40
Duff saß auf dem Sofa in Tourtells Wohnzimmer. Er und die anderen drei schauten nervös zum Bürgermeister hinüber, der mit dem Telefonhörer am Ohr vor ihnen stand. Es war zwei Minuten vor Mitternacht. Der Luftdruck war immer weiter angestiegen, und erster Donner hallte in der Ferne. Die Stadt würde bald ihre Strafe für diesen heißen Tag bekommen. Der Bürgermeister sagte immer abwechselnd »Ja« und »Nein«. Dann legte er den Hörer auf. Schmatzte mit den Lippen, als müsste er das, was er soeben gehört hatte, kauen und schlucken.
»Nun?«, fragte Malcolm ungeduldig.
»Gute und schlechte Nachrichten. Die gute Nachricht ist, dass sich Richter Archibald vom Obersten Gerichtshof, ausgehend von dem, was wir haben, ziemlich sicher ist, einen landesweit gültigen Haftbefehl für Macbeth ausstellen zu können, was bedeutet, dass sie uns auch Beamte der Bundespolizei schicken können.«
»Und die schlechten Nachrichten?«, fragte Malcolm.
»Es ist eine politisch heikle Angelegenheit und wird Zeit brauchen«, sagte Tourtell. »Niemand will einen Chief Commissioner verhaften, wenn sich später herausstellt, dass die Beweislage nicht absolut wasserdicht ist. Konkret haben wir nur ein Radiointerview mit Lennox, der selbst gestanden hat, Komplize bei einem der Morde gewesen zu sein. Archibald meint, es wird einiges an Überzeugungsarbeit nötig sein, aber im besten Fall bekommt er morgen Nachmittag grünes Licht.«
»Aber dann wird es endlich entschieden sein«, sagte Caithness. »Wir müssen also nur noch diese Nacht durchstehen und morgen einige Stunden.«
»Sieht so aus«, sagte Malcolm. »Zu schade, dass die Umstände keine Feier zulassen.«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Tourtell und wandte sich dem Hausmädchen zu, das gerade den Raum betreten hatte. »Während des Kriegs haben wir umso mehr gefeiert, je mehr uns die Siege gekostet haben. Agnes, Champagner!«
»Ja, Sir, aber da ist jemand auf der anderen Leitung.«
Tourtells Gesicht hellte sich auf. »Kasi?«
»Ich fürchte, es ist Mr Macbeth.«
Sie schauten einander an.
»Stellen Sie den Anruf hierher durch«, sagte Tourtell.
Macbeth lehnte sich mit dem Hörer am Ohr in seinem Stuhl zurück. Starrte hinauf zur invertierten Goldspitze des Kronleuchters, der über ihm an der Decke des Spielsaals hing. Er war allein. Er hörte, wie Seyton und Olafson die Gatlings auf der Empore aufbauten, aber er war trotzdem allein. Lady war nicht hier. Kaum waren sie vom Hauptquartier herübergekommen, hatten sie sich an die Arbeit gemacht. Sie hatten eine halbe Stunde gebraucht, um alle Spieler und Restaurantgäste hinauszutreiben. Sie hatten versucht, möglichst entspannt vorzugehen. Aber Spiele mussten beendet, Jetons einkassiert werden, und einige Gäste bestanden darauf auszutrinken, obwohl sie die offenen Rechnungen nicht bezahlen mussten. Die letzten Gäste hatten protestiert, es sei schließlich Samstagabend, und mussten regelrecht vor die Tür gesetzt werden. Lady hätte es selbstverständlich auf weitaus elegantere Weise geschafft. Aber Jack, den Macbeth in die Suite hinaufgeschickt hatte, um sie zu holen, war ohne Begleitung zurückgekehrt. Es war in Ordnung, sie brauchte ihren Schlaf, und dies würde ein langer Kampf werden. Sie hatten die Gitter von den Fenstern entfernt und die Maschinengewehre auf beiden Seiten der Empore platziert.
»Tourtell hier.« Die Stimme strengte sich hörbar an, neutral zu klingen.
