XIX Die wahre Flagge

Die Black Prince segelte so hoch am Wind wie möglich. Ihre großen Rahen waren so dichtgebraßt, daß eine Landratte geglaubt hätte, sie stünden mittschiffs. Fast die ganze letzte Nacht hatten sie damit verbracht, im engen Sund gegenan zu kreuzen. Der Donner des Bombardements von Kopenhagen war ihnen gefolgt, immer leiser werdend.

Die Nicator hatte es geschafft, Fühlung zum Flaggschiff zu halten, doch Besatzung und Offiziere auf dem großen Dreidecker hatten all ihre Erfahrung gebraucht und viel Kraft. Jede einzelne Tiefenangabe des Lotgasten wurde laut nach achtern gerufen, und einmal hatte Bolitho das Gefühl gehabt, daß nur noch eine Handbreit Wasser zwischen dem Kiel des großen Schiffes und einer Katastrophe stand.

In der Morgendämmerung fuhren sie ins Kattegat ein, ebenfalls ein flaches Gewässer, doch ihnen kam es nach dieser Nacht vor wie der weite Atlantik. Ein Blick zu seinem Wimpel im Vortopp zeigte Bolitho, daß der Wind aus Nordost durchstand. Morgen würde ihnen das sehr helfen. Zum hundersten Mal mußte Bolitho an Herrick denken und an seine Redensart von der launischen Dame Fortuna.

«Noch Befehle für den Tag, Sir?«fragte Keen.

Sie schauten einander an wie Freunde über den Gartenzaun an einem ganz normalen Tag.»Morgen passiert's — oder gar nicht, Val. Sie wissen ja, wie diese Konvois über die See schleichen, der Langsamste bestimmt das Tempo. Konteradmiral Herrick hat rund zwanzig Frachter zu begleiten. Wenn es ein Gefecht gegeben hat, dann müßten die schnellsten davon jetzt im Skagerrak stehen — falls sie dem Feind entkommen sind. «Er versuchte zu lächeln.»Sie halten mich vielleicht für verrückt, aber es könnte gut sein, daß Herrick morgen früh mit seiner Herde fröhlich grüßend an uns vorbeisegelt.»

«Darf ich etwas fragen, Sir?«»Gern.»

«Wenn Sie Konteradmiral Herrick wären, Sir, was würden Sie an seiner Stelle tun, wenn sich ein feindlicher Dreidecker und sein Geleit Ihrem Konvoi nähert?»

Bolitho sah zur Seite.»Ich würde dem Konvoi befehlen, sich aufzulösen. Dann würde ich den Feind in ein Gefecht verwickeln.

Das verschafft den verstreuten Schiffen Zeit zur Flucht, so daß wenigstens einige davon durchkommen.»

«Glauben Sie, daß auch er das tun würde?»

Bolitho nahm Keen am Arm und führte ihn hinter das große Doppelrad. Julyan, der Master, redete mit seiner tiefen, grollenden Stimme auf seine Gehilfen ein. Schon früher hatte Keen den Mann gelobt, er sei sein Gewicht in Gold wert. Aber was er wirklich konnte, hatte er in dieser Nacht bewiesen, beim harten Anknüppeln gegen Wind und Strömung.

«Ich mache mir Sorgen, Val. Wenn der Feind seine Schiffe findet, wird Herrick das Gefecht zu einer ganz persönlichen Abrechnung machen. «Aus der Kombüse wehte der fette Geruch von Schweinefleisch herüber.»Sobald beide Wachen gegessen haben, machen Sie klar Schiff zum Gefecht, Val. Aber löschen Sie das Kombüsenfeuer noch nicht. Volle Bäuche haben schon mehr Schlachten gewonnen als kalter Stahl.»

Keen musterte das Deck, als herrsche dort bereits das Chaos eines Nahkampfs.»Einverstanden. «Dann sagte er:»Ihr Mr. Tyacke könnte mit dem großen Franzosen recht haben, auch wenn ihn noch keiner kennt. Schließlich kennt auch noch kaum jemand die Black Prince — sie ist viel zu neu.»

Der Wachhabende räusperte sich laut.»Wollen Sie mir vorschlagen, die Wache abzulösen, Mr. Sedgemore?«kam Keen seiner Frage zuvor.

«Moment mal«, unterbrach ihn Bolitho.»Was haben Sie da eben gesagt, Val?»

«Nichts weiter. Nur etwas über die hier unbekannte Black Prince.»

Bolitho sah nach oben zur Flagge.»Haben Sie einen guten Segelmacher, Val? Dann bitten Sie ihn zu uns. Es muß aber schnell gehen. Und noch ehe es dunkel wird, muß ich Kapitän Huxley auf der Nicator verständigen. «Keen schickte einen Midshipman um den Segelmacher. Bolitho würde ihm sicherlich bald erklären, was er beabsichtigte. Und vielleicht knobelte er ja selber noch daran.

