5
Lady ging durch den Spielsaal. Das Licht der riesigen Kronleuchter fiel sanft auf das dunkle Mahagoniholz der Tische, an denen Black Jack und Poker gespielt wurde, auf den grünen Stoff, über den später am Abend die Würfel tanzen würden, auf die speerartige goldene Spitze, die sich wie ein Minarett über dem sich drehenden Rouletterad erhob. Die Kronleuchter hatte sie als kleinere Kopien des Viereinhalb-Tonnen-Kronleuchters im Dolmabahçe-Palast in Istanbul anfertigen lassen, und die goldene Spitze, die von der Decke aus auf den Roulettetisch hinunterragte, war derjenigen auf dem Rouletterad genau nachempfunden. Die Kronleuchter waren mit Seilen so an der Balustrade der Empore befestigt, dass man sie jeden Montag herablassen und das Kristall reinigen konnte. Den meisten Gästen entgingen solche Details natürlich. Wie auch die kleinen, unauffälligen Lilien, die sie in die dicken burgunderroten Teppiche hatte sticken lassen, die sie in Italien für ein kleines Vermögen erworben hatte. Aber ihr entgingen sie nicht, sie sah die zusammenpassenden Goldspitzen, und nur sie wusste, woran die Lilien erinnerten. Das genügte. Denn dies war ihr Reich.
Die Croupiers nahmen automatisch Haltung an, wenn sie vorbeikam. Sie verfügten über reichlich Berufserfahrung, waren effizient und sorgsam, behandelten die Gäste höflich, aber streng. Sie hatten manikürte Hände, gut gepflegte Haare und trugen die makellos elegante, rot-schwarze Uniform des Inverness, die jedes Jahr ausgebessert und für jeden einzelnen Mitarbeiter maßgeschneidert wurde. Und – das war am wichtigsten – sie waren ehrlich. Lady ging nicht bloß davon aus, sie sah und hörte es. Sie konnte Unehrlichkeit in den Augen ihrer Leute erkennen, an unwillkürlichen Ticks, Muskelzuckungen oder übertrieben zur Schau gestellter Lässigkeit. Konnte sie in den kleinen Nuancen zitternder Stimmbänder hören. Es war eine angeborene Fähigkeit, die sie von ihrer Mutter und Großmutter geerbt hatte. Die beiden hatte diese Überempfindlichkeit im Alter in die dunklen Schatten des Wahnsinns getrieben, Lady dagegen hatte ihre Fähigkeiten stets dazu genutzt, Unehrlichkeit aufzuspüren. Vom Jammertal ihrer Kindheit an bis heute. Ihre Inspektionsrunden erfüllten einen doppelten Zweck. Zum einen ging es darum, ihre Angestellten immer auf Trab zu halten, damit sie Tag und Nacht zeigten, dass sie eine Klasse über ihren Kollegen im Obelisken standen. Zweitens ging es ihr darum, jede Form von Unehrlichkeit aufzudecken. Bis gestern waren ihre Leute vielleicht noch anständig und ehrenhaft gewesen, aber die Menschen waren wie feuchter Lehm, sie wurden von Gelegenheiten geformt. Je nachdem, was sich ihnen heute anbot, waren sie zu Dingen imstande, die ihnen gestern noch unvorstellbar erschienen wären. Ja, das war das Einzige, worauf man sich verlassen konnte: Im tiefsten Herzen war der Mensch gierig. Lady wusste das. Sie selbst hatte solch ein Herz. Ein Herz, das sie abwechselnd verfluchte und für das sie dankbar war, das ihr Wohlstand eingebracht und ihr zugleich alles geraubt hatte. Aber es war nun einmal das Herz, das in ihrer Brust schlug. Man konnte nicht alles ändern, nicht alles aufhalten, manchem musste man einfach folgen.
Sie nickte den vertrauten Gesichtern zu, die sich um den Roulettetisch versammelt hatten. Stammkunden. Sie alle hatten ihre Gründe, hierherzukommen und zu spielen. Manche mussten nach einem anstrengenden Arbeitstag schlicht abschalten, andere brauchten nach einem langweiligen Arbeitstag dringend ein bisschen Aufregung. Und dann waren da diejenigen, in deren Leben Arbeit und Anstrengung keinerlei Rolle spielten, sondern bloß Geld. Wer nichts von alledem hatte, endete im Obelisken, wo man ein geschmackloses, aber kostenfreies Essen bekam, wenn man mehr als fünfhundert verspielte. Es gab Idioten, die glaubten, ein System gefunden zu haben, das ihnen langfristige Gewinne versprach, ein Menschenschlag, der selten alt wurde, aber merkwürdigerweise nie ausstarb. Und dann gab es noch jene, die – und kein Casinobesitzer hätte dies jemals zugegeben – das eigentliche Fundament des Geschäfts darstellten. Die nicht anders konnten. Die den Zwang verspürten, hierherzukommen, die nicht aufhören konnten, alles zu riskieren, Nacht für Nacht, fasziniert davon, wie die Roulettekugel über das glänzende Rad huschte, gleich einem Erdball, der sich im Gravitationsfeld der Sonne verfangen hatte, jener Sonne, die ihnen täglich das Leben schenkte, sie am Ende aber zwangsläufig verbrennen würde. Die Süchtigen. Mit denen Lady ihr Brot verdiente.
