X Im Zentrum der Macht

Admiral Lord Godschale gab sich so herzlich wie möglich, um Bolitho die Kühle ihrer letzten Unterhaltung vergessen zu machen.»Wir sollten uns später noch ausführlich unterhalten, Sir Richard. Hier in der Admiralität vertrocknen wir allzu leicht, während bedeutende Männer wie Sie draußen Großes leisten.»

Bolitho stand an einem der hohen Fenster und sah auf Straße und Park hinaus. Ruhte London eigentlich nie? Kutschen jeder Größe überholten oder begegneten sich. Die Kutscher wollten ihr Können beweisen und ließen zwischen den Rädern nur wenige Zentimeter Platz. Herrenreiter und gelegentlich auch Damen im Sattel bildeten bunte Flecke zwischen den Wagen und Eselskarren der Händler. Die warme Septembersonne animierte die Menschen, ließ sie anhalten und Gespräche fuhren. Offiziere in ihren farbigen Röcken strömten aus den nahen Kasernen in den Park, offenbar auf der Suche nach weiblicher Gesellschaft.

«Wir sind alle nur so gut wie unsere Leute«, antwortete Bolitho.

Aber das hatte Godschale nicht gemeint, im Gegenteil. Sein neuer Adelstitel und die Macht, die er ihm verlieh, bestärkten ihn in der

Überzeugung, daß kein Schiff oder Kommandant ohne die leitende Hand Seiner Lordschaft etwas Vernünftiges leisten konnten.

Bolitho sah zu, wie er Madeira einschenkte. Zur Zeit der Amerikanischen Revolution hatten sie beide Fregatten geführt und waren sogar am selben Tag zu Kapitänen befördert worden. Doch an den jungen schneidigen Kommandanten Godschale erinnerte heute wenig. Er war zwar immer noch ungebeugt, kräftig gebaut und gutaussehend, doch seine rötliche Hautfarbe hatte er nicht an Deck im Sturm erworben. Indes war hinter dem gepflegten Äußeren ein stählerner Wille zu spüren. Bolitho erinnerte sich noch sehr genau an ihr Treffen im letzten Jahr, als Godschale versucht hatte, ihn mit einer Intrige von Catherine weg und zu Belinda zurück zu treiben.

Sicherlich war Godschale nicht in das Komplott eingeweiht gewesen, das Catherine ins Gefängnis gebracht hatte. Solch schmutzige Machenschaften hätten ihn Amt und Titel gekostet. Außerdem hätte er niemals so plumpe Fehler gemacht. Nein, seine Schwächen waren Eitelkeit und unerschütterlicher Glaube an die eigene Klugheit. Insofern konnte er unwissentlich ein Werkzeug von Catherines Mann werden.

Bolitho wußte nicht, wo sich dieser Viscount Somervell zur Zeit aufhielt. Es hieß, er sei im Auftrag des Königs in Nordamerika. Er verdrängte den Gedanken an ihn, denn falls sie sich jemals von Angesicht zu Angesicht begegnen würden, war der Ablauf abzusehen: Bolitho würde ihn fordern. Somervell galt als erfahrener Duellant — doch nur mit Pistolen. Bolitho berührte den alten Degen an seiner Seite. Vielleicht würde ihn ja jemand in Amerika von diesem Schurken befreien.

Godschale reichte ihm ein Glas.»So nachdenklich?«Er zog die Brauen hoch.»Auf die alten Tage, Sir Richard. Und aufkommendes Glück!«Sie tranken.

Bolitho setzte sich und legte den Degen über die ausgestreckten Beine.»Das französische Geschwader, erinnern Sie sich? Es durchbrach unsere Blockade, noch ehe wir zum Kap segelten. Hat man es aufgebracht?»

Godschale lächelte. Er wußte, wie sehr diese Frage Bolitho interessierte, und fühlte sich am längeren Hebel. Er wußte auch, daß Catherine Lady Somervell hier in London war, sich um den Skandal nicht scherte und noch mehr Tratsch und Kritik provozierte. Es war mit Nelson schon schlimm genug gewesen, aber seine Affäre war jetzt vergessen, ebenso wie Emma Hamilton selbst. Keiner wußte, wo sie sich seit seinem Tod aufhielt.