Der Segelmacher der Black Prince sah so aus wie alle seiner Zunft: graues, buschiges Haar, kräftige Augenbrauen, die über die Stirn hinaus reichten, und dazu eine Lederschürze voller Werkzeug wie Faden, Nadeln und natürlich Segelmacherhandschuhe. Der Segelmacher blinzelte mit seinen wäßrigen Augen alle nacheinander an: den Admiral, seinen Kommandanten, den Wachoffizier, die Midshipmen und die Gehilfen des Masters.»Ja, Sir?«fragte er mißtrauisch.

«Können Sie mir eine dänische Flagge nähen, Fudge, einen richtig großen Danebrog?»

Der Mann nickte.»Zur Täuschung, Sir Richard?»

Leutnant Sedgemore wollte den Segelmacher anfahren, aber Keen gab ihm ein Zeichen zu schweigen.

«Richtig«, antwortete Bolitho.»Ein weißes Kreuz auf rotem Grund mit zwei Schwänzen. So wie der Wimpel eines Kommodore — nur größer.»

Fudge straffte sich.»Ich war mit Nelson auf der Elephant vor Kopenhagen, Sir Richard! Ich weiß, wie eine dänische Flagge aussieht.»

«Wann kann ich sie bekommen?»

Fudge grinste mit seinen schlechten Zähnen.»Schnellstens natürlich. In spätestens zwei Tagen, Sir Richard!»

«Wir brauchen sie dringend. Könnte ich sie schon morgen früh haben?»

Fudge schaute ihn so aufmerksam an, als suche er eine Erklärung für die Eile.»Ich fange sofort an, Sir Richard. «Er betrachtete die Seeleute um sich herum, als gehörten sie zu einer minderwertigen Rasse.»Verlassen Sie sich nur auf mich!»

Als Fudge verschwand, rieb sich Bolitho die Hände, als friere ihn.»Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, Val. Gehen wir zusammen eine Runde durch das Schiff.»

«Natürlich, Sir Richard. «Keen war jetzt klar, was Bolitho am nächsten Tag vorhatte.

«Lassen Sie aber zuerst die Larne längsseits kommen, ich habe schriftliche Befehle für die Nicator. Danach soll Tyacke außer Sicht bleiben, denn wenn die Franzosen auftauchen, könnten sie seine Brigg wiedererkennen und sich fernhalten. Ich will aber den großen Franzosen um jeden Preis, um jeden!»

Die wenigen Zeilen brachte Bolitho selbst zu Papier. Yovell versiegelte die Order und steckte sie in die Tasche aus Ölzeug, die für den Kommandanten der Nicator bestimmt war.

«Sie müssen wissen, was ich geschrieben habe, Val«, faßte Bolitho zusammen.»Sollte ich fallen, übernehmen Sie das Kommando. Und sollte die Black Prince die Flagge streichen müssen, wird die Nicator das Gefecht abbrechen und zu Admiral Gambier zurücksegeln.»

Später, als die letzten Abgelösten ihr Abendessen verzehrt hatten, begannen Bolitho und Keen ihre Runde, begleitet vom jüngsten Leutnant und natürlich von Allday. Zu viert gingen sie durch die weitläufigen Decks und stiegen die Leitern hinunter bis ins Orlop.

Viele Seeleute wollten überrascht von ihren Tischen aufstehen, aber Bolitho winkte ab. Er sprach mit einigen von ihnen und war verblüfft, wie sie ihn befragten. Aus Neugier oder um ihre Überlebenschancen besser abzuschätzen?

Er traf auf Gepreßte und Freiwillige, Schanghaite von anderen Schiffen, hörte alle Dialekte Englands: aus Devon und Hampshire, aus Kent und Yorkshire, aber auch fremde, etwa aus Schottland. Und natürlich war unter ihnen auch ein Mann aus Falmouth, der stolz vor seinen Kameraden behauptete:»Natürlich kennt mich Sir Richard!»

Als er seinen Namen nannte, sagte Bolitho:»Ich erinnere mich an Ihren Vater, Tregorran, er war Schmied neben der Kirche. «Er legte ihm die Hand auf die Schulter.»Ihr Vater war ein guter Mann. «Damit ging er weiter.»Also, Leute, hoffen wir, daß wir bald alle wieder zu Hause sind!»

Weil die Stückpforten geschlossen waren, roch es in den Decks stark nach Teer, Bilgenwasser und Schweiß. Hier konnte kein großer Mann aufrecht stehen, und doch lebten hier so viele Männer und starben auch.

Bolitho kletterte den letzten Niedergang empor, als einige Männer hurra zu rufen begannen. Die Rufe folgten ihm nach oben. Allday las in seinem Gesicht, was er dachte: Rauhbeine, Diebe, Schurken, Unschuldige und Verdammte — sie waren Englands letzte Hoffnung: Männer aus Eisen. Die schmuddelige Hose eines Midshipman tauchte im Lampenschein auf, ein paar geflüsterte Worte wurden gewechselt, dann meldete der Leutnant, der sie begleitete, dem Kommandanten:»Mr. Jenours Empfehlung, Sir, und die Tasche mit den Befehlen ist der Nicator gerade übergeben worden.»

Jetzt sah ihn Bolitho zum ersten Mal deutlicher.»Sind Sie nicht Leutnant Whyham?«Der junge Offizier nickte unsicher.»Dachte ich's mir doch. Sie waren vor vier Jahren einer meiner Midshipmen auf der Argonaut, stimmt's?»