Apropos Sucht. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Neun. Es war immer noch ein bisschen früh am Abend, aber trotzdem wünschte sie, die Tische wären voller. Berichte vom Obelisken zeigten, dass der direkte Konkurrent ihr immer noch Kunden wegnahm, obwohl sie so viel in die Inneneinrichtung, die Küche und die Renovierung der Hotelzimmer investiert hatte. Manche glaubten, sie sei dabei, sich durch zu hohe Preise selbst vom Markt zu nehmen, und dass sie, da der Obelisk in den Köpfen der Leute als preisgünstigere Alternative verankert war, den Standard und ihre Ausgaben senken sollte. Schließlich würde sie den Status als exklusives Etablissement damit keineswegs einbüßen. Aber wer das sagte, kannte Lady schlecht, wusste nicht, wie wichtig ihr die Exklusivität tatsächlich war. Nicht nur eleganter als der Obelisk, sondern in jeder Hinsicht besser musste Ladys Inverness sein. Dies sollte der Ort sein, an dem die Leute gesehen werden, mit dem sie in Verbindung gebracht werden wollten. Und sie, Lady, sollte diejenige sein, mit der man gesehen und in Verbindung gebracht werden wollte. Hierher kamen die Wohlhabenden und die Spitzenpolitiker, Schauspieler und Sportler aus dem Himmel der Prominenz, Schriftsteller, Schönheiten, Hipster und Intellektuelle – alle kamen an Ladys Tisch. Sie verbeugten sich respektvoll, küssten ihr die Hand und stießen auf ihre diskrete Ablehnung, wenn sie ebenso diskret die Frage nach einem möglichen Kredit stellten, lächelten dann aber und akzeptierten dankbar eine Bloody Mary aufs Haus. Profit hin, Profit her, sie war nicht so weit gekommen, um ein verdammtes Bordell zu leiten, so wie es der Obelisk war. Dort akzeptierte man den Abschaum, den sie unter den Kronleuchtern des Inverness auf keinen Fall sehen wollte. Unter den echten Kronleuchtern. Aber natürlich musste sich der Wind drehen. Die Gläubiger hatten begonnen, Fragen zu stellen. Und die Antwort hatte ihnen nicht gefallen: Was das Inverness brauchte, waren keine günstigeren Drinks, sondern noch mehr und noch größere Kronleuchter.
Im Augenblick ging ihr allerdings nicht das Geschäft durch den Kopf. Sie dachte an Sucht. Und an die Tatsache, dass Macbeth immer noch nicht hier war. Er gab ihr immer Bescheid, wenn er sich verspätete. Was während des Sweno-Einsatzes passiert war, hatte ihn mitgenommen. Er hatte nichts gesagt, aber sie konnte es spüren. Manchmal schien er ihr erstaunlich weich – immerhin ein Mann, den sie schon mit eigenen Augen hatte töten sehen. Sie hatte die wohlüberlegte Entschlossenheit vor der Tat gesehen, die kalte Effizienz währenddessen und das reuelose Lächeln danach.
Aber diesmal war es etwas anderes gewesen, das wusste sie. Der Mann war wehrlos gewesen. Und wenn es ihr auch manchmal schwerfiel, den Ehrenkodex von Männern wie Macbeth zu begreifen, wusste sie, dass er nach einem solchen Vorfall die Kontrolle über sich verlieren konnte. Sie durchquerte den Raum und zog die starrenden Blicke zweier Männer an der Bar auf sich. Beide waren jünger als sie. Aber sie interessierte sich nicht für sie. Zwar hatte sie immer alles dafür getan, um sich begehrenswert zu fühlen, verachtete aber die Männer, die sie begehrten. Abgesehen von einem. Anfangs hatte es sie überrascht, dass jemand ihre Gedanken und ihr Herz so vollständig ausfüllen konnte. Und oft hatte sie sich gefragt, warum sie, die keinen Mann je geliebt hatte, diesen einen nun so sehr liebte. Weil er, hatte sie sich selbst geantwortet, genau das an ihr liebte, wovor sich die meisten Männer fürchteten. Ihre Stärke. Ihre Willenskraft. Eine Intelligenz, die der ihren überlegen war und die sie nicht unter den Scheffel stellen konnte. Man musste schon ein echter Mann sein, um dies an einer Frau zu lieben. Sie stand vor dem großen Fenster, von dem aus man den Worker’s Square überblicken konnte, schaute zur alten Bertha hinüber, der schwarzen Lokomotive, die den Eingang des stillgelegten Bahnhofs bewachte. Jenes Sumpfes, in dem sie im Laufe der Jahre so viele hatte versinken sehen. War es möglich, dass er …?
»Liebling.«
Wie oft hatte sie gehört, wie ihr diese Stimme dieses Wort ins Ohr geflüstert hatte? Und doch war es immer wie beim ersten Mal. Er schob ihre langen roten Haare zur Seite, und sie spürte einen elektrischen Schlag durch ihren Körper fahren, als seine Lippen ihren Hals küssten. Es war unprofessionell – sie wusste, dass die zwei Männer an der Bar zu ihnen hinüberschauten –, aber sie ließ es zu. Er war hier.
»Wo warst du?«
»In meinem neuen Büro«, sagte er und schlang einen Arm um ihre Taille.
»Neues Büro?« Sie streichelte seinen Unterarm. Fühlte das Narbengewebe unter ihren Fingerspitzen. Er hatte ihr erzählt, dass er sich die Spritzen hatte im Dunkeln setzen müssen und seine Venen nicht gesehen hatte, also hatte er sich an die letzte Narbe herangetastet und sich an derselben Stelle eine neue Injektion verpasst. Machte man das lange genug, mehrere Jahre lang, und rechnete die ein oder andere unvermeidliche Infektion hinzu, hatte man irgendwann Unterarme wie seine, die aussahen, als habe man sie durch Stacheldraht gezogen. Aber sie konnte keine frischen Einstiche fühlen. Es war jetzt schon Jahre her. So lange, dass sie ihn manchmal – in Anfällen von kindischem Optimismus – für geheilt hielt.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du diese Kohlenverschläge bei euch im Keller als Büros bezeichnest.«
»Im dritten Stock«, sagte Macbeth.
