XV Ein letzter Dienst

Kapitän Valentine Keen sah aufmerksam über sein neues Schiff, drehte sich dann um und ging nach achtern, wo im Schutz des Achterdecks hohe Offiziere und Herren der Admiralität auf ihn warteten. Black Prince, ein Linienschiff mit vierundneunzig Kanonen, hatte drei Monate früher als geplant in Dienst gestellt werden können. Jetzt mußten nur noch die letzten Formalitäten erledigt werden, dann unterstand dieser riesige Dreidecker ganz seinem Kommando.

Nebenan ankerte ein Linienschiff, das mit seinen vierundsiebzig Kanonen so groß war wie die alte Hyperion, die ihnen damals so gewaltig vorgekommen war. Jetzt wirkte der Ankerlieger neben der Black Prince klein. Ob sein neues Schiff wohl so gut segeln und manövrieren würde wie das alte?

Keen dachte daran, daß in dieser Werft vor vierundsiebzig Jahren auch Nelsons alte Victory auf Kiel gelegt worden war. Was mochte aus der Navy in den nächsten vierundsiebzig Jahren wohl werden? überlegte er. Dann lüftete er grüßend den Hut vor dem Hafenadmiral und nahm Haltung vor Bolitho an.»Das Schiff ist bereit, Sir Richard!«Er wartete, spürte hinter sich die Stille, wo Offiziere und Mannschaften angetreten waren, um an der offiziellen Übergabe der Black Prince teilzunehmen. Auf nahen Mauern und Hellingen saßen Dockarbeiter im kalten Wind. Sie konnten mit Recht stolz auf ihre Arbeit sein.

Diesen Stolz gab es bei der Besatzung noch nicht. Einige Leute waren ihm überstellt worden von Schiffen, die hier zur Reparatur lagen oder neu ausgerüstet wurden. Aber den größten Teil hatten die Preßkommandos aus dem nahen Binnenland und aus kleinen Häfen gebracht: Abschaum, Herumtreiber, die durch gutes Beispiel oder Brutalität erst zu Seeleuten gemacht werden mußten.

Bolitho sah müde aus und erschöpft. Das Gefecht auf der Truculent hatte viel von ihm gefordert. Keen konnte sich gut vorstellen, wie Bolitho seinen hohen Rang vergessen hatte, um das Schiff anstelle des gefallenen Kapitäns zu führen. Er hatte mit Bolitho schon auf so vielen Schiffen gedient, daß er sich fragte, wie der Admiral all die Gefahren bisher überlebt hatte.

«Ich freue mich, an diesem stolzen Tag hier an Bord zu sein, Kapitän Keen«, sagte Bolitho lächelnd. Es amüsierte ihn wahrscheinlich, wie formell sie beide vor all den hohen Gästen miteinander umgehen mußten.

Keen dankte. Er musterte sein neues Schiff und fand nichts daran auszusetzen. Seine Offiziere und Decksoffiziere hatten wie er bis zum letzten Tag geschuftet. Es hatte immer wieder Stunden gegeben, in denen er glaubte, die Arbeit würde nie enden. Der Rumpf war voller Zimmerleute und Tischler gewesen, an Deck arbeiteten die Segelmacher, überall sah man Maler; zwischen ihnen turnten die Midshipmen herum, gescheucht von Cazalet, dem Ersten Offizier. Von ihm wußte Keen wenig, nur daß er schon Erfahrung auf einem anderen Dreidecker gesammelt hatte. Er schien niemals zu ermüden und fand für jedes Problem eine Lösung. Tag für Tag hatte Keen ihn bewundernd beobachtet, wie er über die Berge von Tauwerk stieg, an den Ankern vorbei und zwischen all der Ausrüstung hindurch, die ununterbrochen auf dem Schiff abgeliefert wurde. Nichts mehr war davon zu sehen, das Tauwerk war längst da, wo es hingehörte, zu Fußpferden, Brassen, Taljen, Webleinen und Schoten verarbeitet. Das stehende Gut glänzte frisch geteert wie schwarzes Glas.

Auf dem Vorschiff standen die Seesoldaten in einem roten Quadrat, auf dem Achterdeck in einer Linie. Die Offiziere in ihren blau-weißen Uniformen waren nach Dienstalter angetreten, und hinter ihnen warteten die Midshipmen neben den Decksoffizieren. Einige der jungen Herren sahen in diesem Schiff sicherlich die Chance ihres Lebens. Andere, vor allem die kleinen, die wohl besser bei ihren Müttern geblieben wären, blickten bedrückt um sich. Zwölf Meilen stehendes und laufendes Gut mußten sie nicht nur benennen, sondern nachts im Dunkeln, bei Regen oder in einem heulenden Sturm auch sicher erklettern und bedienen können.