Somervells Charakter und schlechter Ruf waren Godschale herzlich gleichgültig. Aber der Mann besaß Freunde, sehr mächtige Freunde bei Hofe. Der König selbst hatte ihn gelegentlich vor Skandalen gerettet. Doch hatten er oder seine engsten Berater Somervell klugerweise aus London entfernt, bis das Problem zwischen dem Viscount und dem Vizeadmiral gelöst war.

Godschale besaß genügend Feingefühl, um zu spüren, wie beliebt Bolitho im Lande war. Nach Nelsons Tod war er sicherlich der am meisten verehrte Seeheld. Niemand zweifelte an seinem Mut, der ihm trotz seiner ungewöhnlichen Strategie und Taktik oft Schlachten gewann. Trotzdem — in Friedenszeiten hätte man seine Affäre mit Lady Somervell niemals geduldet. Die Gesellschaft hätte beide geschnitten, und Bolithos Karriere wäre abrupt beendet worden.

Doch jetzt war Krieg, und Godschale wußte einen Mann zu schätzen, der Schlachten gewann und die Nation begeisterte.

«Das größere der beiden französischen Geschwader führte unser alter Bekannter, Vizeadmiral Leissegues. Es entwischte seinen Bewachern. Sir John Duckworth, der vor Cadiz patrouillierte, erfuhr, daß ein französisches Geschwader vor Santo Domingo ankerte; er war Leissegues schon auf den Fersen gewesen, jetzt segelte er hinüber und stellte ihn. Es kam zu einem Gefecht Schiff gegen Schiff. Der Feind wurde zersprengt, aber die Imperial mit ihren 120 Kanonen fing Feuer und sank. Schade, wir hätten sie gern in unserer Flotte gesehen. Doch man kann eben nicht alles schaffen«, seufzte er. Das klang, als habe Seine Lordschaft das Gefecht in diesem Raum gewonnen. Er fuhr fort:»Mit dem kleineren französischen Geschwader gab es ein Gefecht, einige wenige Schiffe gingen verloren, aber der Feind kehrte in den Hafen zurück.»

«Ich beneide Duckworth«, sagte Bolitho.»Ein entscheidendes Gefecht, gut geplant und gut ausgeführt. Napoleon kocht bestimmt vor Wut.»

Godschale füllte sein Glas nach.»Ihr Einsatz in Kapstadt war nicht weniger wichtig, Sir Richard. Wertvolle Schiffe konnten der Flotte zur Verfügung gestellt werden.»

Bolitho zuckte mit den Schultern.»Jeder erfahrene Kapitän hätte diese Aufgabe bewältigen können.»

Godschale wackelte verneinend mit dem Zeigefinger.»Nicht doch, mein Lieber. Unsere Kommandanten brauchen dringend ein Leitbild, glauben Sie mir. «Er wechselte das Thema.»Aber ich habe weitere Neuigkeiten für Sie. «Als er zu seinem Schreibtisch ging, sah Bolitho zum erstenmal, daß er hinkte. Wie Lord St. Vincent büßte er wohl mit Gicht für zuviel Portwein und das süße Leben in der Heimat.

Godschale wedelte mit einigen Papieren.»Die Black Prince wird ein gutes Schiff und nach den strengsten Maßstäben gebaut. Haben Sie schon Ihren Flaggkapitän bestimmt?»

«Unter anderen Umständen würde ich um Kapitän Valentine Keen bitten. Aber er heiratet demnächst und war ziemlich lange hart eingesetzt. Also muß ich wohl auf ihn verzichten.»

«Oh, wir haben einen Brief von Kapitän Keen bekommen. Darin bot er seine sofortigen Dienste an. Sonderbar, daß er sich nicht zuerst an Sie gewandt hat. «Wieder hob Godschale die Augenbrauen.»Ein guter Mann?»

«Ein guter Kommandant und ein verläßlicher Freund. «Was war los mit Keen? Warum diese ungewöhnliche Zurückhaltung?

«Nun ja. In diesen harten Zeiten sind erfahrene Kapitäne rar. «Godschale runzelte die Stirn.»Ich sehe also Ihrer schnellen Entscheidung entgegen. Es gibt natürlich viele Kommandanten, die sich darum reißen, die Black Prince unter Ihrer Flagge zu segeln.»

«Bitte geben Sie mir Gelegenheit, der Sache nachzugehen, Mylord.»

