24

Fred Ziegler gähnte.

»Fred, du brauchst ’ne Tasse Kaffee.« Der Kapitän der MS Glamis lachte. »Wir können es uns nicht erlauben, dass ein Hafenlotse bei diesem Wetter einschläft. Sag mal, warum bist du eigentlich immer so müde?«

»Stressige Tage, nicht genug Schlaf«, sagte Fred. Er konnte dem Kapitän nicht sagen, dass er ständig gähnte, weil er sich fürchtete. Fred hatte dasselbe Symptom bei seinem Hund gesehen, doch zum Glück glaubten die Leute immer, man sei vollkommen entspannt, wenn man gähnte. Gelangweilt. Oder dass man einfach nicht genug geschlafen hatte. Der Kapitän drückte auf die Gegensprechanlage, und seine Kaffeebestellung wanderte über das Kabel Deck für Deck bis in die Kombüse hinunter. Die MS Glamis war ein großes Schiff. Ein hohes Schiff. Und genau das bereitete Fred Ziegler so viel Kopfzerbrechen.

Er unterdrückte ein weiteres Gähnen und starrte über den Fluss. Er kannte jedes Riff, jede Untiefe und jeden noch so winzigen Paragrafen im Regelwerk der Hafenmeisterei, wie man in den Hafen einfahren durfte und wie wieder hinaus – wo die Strömung stark war, wo sich die Wellen brachen, wo man sicher vor Anker gehen konnte und wo sich jeder einzelne Poller am Kai befand. Das bereitete ihm keine Sorgen. Der Fluss war grau; er hätte Schiffe mit verbundenen Augen hinein- und hinauslotsen können, und oft hatte er das gewissermaßen auch getan. Das Wetter machte ihm ebenfalls keine Sorgen. Ein Sturmwind hatte sich erhoben, und die Scheibe vor ihnen war bereits weiß vor Gischt und Salz. Aber er hatte schon größere und kleinere Schiffe ohne Leuchtturm, Spierentonne oder Aussichtsplattform durch Hurrikane und Schlimmeres geleitet. Die Fahrt in dem kleinen Lotsenboot, mit dem er an Land gehen würde, machte ihm auch keine Sorgen, auch wenn es in etwa so seefest war wie eine Kuh – ein frischer Windstoß, und schon nahm es Wasser auf, die Andeutung einer Sturmbö, und es würde kentern, wenn der Steuermann die Wellen nicht gut genug abmaß.

Fred Ziegler gähnte, weil er den Augenblick fürchtete, wenn das Schiff die rote und die weiße Fahne senkte, um zu zeigen, dass sie einen Lotsen an Bord hatten. Oder genauer gesagt, den Augenblick, wenn er das Schiff verlassen musste. Die Strickleiter hinunter.

Zwölf Jahre lang arbeitete er nun schon als Lotse und hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, am Bug eines Schiffes hinauf- und hinunterzusteigen. Er fürchtete nicht mal, im Wasser zu landen, obwohl er wusste, dass ihm das Angst machen sollte, schließlich konnte er nicht schwimmen.

Nein, was ihm Angst machte, war die Höhe.

Die lähmende Furcht, wenn er rückwärts über die Reling steigen musste. Selbst bei diesem Wetter war es, rein praktisch gesehen, keineswegs schwer, auf der Leeseite die Leiter hinabzuklettern, weil das Schiff so groß war. Trotzdem, zu sehen – oder es einfach nur zu wissen –, dass fünfzehn Meter dünner Luft zwischen ihm und dem Abgrund lagen, das machte ihn fertig. Es war immer so gewesen und würde auch immer so bleiben. Jeder gottverdammte Arbeitstag hielt diese kleine Hölle für ihn bereit: Es war das Erste, was ihm morgens beim Erwachen in den Sinn kam, und das Letzte, bevor er nachts wieder einschlief. Aber so war es eben, gar nichts Besonderes – überall um ihn herum sah er Leute, die ihr Leben mit Jobs oder in Positionen verbrachten, für die sie nicht gemacht waren.

»Sie müssen doch so oft aus dem Hafen gefahren sein, dass Sie die Küstenwache einfach bitten könnten, selbstständig in See zu stechen«, sagte Fred.

»Selbstständig?«, entgegnete der Kapitän. »Aber dann müsste ich ja auf Ihre Gesellschaft verzichten, Fred. Was ist denn los? Mögen Sie mich nicht?«

Ihr Schiff mag ich nicht, dachte Fred. Ich bin ein kleiner Mann, der keine großen Schiffe mag.