Lady wandte sich ihm zu. »Was?«
Die weißen Zähne leuchteten in seinem dunklen Bart. »Vor dir steht der neue Leiter des Dezernats für Organisierte Kriminalität in dieser Stadt.«
»Ist das wahr?«
»Ja.« Er lachte. »So geschockt, wie du jetzt aussiehst, hab ich bestimmt vorhin in Duncans Büro auch ausgesehen.«
»Ich bin nicht geschockt, mein Schatz. Ich … ich bin bloß glücklich. Das hast du so verdient! Hab ich es dir nicht immer gesagt? Hab ich nicht immer gesagt, dass du mehr verdient hast als dieses Büro im Keller?«
»Ja, das hast du. Wieder und wieder, mein Schatz. Aber da warst du auch die Einzige.« Macbeth lehnte sich zurück und lachte erneut.
»Und jetzt steigen wir auf, mein Liebster. Raus aus dem finsteren Keller! Ich hoffe, du hast ein gutes Gehalt eingefordert.«
»Gehalt. Nein, ich hab vergessen, danach zu fragen. Ich hatte nur eine Bedingung: dass Banquo mein Stellvertreter werden muss. Und damit waren sie einverstanden. Es ist ziemlich verrückt …«
»Verrückt. Überhaupt nicht. Es ist eine weise Entscheidung.«
»Ich meine nicht den Posten. Auf dem Weg zum Hauptquartier haben wir drei Schwestern getroffen, die Hecate geschickt hatte. Sie haben mir prophezeit, dass ich den Job kriegen würde.«
»Prophezeit?«
»Ja!«
»Sie müssen es gewusst haben.«
»Nein. Als ich zu Duncan ins Büro kam, meinte er, die Entscheidung sei gerade erst fünf Minuten vorher getroffen worden.«
»Hhm. Dann waren es wohl Hexen, keine Frage.«
»Vermutlich hatten sie zu viel von ihrem eigenen Stoff genommen, waren high und haben bloß Quatsch geredet. Sie meinten auch, ich würde Chief Commissioner werden. Und weißt du was? Duncan hat vorgeschlagen, dass wir meine Ernennung hier feiern, im Inverness!«
»Warte einen Augenblick. Was haben sie gesagt?«
»Er wollte hier feiern. Das wäre doch gut für deinen Ruf, wenn der Chief Commissioner sich dafür entscheidet, hier im Casino eine Party zu schmeißen.«
»Nein, ich meine die Schwestern. Sie haben gesagt, du würdest Chief Commissioner werden?«
»Ja, aber vergiss das, Schatz. Ich habe Duncan vorgeschlagen, dass wir eine Abendveranstaltung draus machen und die Leute von außerhalb hier im Hotel übernachten können. Du hast doch im Augenblick ziemlich viele freie Zimmer, also …«
»Natürlich, das machen wir.« Sie strich ihm über die Wange. »Ich merke, wie glücklich du bist. Aber du siehst immer noch blass aus, Liebster.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht. Ich glaube, ich brüte irgendwas aus. Ich fange schon an, tote Männer in Ampeln zu sehen.«
Sie hakte sich bei ihm unter. »Na komm. Ich habe, was du brauchst, mein Junge.«
Er lächelte. »Ja, das hast du.«
Sie schwebten förmlich durchs Casino. Ihr war bewusst, dass ihre hochhackigen Schuhe sie einen Kopf größer machten als ihn. Dass ihre jugendliche Figur, ihr elegantes Abendkleid und ihr würdevoller, geschmeidiger Gang die Männer an der Bar dazu brachten, ihr immer noch hinterherzuschauen. Dass der Obelisk einen solchen Anblick nicht zu bieten hatte.
Duff lag auf dem großen Doppelbett, starrte an die Decke und musterte den Riss im Putz, den er so gut kannte.
»Anschließend, nach dem Meeting, hat Duncan mich beiseitegenommen und gefragt, ob ich enttäuscht sei«, sagte er. »Er meinte, wir wüssten schließlich beide, dass ich der naheliegendste Kandidat für den Posten gewesen wäre.«
Der Riss hatte sich auf scheinbar zufällige Weise in verschiedene Richtungen verzweigt, aber wenn er seine Augen zusammenkniff und alles verschwimmen ließ, schien er einem Muster zu folgen, ein Bild zu formen. Er konnte nur nicht erkennen, was es darstellen sollte.
»Und was hast du geantwortet?« Die Stimme erhob sich über das laufende Wasser im Badezimmer. Obwohl sie so viel voneinander gesehen hatten, wie es zwei Menschen nur möglich war, mochte sie es immer noch nicht, wenn er sie anschaute, bevor sie fertig war. Und das war ihm auch ganz recht.
»Ich habe gesagt, dass ich tatsächlich enttäuscht bin. Darüber, dass sie Macbeth gewählt haben, ausgerechnet mit der Begründung, dass er nicht zum inneren Zirkel gehört. Ich gehöre zu denen, die Duncans Projekt von Anfang an unterstützt haben, und jetzt wird genau diese Tatsache gegen mich verwendet.«
»Ja, das stimmt ja auch. Was hat …«
»Duncan meinte, es gebe noch einen anderen Grund. Aber den wollte er vor den anderen nicht erwähnen. Der Einsatz gegen Sweno sei eben nur halb erfolgreich gewesen, weil Sweno entkommen ist. Und es habe sich herausgestellt, dass ich genug Zeit gehabt hätte, ihn über den Tipp zu informieren. Beinahe ein ganzes Jahr verdeckter Ermittlungen hätte ich zunichtegemacht mit einer Aktion, die für ihn sehr nach Egotrip ausgesehen habe. Nur Macbeth und seinem SWAT-Team sei es zu verdanken, dass die Operation gerettet werden konnte. Er meinte, es hätte komisch ausgesehen, wenn er mich und nicht ihn befördert hätte. Aber immerhin hat er mir einen Trostpreis zugestanden.«
»Er hat dir die Mordkommission übertragen. Das ist doch nicht schlecht, oder?«
»Die Abteilung ist kleiner als das Rauschgiftdezernat, aber zumindest bleibt mir die Erniedrigung erspart, im neuen Dezernat den Untergebenen spielen zu müssen.«
»Wer hat Duncan das denn eingeredet?«
»Was meinst du?«
»Wer hat sich für Macbeth eingesetzt? Duncan ist ein Zuhörer; er schwört auf Konsens und diskutiert Entscheidungen gern in der Gruppe.«
»Glaub mir, Liebling, keiner macht sich für Macbeth stark. Und dem ist es auch ganz egal. Dem geht’s im Leben nur darum, böse Buben zu fangen und dafür zu sorgen, dass seine Casino-Königin glücklich ist.«
»Apropos.« Sie stellte sich in der Badezimmertür in Pose. Das durchsichtige Negligé offenbarte mehr, als es verhüllte. Es gab vieles, was Duff an dieser Frau mochte, und manches hätte er nicht mal in Worte fassen können, doch was ihm über alles ging, war eindeutig: ihre Jugend. Der Schein der Kerzen auf dem Boden ließ ihre Augen, ihre roten Lippen, ihre Zähne schimmern. Trotzdem brauchte er heute Nacht noch etwas mehr. Er war nicht in Stimmung. Nach allem, was heute passiert war, fühlte er sich nicht mehr wie der geile Bock, als der er den Tag begonnen hatte. Aber das ließ sich ja vielleicht ändern.