Der Leutnant starrte ihnen immer noch nach, als Bolitho und Keen schon die frische Luft des Oberdecks erreicht hatten. Nach dem Gestank unten schmeckte sie wie frisches Quellwasser.

Unsicher bat Keen:»Würden Sie heute abend mit mir essen, Sir? Ehe wir alle Zwischenwände legen und klar zum Gefecht machen lassen.»

Bolitho schaute ihn an, noch immer bewegt von der Zuneigung seiner Männer, die nichts hatten als sein Wort, an das sie sich klammern konnten.»Mit dem größten Vergnügen, Val.»

Beim ersten Tageslicht erwachte die Black Prince zum Leben. Wie Überlebende aus längst vergessenen Zeiten und Wracks krochen die achthundert Leute aus ihren Decks, lösten sich von dem letzten bißchen Frieden und der Ruhe, die jeder in seiner Hängematte gefunden hatte. Bolitho stand auf dem Achterdeck in Luv und hörte nackte Füße laufen und Waffen scheppern. Keen verhielt sich richtig, keine Pfeife schrillte, keine Trommel schlug. Niemand sollte fürchten müssen, daß der letzte Tag seines Erdenlebens anbrach. Bolitho sah zum östlichen Himmel, ohne in der Dämmerung um sein Auge zu fürchten. Das grelle Licht war nahe, aber erst zu ahnen wie ein aufziehender Sturm hinter dem trügerischen Lächeln der See.

Er stellte sich vor, wie der Feind sie sehen würde: einen großen Dreidecker mit seiner rechtmäßigen dänischen Flagge unter der englischen, also ein dänisches Schiff, das von Engländern aufgebracht worden war. Doch zu einer Täuschung gehörte mehr. Als Fregattenkapitän hatte Bolitho sich manche List ausgedacht und war ebenso vielen selbst aufgesessen. In einem so langen Krieg konnte man selbst die Normalität nicht ohne Mißtrauen hinnehmen.

Wenn sie das kommende Gefecht verloren, mußten sie einen doppelten Preis bezahlen. Keen hatte dem Bootsmann befohlen, keinerlei Ketten aufzuriggen. Spieren und Trümmer würden also an Deck fallen und das Schiff verkrüppeln, Männer an ihren Kanonen zerschmettern. Auch alle Boote blieben in den Klampen, und ihre Splitter würden mörderische Wunden reißen.

Keen trat zu ihm. Wie alle Offiziere an Deck hatte er seine Uniformjacke unten gelassen, um sich nicht zu verraten. Auch er sah zum östlichen Himmel.»Es wird wieder ein klarer Tag, Sir Richard.»

Bolitho stimmte zu.»Ich hatte auf Regen gehofft, zumindest auf Wolken bei diesem Nordost. «Aber sie hatten ganz klare Sicht.»Wir werden die Sonne im Rücken haben, also werden sie uns zuerst entdecken. Wir sollten schon Segel kürzen, Val.»

Keen suchte sich einen Midshipman.»Mr. Rooke, bitten Sie den Ersten Offizier, Bramsegel und Royals wegnehmen zu lassen!»

Bolitho wußte sich verstanden. Falls sie schon jetzt gesichtet wurden, konnte der Gegner mißtrauisch werden. Warum segelte eine schwach bemannte Prise unter Vollzeug, wenn sie nichts zu fürchten hatte?

Keen sah den Männern nach, die schemenhaft in den Webleinen emporkletterten, um die schweren Segel aufzutuchen und an die Rahen zu binden.»Major Bourchier hat seine Männer auf dem Vordeck, hier hinten und im Großtopp aufgestellt, genauso als müsse er eine echte Prise unter Kontrolle halten, auf der die ursprüngliche Besatzung noch arbeitet.»

Mehr konnten sie im Augenblick nicht tun.

Cazalet rief:»Der Segelmacher, Sir!»

Fudge und einer seiner Gehilfen kamen aus dem Schatten, die in der Nacht genähte dänische Flagge zwischen sich.

«Sie haben Wort gehalten«, lobte ihn Bolitho.»Gute Arbeit. Lassen Sie Fudge die neue Flagge setzen, diese Ehre gebührt ihm.»

Das war nun wirklich etwas Besonderes, an diesen Augenblick würde sich mancher noch lange erinnern. Männer verließen sogar ihre Kanonen, um das Hissen der Flagge zu beobachten, die schließlich unter der englischen auswehte.

Jemand rief:»Hast wohl dein bestes Tuch dafür genommen, Segelmacher!»

Der Segelmacher starrte nach oben und sagte trocken:»Ist noch genug übrig, um dich heute darin einzunähen, Freund!»

«Ich habe einen unserer besten Männer in den Ausguck geschickt, Sir«, meldete Keen.»Taverner, Gehilfe des Masters. Der hat Augen wie ein Falke und einen klaren Kopf.»

Bolitho fuhr sich über die trockenen Lippen. Kaffee, Wein, ja sogar das faulige Wasser aus den Fässern hätten ihm jetzt gut getan.