Godschale strahlte ihn an.»Natürlich. Dafür hat man doch seine Freunde!»

Bolitho bemerkte seinen schnellen Blick auf die Uhr. Vier Cherubim mit aufgeblähten Backen stellten darauf die vier Winde dar. Er erhob sich.»Sie finden mich in London, Mylord. Ihr Sekretär hat meine Adresse.»

«Ja, richtig. Lord Brownes Stadthaus, nicht wahr?«Sein Lächeln verblaßte.»Er war wohl Ihr Flaggleutnant, ehe er aus der Navy austrat.»

«Ja. Ein guter Freund.»

«Daran haben Sie wirklich keinen Mangel.»

Bolitho wartete, denn er spürte, was in Godschale vorging. Wenn Catherine und Bolitho in Lord Brownes Haus wohnten, dann war diesem die Meinung der Londoner Gesellschaft völlig gleichgültig. Konnte das gefährlich werden? Bolitho rückte seinen Degen zurecht.

«Ich möchte kein Öl ins Feuer gießen«, begann Godschale,»aber gibt es noch eine Chance, daß Sie und Lady Belinda… Verdammt noch mal, Sie wissen schon, was ich meine!»

Bolitho schüttelte ihm die Hand.»Nein, keine Chance, Mylord. Und es ist besser, Sie hören das von mir. Ich weiß, daß Lady Godschale mit Belinda befreundet ist, und möchte keine falschen Hoffnungen wecken. Es ist aus.»

Godschale dachte offensichtlich über eine passende Bemerkung nach, sagte aber nur, weil ihm nichts einfiel:»Wir sehen uns bald wieder, dann gibt es sicher Neuigkeiten. Denken Sie inzwischen darüber nach, wie schnell eine feindliche Kugel auf See verkrüppeln oder töten kann. Hier an Land aber schafft das auch das Gerede der Leute.»

Bolitho ging zur Tür.»Ich halte eine Kugel immer noch für gefährlicher, Mylord.»

Hinter ihm hieb Godschale wütend auf den Tisch. Dieser verdammte, unbelehrbare Starrkopf!

«Mylord wünschen?«fragte sein Sekretär von der Tür her.

«Nichts, verdammt noch mal!»

«Ihr nächster Besucher wartet.»

Godschale setzte sich und goß sich ein drittes Glas Madeira ein.»Ich empfange ihn erst in einer halben Stunde.«»Aber, Mylord.»

«Hört mir denn in diesem Hause niemand zu? Mit etwas Glück wird Bolitho im Wartezimmer auf Konteradmiral Herrick treffen. Ich möchte, daß sie miteinander reden und sich an alte Zeiten erinnern. Haben Sie verstanden?»

Der Sekretär verschwand, und Godschale trank seufzend sein Glas aus. Alles mußte man selber machen, dachte er dabei.

Die beiden Kapitäne im äußeren Wartezimmer saßen so weit entfernt voneinander wie möglich. Sie vermieden selbst den Blickkontakt. Bolitho wußte, sie warteten auf einen Vorgesetzten oder einen Sekretär der Admiralität. Wie oft hatte er wie sie hier nervös Beförderung oder Tadel entgegengesehen — bei der Admiralität lag beides stets dicht beieinander.

Als er den langen Raum durchquerte, standen beide auf, nahmen Haltung an und grüßten. Bolitho grüßte zurück. Sie erkannten ihn und fragten sich jetzt bestimmt: Warum war der Vizeadmiral hier, was bedeutete das für sie?

Bolitho dachte über seinen Flaggkapitän nach. Er verstand ihn nicht. Gewiß, Keen war besorgt gewesen über den großen Altersunterschied zu der Frau, die er liebte. Er war einundvierzig, und Zenoria, die er aus einem Sträflingstransporter mit Ziel New South Wales befreit hatte, wurde gerade zweiundzwanzig. Aber jeder, der sie beobachtete, spürte, wie gut die beiden zueinander paßten. Was war da vorgefallen? Wenn Keen nur aus Loyalität seine Dienste anbot, mußte er ihm absagen.

Da öffnete sich vor ihm eine große Tür, und Thomas Herrick stand da und starrte ihn an, so überrascht, als sei er vom Himmel gefallen.