»Zieh’s aus«, sagte er.
Sie lachte. »Ich hab’s doch grad erst angezogen.«
»Das ist ein Befehl. Bleib, wo du bist, und zieh es aus. Langsam.«
»Hhm. Vielleicht. Wenn ich eine klare Anweisung bekommen würde …«
»Caithness, hiermit wird Ihnen von einem Vorgesetzten der Befehl erteilt, sich das, was Sie tragen, über den Kopf zu ziehen, sich nach vorn zu beugen und sich gut am Türrahmen festzuhalten.«
Duff hörte, wie sie in Kleinmädchenmanier schockiert nach Luft schnappte. Vielleicht machte sie ihm etwas vor, vielleicht nicht. Es war ihm egal. Er kam so langsam in Stimmung.
Hecate marschierte über den feuchten Boden des Hauptbahnhofs, vorbei an dem von den Wänden abblätternden Putz und den vor sich hin murmelnden Abhängigen. Zwei Typen hoben den Blick von einem Löffel und einer Spritze, die sie sich offenbar teilen würden, und starrten ihm nach. Sie kannten ihn nicht. Niemand kannte ihn. Vielleicht glaubten sie, der große Mann mit dem senfgelben Kaschmirmantel, dem sehr gepflegten, beinahe unnatürlich schwarzen Haar und der glänzenden, dicken Rolex sei die perfekte Beute, die gerade freiwillig in die Höhle des Löwen gekommen war. Vielleicht hatten sie aber auch Zweifel. Etwas irritierte sie womöglich an seiner selbstsicheren und entschlossenen Gangart, etwas an dem goldbesetzten Spazierstock, der im selben Rhythmus auf den Boden schlug wie die Stilettos der großen, breitschultrigen Frau, die neben ihm herschritt. Wenn es eine Frau war. Es konnte auch an den drei Männern in den leichten grauen Mänteln liegen, die unmittelbar vor ihm den Bahnhof betreten hatten und sich nun an der Wand aufstellten. Vielleicht wurde ihnen klar, dass sie sich in seiner Höhle befanden. Dass er der Löwe war.
Hecate blieb stehen und ließ Strega als Erste die enge Treppe zu den Toiletten hinabsteigen, auf der es stark nach Urin stank. Er betrachtete die beiden Junkies, die nun die Köpfe senkten und sich auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrierten. Das Erhitzen und Spritzen. Süchtige. Hecate erfüllten sie weder mit Verachtung noch mit Irritation. Schließlich sicherten sie seinen Lebensunterhalt.
Strega öffnete die Tür am Fuß der Treppe, packte einen schlafenden Mann am Kragen, bleckte die Zähne, um ihm zu bedeuten, in welcher Stimmung sie war, und zeigte ihm mit dem Daumen die Richtung für seinen Abgang. Hecate folgte ihr in den Raum mit den Kabinen und den undichten Waschbecken. Der Gestank war so stark, dass er Hecate immer noch die Tränen in die Augen trieb. Aber er erfüllte auch einen Zweck: Er hielt Neugierige ab und sorgte dafür, dass selbst die hartgesottensten Süchtigen ihre Besuche so kurz wie möglich hielten. Strega und Hecate betraten die äußerste Kabine mit dem UNBENUTZBAR-Schild an der Tür und der bis zum Rand mit Exkrementen gefüllten Schüssel. Auch die Neonröhre an der Decke war entfernt worden. Jetzt war es unmöglich, hier seine Venen zu sehen, geschweige denn zu treffen. Strega entfernte eine der Kacheln über dem nicht angeschlossenen Klo, drehte einen Griff, der dahinter zum Vorschein kam, und drückte ihn. Die Wand schwang auf, und sie traten ein.
»Mach sie schnell wieder zu«, sagte Hecate und hustete. Er sah sich um. Dies war ein Lagerraum gewesen, und hinter der nächsten Tür lag der Tunnel mit den nach Süden führenden Gleisen. Er hatte die Produktion hierher verlegt, nachdem vor zwei Jahren der Bahnverkehr eingestellt worden war. Einige Penner und Junkies hatte er vertreiben müssen, und obwohl niemals jemand hierherkam und Chief Commissioner Kenneth ihr hochrangigster Beschützer gewesen war, hatte er zusätzlich noch gut getarnte Videokameras im Tunnel und über der Treppe zu den Toiletten angebracht. Zur Abendschicht gehörten insgesamt zwölf Leute, und sie alle trugen Schutzmasken und weiße Mäntel. Auf dieser Seite der Glaswand, die den Raum unterteilte, wurde das Brew von sieben Männern in Portionen abgewogen und in Plastikbeutel verpackt. Neben der Tür zum Tunnel saßen zwei bewaffnete Wächter und behielten die Arbeiter und die Überwachungsmonitore im Auge. Auf der anderen Seite der Glaswand befand sich das, was sie das Allerheiligste oder schlicht die Küche nannten. Dort stand der Kessel, und nur die Schwestern hatten Zutritt. Die Küche war aus verschiedenen Gründen hermetisch abgeriegelt. Zuerst einmal, damit keine äußerlichen Einflüsse den Herstellungsprozess beeinträchtigten und kein Idiot ein Feuerzeug anzündete oder einen brennenden Zigarettenstummel wegwarf und sie versehentlich alle in die Luft sprengte. Vor allem jedoch, weil alle bald abhängig wären, wenn sie täglich die durch die Luft fliegenden Moleküle einatmen würden.