»Übrigens, in Zukunft werden Sie weniger von mir zu Gesicht bekommen«, sagte der Kapitän.

»Ach ja?«

»Nicht genug Fracht. Letztes Jahr haben wir Graven verloren, als sie bankrott gemacht haben, und dann hat auch noch Estex dichtgemacht. Was wir jetzt an Bord haben, ist der letzte Lagerbestand.«

Fred hatte bereits an der Art, wie das Schiff im Wasser lag, erkannt, dass es weniger Fracht als gewöhnlich geladen hatte.

»Eine Schande«, sagte er.

»Nein, im Grunde ist das ganz gut«, entgegnete der Kapitän düster. »Wenn man weiß, dass unsere Mitbürger für das giftige Zeug, das wir all die Jahre hier transportiert haben, mit ihrem Leben bezahlen … Glauben Sie mir, ich habe nicht immer gut geschlafen. Manchmal habe ich mich gefragt, wie es gewesen sein muss, Kapitän eines Sklavenschiffs zu sein. Man muss ziemlich kreativ sein, um gute Entschuldigungen für sich zu finden. Vielleicht kennen wir den Unterschied zwischen Richtig und Falsch, ohne diese wunderbaren Worte in unserem Kopf benutzen zu müssen. Aber wir haben ja unseren Verstand und können uns ausgefeilte Gründe zurechtzimmern, die sich erst mal gut anhören und uns dahin bringen, wo wir hinwollen, ganz egal was für ein Irrsinn das alles eigentlich ist. Nein, Fred, ich möchte die Küstenwache nicht um Erlaubnis fragen, diese verseuchten Gewässer ohne Lotsen zu durchfahren. Mittwoch haben wir hier Schlange gestanden, um in den Hafen hineinzukönnen. Dann kam die Nachricht vom Hafenmeister persönlich, wir hätten Top-Priorität, ohne Extrakosten.«

»Muss eine schöne Überraschung gewesen sein.«

»Ja, aber dann habe ich einen genaueren Blick auf den Frachtbrief geworfen. Wie sich rausstellte, haben wir zwei Gatling-Maschinengewehre transportiert. So langsam ähnelt das hier wieder der Zeit unter Kenneth. Hey, Vorsicht! Wollen Sie unseren Lotsen verbrühen, mein Sohn?«

Der Mann in der karierten Kombüsenschürze hatte das Gleichgewicht verloren, als sich das Schiff in eine Welle gelegt hatte, und etwas von dem Kaffee war auf die schwarze Uniform des Lotsen gespritzt. Der Typ murmelte eine Entschuldigung in seinen Bart, stellte die Tassen ab und eilte hinaus.

»Tut mir leid, Fred. Selbst hier, wo die halbe Stadt arbeitslos ist, fällt es uns nicht leicht, eine seefeste Besatzung zu finden. Dieser Kerl ist heute Morgen bei uns aufgetaucht. Hat behauptet, er habe schon mal in einer Kombüse gearbeitet, hätte aber seine Papiere verloren.«

Fred schlürfte von seiner Tasse. »Der war noch nie an Bord eines Schiffes, und Kaffee kann er auch nicht kochen.«

»Tja.« Der Kapitän seufzte. »Wir werden es schon hinbekommen, schließlich fahren wir bloß bis Capitol. Das da hinter uns ist die Isle of Hanstholm, das heißt, wir haben das Schlimmste überstanden. Ich rufe nach Ihrem Boot und sage Bescheid, dass man die Leiter hinunterlassen soll.«

»Okay.« Fred schluckte. »Dann haben wir das Schlimmste überstanden.«


Macbeth saß auf einem Stuhl im Korridor, knetete seine Hände und starrte zur Tür der Suite hinüber. »Was macht der eigentlich genau da drin?«

»Ich kenn mich mit Psychiatrie nicht besonders gut aus«, sagte Jack. »Soll ich Ihnen noch Kaffee holen, Sir?«

»Nein, bleiben Sie, wo Sie sind. Aber er ist gut, sagen Sie?«

»Ja, Dr. Alsaker soll der Beste in der Stadt sein.«

»Das ist gut, Jack. Das ist gut. Schrecklich, schrecklich.« Macbeth beugte sich in seinem Stuhl vor und vergrub das Gesicht in den Händen. Er hatte immer noch eine Stunde Zeit bis zu seinem Radiointerview. Doch schon vor Sonnenaufgang war er von Schreien geweckt worden, die aus Ladys Zimmer kamen. Und als er zu ihr hinübergestürmt war, hatte sie neben dem Bett gestanden und auf das tote Baby gezeigt.

