«

»Hat es wehgetan?«

»Ein bisschen. Es war rasch vorüber.«

Duff spürte, wie sich ihm die Kehle zusammenschnürte. »Ewan und Emily, haben sie Angst gehabt?«

»Sch, mein Schatz, darüber sprechen wir jetzt nicht …«

»Aber …«

Sie legte ihm ihre Hand über den Mund. »Sch, sie schlafen. Du darfst sie nicht wecken.«

Ihre Hand. Er konnte nicht atmen. Er versuchte, sie abzuschütteln, aber sie war zu stark. Duff schlug die Augen auf.

In der Dunkelheit sah er vor sich eine Gestalt, und diese Gestalt drückte ihre Hand auf seinen Mund. Duff versuchte zu schreien und das haarige Handgelenk zu packen, aber der andere war zu stark. Duff wusste, wer es war, als er ihn schniefen hörte. Es war Hutchinson. Der sich über ihn beugte und ihm ins Ohr flüsterte.

»Keinen Mucks, Johnson. Oder besser gesagt, Duff.«

Seine Tarnung war aufgeflogen. War ein Preis auf seinen Kopf ausgesetzt, tot oder lebendig? Hutchinsons Moment der Rache war gekommen. Messer? Ahle? Hammer?

»Hör zu, Johnson. Wenn wir den Kameraden im Bett über dir wecken, bist du dran. Okay?«

Warum hatte der Ingenieur ihn geweckt? Warum hatte er ihn nicht einfach umgebracht?

»Die Polizei wird auf dich warten, wenn wir in Capitol anlegen.« Er zog seine Hand von Duffs Mund zurück. »Jetzt weißt du’s, und wir sind quitt.«

In der Kajüte wurde es einen Augenblick hell, als sich die Tür öffnete. Dann schloss sie sich wieder, und er war verschwunden.

Duff blinzelte in der Dunkelheit und fragte sich einen Augenblick lang, ob auch Hutchinson Teil seines Traumes gewesen war. Jemand hustete in einem der oberen Stockbetten. Duff wusste nicht, wer es war. Der Steward hatte den Mangel an Betten damit erklärt, dass sie auf der letzten Fahrt »einige sehr wichtige Kisten mit Munition« hatten transportieren müssen. Dafür mussten sie einige Stockbetten ausbauen und zwei der Kajüten zweckentfremden, da die Vorschriften vorsahen, dass sie nur eine gewisse Menge Sprengstoff an einem Ort des Schiffes lagern durften. Nur Crewmitglieder mit Streifen auf der Uniform verfügten über eigene Kabinen. Duff schwang seine Beine auf den Boden und eilte in den Gang hinaus. Sah noch den Rücken eines dreckigen Esso-T-Shirts auf der Leiter hinab zum Maschinenraum.

»Warte!«

Hutchinson drehte sich um.

Duff huschte ihm entgegen.

Auch jetzt funkelten die Augen des Ingenieurs. Aber die Bösartigkeit war aus ihnen verschwunden.

»Wovon redest du?«, fragte Duff. »Polizei? Quitt?«

Hutchinson verschränkte die Arme. Schniefte. »Ich war vorhin bei Sparks, um …«, noch ein Schniefen, »… mich zu entschuldigen. Der Kapitän hat gerade eine Funkmeldung herausgegeben. Sie standen mit dem Rücken zu mir und haben mich nicht gehört.«

Duff spürte, wie sein Herz aussetzte, und verschränkte ebenfalls die Arme. »Weiter.«

»Der Kapitän sagte, er habe einen Johnson an Bord, auf den die Beschreibung passt. Du hättest eine Narbe im Gesicht und auch am fraglichen Tag angeheuert. Die Stimme am anderen Ende sagte, der Kapitän solle nichts unternehmen, weil dieser Duff gefährlich sei. Die Polizei würde bereitstehen, wenn wir an Land kämen. Der Kapitän meinte daraufhin, er sei froh, das zu hören, weil er dich bereits in der Messe in Aktion erlebt hätte.« Hutchinson fuhr sich mit zwei Fingern über die Stirn.