Die Schwestern hatte Hecate in einer Opiumhöhle in Bangkoks Chinatown aufgestöbert, wo sie in einem improvisierten Labor aus dem Opium aus Chiang Rai Heroin hergestellt hatten. Er wusste nicht viel über sie, nur dass sie zusammen mit Chiang Kai-sheks Leuten aus China geflohen waren, dass die Krankheit, die ihre Gesichter zerstört hatte, sich angeblich in ihrem gesamten Heimatdorf ausgebreitet hatte und dass sie ihm immer lieferten, was er wollte, solange er sie pünktlich bezahlte. Die Zutaten waren allgemein bekannt, ebenso die Mengenverhältnisse, und auch die Produktionsabläufe waren durch die Glasscheibe deutlich zu sehen. Trotzdem umgab ein Geheimnis die Art, wie sie ihre Mixtur herstellten und erhitzten. Hecate war auch durchaus geneigt, das Gerücht zu glauben, dass sie Krötendrüsen, Hummelflügel und den Saft aus Rattenschwänzen benutzten und anschließend in den Kessel hineinrotzten. All das schuf eine Aura schwarzer Magie, und wenn es etwas gab, wofür die Menschen in ihrem allzu realen Arbeitsleben mit Freude zahlten, war es genau das: schwarze Magie. Brew schlug entsprechend ein wie eine Bombe. Hecate hatte noch nie so viele Menschen in so kurzer Zeit in derart verzweifelte Abhängigkeit fallen sehen. Aber etwas war ebenso offenkundig: An dem Tag, an dem ihm die Schwestern ein auch nur geringfügig schwächeres Produkt herstellten, musste er sie loswerden. So war es eben. Alles hatte seinen Zyklus, sein vorbestimmtes Ende. Wie die zwei Jahrzehnte unter Kenneth. Die guten Zeiten. Und wenn man zuließ, dass Duncan sich jetzt nach Belieben austobte, würde das schlechte Zeiten für den magischen Geschäftszweig bedeuten. Es war klar: Wenn nur die Götter über gute und schlechte Zeiten entscheiden konnten, musste man eben selbst zum Gott werden. Es war einfacher als gedacht. Was die meisten abhielt, waren schlicht Angst und Aberglaube. In ihrer ängstlichen Unterwürfigkeit glaubten sie, es gäbe eine absolute Moral, vom Himmel vorgegebene Gebote, die für alle Menschen gelten sollten. Aber diese Gebote wurden stets von Leuten aufgestellt, die sich selbst wie Götter aufführten, und immer dienten diese Gebote vor allem diesen angeblichen Göttern. Gut, nicht jeder konnte ein Gott sein, und jeder Gott brauchte Gläubige, brauchte Kundschaft. Einen Markt. Eine Stadt. Viele Städte.
Hecate begab sich ans Ende des Raumes, legte beide Hände auf den Griff seines Stocks und stand einfach nur da. Dies war seine Fabrik. Hier war er Unternehmer eines wachsenden Industriezweigs. Bald würde er expandieren müssen. Wenn er die Nachfrage nicht befriedigte, würden andere es tun, so lauteten die einfachen Regeln des Kapitalismus. Er hatte schon lange geplant, eine der stillgelegten Fabriken der Stadt zu übernehmen, zur Tarnung ein fiktives Geschäft einzurichten, während er in den Hinterräumen Brew herstellte. Wachschutz, mit Stacheldraht bewehrte Zäune, seine eigenen Lastwagen, die ein und aus fuhren. Er konnte die Produktion ums Zehnfache ausbauen und in den Rest des Landes exportieren. Aber das würde eine verstärkte Sichtbarkeit bedeuten und den konkreten Schutz der Polizei nötig machen. Ein Chief Commissioner wurde gebraucht, der nach seiner Pfeife tanzte. Ein Kenneth. Was konnte man also tun, nun, da Kenneth tot war? Man wählte sich einen neuen aus und ebnete den Weg für ihn.
Mit angespanntem Lächeln und steifem Kopfnicken unterbrachen seine Arbeiter das Zerkleinern und Verpacken, bevor sie sich umso eifriger wieder in die Arbeit stürzten. Sie hatten Angst. Genau das war der Zweck dieser Inspektionen. Es ging nicht darum, den unvermeidlichen Zyklus aufzuhalten, bloß darum, ihn hinauszuzögern. Jeder in diesem Kellerraum würde irgendwann versuchen, ihn zu betrügen, ein paar Gramm mit nach Hause nehmen und selbst verkaufen. Sie würden auffliegen und unverzüglich bestraft werden. Von Strega. Sie schien ihre verschiedenen Tätigkeiten durchaus zu genießen. Auch zusammen mit den Schwestern die Nachricht zu überbringen, hatte ihr Spaß gemacht.