»Schau!«, schrie sie. »Schau, was ich getan habe!«

»Aber das warst nicht du, Liebste.« Er versuchte, sie festzuhalten, doch sie riss sich von ihm los und fiel schluchzend auf die Knie.

»Nenn mich nicht Liebste! Man kann mich nicht lieben, eine Kindsmörderin darf man nicht lieben!« Dann schaute sie Macbeth mit ihren wahnsinnigen schwarzen Augen an. »Nicht einmal ein Kindsmörder sollte eine Kindsmörderin lieben. Verschwinde hier!«

»Komm, leg dich mit mir hin, Schatz.«

»Raus aus meinem Schlafzimmer! Und fass ja das Kind nicht an!«

»Das ist Wahnsinn. Es wird heute eingeäschert.«

»Leg auch nur einen Finger an das Kind, dann bring ich dich um, Macbeth, ich schwöre es dir.« Sie nahm den kleinen Leichnam in den Arm und wiegte ihn.

Er schluckte. Er brauchte seinen morgendlichen Schuss. »Ich hole mir nur ein paar Sachen und lasse dich in Frieden«, sagte er und trat an den Kleiderschrank. Zog eine Schublade auf. Erstarrte.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Du wirst Nachschub besorgen müssen. Wir brauchen es, wir beide.«

Er verließ das Zimmer, aber statt mehr Power zu besorgen, hatte er Jack gebeten, psychiatrische Hilfe zu holen.

Nun schaute Macbeth wieder auf die Uhr. Wie lange konnte es dauern, den kleinen Kurzschluss, den sie offenbar gehabt hatte, wieder in Ordnung zu bringen?

Wie zur Antwort öffnete sich die Tür, und Macbeth sprang von seinem Stuhl auf. Ein kleiner Mann mit dünnem grauem Bart und mit Augenlidern, die eine Nummer zu groß zu sein schienen, trat auf den Korridor.

»Nun?«, fragte Macbeth. »Doktor … ähm …«

»Dr. Alsaker«, sagte Jack.

»Ich habe ihr etwas zur Beruhigung gegeben«, sagte der Psychiater.

»Was ist denn los mit ihr?«

»Schwer zu sagen.«

»Schwer? Sie sollen doch der Beste sein in Ihrem Fach.«

»Freut mich zu hören, aber nicht mal die Allerbesten kennen alle Labyrinthe des menschlichen Geistes, Mr Macbeth.«

»Sie müssen sie heilen.«

»Wie gesagt, mit dem wenigen, was wir über den menschlichen Geist wirklich wissen, ist diese Bitte nicht leicht zu …«

»Ich bitte nicht, Doktor, ich stelle Ihnen ein Ultimatum.«

»Ein Ultimatum, Mr Macbeth?«

»Wenn Sie sie nicht wieder normal machen, werde ich Sie als Scharlatan verhaften müssen.«

Alsaker musterte ihn unter seinen übergroßen Augenlidern. »Ich sehe, dass Sie schlecht geschlafen haben und vor Sorge außer sich sind, Chief Commissioner. Ich empfehle, dass Sie sich einen Tag freinehmen. Was Ihre Frau anbelangt …«

»Sie irren sich«, sagte Macbeth und nahm einen Dolch aus seinem Schulterholster. »Und die Strafe dafür, dass Sie Ihre Arbeit nicht tun, wird in unserer derzeitigen Notlage drakonisch ausfallen.«

»Sir …«, setzte Jack an.

»Eine Operation«, sagte Macbeth. »Das brauchen wir, das würde ein echter Arzt tun: wegschneiden, was bösartig ist. Er verdrängt jeden Gedanken an die Schmerzen des Patienten, denn das kann ihn nur zum Schwanken bringen. Man entfernt und zerstört das, was den Schaden verursacht, sei es ein Tumor oder ein faulender Fuß, um den gesamten Körper zu retten. Es ist ja nicht so, als wären der Tumor oder der Fuß in sich selbst böse, sie müssen einfach nur geopfert werden. Ist es nicht so, Doktor?«

Der Psychiater legte den Kopf schief. »Sind Sie sicher, dass es Ihre Frau ist, die untersucht werden muss, und nicht Sie selbst, Mr Macbeth?«

»Sie haben Ihr Ultimatum.«

»Ich werde jetzt gehen. Stechen Sie mir also mit diesem Ding in den Rücken, wenn Sie es für nötig halten.«

Macbeth sah zu, wie Alsaker sich umwandte und in Richtung Treppe ging. Er starrte den Dolch in seiner Hand an. Was zur Hölle tat er hier?