Und schließlich die Seeleute: Erfahrene und Anfänger, Gepreßte und Vagabunden. Sie wußten, daß ihr Leben in Keens Händen lag, daß sein Können im Gefecht über Sieg oder Untergang des Schiffes entschied. Er räusperte sich und hob die Pergamentrolle mit der runden, erhabenen Schrift und dem Siegel der Admiralität. Ihm war, als lese die Worte jemand anderer:

«. Und nach Prüfung werden Sie an Bord gehen und als ihr Kapitän das Kommando übernehmen.»

Hinter ihm räusperte sich eine Dame. Er erinnerte sich, wie neugierig sie alle Bolitho beobachtet hatten und wie enttäuscht sie schienen, weil er ohne Catherine gekommen war. Also nichts, über das man zu Hause tratschen konnte. Keen hatte noch keine Gelegenheit gefunden, Bolitho nach Catherine zu fragen.». Alle Offiziere und Mannschaften auf diesem Schiff werden Ihnen gehorchen und folgen, wenn Seine Britannische Majestät König Georg entschieden hat, das Schiff Black Prince in seine Dienste zu nehmen.»

Mit einem kurzen Blick über die Rolle sah Keen seinen Bootsteurer Tojohns neben dem vierschrötigen Allday stehen. Ihre vertrauten Gesichter gaben ihm Kraft und Zuversicht, und er fuhr fort:». Weder Sie noch einer aus Ihrem Schiff wird anderes tun, als ihm die Kriegsartikel vorschreiben. Gott schütze den König!»

Es war geschafft. Keen setzte seinen Hut wieder auf und verstaute die Rolle in seinem Rock. Der Erste Offizier trat vor und rief:»Drei Hurras auf Seine Majestät!«Etwas lauter hätten die Hochrufe ausfallen können, fand Keen, doch als er sich umdrehte, lächelte der Hafenadmiral. Man beglückwünschte einander, schüttelte Hände und war zufrieden — mit dem Schiff und mit dem Profit.

«Lassen Sie die Besatzung wegtreten, Mr. Cazalet, und kommen Sie dann bitte in meine Kajüte!»

Cazalet hob eine Augenbraue. Es war doch wohl an der Zeit, die Gäste zu bewirten. Einige sahen aus, als würde man sie nur schwer wieder loswerden.

Jenour grüßte mit der Hand am Hut.»Verzeihung, Sir. Sir Richard geht jetzt von Bord.»

«Schade. Ich hatte gehofft, er bleibt länger. «Keen sah Bolitho sich abseits von den Besuchern halten, die jetzt am glänzenden neuen Ruderrad vorbei auf das Achterdeck strömten.

«Übermitteln Sie den Gästen meine Grüße, Val. Ich muß leider gehen. Catherine wollte nicht kommen und sich anstarren lassen. «Bolitho blieb ungerührt, als eine Dame ihn mit offenem Mund betrachtete, bis ihr Begleiter sie weiterschob.»Ich danke Ihnen, daß Sie sich um sie gekümmert haben, als ich auf See war. Und sie wird auch Zenoria finden, ganz bestimmt!»

Keen hörte von achtern Gelächter, das Klappern von Tellern und das Klingen der Gläser.»Ich bringe Sie von Bord, Sir Richard.»

Sie gingen zur Seitenpforte. Keen hatte die Posten verdoppeln lassen. Ihre Musketen trugen Bajonette, ihre gekreuzten Brustriemen glänzten fleckenlos weiß gekalkt. Sie waren wachsam, denn viele Gepreßte sahen jetzt die letzte Chance zu fliehen, ehe das Schiff in See ging und der Drill begann. Keen hatte mehr Verständnis für sie als andere Kommandanten, doch er wußte auch, daß ihm an der Sollstärke noch immer fünfzig Mann fehlten. Bewaffnete Doppelposten würden jeden abhalten, sein Heil in der Flucht zu suchen.

«Wache an die Pforte!«Die neue glänzende Admiralsbarkasse dümpelte leicht im geschützten Wasser des Hafens. Allday saß im Heck, seine Männer trugen neue karierte Hemden und geteerte Hüte.

Bolitho verhielt für einen letzten Rundblick. Ein Schiff ohne Vergangenheit, ohne Erinnerungen. Ein ganz neuer Anfang. Seltsam, das alles.