»Nun, Strega«, sagte er, »glaubst du, dass die Saat, die wir in Macbeths Herz gesetzt haben, aufgehen wird?«
»Menschlicher Ehrgeiz streckt sich immer der Sonne entgegen. Wie eine Distel, die alles um sich herum in den Schatten stellt und tötet.«
»Wollen wir’s hoffen.«
»Sie sind Disteln. Sie können nicht anders. Sie sind böse und dumm. Wenn die Leute merken, dass sich die erste Prophezeiung des Wahrsagers erfüllt, glauben sie die nächste blind. Und nun hat Macbeth erfahren, dass er zum Leiter des neuen Dezernats ernannt wurde. Die einzige Frage ist, ob Macbeth genug vom Ehrgeiz der Distel in sich hat. Und die notwendige Grausamkeit, um den Weg bis zum Ende zu gehen.«
»Macbeth hat sie nicht«, sagte Hecate. »Aber sie hat sie.«
»Sie?«
»Lady, seine geliebte Herrin. Ich habe sie nie persönlich getroffen, aber ich kenne ihre tiefsten Geheimnisse und verstehe sie besser als dich, Strega. Lady braucht lediglich ein wenig Zeit, um auf die unvermeidliche Idee zu kommen. Glaub mir.«
»Und die wäre?«
»Dass sie Duncan loswerden müssen.«
»Und dann?«
»Dann«, sagte Hecate und klopfte mit seinem Stock auf den Boden: tapp-tapp. »Dann brechen für uns die guten Zeiten wieder an.«
»Sind Sie sicher, dass wir Macbeth kontrollieren können? Jetzt, wo er clean ist, bildet er sich wahrscheinlich ziemlich viel ein auf seine … Moral, oder?«
»Meine liebe Strega, es gibt nur einen, der noch vorhersehbarer ist als ein Junkie, und das ist ein liebeskranker Junkie, der sich für moralisch überlegen hält.«
Banquo lag in seinem Schlafzimmer im ersten Stock und lauschte auf den Regen, die Stille im Raum und den Zug, der niemals kam. Draußen führte die alte Strecke vorbei, und er stellte sich den feuchten, glänzenden Schotter vor, dort, wo man die Schienen und Schwellen entfernt hatte. Na ja, geklaut musste man wohl sagen. Sie waren hier glücklich gewesen, Vera und er, hatten gute Zeiten erlebt. Kennengelernt hatte er Vera, als sie noch bei Jacobs & Sons, dem Juwelier, gearbeitet hatte, wo sich die feineren Leute ihre Geschenke und Eheringe kauften. Eines Tages wurde die Alarmanlage ausgelöst, und Banquo – der an diesem Tag Streifendienst hatte – war innerhalb von einer Minute an Ort und Stelle. Im Laden schrie eine verängstigte junge Frau verzweifelt über das ohrenbetäubende Schrillen der Sirene hinweg, dass sie eigentlich nur den Laden hatte abschließen wollen. Sie war neu hier und musste beim Einstellen der Alarmanlage einen Fehler gemacht haben. Er verstand sie kaum bei all dem Lärm und hatte umso mehr Zeit, sie zu betrachten. Als sie schließlich in Tränen ausbrach, legte er einen sanften, tröstenden Arm um sie. Sie fühlte sich an wie ein warmer, zitternder Jungvogel. In den nächsten Wochen gingen sie zusammen ins Kino, auf der sonnigen Seite des Tunnels spazieren, und einmal küsste er sie vor ihrer Tür. Sie kam aus einer Arbeiterfamilie, und sie hatte schon früh ihren Anteil beisteuern und wie ihre Eltern in der Estex-Fabrik arbeiten müssen. Bis sie sich einen schlimmen Husten eingefangen hatte. Nachdem ein Arzt ihr geraten hatte, sich etwas anderes zu suchen, war sie schließlich über Empfehlungen an den Job beim Juwelier gekommen.
»Die zahlen schlechter«, sagte sie, »aber man lebt länger.«
»Du hustest immer noch?«
»Nur wenn’s regnet.«
»Dann sorgen wir mal lieber dafür, dass du mehr Sonne bekommst. Wollen wir am Sonntag wieder spazieren gehen?«
Nach sechs Wochen tauchte Banquo beim Juwelier auf und fragte sie, ob sie ihm einen Verlobungsring empfehlen könne. Sie schaute ihn derart perplex an, dass er lachen musste.
Nachdem sie geheiratet hatten, zogen sie in eine winzige Zweizimmerwohnung im ersten Stock. Sie hatten lange gespart, sich das Bett gekauft, in dem er jetzt lag, und sich darin geliebt. Aus Rücksicht auf die Nachbarn unter ihnen wartete Vera – eine leidenschaftliche, aber scheue Frau – immer auf einen Zug, bevor sie kam. Wenn dann einer vorbeirauschte und die Wände und Deckenlampen zum Zittern brachte, ließ sie sich gehen, schrie und grub ihre Nägel in seinen Rücken. Genau so machte sie es, als sie in demselben Bett Fleance zur Welt brachte: Sie wartete, und erst als der Zug kam, schrie sie, drückte ihre Nägel in seine Hand, presste und gebar einen Sohn.
Im folgenden Jahr kauften sie das Erdgeschoss, um mehr Platz zu haben. Nun waren sie schon zu dritt, und womöglich würde sich die Familie bald vergrößern. Fünf Jahre später aber waren sie nur noch zu zweit: Ein Junge und ein Mann. Es waren ihre Lungen. Die Ärzte führten es auf die verschmutzte Luft zurück, auf all die Giftstoffe aus den Fabriken, die die endlosen Tiefdruckgebiete wie ein Deckel über der Stadt festhielten. Und da ihre Lungen bereits geschädigt waren … Doch Banquo gab sich selbst die Schuld. Er war nicht imstande gewesen, genug Geld zusammenzukratzen, um mit der Familie auf die andere Seite des Tunnels zu ziehen, nach Fife, wo dann und wann die Sonne schien und man die Luft atmen konnte.