»Alsaker!« Macbeth rannte dem Arzt hinterher. Holte ihn ein und ging vor ihm auf die Knie. »Bitte, Sie müssen ihr helfen, Sie müssen. Sie ist alles, was ich habe. Ich muss sie zurückbekommen. Sie müssen sie zurückholen. Ich zahle, was immer es kostet.«

Alsaker nahm seinen Bart zwischen Daumen und Zeigefinger. »Wovon reden wir hier – Brew?«

»Power«, sagte Macbeth.

»Natürlich.«

»Sie kennen es?«

»Unter einer ganzen Reihe von Bezeichnungen, aber die chemische Zusammensetzung ist immer dieselbe. Die Leute glauben, es sei ein Antidepressivum, weil es die ersten paar Male stimmungsaufhellend wirkt, bis die psychotischen Episoden auftreten.«

»Ja, genau, das ist es, was sie nimmt.«

»Ich wollte wissen, was Sie nehmen, Mr Macbeth. Und jetzt sehe ich es. Wie lange konsumieren Sie das Zeug, das Sie Power nennen?«

»Ich …«

»Offensichtlich noch nicht lange. Das Erste, was Sie verlieren, sind Ihre Zähne. Dann den Verstand. Und es ist nicht leicht, aus dem Gefängnis der Psychose zu entkommen. Wissen Sie, wie man diejenigen nennt, die von Power nicht mehr loskommen?«

»Hören Sie …«

»Kriegsgefangene. Hübsch, nicht wahr?«

»Ich bin nicht Ihr Patient, Alsaker. Ich flehe Sie an, gehen Sie nicht, bevor Sie alles getan haben, was Sie können.«

»Ich verspreche, dass ich zurückkomme, aber jetzt muss ich mich um andere Patienten kümmern.«

»Jack«, sagte Macbeth, ohne sich vom Fleck zu rühren oder den Blick von dem Psychiater abzuwenden.

»Ja, Sir.«

»Zeigen Sie es ihm.«

»Aber …«

»Er ist durch den hippokratischen Eid gebunden.«

Jack wickelte das Tuch von dem Bündel und streckte es dem Arzt entgegen. Dieser trat einen Schritt zurück und bedeckte Nase und Mund mit der Hand.

»Sie glaubt, es sei ihres«, sagte Macbeth. »Wenn Sie es nicht für mich oder für sie tun, dann tun Sie es für die Stadt, Doktor.«


Macbeth spürte einen merkwürdigen Druck auf den Ohren, als sich die Tür hinter ihm schloss. Nun bin ich also doch noch im Irrenhaus gelandet, dachte er. Die Wände des kleinen quadratischen Raumes, in dem er jetzt erwartungsvoll gemustert wurde, waren gepolstert, aber immerhin gab es ein Fenster.

»Keine Angst«, sagte der Mann am Tisch vor ihm. »Ich werde Ihnen bloß ein paar Fragen stellen. Sie haben es bald hinter sich.«

»Es sind nicht die Fragen, vor denen ich Angst habe«, sagte Macbeth und nahm Platz, »sondern die Antworten.«

Der Mann lächelte. Als die Musik aus dem Lautsprecher über dem Fenster erstarb und ein rotes Licht an der Wand aufleuchtete, legte er kurz einen Finger an die Lippen.