Keen überlegte laut.»Konteradmiral Herrick könnte auch etwas ganz anderes tun, Sir: nach England zurücksegeln, weil er hofft, unterwegs auf das patrouillierende Geschwader zu treffen.»

Bolitho stellte sich das ernste, verläßliche Gesicht Herricks vor.

Mit einem Konvoi umkehren? Niemals. Das wäre für ihn wie Weglaufen.

Tojohns, Keens Bootssteurer, gürtete den Flaggkapitän mit dem Gehenk für den leichten, gebogenen Säbel, den er in jedem Gefecht trug. Bolitho packte den Griff seines eigenen Degens, den Allday an seinen Gürtel gehängt hatte. Er fühlte sich an wie Eis, und Bolitho erschauerte, besorgt beobachtet von Allday. Der Alte roch stark nach Rum.

Und dann wurde die Dunkelheit plötzlich zerrissen durch einen gewaltigen Blitz, der das ganze Schiff erhellte und die Männer wie Statuen beleuchtete. Die Wanten und Webleinen schienen zu glühen. So plötzlich, wie das Licht auf sie zugejagt war, so schnell war es auch wieder verschwunden, als habe es eine Riesenhand ausgelöscht. Dann erst, scheinbar eine halbe Ewigkeit später, kam der Knall der Explosion und mit ihm ein heißer Wind, der die Segel backschlagen ließ und die Gesichter versengte.

Überall wurden Stimmen laut, als die Dunkelheit die Black Prince wieder einschloß.

«Was war das, alter Freund?»

«Ein Schiff, das Pulver und Munition transportiert hat«, antwortete Allday betroffen.

Ob jemand an Bord sich vorstellen konnte, daß auch sein Leben in solch einem Pulverblitz enden konnte? fragte sich Bolitho. Kein letzter Schrei, kein Händedruck mit einem Freund, keine Tränen — nichts, nur ein plötzliches Auslöschen.

Keen rief:»Mr. Cazalet, schicken Sie die Midshipmen unter Deck, sie sollen allen erklären, was vorgefallen ist. «Sogar daran dachte er, während sein Schiff in die Dunkelheit segelte, selber aufs höchste gefährdet.»Unter Deck muß sich das wie ein Riff angefühlt haben.»

Eine schmächtige Figur erschien von irgendwoher, tastete sich an den Rudergängern vorbei und stellte sich hinter die Offiziere. Allday knurrte:»Was zum Teufel willst du hier an Deck?»

Bolitho drehte sich um.»Ozzard! Was soll das? Ihr Platz ist unten im Schiff.»

Doch Ozzard hörte nicht, er zitterte wie Laub im Wind.»Ich kann nicht, Sir! Nie wieder. Nicht seit dem letzten Mal. «Er zitterte stärker.»Ich halte das nicht noch mal aus!»

«Natürlich. Ich hätte daran denken sollen«, beruhigte ihn Bolitho.»Such einen Platz für ihn hier in der Nähe, Allday. «Auch das hatte der Untergang der Hyperion bewirkt: einen vor Furcht zitternden Diener.

Aus dem Fockmast ertönte die Stimme des Ausgucks:»An Deck — Land an Backbord voraus!»

«Das wird Kap Skagen sein«, stellte Keen fest.»In einer Stunde können wir den Kurs ändern auf West.»

Die Erregung, die jetzt das Oberdeck ergriff, teilte sich auch Bolitho mit. Sie waren endlich im Skagerrak — in einem Seegebiet ohne Grund, wie die Mär ging. Wracks und Seeleute seien hier in bodenlose Abgründe gesunken und teilten ihren ewigen Schlaf mit blinden Kreaturen von so schrecklicher Gestalt, daß niemand sie beschreiben konnte. Aber wie dem auch war, wenn ihr Bug erst einmal nach Westen zeigte, stand nichts mehr zwischen der Black Prince und England.

Das Morgenlicht kroch über die Kimm und erhellte Stenge nach Stenge, bis das ganze Deck zu erkennen war; achteraus wurde die Nicator sichtbar.

Taverner, der Gehilfe des Masters oben im Ausguck, rief plötzlich:»An Deck! Brennende Schiffe. «Er suchte nach Worten.»O Gott, ich kann sie gar nicht alle zählen!»

Keen griff zum Sprachrohr.»Hier spricht der Kommandant!«Er machte eine Pause, damit die Leute oben sich sammeln konnten.»Was seht ihr vom Feind?»

Bolitho trat an die Querreling und blickte in die nach oben gewandten Gesichter, die alle wissen wollten, was hinter der Kimm geschah.

«Zwei französische Linienschiffe, Sir. Eines von uns, aber ohne Mast. «Taverner schwieg, und Bolitho hörte den Master murmeln:»Dann muß es schlimm sein!»

Das aufsteigende Tageslicht würde bald alles enthüllen. Der Feind mußte am Vorabend noch vor der Dämmerung auf Herricks Konvoi gestoßen sein, während die Black Prince aus dem Sund kroch, um ihm zu helfen. Dann hatte er den ganzen Konvoi entweder erbeutet oder vernichtet. Den Rest des Geleitschutzes würde er heute erledigen.