«In den nächsten Tagen erhalten Sie neue Befehle«, sagte er zu seinem Flaggkapitän.»Bitte nutzen Sie die Zeit, um aus den Leuten eine Besatzung zu machen, auf die wir beide stolz sein können.»

Keen lächelte, obwohl er Bolitho nicht gern gehen sah.»Ich hatte ja den besten Lehrer.»

Bolitho drehte sich um — und merkte, daß er schwankte. Keen packte seinen Arm und hielt ihn fest. Einem Seesoldaten fiel vor Schreck die Muskete aus der Hand, sie krachte aufs Deck. Der Leutnant der Wache fuhr ihn heftig an, das gab Bolitho Zeit, sich zu fangen.

«Ihr Auge, Sir Richard?«Keen war entsetzt über Bolithos hoffnungslose Miene.

«Catherine weiß nichts davon. Aber mir kann niemand mehr helfen.»

Keen stand zwischen ihm und der Ehrenwache, die ihre Pfeifen bereits zum Signal angesetzt hatten.»Ich wette, sie weiß es längst. «Vergeblich suchte er nach tröstenden, helfenden Worten.

«Vielleicht. «Bolitho grüßte die Wache und kletterte vorsichtig die Jakobsleiter hinunter, bis Allday ihm unten in die Barkasse half.

Keen folgte ihnen mit Blicken, bis sie hinter einem ankernden Truppentransporter verschwunden waren. Die Black Prince war ein sauer verdientes Kommando für ihn, dienstältere Kapitäne hätten wer weiß was gegeben, es zu bekommen. Ein neues Schiff zu kommandieren, über dem bald die Flagge eines Vizeadmirals wehen würde, brachte jedem Ehre. Warum also fühlte er sich so niedergeschlagen? Ihn störte das Gelächter achtern. Den Gästen an Bord waren die Menschen, die hier dienten, herzlich gleichgültig.

Ein Leutnant stellte sich ihm in den Weg.»Verzeihung, Sir, aber ein Leichter mit Vorräten für uns legt gerade drüben ab!»

«Sind Sie der wachhabende Offizier, Mr. Flemyng? Dann machen Sie Ihre Arbeit auch richtig, Sir, oder ich suche mir jemand anderen!»

Der junge Leutnant schien vor Scham zu versinken, und Keen bereute seinen Ausbruch sofort.

«Tut mir leid, Mr. Flemyng. Mein Rang hat Privilegien, aber sein Mißbrauch ist unverzeihlich. «Erstaunt sah ihn der Offizier an.»Fragen Sie mich ruhig, sonst verstehen wir uns nicht, wenn es darauf ankommt. Aber in dem Fall informieren Sie bitte den Bootsmann und die Wache, daß Vorräte an Bord kommen.»

Der Leutnant verschwand, und Keen sah nach oben. Die Mastspitzen zeichneten winzige Kreise in den Himmel. Möwen ließen sich im Landwind treiben, spähten hungrig nach Abfallen aus.

Das also war sein Schiff!

Die leichte Kutsche, bis hoch an die Fenster mit Schlamm bespritzt, hielt auf dem Hügel an. Die beiden Pferde dampften in der Kälte.

Yovell ließ die Sitzkante los, an die er sich geklammert hatte.»Diese Wege sind eine Schande, Mylady.»

Catherine ließ die Scheibe herunter, steckte trotz des Regens, der sie von Chatham hierher begleitet hatte, den Kopf ins Freie und fragte Matthew, den Kutscher:»Wo sind wir?»

Mit hochrotem Gesicht beugte sich der junge Mann herab und antwortete:»Da drüben das Haus muß es sein, Mylady. Andere gibt es hier nicht. «Er blies die Backen auf.»Ziemlich einsam, wenn Sie mich fragen.»

«Du kennst dich hier aus?»

Er lächelte.»Gewiß, Mylady. Vor vierzehn Jahren war ich hier als Junge. Mit meinem Großvater, der auch schon bei den Bolithos diente.»

«Was hattet ihr in Kent zu tun?»

«Sir Richard war hierher abkommandiert worden, um Schmuggler zu jagen. Er schickte mich aber bald zurück nach Falmouth, als es für mich zu gefährlich wurde.»