»Sie hören die Rolling News mit Walt Kite«, gurrte er in das Mikrofon vor sich. »Wir haben heute den neuen Liebling der Stadt bei uns zu Gast, Chief Commissioner Macbeth. Nachdem er eine unserer berüchtigtsten Drogenbanden, die Norse Riders, ausgemerzt hat, jagt er derzeit unermüdlich die korrupten Kollaborateure in den Reihen der Polizei. Er hat die Herzen der Bürger gewonnen und ihnen neue Hoffnung gegeben mit inspirierenden Reden, in denen er den Beginn einer neuen Zeit verspricht. Chief Commissioner Macbeth, ist das nicht bloß Rhetorik?«

Macbeth räusperte sich. Er war bereit. Er war ein neuer Mann. Wieder einmal hatte er seine Medizin perfekt dosiert. »Ich bin ein einfacher Mann, und von Rhetorik verstehe ich nicht viel, Walt. Ich habe immer nur gesagt, was ich denke. Und das ist Folgendes: Wenn diese Stadt wirklich will, hat sie auch die Kraft, sich selbst aus dem Schmutz zu ziehen. Weder der Chief Commissioner noch Politiker können das einer Stadt abnehmen; ihre Bürger müssen es selbst tun.«

»Aber man kann sie inspirieren und anführen?«

»Selbstverständlich.«

»Sie werden bereits als Bürgermeisterkandidat gehandelt. Ist das ein Job, der Sie in Versuchung führen könnte, Chief Commissioner Macbeth?«

»Ich bin Polizeibeamter, und ich möchte der Stadt nur in dem Job dienen, mit dem ich betraut worden bin.«

»Als bescheidener Diener des Volkes sozusagen. Ihr Vorgänger, Duncan, hat sich auch als Diener des Volkes bezeichnet, war aber nicht ganz so bescheiden. Er hat damals versprochen, innerhalb eines Jahres den mächtigsten Verbrecher dieser Stadt zu fangen, Hecate, auch bekannt als Unsichtbare Hand. Sie haben sich jetzt erst mal um die Norse Riders gekümmert. Welche Deadline haben Sie sich denn für Hecate gesetzt?«

»Lassen Sie mich zuerst einmal sagen, dass es für den Namen Unsichtbare Hand einen guten Grund gibt. Wir wissen sehr wenig über Hecate. Nur, dass er wahrscheinlich derjenige ist, der die Droge namens Brew herstellen lässt. Aber angesichts der Produktionsmenge und des weitreichenden Vertriebs ist es ebenso gut vorstellbar, dass wir hier eigentlich von einem Netzwerk oder einer breit gefächerten Organisation sprechen.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie die Verhaftung von Hecate weniger stark priorisieren als Duncan?«

»Ich will damit sagen, dass Sie hier einen Chief Commissioner vor sich haben, der nicht seine gesamten Ressourcen für eine Verhaftung einsetzen wird, nur damit wir gute Schlagzeilen bekommen, die Polizei sich geehrt fühlt und man im Rathaus die Champagnerkorken knallen lässt – obwohl am Ende das Leben der ganz normalen Leute davon kaum berührt wird. Wenn wir einen Mann namens Hecate verhaften, werden andere den Markt übernehmen – und um das zu verhindern, müssen wir das wahre Problem der Stadt angreifen.«

»Und das wäre?«

»Jobs, Walt. Wir müssen die Leute wieder in Arbeit bringen. Das ist die beste und die günstigste Maßnahme gegen das Verbrechen. Wir können die Gefängnisse füllen, aber solange die Menschen immer noch auf unseren Straßen rumlaufen und nichts zu essen haben …«

»Jetzt klingen Sie aber wirklich so, als würden Sie sich zur Wahl stellen wollen.«

»Mir ist es egal, wie ich klinge. Ich möchte bloß, dass diese Stadt wieder auf die Füße kommt.«

»Und wie wollen Sie das schaffen?«

»Wir können es schaffen, indem wir dafür sorgen, dass in dieser Stadt nicht nur die einfachen Arbeiter zur Verantwortung gezogen werden, sondern auch die großen Arbeitgeber. Es kann nicht sein, dass sie weiterhin nicht in die öffentlichen Kassen einzahlen oder sich mittels Bestechung Privilegien erschleichen. Die Stadt muss ihnen zu verstehen geben, dass man sich bei uns an die Regeln zu halten hat. Und die Arbeiter sollten wissen, dass sie an ihrem Arbeitsplatz nicht vergiftet werden. Unser kürzlich verstorbener Held Banquo hat vor Jahren seine Frau Vera verloren. Sie hatte in der Fabrik, in der sie beschäftigt war, jahrelang giftige Dämpfe eingeatmet. Vera war eine wunderbare, hart arbeitende Ehefrau und Mutter. Ich habe sie persönlich gekannt und geliebt. Als Chief Commissioner verspreche ich der Stadt, dass in Zukunft kein Arbeitsplatz weitere Veras das Leben kosten wird. Es gibt andere Wege, die Menschen in Arbeit zu bringen. Bessere Wege. Und die werden ihnen ein besseres Leben ermöglichen.«

An Walt Kites Grinsen konnte Macbeth ablesen, dass er beeindruckt war. Macbeth war selbst beeindruckt. Er hatte noch nie so klar gedacht. Es musste das neue Pulver sein, das ihm diese konzisen, logischen Worte auf die Zunge legte.