Jetzt hatten sie zu viel Platz. Er konnte unten das Radio hören und wusste, dass Fleance an seinen Hausaufgaben saß. Fleance gab sich Mühe, er wollte es unbedingt schaffen. Es war ein gewisser Trost, dass diejenigen, die es in der Schule leicht hatten und erfolgreich durchstarteten, oft ihren Enthusiasmus verloren, wenn der Ernst des Lebens begann. Dann schlug die Stunde für Schüler wie Fleance, der sich unerbittlich zwingen musste, sein Arbeitspensum zu erfüllen, und der wusste, dass man sich anstrengen muss, um etwas zu lernen. Ja, es würde alles gut werden. Und wer weiß, vielleicht traf der Junge irgendwann ein Mädchen und gründete eine Familie. Hier in diesem Haus zum Beispiel. Vielleicht standen neue und bessere Zeiten bevor. Vielleicht würden sie auch Duncan in Zukunft noch besser unterstützen können, jetzt, da es Macbeths Aufgabe war, gegen die Organisierte Kriminalität in dieser Stadt zu kämpfen. Die Nachricht hatte Banquo vollkommen überrascht – und die meisten anderen im Hauptquartier ebenfalls. Unten im SWAT-Keller hatte Ricardo es auf den Punkt gebracht: Er konnte sich nicht vorstellen, wie Macbeth und Banquo in Anzügen und mit Krawatte hinterm Schreibtisch saßen, Diagramme auswerteten und Budgets vorstellten. Oder auf Cocktailpartys freundlich mit Chief Commissioners, Ratsmitgliedern und anderen feinen Pinkeln plauderten. Aber sie würden schon sehen. An Motivation mangelte es jedenfalls nicht. Und vielleicht waren nun auch einfach Leute wie Macbeth an der Reihe, die es gewohnt waren, eine Extraschicht einzulegen, um ihre Ziele zu erreichen.
Im Hauptquartier wusste außer ihm nur Duff, wie stark Macbeth in seinen Teenagerjahren von Speed abhängig gewesen war, wie verrückt es ihn gemacht hatte, wie tief unten er bereits gewesen war. Banquo war damals auf den regennassen Straßen Streife gelaufen, als er den Jungen zusammengekrümmt und völlig weggetreten unter dem Dach einer Bushaltestelle hatte liegen sehen. Er weckte ihn, sagte ihm, dass er weiterziehen solle, aber irgendwas in seinen flehenden braunen Augen hatte ihn zögern lassen. Etwas in seinen wachsamen Bewegungen, als er aufgestanden war. Etwas an seinem durchtrainierten, kompakten Körper hatte Banquo erkennen lassen, was für eine Verschwendung das war, dass etwas an diesem Jungen Potenzial verriet, sich etwas an ihm noch retten ließ. Banquo nahm den Fünfzehnjährigen in jener Nacht mit nach Hause und gab ihm trockene Sachen. Vera machte ihm etwas zu essen, und dann steckten sie ihn ins Bett. Am nächsten Tag, einem Sonntag, fuhren Vera, Banquo und der Junge durch den Tunnel in den Sonnenschein auf der anderen Seite und machten einen langen Spaziergang in den grünen Hügeln. Macbeth stotterte anfangs noch beim Sprechen, später immer weniger. Er war in einem Waisenhaus aufgewachsen und hatte davon geträumt, im Zirkus zu arbeiten. Er zeigte ihnen, wie er jonglieren konnte. Dann stellte er sich fünf Schritte entfernt von einer hohen Eiche auf und schleuderte Banquos Taschenmesser in den Stamm, wo es zitternd stecken blieb. Schwerer fiel es dem Jungen, ihnen die Narben an seinem Unterarm zu zeigen und über sie zu sprechen. Das passierte erst später, als er wusste, dass Banquo und Vera Menschen waren, denen er vertrauen konnte. Aber auch dann sagte er nur, dass es angefangen hatte, nachdem er aus dem Heim geflohen war. Darüber, wie genau es dazu gekommen oder was der Auslöser gewesen war, sprach er nicht. Darauf folgten weitere Sonntage, weitere Gespräche und Spaziergänge. Doch an den ersten erinnerte Banquo sich besonders gut, weil Vera ihm auf dem Nachhauseweg zugeflüstert hatte: »Lass uns einen Sohn wie ihn machen.« Und als ein stolzer Banquo Macbeth vier Jahre später zur Polizeischule begleitet hatte, war Fleance drei Jahre alt gewesen und Macbeth ebenso lange clean.
Banquo drehte sich um und betrachtete das Foto auf dem Nachttisch. Es zeigte ihn und Fleance; sie standen unter dem toten Apfelbaum im Garten. Fleances erster Tag auf der Polizeischule. Er trug seine Uniform, es war früh am Morgen, die Sonne schien bereits, und der Schatten des Fotografen lag über ihnen.
Er hörte das Quietschen eines Stuhls, hörte Fleance auf und ab tigern. Wütend, frustriert. Es war nicht immer möglich, alles sofort zu begreifen. Es dauerte eine Weile, bis das Verständnis da war. So wie es auch Zeit und Willenskraft kostete, den Drogen abzuschwören, der Flucht, nach der man süchtig war. Oder wie es Zeit brauchte, eine Stadt zu verändern, die Ungerechtigkeit abzubauen, die Saboteure loszuwerden, die korrupten Politiker und die Schwerverbrecher, die Luft zu reinigen, sodass die Bürger der Stadt sie atmen konnten.
Unten war alles ruhig geworden. Fleance saß wieder am Schreibtisch.
Es war möglich, wenn man Tag für Tag erledigte, was zu tun war. Dann würden irgendwann vielleicht auch wieder die Züge fahren.
Er lauschte, hörte aber nur Stille. Und den Regen. Aber wenn er die Augen schloss – war das nicht Veras Atem neben ihm im Bett?
Caithness’ Atem verlangsamte sich wieder.
»Ich muss zu Hause anrufen«, sagte Duff, küsste ihre schweißnasse Stirn und schwang die Beine aus dem Bett.