»Guten Abend, Bürgermeister. Alles klar bei Ihnen?«
»Ich lebe noch.«
»Schön, schön. Ich freue mich, dass wir den Anschlagsversuch auf Sie vereiteln konnten. Ich vermute, Hecate steckt dahinter. Tut mir leid, dass Ihr Fahrer dafür mit dem Leben bezahlen musste. Und dass Lennox durch die Verletzung, die er sich selber beigebracht hat, offenbar wahnsinnig geworden ist.«
Tourtell stieß ein trockenes Lachen aus. »Sie sind erledigt, Macbeth. Ist Ihnen das klar?«
»Dies sind in der Tat stürmische Zeiten, finden Sie nicht auch, Tourtell? Explosionen auf Dächern, Schießereien auf den Straßen, Anschlagsversuche auf den Chief Commissioner und den Bürgermeister. Ich rufe nur an, weil ich der Meinung bin, dass Sie den Notstand ausrufen sollten.«
»Das wird nicht passieren, Macbeth. Stattdessen wird gerade ein landesweiter Haftbefehl auf Ihren Namen ausgestellt.«
»Sie rufen die Kavallerie aus Capitol zu Hilfe? Das dachte ich mir. Aber der Haftbefehl wird nicht in Kraft treten, bevor ich die Kontrolle über die Stadt übernommen habe, und dann wird es zu spät sein. Ich werde Immunität haben. Chief Commissioner Kenneth war doch vorausschauender, als es ihm die Leute zugutehalten.«
»Sie wollen die Stadt regieren wie die Diktatoren vor Ihnen?«
»In diesem Sturm ist es vermutlich am besten, wenn eine stärkere Hand als Ihre am Ruder ist, Tourtell.«
»Sie sind verrückt, Macbeth. Warum zur Hölle sollte ich den Notstand ausrufen und Ihnen die Macht übergeben?«
»Weil ich Ihren unehelichen Sohn bei mir habe und ihm den Kopf abhacken werde, wenn Sie nicht tun, was ich sage.«
Macbeth hörte ein scharfes Einatmen.
»Gehen Sie also besser nicht schlafen, Tourtell. Ich gebe Ihnen ein paar Stunden, um die Notstandserklärung zu verfassen und zu unterzeichnen. Sie wird in Kraft treten, bevor morgen früh die Sonne aufgeht. Wenn ich die offizielle Bekanntmachung nicht im Radio gehört habe, bevor mir der erste Sonnenstrahl ins Auge fällt, wird Kasi sterben.«
Pause. Macbeth hatte das Gefühl, als wäre Tourtell nicht allein. Laut Seyton waren drei der vier Personen, die den erfolgreichen Abschluss ihres Auftrages am St. Jordi’s Hospital verhindert hatten, Duff, Malcolm und Caithness gewesen.
»Und wie wollen Sie damit durchkommen, meinen Sohn umzubringen, Macbeth?«
Der Ton war hart, konnte seine Hilflosigkeit jedoch kaum verbergen. Macbeth bemerkte, dass er auf solche Verzweiflung nicht vorbereitet war. Aber er schüttelte das ab. Die zitternde Stimme des Bürgermeisters bestätigte seine Hoffnung: Tourtell war bereit, für den Jungen alles zu tun.
»Immunität. Der Notstand. Damit ist die Angelegenheit abgegolten, Bürgermeister.«
»Ich meine nicht, wie Sie einem Prozess entgehen wollen. Ich dachte an Ihr Gewissen. Sie sind ein Monster geworden, Macbeth.«
»Wir werden nie, was wir nicht sowieso schon sind, Tourtell. Bei Ihnen ist es genauso, Sie werden stets bereit sein, sich und Ihre Seele an den Meistbietenden zu verschachern.«
»Können Sie den Donner vor Ihrem Haus nicht hören, Macbeth? Wie können Sie in dieser Situation, in dieser Stadt immer noch glauben, dass bei Tagesanbruch die Sonne scheinen wird?«
»Weil ich Order gegeben habe, dass sie scheinen soll. Aber wenn Sie mir nicht glauben wollen, dann richten Sie sich nach dem Sonnenaufgang, der im Kalender steht. Bis dahin …«
Macbeth legte auf. Licht spielte in dem Kristall über ihm. Das bedeutete, dass es sich bewegte. Vielleicht war es die aufsteigende Wärme, vielleicht das merkwürdige Beben unter der Erde, vielleicht veränderte sich aber auch das Licht draußen. Doch es gab natürlich auch noch eine vierte Möglichkeit. Dass er selbst es war, der sich bewegte. Der Dinge aus einer anderen Perspektive sah. Er holte den silbernen Dolch aus seiner Jacke. Es war vielleicht nicht die effektivste Waffe gegen Panzer und ein dickes Fell, aber Lady hatte recht: Silber wirkte gegen Geister. Er hatte Banquo, Meredith, Duncan und den jungen Norse Rider auf Knien schon einige Tage nicht mehr gesehen. Er hielt den Dolch gegen das Licht.
»Jack!«
Keine Antwort. Lauter: »Jack!«
Immer noch keine Antwort.
»Jack! Jack!« Er brüllte auf so wilde, unkontrollierte Weise, dass er das Gefühl hatte, in seinem Bauch würden die Gedärme zerreißen.
Am Ende des Saales öffnete sich eine Tür. »Sie haben gerufen, Sir?«, hallte Jacks Stimme wider.
»Immer noch kein Lebenszeichen von Lady?«
»Nein, Sir. Vielleicht sollten Sie sie wecken?«
Macbeth fuhr mit einem Finger über die Spitze des Dolches. Wie lange war er jetzt schon clean? Und wie sehr hatte er sich nach dem Schlaf gesehnt, dem tiefen, dunklen, traumlosen Schlaf? Er konnte hinaufgehen, sich neben sie legen und sagen: Jetzt gehen wir, du und ich, wir gehen an einen Ort, wo es das Inverness und diese Stadt nicht gibt, wo es nichts gibt, nur dich und mich. Sie wollte es, wollte es ebenso wie er. Sie waren von ihrem Weg abgekommen, aber es musste einen Rückweg geben, zurück dorthin, von wo sie aufgebrochen waren. Ja, natürlich gab es ihn, er konnte ihn nur gerade nicht sehen. Er musste mit ihr reden, sie musste ihm den Weg weisen, wie sie es immer getan hatte. Was hielt ihn ab? Welche merkwürdige Vorahnung hielt ihn davon ab, hinaufzugehen, brachte ihn dazu, lieber in diesem kalten, leeren Saal zu sitzen als in den Armen der Geliebten zu liegen?