Herrick war rundlicher geworden und hielt sich etwas gebeugt, als belaste ihn der Rang eines Konteradmirals. Sein Haar war ergraut, doch sonst schien er ganz derselbe, der Bolitho beim letzten Gefecht der Hyperion zu Hilfe geeilt war. Sein Händedruck war immer noch so fest wie damals, als er, ein blutjunger Leutnant, auf Bolithos Phalarope gekommen war. Auch seine Augen strahlten wie früher, blau und leicht verletzlich.

«Was machst du hier…«begannen beide gleichzeitig.

Voll Wärme sagte Bolitho:»Es ist wunderbar, dich wiederzusehen, Thomas!»

Herrick vergewisserte sich, daß die beiden wartenden Kapitäne nicht mithören konnten.»Und dich, Richard!»

Bolitho musterte seinen Freund und spürte dessen Verlegenheit. Es hatte sich also nichts geändert, nach wie vor mißbilligte Herrick Bolithos Verbindung mit Catherine.»Ich werde die Black Prince übernehmen, sobald sie fertig ausgerüstet ist«, berichtete er.

Doch Herrick ließ sich nicht ablenken, er sah Bolitho genauer an.»Was macht dein Auge?«Bolitho schüttelte den Kopf.»Kein Problem. Und was machst du?»

Herrick drückte das Kinn in sein Halstuch.»Ich habe noch die Benbow. Und einen neuen Flaggleutnant. De Broux war zu weich für mich, nicht mein Fall.»

Bolitho fühlte sich seltsam berührt. Vor einigen Jahren war die Benbow sein Schiff gewesen und Herrick sein Flaggkapitän. Das

Schicksal ging manchmal schon seltsame Wege.

Herrick sah auf die Uhr.»Ich bin mit Lord Godschale verabredet. «Er sprach den Namen verächtlich aus, und Bolitho ahnte, wie Herrick den Admiral einschätzte.

«Ich werde ein Geschwader in der Nordsee übernehmen. Patrouillendienst«, berichtete er.»Darin kommandiert Adam meine einzige Fregatte, die Anemone.«Er lächelte kurz.»In manchem ändert sich unsere Marine nie, aber ich bin froh, daß ich wenigstens Adam habe.»

Irgendwo schlug eine Uhr, und Herrick fragte nervös:»Dein Flaggschiff wird in Chatham ausgerüstet?«Etwas bedrückte ihn offenbar, das er noch loswerden wollte.»Wie ich dich kenne, wirst du dabei in der Nähe deines Schiffes bleiben. Nimm dir doch bitte die Zeit und besuche meine Frau. Dulcie würde sich freuen.»

«Stimmt was nicht, Thomas?»

«Ich bin mir nicht sicher. Aber sie ist seit kurzem immer so müde. Sie mutet sich mit ihren Hilfsdiensten zuviel zu, trotzdem kann ich sie nicht davon abbringen. Sie ist eben einsam. Wenn wir Kinder hätten, wenigstens eins, wie du und Lady Belinda. «Er hielt inne.»Aber so ist wohl der Lauf der Welt.»

Bolitho legte ihm die Hand auf den Arm.»Ich werde Dulcie besuchen. Catherine will, daß ich unbedingt einen Arzt aufsuche. Vielleicht finde ich bei der Gelegenheit auch einen für Dulcie.»

Herricks blaue Augen wurden härter.»Tut mir leid. An sie habe ich nicht gedacht. «Er sah an Bolitho vorbei.»Vielleicht ist es doch besser, ihr besucht Dulcie nicht.»

Bolitho starrte ihn an.»Steht also Catherine immer noch zwischen uns?»

Verzagt sah Herrick auf.»Es ist nicht meine Schuld«, sagte er, schon im Gehen.»Alles Gute, Richard. Meine Bewunderung für dich kann nichts beeinträchtigen.»

«Bewunderung — ist das alles?«rief Bolitho ihm nach.»Thomas, verdammt noch mal, was ist aus uns geworden?»

Die beiden Kapitäne erhoben sich, und ihre Blicke flogen zwischen den beiden Admiralen hin und her. Bolitho eilte nach draußen.

«Hau ab, du Krüppel!»

Ein junger Mann, zwei Mädchen am Arm, schüttelte drohend die Faust gegen einen Mann, der in einem zerlumpten roten Rock am

Straßenrand mit einer Zinnschale bettelte. Die Mädchen kicherten.