Catherine zog den Kopf zurück.»Fahren wir weiter!«Sie schloß das Fenster, und die Kutsche rollte durch Schlamm und Pfützen hügelabwärts. In der Ferne schimmerte der Medway. Die Straße von Chatham folgte dem Fluß, der mal in großen Bögen und Windungen durch das Land floß, mal wie ein See zu ruhen schien, doch immer den Himmel spiegelte, silbern oder bleigrau mit jagenden Wolken. Catherine schauderte, als sie weit draußen Hulks liegen sah, düster und mastlos, sicherlich überquellend von Kriegsgefangenen. Das erinnerte sie an ihre eigene Zeit im Gefängnis.

Bolitho war jetzt an Bord seines neuen Flaggschiffes. Wie lange würde er noch in England bleiben können? Sie nahm sich vor, jede Minute mit ihm zu genießen. Darüber vergaß sie fast den Zweck ihrer Reise und die Sorge, ob Herricks Frau sie überhaupt empfangen würde. Sie dachte zurück an die Beisetzung Somervells auf einem Londoner Friedhof. Niemand hatte mit ihr gesprochen außer dem Pfarrer, den sie aber nicht kannte. Am Grab stand neben ihr nur Bolitho. In der Nähe am Straßenrand warteten Kutschen, aus denen sie Gesichter beobachteten, um dann später über sie zu hecheln. Ein Mann lehnte an der Mauer und war davongeeilt, als sie den Friedhof verließen: Somervells Steward.

Matthew bremste und bog langsam in eine gut gepflasterte Allee ein. Catherine spürte plötzlich ihr Herz schlagen. Sie kam uneingeladen zu Dulcie Herrick und ohne sich angemeldet zu haben. Aber eine Anmeldung hätte vielleicht eine Absage zur Folge gehabt. Es bedrückte sie, daß Herrick sie nie akzeptieren würde. Und Dulcie?

Yovell sah nach draußen.»Ein schönes Haus. Was für ein Aufstieg!«Damit spielte er wohl auf Herricks Herkunft an. Bolithos ältester Freund stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Nur seine Ehe mit der über alles geliebten Dulcie war ihm Trost und Ansporn gewesen bei seinem schwierigen Aufstieg in der Navy. Als Yovell Catherine aus der Kutsche half, empfand sie Verbitterung. Bolitho hatte seinem Freund immer und überall zur Seite gestanden — hätte Herrick jetzt nicht loyal und tapfer zu ihnen beiden stehen müssen?

«Bleiben Sie beim Kutscher«, bat sie Yovell.»Mein Besuch wird wahrscheinlich nicht lange dauern.»

Matthew, der Kutscher, sagte:»Ich bringe die Pferde auf den Hof, da gibt's hoffentlich Wasser für sie.»

Catherine stieg die Treppe hinauf, hob einen glänzenden Messingklopfer und ließ ihn gegen das Holz fallen. Fast sofort wurde ihr geöffnet. Sie trat in einen dunklen Flur.

Als die beiden Männer in den Hof fuhren, hob Yovell entsetzt beide Hände. Zwei Stallburschen reinigten dort eine Kutsche, die kurz vor ihnen angekommen sein mußte.»Die gehört Lady Belinda, ich kenne sie! Ich muß ins Haus, zu Lady Catherine. Sir Richard würde es mir nie verzeihen…»

«Laß sie allein«, sagte der Kutscher.»Du kannst nicht zwei

Stuten gleichzeitig reiten. «Er grinste.»Ich setze jederzeit auf Lady Catherine!»

Yovell sah ihn tadelnd an und ging zur Hintertür.

Nach dem Lärm der Reise wirkte der Flur auf Catherine fast gespenstisch ruhig und kühl wie ein Grab.»Ist deine Herrin zu Hause?«fragte sie die kleine Dienerin, die ihr geöffnet hatte.

«Ja, Madam. Aber sie liegt zu Bett. «Das Mädchen deutete verlegen auf eine Tür.»Und sie hat Besuch!«Catherine lächelte.»Bitte melde mich an. Catherine Somervell — Lady Somervell.»

Sie trat in ein Vorzimmer und sah draußen zwei Männer im Garten arbeiten. Als der Regen heftiger wurde, suchten sie Schutz unter dem Fenster. Dabei merkte Catherine, daß die beiden spanisch miteinander sprachen.

Eine Tür in der Halle schlug, Schritte ertönten, die Tür zum Vorzimmer wurde aufgestoßen — und Belinda stand ihr gegenüber.

Catherina war noch nie mit ihr zusammengetroffen, erkannte sie aber sofort an der Ähnlichkeit mit ihrem Porträt in Falmouth.»Ich wußte nicht, daß Sie hier sind«, begann sie,»sonst.»