Müde sagte Keen:»Wir kommen zu spät, Sir.»

Der Knall eines Kanonenschusses rollte übers Wasser. Taverner meldete:»Das entmastete Schiff hat Feuer eröffnet, Sir! Die geben nicht auf!«Allen Drill vergessend, brüllte er plötzlich:»Schießt sie zusammen, Jungs! Drauf! Wir kommen!»

Das entmastete Schiff mußte die Benbow sein, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Bolitho sagte:»Lassen Sie mehr Segel setzen, Val. Aber es bleibt dabei, wir sind eine Prise unter englischer Besatzung. «Keen wirkte bedrückt.»Wir haben keine andere Wahl, wir müssen den Windvorteil nutzen und den Überraschungseffekt.»

Zwei Breitseiten folgten jetzt kurz hintereinander. Der Feind suchte wohl Benbows Feuerkraft zu halbieren, sie zwischen sich zu nehmen, zu entern und zu erobern. Ohne Takelage konnte sie sich nicht mehr bewegen. Die Salven würden ihr ungeschütztes Heck zertrümmern und unter Deck ein Blutbad anrichten. Bolitho ballte die Fäuste, bis sie schmerzten. Herrick würde eher sterben als sich ergeben. Er hatte schon zuviel verloren.

Die Black Prince nahm langsam mehr Fahrt auf und ging auf Westkurs, wo hinter Kap Skagen immer noch Dunkelheit auf dem Wasser lag. Erst allmählich enthüllte das zunehmende Tageslicht die schrecklichen Spuren eines verlorenen Gefechts: Spieren, Lukendeckel, leer treibende Rettungsboote und weiter draußen den Kiel eines gekenterten Schiffes. Als es heller wurde, sahen sie noch andere Schiffe: Einigen fehlten die Masten, andere schienen unbeschädigt, aber alle führten die französische Flagge über der englischen.

Das zweite Geleitschiff, das Tyacke erwähnt hatte, war nirgends zu sehen. Unter Herricks Oberkommando war es bestimmt eher gesunken, als sich zu ergeben.

Taverner hatte sich wieder unter Kontrolle, als er rief:»An Deck! Sie haben das Feuer eingestellt, Sir!»

Keen hob sein Sprachrohr.»Hat Benbow die Flagge gestrichen?»

Taverner sah genauer hin. Nach all seinen Jahren auf See gab es immer noch etwas, das ihn überraschte.»Nein, Sir, hat sie nicht. Aber der große Franzose fällt ab und setzt mehr Segel!»

Bolitho ergriff Keens Arm.»Jetzt haben sie uns entdeckt, Val. Da kommen sie!»

Er sah seinen Neffen durch den Qualm entsetzt hinüberstarren, als ein langgezogenes tierisches Gebrüll hörbar wurde. Tojohns fragte durch die zusammengebissenen Zähne:»Was zum Teufel ist das?»

Keen antwortete sachlich:»Pferde. Kavalleriepferde. Sie verenden unter Deck auf den brennenden Schiffen.»

Bolitho strich sich über sein linkes Auge. Er hatte schon einmal Pferde in Todesnot so schreien gehört, bis die See sie endlich verschluckte.

Er sah seine Leute voll stummer Wut am Schanzkleid stehen. Sie hätten kühl einen Feind niedergestreckt und sich kaum umgeschaut, wenn neben ihnen ein Freund fiel — aber Pferde, hilflose Tiere, so leiden zu hören — das war zuviel für sie. Er straffte sich und sagte mit lauter, ruhiger Stimme, so daß ihn jeder verstand:»Das große Schiff dort läuft auf uns zu, Männer. Was ihr auch denkt oder fühlt — bleibt auf eurem Platz. Jede unserer Kanonen ist mit Doppelkugeln geladen und feuerbereit. Also haltet durch. Dies ist ein starkes neues Schiff, und unsere Freunde auf der Benbow warten auf uns. Aber wir wollen nicht Rache, sondern Gerechtigkeit!»

Er wußte, was Herrick drüben ausgehalten hatte. Vielleicht war er schon gefallen. Er sah Ozzard nach vorne rennen, ein großes Teleskop über der Schulter. Plötzlich schien das Schiff unter den Rufen der Besatzung zu erzittern.

«Auf, Männer! Ein Hurra für unsern Admiral! Ein Hurra für unsern Käptn und seine Braut in England!»

«Da haben Sie's«, sagte Keen bewegt.»Das sind Ihre Leute. Sie würden alles für Sie tun.»

Auf dem Vorschiff rannte Allday hinter Ozzard her und packte ihn, verzweifelt über die Männer, die Hurra schrien und nicht wußten, was auf sie zukam.»Was zum Teufel machst du da? Bist du verrückt geworden?»

Ozzard ließ das Fernglas sinken und sagte überraschend ruhig:»Du hast doch gehört, was Sir Richard gesagt hat. Nicht Rache, sondern Gerechtigkeit. «Er deutete auf den näherkommenden Franzosen.»Ich verstehe ja nicht viel von Schiffen, aber das erkenne ich wieder. Wie könnte ich es je vergessen?»