«Stopp!«Bolitho hielt das Trio an und ging zu dem Bettler.»In welchem Regiment haben Sie gedient?»

Der Mann sah auf, als habe er nicht richtig gehört. Er besaß nur noch einen Arm, und seine Beine waren schrecklich verdreht. Er sah sehr alt aus, aber Bolitho schätzte ihn auf unter vierzig.

«Im 31. Infanterieregiment, Sir. «Der Krüppel sah an den Gaffern vorbei.»Es war das alte Huntingdonshire-Regiment. Wir wurden als Seesoldaten eingesetzt. «Sein Stolz war schon wieder verflogen.»Das hier hab' ich unter Lord Howe abbekommen!»

Bolitho sah den jungen Gecken an.»Wo Sie gedient haben, frage ich besser nicht. Man sieht, was Sie für ein Typ sind.»

«Sie haben kein Recht, mich so zu behandeln!»

«O doch, junger Mann. Gerade ist mein Leutnant mit einem Preßkommando hierher unterwegs. Wenn ich den rufe, werden Sie schnell lernen, was es heißt, für König und Vaterland zu kämpfen. «Das war eine billige Lüge, denn kein Preßkommando hätte es gewagt, diese vornehme Gegend zu durchstreifen. Doch der junge Mann war im Handumdrehen verschwunden, und seine beiden Begleiterinnen konnten ihm nur verwundert nachstarren.

Bolitho warf dem Veteran einige Goldmünzen in die Schale.»Gott schütze Sie. Was Sie taten, war nicht umsonst. «Ungläubig starrte der Mann auf die Goldmünzen hinab.»Ihr Mut und Ihre Erinnerungen werden Ihnen weiterhelfen.»

Bolitho drehte sich um. Da stand seine Kutsche. Catherine öffnete den Schlag, und er sprang hinein.»Ich dachte immer, ich kenne mich mit Menschen aus«, sagte er, als die Kutsche anfuhr.»Aber jetzt bin ich mir dessen nicht mehr so sicher. Eigentlich verstehe ich nur noch dich ganz.»

Catherine sah aus dem Fenster. Sie wußte, Herrick war in die Admiralität gegangen und sicherlich Bolitho begegnet. Alles weitere, auch den Zwischenfall mit dem jungen Dandy, brauchte ihr keiner zu erklären. Sanft sagte sie:»Dann wollen wir das Beste daraus machen.»

Tom Ozzard lehnte sich an eine steinerne Balustrade, um sich kurz auszuruhen. Er war seit Stunden unterwegs und hatte öfter die Orientierung verloren, doch sein Ziel stets vor Augen gehabt. Nun holte er tief Atem.

Jetzt war er in dem schäbigen Teil Londons, wo er lange gelebt hatte, dem Viertel am Fluß. Die Giebel der Häuser berührten sich fast über der Straße und ließen kaum Licht nach unten. Es stank nach Pferdemist und offenen Abwassergräben. Der Lärm war kaum zu ertragen.

Ihm gegenüber bot ein Mann brüllend frische Austern an. Drei Matrosen probierten sie und spülten sie mit dunklem Bier hinunter. Der Fluß war allgegenwärtig. Von der London Bridge bis zur Isle of Dogs lagen Handelschiffe Rumpf an Rumpf, ihre Masten und Rahen schwankten in der Strömung wie entlaubte Bäume.

In der Kneipe neben dem Austernverkäufer vergnügten sich Matrosen mit grell geschminkten Hafenhuren und betranken sich mit Bier und Genever. Die verrottende Leiche eines Piraten, der in Ketten am Galgen des Execution Docks hing, schien niemanden außer Ozzard zu stören.

Dies war seine Gasse. Damals war sie noch von ehrbaren Handwerkern und Händlern bewohnt gewesen und von ihm, dem Schreiber. Tagsüber hatte er bei einem Anwalt gearbeitet, abends für die Nachbarn.

Eigentlich war er verrückt, hierher zurückzukehren.