«Sonst wären Sie geblieben, wo Sie hingehören«, unterbrach Belinda sie mit großer Schärfe.»Wie können Sie es wagen, hierher zu kommen!«Ihr Blick wanderte abschätzig über Catherine und blieb an ihrem Trauerkleid aus schwarzer, glanzloser Seide hängen.»Wie unverschämt von Ihnen, Trauer zu tragen!»

Von weitem hörte man schwaches Rufen.

«Ihre Meinung darüber ist mir herzlich gleichgültig. «Catherine geriet allmählich in Zorn.»Dies ist nicht Ihr Haus, und ich besuche die Hausherrin, wenn sie es erlaubt!»

«Ich verbitte mir diesen Ton!«fuhr Belinda auf.

«Das sagen ausgerechnet Sie?«Catherine blieb hart.»Sie haben sich mit einem schurkischen Betrüger zusammengetan, um mich zu beseitigen: meinem Mann! Nein, ich trauere nicht um Somervell, sondern um Richards Freund.»

«Ich werde Richard niemals freigeben!«Belinda mußte zur Seite treten, weil Catherine auf die Tür zuging.

«Freigeben? Als ob er ihnen jemals gehört hätte!»

Wieder war die leise rufende Stimme zu hören. Catherine ging ohne ein weiteres Wort an Belinda vorbei. Sie war wie erwartet: schön und herzlos. Diese Erkenntnis machte sie ärgerlich, aber auch traurig.

Das Rufen kam aus einem großen Bett mitten im Nachbarzimmer. Herricks Frau lehnte in den Kissen und musterte die Eingetretene wie vordem Belinda — doch ohne Feindschaft.

«Ich bin gleich wieder da, liebe Dulcie!«rief Belinda von draußen.»Aber im Augenblick brauche ich dringend frische Luft. «Die Haustür fiel zu.

«Bitte verzeihen Sie meinen unangemeldeten Besuch. «Catherine fröstelte trotz des Feuers im Kamin.

Dulcie deutete mit einer Hand auf den Bettrand.»Setzen Sie sich bitte, so kann ich Sie besser sehen. Mein lieber Thomas hat mich vor ein paar Tagen verlassen und segelt jetzt zu seinem Geschwader. Er fehlt mir überall. «Ihre Hand tastete sich auf Catherines zu und ergriff sie.»Ja, Sie sind wirklich schön, Lady Somervell. Ich verstehe, daß Richard Sie liebt.»

Dulcies Hand war heiß und trocken.

«Das ist sehr lieb von Ihnen. Aber bitte, nennen Sie mich Catherine.»

«Es tut mir leid, daß Viscount Somervell gestorben ist… Regnet es noch?»

Catherines Besorgnis wuchs, denn Dulcies Gedanken liefen wirr durcheinander.»War ein Arzt bei Ihnen?«fragte sie vorsichtig.

Wie von weit her antwortete Dulcie:»Es ist so traurig. Thomas und ich konnten keine Kinder haben.»

Catherine blieb beharrlich:»Wie lange liegen Sie schon zu Bett?»

Zum erstenmal lächelte Dulcie. Dabei sah sie zerbrechlich aus wie ein Porzellanpüppchen.»Sie ähneln Thomas«, flüsterte sie.»Der fragt auch immer und macht sich solche Sorgen. Er denkt, ich arbeite zuviel. Aber er weiß nicht, wie einsam es hier ist, wenn er auf See ist.»

«Was sind das für Männer, die im Garten arbeiten?»

Dulcie hatte die Frage offenbar nicht verstanden.»Belinda ist so lieb«, fuhr sie fort.»Sie haben eine kleine Tochter.»

Catherine sah zur Seite. Sie, das waren Richard und Belinda.»Diese Männer sprachen spanisch!«beharrte sie.

Sie hatte nicht gehört, daß Belinda zurückgekommen war.»Ach ja, Sie waren ja mal mit einem Spanier verheiratet«, sagte Lady Bolitho.»Einer von Ihren vielen Ehemännern!»

«Es sind Kriegsgefangene«, antwortete Dulcie.»Freigelassen auf Ehrenwort. Sehr gute Gärtner. «Ihre Lider flatterten.»Ich bin so müde.»

Catherine löste ihre Hand und stand auf.»Dann werde ich Sie jetzt verlassen. Aber ich würde mich gern ausführlicher mit Ihnen unterhalten, Dulcie.»

Belinda folgte ihr in die Halle.»Verschonen Sie Dulcie mit Ihrer Gegenwart«, sagte sie.»Man weiß ja, wer Sie sind. Müssen Sie sich auch noch den Herricks aufdrängen? Den Ruf meines Mannes haben Sie schon auf dem Gewissen. Eines Tages wird er noch bei einem Duell getötet werden!«Bosheit funkelte in Belindas Augen.