»Ihre Beliebtheit ist rasch angestiegen – exponentiell, Chief Commissioner. Wagen Sie es deshalb, Aussagen zu machen, die ich an Bürgermeister Tourtells Stelle als Herausforderung verstehen würde? Formell gesehen ist er Ihr Boss und muss Ihre Ernennung zum Chief Commissioner befürworten. Sonst haben Sie am Ende gar keinen Job.«

»Ich habe noch mehr Bosse über mir als den Bürgermeister, Walt, darunter mein eigenes Gewissen und die Bürger dieser Stadt. Und mein Gewissen und diese Stadt haben Vorrang vor dem bequemen Stuhl im Büro des Chief Commissioners.«

»In vier Monaten finden die Bürgermeisterwahlen statt, und die Nominierungen müssen in drei Wochen bekannt gegeben werden.«

»Wenn Sie das sagen, Walt.«

Walt Kite lachte und hob einen Arm über den Kopf. »Und damit bedanken wir uns bei Chief Commissioner Macbeth. Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich die Wahrheit war, als er sagte, er verstehe nichts von Rhetorik. Hier geht’s jetzt weiter mit Miles Davis ….« Er senkte den Arm und zeigte auf die Glasscheibe. Das Rotlicht ging aus, und der sanfte, trockene Klang einer Trompete drang aus dem Lautsprecher.

»Herzlichen Dank.« Kite lächelte. »Keiner wird weitere Veras das Leben kosten? Ihnen ist schon klar, dass dieses Zitat allein genügen könnte, um zum Bürgermeister gewählt zu werden, oder?«

»Vielen Dank für das Interview«, sagte Macbeth, ohne sich zu rühren.

Kite schaute ihn fragend an.

»Habe ich Sie richtig verstanden?«, fragte Macbeth langsam und mit leiser Stimme. »Haben Sie da gerade am Ende behauptet, ich hätte gelogen?«

Kite blinzelte irritiert. »Gelogen?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich die Wahrheit war, als …«

»Oh, aber das …« Der Adamsapfel des Reporters machte einen Satz. »… das war natürlich nur ein Witz, ähm … eine Redensart, ein …«

»Ich hab nur Spaß gemacht.« Macbeth lächelte und stand auf. »Man sieht sich.«

Als Macbeth das Radiogebäude verließ und in den Regen trat, hatte er das Gefühl, Kite würde kein Problem mehr darstellen. Und als er auf der Rückbank der Limousine saß, schienen der Obelisk, Duff und Ladys Erkrankung ebenfalls kein Problem mehr zu sein. Weil er klarer dachte als je zuvor.

»Fahren Sie etwas langsamer«, sagte er.

Er wollte die Fahrt durch die Stadt genießen. Durch seine Stadt.

Es stimmte schon, noch gehörte sie ihm nicht, aber bald würde es so weit sein. Weil er unbesiegbar war. Und die perfekte Dosis genommen hatte.

Während sie vor einer Ampel warteten, fiel sein Blick auf einen Mann, der an der Kreuzung wartete, obwohl er längst Grün hatte. Sein Oberkörper und sein Gesicht wurden von einem großen schwarzen Schirm verdeckt. Macbeth konnte nur seinen hellen Mantel sehen, seine braunen Schuhe und den großen schwarzen Hund, den er an der Leine führte. Ein Gedanke schoss Macbeth durch den Kopf. Fragte sich der Hund, warum er einen Herrn hatte, warum er angeleint war? Er bekam sein Fressen, die ihm zugestandene Portion, gerade genug, damit er die Sicherheit der Unsicherheit vorzog. Nur das hielt den Hund davon ab, zu seinem Herrn hinüberzutrotten, während er schlief, ihm die Kehle herauszureißen und die Herrschaft über das Haus zu übernehmen. Denn nur das müsste er tun. Wenn man einmal begriffen hatte, wie man die Tür zur Speisekammer öffnet, war das die natürliche Reaktion.

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