»Warum gibst du mir den Tipp?«

Der Ingenieur zuckte mit den Schultern. »Der Kapitän hat mir gesagt, ich müsse mich bei Sparks entschuldigen. Er meinte, ich hätte meinen Job nur noch, weil du dich geweigert hättest, mich ans Messer zu liefern. Und ich würde diesen Job gern behalten …«

»Und wirst du das?«

Der Ingenieur schniefte. »Wahrscheinlich. Darin bin ich wenigstens ganz gut, sagt der Erste Ingenieur.«

»Ach ja? Hat er das gesagt?«

Hutchinson grinste. »Er kam heute Abend zu mir und meinte, ich solle mir ja nichts einbilden. Ich wär bloß ein Pickel am Arsch dieses Schiffes, aber ein guter Ingenieur. Dann ist er abgezogen. Ziemlich verrückte Typen hier an Bord, was?« Er lachte. Sah beinahe glücklich aus. »Ich geh jetzt mal besser dahin, wo ich gebraucht werde.«

»Warte«, sagte Duff. »Was soll es bringen, wenn du einem verurteilten Mann sagst, dass ihm schon die Schlinge um den Hals hängt? Ich kann ja nicht entkommen, bis wir angelegt haben.«

»Das ist nicht mein Problem, Johnson. Wir sind quitt.«

»Sind wir das? Dieses Schiff hat die Maschinengewehre transportiert, mit der meine Frau und meine Kinder umgebracht wurden, Hutchinson. Nein, das ist nicht dein Problem, aber es war auch nicht mein Problem, als ich dem Kapitän einen Grund geben sollte, dich zu feuern.«

Ein Schniefen. »Dann spring ins Meer und schwimm weg. Es ist nicht weit. Geschätzte Ankunftszeit in neun Stunden, Johnson.« Schniefer.

Duff sah zu, wie der Ingenieur im Bauch des Schiffes verschwand.

Dann ging er zu einem Bullauge und schaute aufs Meer hinaus. Der Tag brach an. Acht Stunden, bis sie im Hafen anlegen würden. Die Wellen waren hoch. Wie lange würde er bei solch einem Wetter überleben, in derart kaltem Wasser? Zwanzig Minuten? Dreißig? Und wenn sie sich dem Land näherten, würde der Kapitän garantiert jemanden dazu abkommandieren, ihn im Auge zu behalten. Duff lehnte seine Stirn gegen die Scheibe.

Es gab keinen Ausweg.

Er ging zurück in die Kajüte. Schaute auf seine Uhr. Viertel vor fünf. Es waren immer noch fünfzehn Minuten, bis er sich zum Dienst melden musste.

Er legte sich auf sein Bett und schloss die Augen. Er sah Meredith vor sich: Sie winkte ihm von ihrem Felsen aus zu, übers Wasser hinweg. Winkte, damit er zu ihr kam.

»Wir warten auf dich.«


Wie in einem Traum, dachte Macbeth. Oder als würde er in einer Grotte unter Wasser schwimmen. So in etwa musste es sein, wenn man schlafwandelte. Er hielt die Taschenlampe in einer Hand und Lady mit der anderen. Ließ das Licht über den Roulettetisch und über die leeren Stühle gleiten. Schatten bewegten sich wie Gespenster über die Wände. Das falsche Kristall über ihnen glitzerte.

»Warum ist niemand hier?«, fragte Lady.

»Alle sind nach Hause gegangen«, sagte Macbeth. Als er mit der Taschenlampe ein halb volles Glas Whiskey auf einem der Pokertische anstrahlte, schoss ihm instinktiv der Gedanke an die Droge durch den Kopf. Die Abwesenheit des Stoffs hatte sich inzwischen bemerkbar gemacht, aber er blieb eisern. Er war stark, stärker als je zuvor. »Wir sind hier ganz allein, nur du und ich, Liebste.«

»Aber wir schließen doch nie, oder?« Sie ließ seine Hand los. »Habt ihr das Inverness dichtgemacht? Und du hast alles verändert. Ich erkenne gar nichts wieder! Was ist das?«

Sie waren in einen anderen Raum getreten, wo der Lichtkegel eine Reihe einarmiger Banditen offenbarte. Dort standen sie, einer neben dem anderen, bis zum Ende des Raumes. Wie ein Heer kleiner schlafender Roboter, dachte Macbeth. Mechanische Kästen, die niemals wieder aufwachen würden.

»Sieh doch nur, Kindersärge«, sagte Lady. »Und so viele, so schrecklich viele …« Ihre Stimme versagte, und nur tonloses Schluchzen blieb übrig.