Catherine dachte an den Mann im Lustgarten am Themseufer und an Oberst Collyear. Beide hatten sie behandelt wie eine Hure und beide Male hätte sich Bolitho wirklich fast duelliert.

«Und das macht Ihnen Sorge? Sie waren doch noch nie stolz auf Richard. Warum tragen Sie überhaupt seinen Namen?«Sie ging zur Tür.»Dulcie hat Fieber. Ich habe die beiden Gärtner unter dem Fenster gehört, sie sprachen vom Kerkerfieber, das auf den Gefängnisschiffen herrscht. Vielleicht hat sich Dulcie bei ihnen angesteckt. Seit wann ist sie krank?»

Belinda war unsicher geworden.»Seit zwei Tagen. Seit ihr Mann das Haus verlassen hat.»

Catherine faßte einen Entschluß.»Ich schicke Mr. Yovell mit einer Nachricht nach London. Hier muß ein erfahrener Arzt her, nicht der Landdoktor aus dem Dorf. Und kein Wort zu den Dienern über Kerkerfieber. Die laufen sonst alle weg. Auch Sie sollten das Zimmer nicht betreten.»

«Ist es denn so ansteckend?»

Catherine sah Belinda verächtlich an. Diese Frau war ihr keine Hilfe.»Ich bleibe hier. Kerkerfieber ist Typhus. Dulcie wird ihn nicht überleben.»

Yovell kam ungerufen in die Halle, und Catherine erklärte ihm leise die Lage.

«Das ist ja schrecklich, Mylady! Wir brauchen sofort einen erfahrenen Arzt!»

Sie sah die Furcht in seinen Augen und legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.»Für Dulcie käme er zu spät, aber die anderen hier brauchen ihn. Ich kenne Typhus. Man hätte sie viel früher behandeln müssen, jetzt ist es wohl hoffnungslos. Sie hat Schmerzen und schon einen Ausschlag am Hals, wie ich sehen konnte, als sich ihr Schal verschob. Ich bleibe bei ihr. Niemand sollte einsam sterben.»

Belinda ging mit fahrigen Bewegungen in der Halle auf und ab.»Ich muß nach London zurück, meine Tochter wartet.«»Dann verschwinden Sie endlich!»

Grußlos eilte Belinda davon. Catherine lächelte.»Begreifen Sie, Daniel, daß ich hier gebraucht werde? Sagen Sie das bitte Sir Richard.»

Der Schreiber verbeugte sich und verschwand. Gleich darauf klapperte die Kutsche in den Regen hinaus. Richard würde ihre Entscheidung verstehen. Als ihn seinerzeit ein Fieber bis zur Bewußtlosigkeit gequält hatte, war sie nackt zu ihm ins Bett geschlüpft, um seinen zitternden Körper zu wärmen.

Belinda kam mit ihrem Gepäck die große Treppe herunter, fixierte Catherine böse und warf im Vorbeigehen hin:»Ich hoffe, Sie sterben hier!»

«Auch dann wird Richard nicht zu Ihnen zurückkehren«, antwortete Catherine kühl.

Dann rollte auch Belindas Kutsche davon.

Die kleine Dienerin, die ihr die Tür geöffnet hatte, stand plötzlich verschreckt vor Catherine.

«Hol bitte die Haushälterin und die Köchin«, befahl sie.»Wie heißt du?«»Mary, Mylady.»

«Gut, Mary. Wir beide werden uns um deine Herrin kümmern. Das wird es ihr leichter machen.»

«Was leichter machen, Madam?»

«Schon gut. Hol die beiden, und dann sage ich euch, was wir brauchen.»

Als das Mädchen gegangen war, ließ Catherine sich auf einen Stuhl sinken. Was da auf sie zukam, verlangte Umsicht und Stärke. Das Leben hier im Haus konnte zu einem Alptraum werden. Wieder hörte sie Dulcie rufen; es klang wie der Name Thomas.

«Ich hoffe, Sie sterben hier«, hatte Belinda ihr gewünscht. Seltsamerweise gab ihr dieser Wunsch Kraft. Und als die Köchin und die Haushälterin kamen, sprach sie ruhig und ohne zu zögern mit ihnen.

«Eure Herrin muß gebadet werden, das werde ich tun. Sie kochen ihr bitte eine nahrhafte Suppe. Und dann brauche ich Brandy.»