«Was meinst du?«fragte Allday, doch er wußte die Antwort schon.

Ozzard starrte immer noch hinüber.»Mir ist egal, wie sie jetzt heißt oder welche Flagge sie zeigt. Die da hat unsere Hyperion versenkt! Und Rache dafür ist nur gerecht. Also, John, was machen wir?«Doch er erhielt keine Antwort.

Midshipman Roger Segrave fühlte, wie ihm vor Angst fast die Luft wegblieb und seine Hände sich um die Reling krampften. Sein Blick suchte die Leute neben ihm: den Master und seine Gehilfen am Kompaß, vier Rudergänger am großen Rad und eine Handvoll Männer, die ihnen beispringen sollten, aber noch so taten, als seien sie unbeschäftigt. Segrave kam sich vor wie in einem verrückten Traum. Auf dem Seitendeck an Backbord, von wo sich der feindliche Dreidecker näherte, lungerten unbewaffnete Matrosen herum, die miteinander redeten und nur gelegentlich auf das Schiff deuteten, als seien sie Dänen. Sie taten so, als betreffe sie das alles nicht. Doch als Segrave genauer hinsah, entdeckte er unten die feuerbereiten Stückmannschaften an ihren Kanonen. Hier oben und in den beiden unteren Decks hockten sie mit Handspaken, Rammen und Wischern zwischen sich; selbst die Deckel von den Zündlöchern waren schon entfernt, damit ja keine Sekunde verlorenging, wenn die Täuschung aufflog.

Er sah Bolitho angelegentlich mit Keen sprechen und ab und zu nach drüben blicken, vor allem aber ihre eigenen Leute beobachten, ob sie nicht die Nerven verloren. Der große Midshipman Bosanquet unterhielt sich angeregt mit dem Flaggleutnant, nur die Seesoldaten hatten ihre Rolle nicht geändert. Ihre roten Uniformen waren auch oben im Großtopp zu erkennen, wo sie die Drehbassen nach unten richteten. Ein Zug stand mit aufgepflanzten Bajonetten auf dem Vorschiff, ein zweiter achtern in der Nähe der Poop.

Segrave hörte Bolitho sagen:»Mr. Julyan, Sie spielen heute den Kommandanten!»

Der große Master grinste breit.»Ich fühle mich schon förmlich wachsen, Sir Richard!»

Segrave wurde ruhiger, sah dem Kommenden gefaßter entgegen.

Scherzhaft meinte Bolitho:»Unsere dänischen Kameraden haben zwar weniger auffällige Uniformen als wir, aber ein Kommandant sollte trotzdem einen Hut tragen!»

Alle grinsten, als Julyan zuerst Keens und dann Bolithos Hut ausprobierte, der ihm perfekt paßte.

Noch einmal musterte Bolitho das Achterdeck und sah auch kurz Segrave an.»Das Warten hat gleich ein Ende. Achtung!»

Das zweite feindliche Schiff, ein Zweidecker, fiel jetzt ab und halste. Flaggen stiegen an seinen Signalleinen auf oder wurden niedergeholt, zur Bestätigung oder als Ausführungsbefehl. Der französische Zweidecker hatte es offenbar auf die Nicator abgesehen, die sich der Black Prince näherte, als wolle sie ihre Prise schützen.

Der Erste riß Segrave aus seinen Gedanken.»Ab in die untere Batterie, Mr. Segrave! Melden Sie sich dort beim Dritten Offizier!«Er sah sich um.»Wo ist der verdammte Vincent? Er hätte längst zurück sein müssen. Schicken Sie ihn sofort zu mir, wenn Sie ihn sehen. «Als er Segraves Spannung merkte, fügte er hinzu:»Immer mit der Ruhe, junger Mann. Heute werden Männer sterben, aber Sie sind noch nicht dran. «Segrave rannte zum Niedergang und dachte plötzlich an die rauhe Herzlichkeit auf der alten Miranda, die in die Luft geflogen war. Jetzt war er ein Jahr älter, aber ihm schien es wie ein Dutzend Jahre.

Noch einmal sah er sich um, ehe er hinabstieg. Dieses Bild würde er nie vergessen: Bolitho stand da, eine Hand auf dem Griff des alten Degens, und sein gefälteltes Hemd bauschte sich im Wind. Hinter ihm hielt sich der alte Bootsführer bereit. Keen, Jenour, Bosanquet, die Mastergehilfen, die Rudergänger, die Toppgasten — sie alle schienen ihm in diesem Augenblick um vieles lebendiger zu sein als damals die Menschen zu Hause.

Als er sich umdrehte, erschrak er. Jenseits der Backbord-gangway wehte eine Fahne, die er bisher nur in Büchern abgebildet gesehen hatte: die Trikolore. So nahe also war der Feind schon!