Er drehte sich um und betrachtete den Jungen. Seyton hatte Tourtells Sohn an die glänzende Säule in der Mitte des Raumes gefesselt und um seinen langen, dünnen Hals eine Fußfessel gelegt. Wie bei einem Hund. Und wie ein Hund hockte er bewegungslos auf dem Boden und schaute Macbeth mit seinen flehenden braunen Augen an. Schon die ganze Zeit starrte er ihn unverwandt an, seit sie hier eingetroffen waren.
Macbeth sprang mit einem entnervten Ausruf von seinem Stuhl.
»Also schön, dann sehen wir nach ihr«, sagte er.
Ihre geräuschlosen Schritte auf den dicken Teppichen gaben Macbeth das Gefühl, Jack und er schwebten wie Gespenster die Treppe hinauf und über den Korridor. Macbeth brauchte eine Ewigkeit, um den richtigen Schlüssel an Jacks Bund zu finden. Jeden einzelnen studierte er, als enthielten sie einen Code, die Antwort auf eine Frage, die er noch nicht kannte.
Dann öffnete er die Tür und ging hinein. Die Lampe im Zimmer war ausgeschaltet, aber durch Lücken im Vorhang fiel Mondlicht herein. Er stand da und lauschte. Der Donner hatte aufgehört. Es war so still, als würde alles den Atem anhalten.
Ihre Haut war so bleich, so blutleer. Ihr Haar war auf dem Kissen ausgebreitet wie ein roter Fächer, und ihre Augenlider kamen ihm durchsichtig vor. Er ging zu ihr und legte ihr die Hand auf die Stirn. Es war immer noch etwas Wärme in ihr. Neben ihr, auf der Überdecke, lag ein Bogen Papier. Er hob ihn auf. Sie hatte nur einige wenige Zeilen geschrieben.
Morgen und morgen, und dann wieder morgen. Die Tage kriechen im Schlamm und haben doch am Ende nichts anderes geschafft, als wieder und wieder die Sonne zu töten und alle Menschen dem Tode näher zu bringen.
Macbeth wandte sich Jack zu, der in der Tür stehen geblieben war.
»Sie ist fort.«
»W…was, Sir?«
Macbeth zog einen Stuhl ans Bett und setzte sich. Nicht, um ihr nahe zu sein; sie war ja nicht mehr da. Er wollte bloß sitzen.
Er hörte hinter sich Jacks erschütterten Ausruf und wusste, dass er sie jetzt auch gesehen hatte: die Spritze, die in Ladys Unterarm steckte.
»Ist sie …«
»Ja, sie ist t-t-tot.«
»Wie lange …«
»Sch-sch-schon eine lange Zeit.«
»Aber ich habe doch mit ihr gesprochen …«
»Ihr St-St-Sterben hat in der Nacht angefangen, in der sie das Baby im Schuhkarton gefunden hat, Jack. Sie hat noch eine Zeit lang so getan, als würde sie leben, aber das waren nur die Zuckungen des Todes. Sie hat ihr Kind gesehen, wusste, dass sie selbst in den Tod gehen musste, um es wieder bei sich zu haben. Wir haben Lady verloren, als sie auf die tröstende Vorstellung hereingefallen ist, wir würden unsere Lieben auf der anderen Seite wiedersehen.«
Jack trat einen Schritt näher. »Aber Sie glauben das nicht?«
»Nicht, wenn die Sonne von einem klaren Himmel scheint. Aber wir leben in einer Stadt ohne Sonne, in der wir jeden Trost annehmen, den wir bekommen können. Im weitesten Sinne glaube ich es also auch.«
Macbeth betrachtete sich selbst, überrascht, dass er weder Trauer noch Verzweiflung empfand. Vielleicht weil er schon lange gewusst hatte, dass es so enden würde. Er hatte es gewusst und die Augen verschlossen. Er spürte nur Leere. Er saß in einem Wartesaal mitten in der Nacht, der einzige Reisende, und sein Zug war angekündigt worden, aber nicht angekommen. Angekündigt, aber nicht angekommen. Was tut der Reisende dann? Er wartet. Er geht nirgendwohin, er findet sich mit dem ab, was passiert, und wartet auf das, was kommt.
Macbeth nahm den Papierbogen wieder auf.
Die Tage kriechen im Schlamm und haben doch am Ende nichts anderes geschafft, als wieder und wieder die Sonne zu töten und alle Menschen dem Tode näher zu bringen.