Die Köchin verschwand. Die Haushälterin sagte leise:»Ich bleibe hier, bis es vorbei ist. Madam hat mich immer gut behandelt und ins Haus aufgenommen, als mein Mann starb. «Sie schaute zu Catherine auf.»Er ging unter die Soldaten und ist in Indien am Fieber gestorben.»

«Also wissen Sie, was Mrs. Herrick hat?»

«Ich konnt's mir denken. Obwohl Lady Bolitho eben sagte, ich sei wohl närrisch. Sie ist ja schnell verschwunden!»

Catherine rollte die Ärmel hoch.»Also fangen wir an! Und schicken Sie jemanden zum Arzt, er muß Bescheid wissen.»

Die Haushälterin musterte Catherines teure schwarze Robe.»Ich hab' noch irgendwo abgelegte Kleider von einem Hausmädchen. Die sollten Sie anziehen. Wir müssen sie ja hinterher verbrennen.»

Es wurde später als geplant und schon dunkel, bis Matthew die Kutsche durch das vertraute Stadttor lenken konnte. Als sie über das Kopfsteinpflaster ratterten, schaute Bolitho hinaus. Was hatte sich seit seinem letzten Aufenthalt in Falmouth verändert? Es war immer wieder schön, hierher zurückzukehren, auch wenn jetzt Schnee in der Luft lag.

Aus einigen Fenstern und sogar einigen Läden schien noch Licht. Als die Kutsche dann den Berg hinauffuhr, betrachtete er die Bauernhäuser. Kerzen brannten in manchen Fenstern, an den Scheiben hingen bunte Papierblumen und grüne Zweige als Schmuck: Weihnachten zu Hause.

Catherine in ihrem warmen Mantel mit der Pelzhaube schaute neben Bolitho aus dem Fenster. Hinter ihr lagen schwere Tage, an denen sie geglaubt hatte, Falmouth nie wiederzusehen.

Yovell war mit der Kutsche zu spät vor dem Gasthaus in Chatham angekommen, in dem sie Zimmer gemietet hatten. Unterwegs hatten sie ein Rad verloren und deshalb einen Tag länger als sonst gebraucht. Bolitho war außer sich vor Sorge gewesen und hatte Pferde für sich und Jenour satteln lassen. Dann waren sie ohne Pause zu Herricks Haus geritten, aber Dulcie war schon gestorben. Ihr schwaches Herz hatte aufgehört zu schlagen, noch ehe das furchtbare Fieber sie umbringen konnte. Catherine lag unter einer Decke nackt im Bett, denn die Haushälterin hatte alle Kleider verbrannt. Wie leicht hätte sie sich anstecken können, während sie Dulcie bis zu ihrem letzten Atemzug betreute. Der Arzt hatte ihr nicht viel helfen können, er war ein schwächlicher Mensch und völlig überfordert.

Und nun die lange Fahrt nach Falmouth — sechs Tage hatten sie bis nach Hause gebraucht.

Die Kutsche hielt.

Ferguson und seine Frau erwarteten sie an der Treppe, andere vertraute Gesichter tauchten im Licht der Kutschenlampen auf. Das Gepäck wurde abgeladen. Ferguson hatte das Haus gut vorbereitet. Große Feuer flackerten in den Kaminen, selbst in dem in der Halle, denn Wärme war jetzt sehr willkommen.

Als sie endlich in ihrem Zimmer waren, von dem aus man auf das Meer blicken konnte, bat Catherine um ein heißes Bad.»Ich möchte alles abwaschen«, sagte sie.

Ozzard kam mit vielen Kannen voll heißem Wasser.

Sie rief durch die Badezimmertür:»Wie wird Thomas von Dulcies Tod erfahren?»

Bolitho trat ans Fenster: bedeckter Himmel, keine Sterne. Draußen sah er ein winziges Licht. Ein kleines Boot, das noch rechtzeitig zum Weihnachtsabend den Hafen erreichen wollte. Er dachte daran, wie Herrick ihm damals die Nachricht von Cheneys Tod gebracht hatte.»Admiral Godschale schickt ihm eine Depesche«, antwortete er,»mit dem ersten Kurierschiff, das zu Thomas' Geschwader ausläuft. Ich habe ihm einen Brief beigelegt — von uns beiden. «Er hörte ihre Zustimmung.»Du bist wirklich sehr mutig gewesen. Wie leicht hättest du selber sterben können!»

Sie trat ins Zimmer, in einen Bademantel gehüllt. Ihr Gesicht glühte.»Dulcie hat im Fieber immer wieder Thomas' Namen gerufen. Sie wußte, daß sie sterben mußte.»