Eine Stimme rief:»Sie luvt an. Will wohl mit uns plaudern!«Doch provozierte das keine Antwort, keine spöttische Bemerkung wie sonst. Segrave schien es, als knurre jeder leise vor Wut. Er kletterte weiter abwärts, vorbei an Wachtposten an den Niedergängen, die verhindern sollten, daß Feiglinge nach unten flohen. Er wich den Pulveraffen aus, Jungen, die schon neue Ladungen zu den Kanonen brachten, obwohl die noch gar nicht gefeuert hatten. Unten in der Last des Zimmermanns hockte zwischen Bohlen und vorbereiteten Pfropfen ein Midshipman: Vincent.

«Mr. Cazalet braucht Sie dringend an Deck!»

Vincent schien sich zwischen die Hölzer verkriechen zu wollen.»Hau bloß ab! Fahr zur Hölle, Segrave. Ich hoffe, du krepierst heute!»

Segrave ging weiter, stumm vor Entsetzen. Dieser Midshipman war erledigt, noch ehe seine Karriere richtig begonnen hatte.

Das untere Batteriedeck lag in tiefer Dunkelheit, und doch spürte Segrave die Gegenwart der vielen Menschen, die sich hier um die Kanonen drängten. Manchmal fiel ein Lichtstrahl durch Ritzen in den Stückpforten und beleuchtete weit aufgerissene Augen und nackte, schwitzende Schultern.

Hier unten kommandierte der Dritte Offizier, Flemyng, die stärkste Waffe der Black Prince, die achtundzwanzig Zweiunddreißigpfünder. Hier lebten und exerzierten ihre Mannschaften nur für diesen Augenblick.

Flemyng, ein großer Mann, stand gebeugt bei der ersten Kanone. Als Segrave näherkam, sah er, daß er durch ein kleines Beobachtungsloch nach draußen spähte.

«Segrave, bleiben Sie bei mir!«Seine Stimme klang abgehackt und fremd. Segrave hatte ihn bisher als den leutseligsten unter den Offizieren kennengelernt.

Als Segraves Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er die nächste Kanone gut erkennen; ihre dunklen Verschlußstücke lagen auf der schwarz-roten Lafette. Männer hockten und knieten um sie herum, ihre Rücken glänzten wie Stahl. Der Gehilfe des Stückmeisters drückte Segrave zwei Pistolen in die Hand.»Beide sind geladen, Sir.»

Aber würde der Feind bis hierher kommen — so tief ins Schiff hinunter? Segrave zuckte zusammen, als jemand sein Bein berührte und leise fragte:»Wollten Sie mal sehen, wie wir hier unten leben?«Es war der Mann, den er vorm Auspeitschen bewahrt hatte, Jim Fittock. Eine Stimme bellte:»Ruhe im Batteriedeck!»

Segrave schob die Pistolen in seinen Gürtel.»Ich habe selbst lange genug im Zwischendeck gewohnt.»

Fittock nickte seinen Kameraden zu, was bedeutete, daß dieser Offizier in Ordnung war. Warum, das wollte niemand wissen.

«Ja, ja«, nickte Fittock,»wir werden ihnen heimzahlen, was sie mit dem Konvoi gemacht haben. «Ein Lichtstrahl fiel auf Segraves Pistolen, und er fragte sich, wie er einem so jungen Midshipman erklären sollte, daß er die Waffen benutzen mußte, falls ein Mann aus der Hölle hier unten fliehen wollte.

Eine Pfeife schrillte, und eine Stimme rief vom Niedergang:»Der Feind steht gleich querab, Sir!»

Handspaken kratzten übers Deck, als die Rohre höher gerichtet wurden. Leutnant Flemyng zog seinen Säbel.»Achtung, Männer! Die Franzosen haben uns aufgefordert, beizudrehen. Also seid ganz nett und freundlich. «Aber seine Stimme klang wild und aufgeregt. Als er sich umdrehte, um wieder durch sein Guckloch zu blicken, sah er nur die nahe Bordwand des Feindes.

Plötzlich hörte Segrave Pfeifen schrillen und Flemyngs gebrüllten Befehl:»Stückpforten auf! Ausrennen!»

Die Lafetten quietschten, als die Männer die Kanonen an den Zugseilen nach vorne rissen und die großen Mündungen sich ins Sonnenlicht schoben. Die Stückführer duckten sich und holten die Abzugsleinen steif. Jeder wartete jetzt auf den nächsten Befehl, und mancher murmelte noch ein leises Gebet.

Ungläubig erkannte Segrave vor der nächstgelegenen Stückpforte die feindliche Galion und das feine Schnitzwerk am Bug. Die hohe Bordwand trug Spuren von Einschüssen und Pulverqualm. Die Zeit schien stillzustehen, niemand sprach, niemand bewegte sich. Es schien, als sei das Schiff erstarrt.

Da sauste Flemyngs Säbel nach unten.»Feuer!»

Segrave würgte und bekam keine Luft mehr, als die Kanonen nach der ersten Breitseite in ihre Brocktaue zurückfuhren und um ihn herum Pulverrauch wirbelte. Die Rohre wurden ausgewischt und sofort neu geladen, wie es die Männer oft geübt hatten. Von drüben starrten ihn schwarze Kanonenmündungen an, hinter denen sich fremde Gesichter drängten. Er würde dieses Bild nie mehr vergessen: wie die eigene Breitseite drüben einschlug, keine vierzig Meter entfernt.