»Jetzt?«, rief sie aus. An der Art, wie sie sich sofort auf die Unterlippe biss, konnte er erkennen, dass es nicht ihre Absicht gewesen war, es so wütend klingen zu lassen. Und da hieß es immer, er hätte keine Menschenkenntnis.
»Ewan hatte gestern Zahnschmerzen. Ich muss hören, wie es ihm geht.«
Sie antwortete nicht. Duff lief nackt durch die Wohnung. Das machte er meistens, da es eine Dachgeschosswohnung war und niemand hineinsehen konnte. Außerdem störte es ihn nicht, nackt gesehen zu werden. Er war stolz auf seinen Körper. Vielleicht war ihm sein Körper deshalb so wichtig, weil er sich während seiner gesamten Jugend so sehr für die Narbe geschämt hatte, die sein Gesicht in zwei Hälften teilte. Die Wohnung war groß, weit größer, als man es bei einer jungen Frau erwartet hätte, die im öffentlichen Dienst tätig war. Er hatte ihr angeboten, etwas zur Miete beizusteuern, da er so viele Nächte hier verbrachte, aber sie meinte nur, ihr Vater würde sich um diese Belange kümmern.
Duff ging ins Arbeitszimmer, schloss die Tür hinter sich und wählte die Nummer in Fife.
Er hörte, wie der Regen auf das Dachfenster über seinem Kopf fiel. Nach dem dritten Klingeln nahm sie ab. Immer nach dem dritten Klingeln. Ganz gleich, wo sie sich gerade im Haus befand.
»Ich bin’s«, sagte er. »Wie lief’s beim Zahnarzt?«
»Es geht ihm schon besser«, sagte sie. »Ich bin mir nicht sicher, ob es Zahnschmerzen waren.«
»Oh? Was denn sonst?«
»Es gibt andere Dinge, die einem wehtun können. Er hat geweint, und als ich ihn gefragt habe, warum, wollte er es mir nicht verraten und hat einfach das Erstbeste gesagt, was ihm eingefallen ist. Er liegt jetzt im Bett.«
»Hhm. Morgen komme ich nach Hause, und dann rede ich mal mit ihm. Wie ist das Wetter?«
»Klarer Himmel. Der Mond scheint. Warum?«
»Wir könnten morgen alle zum See gehen. Schwimmen.«
»Wo bist du, Duff?«
Er versteifte sich. Etwas stimmte nicht an ihrem Tonfall. »Wo? Im Grand natürlich.« Und fügte übertrieben fröhlich hinzu: »Müde Männer müssen jetzt in die Federn, weißt du doch.«
»Ich habe am frühen Abend im Grand angerufen. Die meinten, du hättest nicht eingecheckt.«
Er erhob sich mit dem Telefon in der Hand.
»Ich habe nur angerufen, weil Emily Hilfe brauchte bei ihren Mathehausaufgaben. Und, wie du ja weißt, bin ich nicht so gut darin, eins und eins zusammenzuzählen. Also, wo bist du?«
»In meinem Büro.« Duff atmete durch den Mund. »Ich schlafe auf dem Sofa im Büro. Ich stecke bis zum Hals in Arbeit. Tut mir leid, dass ich so getan habe, als wäre ich im Grand. Aber ich dachte, dass du und die Kinder, dass ihr nicht wissen müsst, wie hart es hier gerade ist.«
»Hart?«
Duff schluckte. »Mit der ganzen Arbeit. Und das neue Dezernat habe ich nun doch nicht bekommen.« Er grub die Zehen in den Boden. Er hörte, wie erbärmlich das klang. Als würde er sie darum bitten, ihn aus reinem Mitleid vom Haken zu lassen.
»Na ja, immerhin haben sie dir die Leitung der Mordkommission gegeben. Und ein neues Büro, wie sich’s anhört.«
»Was?«
»Im obersten Stock. Ich höre, dass der Regen gegen ein Fenster prasselt. Ich lege jetzt auf.«
Ein Klicken ertönte, und sie war weg.
Duff fröstelte. Es war kühl im Raum. Er hätte sich etwas anziehen, hätte nicht so nackt hier herumstehen sollen.
Lady lauschte, wie Macbeth atmete, und erschauderte.
Es kam ihr vor, als wäre ein kalter Luftzug durch den Raum gegangen. Sie musste die Dunkelheit abschütteln, die so schwer auf ihr lastete, sich aus dem geistigen Gefängnis herauskämpfen, in dem ihre Mutter und Großmutter gefangen gewesen waren, zurück ans Licht. Für ihre Freiheit kämpfen und alles opfern, was geopfert werden musste, um selbst zur Sonne zu werden. Oder zu einem Stern. Eine leuchtende Mutter, die sich brennend selbst verzehrte und anderen dabei das Leben schenkte. Das Zentrum eines Universums, in dem sie verglühte. Ja. Verglühte. So wie jetzt auch ihre Haut zu glühen schien, ihr Atem brannte und alle Kühle aus dem Zimmer drängte. Sie fuhr sich mit der Hand über den Körper, spürte, wie ihre Haut prickelte. Es war derselbe Gedanke, dieselbe Entscheidung wie damals. Es musste getan werden, es führte kein Weg daran vorbei. Es ging nur vorwärts, ganz gleich, was auf ihrem Weg lag, wie bei einer Kugel, die aus einer Pistole abgefeuert wird.
Sie legte eine Hand auf Macbeths Schulter. Er schlief wie ein kleines Kind. Ein letztes Mal. Sie rüttelte ihn wach.
Er drehte sich um, streckte ihr murmelnd die Hände entgegen. Immer dienstbereit. Sie hielt seine Hände kraftvoll fest.
»Liebster«, flüsterte sie, »du musst ihn töten.«
Er öffnete die Augen. Sie leuchteten in der Dunkelheit.
Sie ließ seine Hände los.
Streichelte seine Wange. Dieselbe Entscheidung wie damals.
»Du musst Duncan töten.«