Wahrscheinlich lebten hier noch Menschen, die sich an ihn erinnerten. Aber die Gasse, das Haus und die schreckliche Szene hatten ihn so oft bis in seine Träume hinein verfolgt, daß er den Ort seiner Tat wenigstens noch einmal sehen mußte. Er musterte das Haus, sein ehemaliges Haus. An jenem blutigen Nachmittag hatte ihn der Anwalt früher heimgehen lassen, als Ausgleich für viele Überstunden. Schon seit Monaten mußte seine Frau ihm Hörner aufgesetzt haben. Sobald er ins Kontor nach Billingsgate aufgebrochen war, mußte ihr Liebhaber ins Haus geschlüpft sein. Warum hatte ihm kein Nachbar etwas davon gesagt, warum hatten alle geschwiegen?

Ihm wurde jetzt noch schlecht, wenn er an das Bild bei seiner Heimkehr dachte. Da lag seine Frau, so jung, so begehrenswert schön, nackt in den Armen ihres Liebhabers. Es war ein sonniger Tag wie der heutige gewesen. Er hatte die Küchenaxt genommen und auf die nackten Glieder eingeschlagen. Sie schrie, der Mann schrie, und als es in der Schlafkammer so aussah wie später im Gefecht auf den Schiffen Bolithos, hatte er die Axt fallen gelassen und war geflohen — mit blutbeschmierten Händen.

«Halt! Stehenbleiben!»

Ozzard hatte die schweren Schritte und das Klirren von Waffen nicht näherkommen gehört. Jetzt blockierte ihm ein Preßkommando den Fluchtweg. Die Werber waren, anders als in den Dörfern an der Küste, bis an die Zähne bewaffnet. Ein Stückmeister baute sich, einen Knüppel in der Faust und ein Entermesser locker im Gürtel, vor Ozzard auf.»Was haben wir denn hier?»

Er starrte Ozzards blaue Jacke mit den glänzenden Knöpfen an und musterte auch seine Schnallenschuhe, die sich Seeleute gern leisteten, wenn sie genügend Geld gespart hatten.»Du bist doch kein Seemann, Freundchen!«Der Riese drehte den kleinen Ozzard einmal um sich selbst.

«Aber ich diene doch. «beteuerte Ozzard kläglich.

«Zur Seite!«Der Leutnant bahnte sich einen Weg durch seine Männer und musterte Ozzard neugierig.»Rede, mein Freund. Die Flotte braucht Männer. Wenn du dienst, dann sag uns, wo!»

«Ich bin Diener bei Sir Richard Bolitho. «Ozzard sah den Leutnant an, ohne mit der Wimper zu zucken.»Er ist Vizeadmiral der Heimatflotte und zur Zeit in London.»

«Die Hyperion war doch sein letztes Schiff?«Der Leutnant sprach schon sehr viel freundlicher, und Ozzard nickte.»Dies ist keine Gegend für Bolithos Leute. Also weg von hier!»

Der Stückmeister sah den Leutnant fragend an, erntete Zustimmung und drückte Ozzard ein paar Münzen in die Hand.»Hier, trink ein Gläschen. Das hast du ja wohl verdient nach allem, was ihr auf der Hyperion durchgemacht habt.»

Was hätten die Werber wohl gesagt, hätte er ihnen erzählt, wie er damals den langen Weg nach Tower Hill gelaufen war, um auf ein Preßkommando zu treffen und in die Navy zu flüchten? Damals lauerten dort immer Kommandos auf der Suche nach Opfern. Ozzard starrte sein Haus an. Die Fenster spiegelten das Rot der untergehenden Sonne wie Blut. Er zitterte.

Das Preßkommando war verschwunden. Weiter weg rannten Füße, ein Schrei erklang — dann wurde es still. Die Werber hatten wohl ein Opfer gefunden, das morgen mit blutigem Kopf auf einem Wachschiff auf der Themse aufwachen würde. Achtlos ließ Ozzard die Münzen fallen und machte sich auf den langen Rückweg zu Lord Brownes Stadthaus. Die engen Gassen schluckten seine Gestalt schnell. Hinter ihm blieb das Haus drohend und dunkel zurück.

Ein paar Meilen flußaufwärts half Bolitho Catherine aus der Gig, die sie über den Fluß gebracht hatte. Der wolkenlose Himmel hatte in der frühen Dunkelheit zahllose Sterne aufgesetzt, passend zu dem verzauberten Abend, den Catherine ihm versprochen hatte.