Bolitho hielt sie so, daß sie sein Gesicht nicht sehen konnte.»Ich muß bald auf die Black Prince zurück, Kate. Vielleicht schon in zwei Wochen, vielleicht noch früher.»

Sie lehnte den Kopf an seine Schulter.»Ich weiß. Aber denk nicht daran. Nicht jetzt.»

Er blickte ins Feuer, in dem ein Schwarm Funken aufstieg.»Noch etwas, Kate. Es war soviel zu tun nach Olivers und dann noch Dulcies Tod, deshalb kam ich nicht dazu, es dir zu sagen. Verstehst du?»

Sie bog sich in seinen Armen zurück, als suche sie die Gedanken hinter seiner Stirn.»Du siehst aus wie ein kleiner Junge, der ein

Geheimnis hat«, flüsterte sie.

«Die Ärzte können nichts mehr für mein Auge tun«, berichtete er sachlich. Und atmete erleichtert auf, weil es nun endlich gesagt war.

Sie löste sich aus seinen Armen, führte ihn zum Fenster und stieß es auf.»Kirchenglocken, Liebling, hörst du? Die Weihnachtsglocken!»

Sie hielten einander fest, während die Glocken der Kirche von Charles the Martyr ihr fröhliches Geläut über Stadt und Hügel ertönen ließen.»Küß mich«, sagte sie,»es ist Mitternacht. Weihnachtsmorgen!»

Danach schloß sie leise das Fenster und sagte:»Sieh mich an, Richard. Wenn mein Auge verletzt wäre, was würdest du tun? Es würde dich genausowenig stören wie mich deines. Wir leben weiter und geben die Hoffnung nicht auf. Kein Arzt ist unfehlbar.»

Es klopfte an der Tür, Ozzard stand vor ihnen mit einer Flasche und zwei Gläsern. Verlegen sah er sie an.»Ich dachte, das wäre jetzt das Richtige für Sie, Mylady. «Es war Champagner, gekühlt mit dem Eis des Flusses.

Bolitho dankte Ozzard, der schnell den Raum verließ, und öffnete die Flasche selber.

«Das einzig Gute, das aus Frankreich kommt!«Catherine warf den Kopf zurück und lachte wie damals im Lustgarten.

Bolitho sagte:»Weißt du, daß dies seit meiner Kadettenzeit das erste Weihnachten ist, das ich zu Hause verlebe?»

Sie schlug die Bettdecke zurück, das halbvolle Glas noch in der Hand. Dann stellte sie es ab, ließ den Mantel fallen und sah ihn aus ihren dunklen Augen an.»Komm, das wollen wir feiern.»

Bolitho küßte ihre Brüste, benetzte sie mit Champagner, küßte sie wieder.

«Komm!«flüsterte sie.»Bin ich denn ein Stein, daß du mich so lange warten läßt?»

Ferguson und Allday überquerten den Hof, um noch ein Glas zu trinken, ehe im Haus die Festlichkeiten losbrachen. Allday sah oben Kerzenlicht hinter einem Fenster brennen und seufzte. Ferguson, sein Freund seit den Tagen auf der Phalarope, ahnte, was in ihm vorging. Dem Bootssteurer fehlte eine Frau, in deren Arme er Liebe gefunden hätte.

«Erzähle, John«, lenkte er ihn ab.»Was ist geschehen? Wir haben nur Gerüchte gehört.»

Allday berichtete.»Und dann ist Herricks Frau gestorben. Von unserer Lady bis zuletzt gepflegt. Soll man's glauben?»

Ferguson zog ihn durch eine Tür. Seine Frau Grace war schon zu Bett gegangen.»Hier, das ist unser bester Rum.»

Allday trank und hustete.»Der bringt aber Wind in die Segel! Woher hast du den?»

«Von einem Schiffer, der ihn aus Port Royal mitbrachte. «Ferguson hob sein Glas.»Willkommen zu Hause, alter Freund!»

Allday grinste. Das hätte auch Bolitho sagen können.»Und einen Schluck auf die, die nie mehr zurückkehren!«Er lachte kollernd, und die Katze, die vor dem Kamin schlief, öffnete erschrocken die Augen.

«Auch einen auf die Offiziere — jedenfalls auf einige von ihnen!»

Als Ferguson die zweite Flasche öffnete, sagte Allday leise:»Gott schütze euch!»

Kurz darauf wurde das Fenster drüben dunkel. Von fern klang das Rauschen der See durch die Nacht.

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