Macbeth zog sie an sich, fort von den Apparaten. »Wir sind nicht im Inverness, Liebste, das hier ist der Obelisk. Ich wollte dir zeigen, was ich für dich getan habe. Schau, er hat geschlossen. Sie haben sogar den Strom abgestellt. Siehst du? Das ist unser Sieg. Das ist das schöne Schlachtfeld, auf dem unser Feind gefallen ist, mein Schatz.«

»Es ist hässlich, schauderhaft! Und es stinkt. Kannst du es riechen? Es stinkt nach Leichen. Der Gestank kommt aus dem Kleiderschrank!«

»Liebling, Liebling, das ist die Küche. Die Polizei hat alle auf einmal hinausgeworfen, damit niemand Beweise vernichten konnte. Sieh nur, es liegen immer noch Steaks auf den Tellern.«

Macbeth ließ den Strahl der Taschenlampe über die Tische gleiten: weiße Decken, heruntergebrannte Kerzen und halb aufgegessene Gerichte. Er versteifte sich, als das Licht von strahlenden gelben Augen reflektiert wurde, die sie anstarrten. Lady schrie auf. Er griff in seine Jacke, konnte aber nur einen dünnen, drahtigen Körper erkennen, der sofort wieder in der Dunkelheit verschwand. Dann bemerkte er, dass er einen silbernen Dolch in der Hand hielt.

»Ganz ruhig, Liebste«, sagte er. »Das war nur ein Hund. Er muss das Essen gerochen haben und irgendwie hier hereingekommen sein. Jetzt hat er sich schon wieder davongemacht.«

»Ich will hier weg! Bring mich raus! Ich will weg!«

»Okay, wir haben genug gesehen. Wir fahren zurück ins Inverness.«

»Weg, hab ich gesagt!«

»Was meinst du? Weg – wohin?«

»Weg!«

»Aber …« Er beendete den Satz nicht, nur den Gedanken. Sie konnten nirgendwohin. Es war nie anders gewesen, aber erst jetzt war es ihm schlagartig klar geworden. Alle anderen hatten eine Familie, ein Haus ihrer Kindheit, Verwandte, eine Sommerhütte, Freunde. Sie dagegen hatten nur einander und das Inverness. Aber nie war ihm der Gedanke gekommen, dies könnte nicht genügen. Erst jetzt, nachdem sie die Welt herausgefordert hatten und er kurz davor war, sie zu verlieren. Sie musste zurückkommen; musste aufwachen, er musste sie aus der Finsternis befreien, in der sie gefangen war. Deshalb hatte er sie hierhergebracht. Aber selbst ihr Triumph genügte nicht, um sie wachzurütteln. Und er brauchte sie jetzt, brauchte ihren klaren Verstand, ihre starke Hand, nicht diese Frau, die stumme Tränen weinte und keinerlei Sinn für das hatte, was um sie herum vorging.

»Wir haben Duff gefunden«, sagte er und führte sie rasch durch die Dunkelheit auf den Ausgang zu. »Seyton ist nach Capitol geflogen, und um zwei Uhr wird die MS Glamis anlegen.« Draußen war es hell, aber im Obelisken hatten alle Fenster Jalousien, hier, wo eine ewige Party gefeiert wurde, herrschte ewige Nacht. Spieltische, von denen er sich nicht erinnern konnte, eben schon einmal an ihnen vorübergekommen zu sein, tauchten plötzlich im Schein der Taschenlampe auf und versperrten ihnen den Weg. Ihre Schritte wurden vom Teppich gedämpft, und hinter sich glaubte er das Knurren und Geifern einer Hundeschnauze zu hören. Scheiße! Wo war er? Wo war der verdammte Ausgang?


Lennox stand auf grünem Gras. Er hatte den Wagen an der Hauptstraße geparkt und seine Sonnenbrille aufgesetzt.

Dies war einer der Gründe, warum er sich niemals in Fife niederlassen würde. Das Licht war einfach zu grell. Er spürte bereits, wie die Sonne seine rosafarbene Haut verbrannte, als sollte er wie ein gottverdammter Vampir in Flammen aufgehen.

Aber er war kein Vampir, keineswegs. Manche Dinge sah man erst aus der Nähe. Wie zum Beispiel das weiße Bauernhaus vor ihm. Erst aus der Nähe sah man, dass die Fassade mit kleinen schwarzen Löchern übersät war.

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