Bolitho belohnte den Bootsführer mit einem guten Trinkgeld, denn er sollte sie später wieder über den Fluß zurück rudern. Er hatte Catherine unverhohlen bewundert, und Bolitho konnte ihm das nicht übelnehmen. Sie trug ein tief ausgeschnittenes Kleid aus Seide, deren Grün bei jeder Bewegung ins Schwarze changierte. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt und sich mit den Ohrringen geschmückt, die ihr Bolitho geschenkt hatte, als sie sich zum erstenmal liebten. Sie hatte sie durchs Gefängnis gebracht, indem sie sie im Saum ihres Kleides einnähte.

«Ich warte drüben mit dem Boot, bis Sie mich brauchen, Admiral. «Die Gig glitt schnell über den Fluß zurück.

«Woran hat der Mann mich erkannt?«Bolitho trug einen einfachen blauen Rock, den ihm der Schneider in Falmouth genäht hatte, dessen Vorfahren schon seit langem allen Bolithos und unzähligen anderen Marineoffizieren Uniformen angemessen hatten.

Catherine entfaltete ihren neuen Fächer, ihre Augen glänzten im Licht der Laternen.»Dich und mich kennen mehr Leute, als du glaubst. Aber jetzt vergiß deine Probleme und laß dich überraschen.»

Hier in Vauxhall lag der berühmteste aller Lustgärten Londons. Lauben mit Laternen, Hecken aus wilden Rosen und fröhliches Vogelgezwitscher luden zum Verweilen ein. Bolitho bezahlte zweimal eine halbe Krone Eintrittsgeld und schritt dann neben Catherine den Grand Walk entlang, die breite Promenade, von Linden gesäumt und versteckten Grotten mit plätschernden Springbrunnen.

«Dies ist mein London, und dir gefällt es auch, das spüre ich!«Catherine drückte seinen Arm. Sie gingen weiter an geschmückten Lauben vorbei, in denen laute Gesellschaften fröhlich tafelten. Von überall her erklang Musik, das Klirren der Gläser, das Knallen von Champagnerkorken.»Hier gibt's die besten Musiker Londons. Sie verdienen sich so ihr Geld, bis die Konzertsaison wieder beginnt.»

Bolitho nahm den Hut ab und trug ihn in der Hand. Der Weg war voller Menschen. Parfümduft mischte sich mit dem der Heckenrosen und dem Dunst des nahen Flusses. Catherine hatte den Schal um Schultern und Hals abgenommen, ihre Haut strahlte hell im Schein der Laternen. Immer wieder tauchten Uniformen auf, meist rote mit den blauen Biesen der Königlichen Leibregimenter. Ab und zu ließ sich auch ein Marineoffizier sehen, dessen Schiff vermutlich weiter flußabwärts vor Anker lag.

Sie hielten an, als sich zwei Wege kreuzten. Musik von Händel ertönte von links, rechts sang eine Männerstimme ein deftiges Kneipenlied. Das mischte sich gut und störte niemanden.

Am Ende des hellen Lustgartens begann der Dark Walk, in den ihn Catherine nun führte, vorbei an Paaren, die einander im Schatten küßten. Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen.»Hier war ich noch nie«, flüsterte sie.

Er küßte sie.»Ich könnte es aber dem Mann, der dich hierherführte, nicht übelnehmen«, sagte er und ließ seine Lippen über ihren Hals und ihre Schultern gleiten.

Sanft schob sie ihn weg.»Der Abend beginnt erst. Ich habe uns eine Laube reservieren lassen.»

Er konnte sich nie daran gewöhnen, daß die Stunden mit ihr so schnell vergingen. Sie aßen verschiedene Salate und gebratenes Huhn, tranken einen leichten Wein dazu und genossen die Musik.

«Starr mich nicht so an«, bat sie lächelnd.

Als er antwortete:»Ich liebe dich!«hörte er von ihr die gleichen Worte. Bald danach stand sie auf.»Laß uns heimkehren. Ich habe solche Sehnsucht nach dir. «Sie legte sich den Schal um die Schultern.

«Warte hier«, bat er unten am Fluß.»Ich rufe unseren Bootsführer. «Damit verschwand er im Schatten.

Als Catherine sich umdrehte, fragte eine Stimme aus der Dunkelheit:»So allein, mein schönes Kind? Vermißt du nicht was?«Ein Hauptmann, offensichtlich angetrunken, kam mit schiefem Grinsen auf sie zu.

«Verschwinden Sie«, sagte sie barsch.»Ich bin in Begleitung!«Sie zog sich den Schal fester um die Schultern.

«Das werden wir ja sehen. «Der Hauptmann riß ihr den Schal von den Schultern, stolperte dabei und sagte, sich aufrichtend:»Solche Schönheit darf man doch nicht verhüllen.»

«Hände weg von der Dame!«Bolithos Stimme klang nicht einmal sehr laut.

«Er ist voll bis an die Kiemen. «Catherine schüttelte sich.

Der Hauptmann starrte Bolitho an und verbeugte sich linkisch.»Ihre Freundin sieht so aus, als ob sie einen armen Soldaten nicht abweisen würde.»

Bolitho blieb ruhig.»Ich würde Sie ja zum Duell fordern.»

Der Hauptmann grinste.»Gern. Ich erwarte Ihre Sekundanten.»

Bolitho öffnete seine Jacke.»Sie hören nicht zu. Ich sagte, ich würde Sie fordern — wenn ich Sie für einen Gentleman hielte. Da Sie es aber nicht sind, lassen Sie uns die Sache gleich hier erledigen!«Bolithos alter Degen blitzte plötzlich im Licht.

Ein Offizier brach durchs Gebüsch, offensichtlich auch angetrunken, aber noch etwas nüchterner als der Hauptmann. Er erkannte die Gefahr.»Weg da, du Narr! Bitte verzeihen Sie ihm, Sir Richard. Nüchtern benimmt er sich wie ein Herr.»

Bolitho sah die beiden unbewegt an.»Das will ich hoffen. «Sein Degen glitt in die Scheide zurück, er drehte beiden den Rücken zu und führte Catherine zum Boot. Aber sie spürte, wie sein Arm vor Erregung zitterte.»So wütend habe ich dich ja noch nie erlebt.»

«Tut mir leid, wenn ich mich wie ein hitzköpfiger Kadett benommen habe.»

«Oh, du warst großartig«, protestierte sie. Sie hob das Täschchen an ihrem linken Handgelenk.»Dem Hauptmann hätte ich eine Kugel in den Hintern gejagt, wenn er dich angegriffen hätte. Dafür reicht die kleine Pistole hier drin allemal.»

«Du steckst immer noch voller Überraschungen!«Lächelnd schüttelte Bolitho den Kopf.

Das Boot setzte sie über, und am anderen Ufer war seine Empörung verflogen.»Du hattest recht«, sagte er,»es war eine verzauberte Nacht. Ich werde sie nie vergessen.»

«Sie ist noch nicht vorbei.»

Der Bootsführer dankte seinen ungewöhnlichen Passagieren.»Wenn Sie wieder mal hinüber wollen, Sir Richard, dann fragen Sie nach Bobby. Hier am Fluß kennt mich jeder.»

Ihre Kutsche wartete, und als sie sich ihr näherten, sahen sie Ozzard vor dem Schlag stehen. Seine Messingknöpfe funkelten wie Warnlichter.

«Du hättest nicht auf uns warten sollen«, sagte Bolitho.»Du hättest inzwischen nach Hause fahren können.»

«Da war ich auch, Sir Richard. Aber dann kam ein Bote von der

Admiralität. Sie sollen sich morgen früh, sobald es Ihnen möglich ist, bei Lord Godschale einfinden.»

In der Ferne schlug eine Kirchenuhr.»Also heute«, sagte Catherine leise.

Als sie in der Arlington Street hielten, meinte Bolitho:»So wichtig kann es nicht sein, ich habe ja noch immer kein Flaggschiff.»

Sie drehte sich am Fuß der Treppe um.»Und wenn schon, mein Admiral. Uns bleibt ja immer noch diese Nacht.»

In der leeren Küche hockte Allday allein mit einem Krug Rum und einer Tonpfeife an dem frischgeschrubbten Tisch. Ozzard hatte sich nicht zu ihm gesetzt. Irgendetwas bedrückte ihn, seit sie in London waren. Er war still zu Bett gegangen.

Allday saß da und dachte an die Wirtstochter in Falmouth, die nicht auf ihn gewartet hatte. Es wäre so schön mit ihr gewesen. Er nahm einen großen Schluck Rum.»Mehr will ich ja gar nicht«, sagte er laut.»Nur manchmal ein bißchen Freude.»

Aber er wußte, daß er die an Land nie finden würde.

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