Das Schiff schwankte, als seine drei Batterien nacheinander über das rauchverhüllte Wasser feuerten. Die Männer schrien und fluchten, feuerten sich gegenseitig an, die Kanonen schneller zu laden und in dem wirbelnden Rauch als erste die Hände heben zu können.

«Ausrennen! Ziel auffassen! Feuer!»

Ein furchtbares Krachen donnerte gegen ihre Seite. Irgendwo achtern rollte eine Kanone zurück und sank seitlich um wie ein verwundetes Tier. Männer fielen schreiend in dem erstickenden Nebel. Segrave sah eine abgeschossene Hand wie einen vergessenen Handschuh neben der nächsten Kanone liegen. Nicht umsonst waren die Wände hier alle rot gestrichen; so fiel das Blut weniger auf.

«Feuer einstellen!»

Flemyng drehte sich weg, um nicht sehen zu müssen, wie ein verstümmelter Midshipman nach unten ins Orlopdeck gezerrt wurde. Ihm waren ein Arm und ein Bein abgeschossen worden. Auch Segrave blickte zur Seite. Der Verwundete war in seinem Alter und trug seine Uniform, aber er war kein Mensch mehr.

«Steuerbordpforten öffnen!»

Fittock riß Segrave am Arm.»Kommen Sie mit, Sir! Der Kommandant geht durch den Wind und beharkt ihn jetzt von der anderen Seite. Wir helfen den Kameraden gegenüber. «Sie krochen über umgefallenes Gerät, rutschten in einer Blutlache aus, sahen sich um. Durch die offenen Stückpforten war deutlich zu erkennen, daß die Segel des Feindes völlig durcheinander standen.

«Feuern in der Aufwärtsbewegung!«Flemyng trug keinen Hut mehr, und seine Stirn war blutbespritzt.

«Feuer!»

Gestalten schrien und umarmten sich.»Ihr Fockmast kommt runter!»

Neben einer Kanone hielt ein Matrose seinen Kameraden im Arm und wischte ihm immer wieder das Haar aus der Stirn, während er auf ihn einsprach:»Wir haben's gleich geschafft, Tim. Die Hunde sind schon entmastet!«Aber der Kamerad antwortete nicht mehr. Ein Gehilfe des Stückmeisters sagte roh:»Trag den Mann hoch und laß ihn über Bord gehen. Er ist tot!«Der Gehilfe war kein sonderlich grausamer Mann, aber mit dem Tod sollte man sich hier nicht länger als nötig aufhalten.

Der Seemann preßte den Toten enger an sich, dessen Kopf auf seine Schulter rollte.»Den schmeißt ihr nicht über Bord, ihr verdammten Hunde!«schrie er gellend.

Segrave fühlte sich von Fittocks harter Faust auf die Beine gestellt.»Laß die beiden in Ruhe«, befahl dieser dem Gehilfen.»Es gibt hier genug anderes zu tun. «Dann führte er Segrave beiseite, damit die anderen nicht über dessen Entsetzen spotten konnten.

Im ganzen Schiff standen oder hockten Gestalten, noch immer Tücher um die Ohren gewickelt zum Schutz vor dem Kanonendonner, räumten auf mit Händen, die vom Laden der Kanonen, vom Rammen, vom Ausrennen bluteten.

Es dauerte, bis das Trompetensignal der Seesoldaten in allen Decks gehört worden war. Dann erhob sich ein Hurrageschrei ins rauchdurchwehte Sonnenlicht. Bolitho stand achtern an der Reling und beobachtete das feindliche Schiff. Es trieb vor dem Wind und drehte ihnen das Heck zu, deutlich war darauf der Name San Mateo zu lesen. Er hatte geglaubt, das Gefecht würde nie enden, doch es hatte nur dreißig Minuten gedauert, von dem Augenblick an gerechnet, als die dänische Flagge niedergeholt und seine eigene gehißt worden war.

Er sagte:»Ich wußte, daß wir es schaffen!«, und spürte neben sich Alldays tröstliche Nähe. Aber es hatte viele Tote gegeben.

«Signal von Nicator, Sir!«meldete Jenour heiser.

Bolitho hob dankend die Hand. Zum Glück war auch Jenour unverwundet geblieben. Black Prince hatte drei Breitseiten abgefeuert, noch ehe der Feind schwach dagegenhielt. Und dann war es für ihn zu spät gewesen.

«Nicator soll zum Konvoi aufschließen«, befahl er.»Und sie soll den französischen Prisenbesatzungen eindeutig klarmachen: Falls sie die Schiffe versenken, dürfen sie selbst nach Hause schwimmen. «Er hörte die Männer zustimmend murmeln. Am liebsten hätten sie wohl jeden einzelnen französischen Gefangenen an der nächsten Rah aufgeknüpft, aus Wut über das Gemetzel im Konvoi. Das war der Irrsinn des Krieges: Der Sieger mußte die verletzen oder töten, die ihm zuvor Angst gemacht hatten.

Bolitho dachte an Ozzard. Der hatte die San Mateo erkannt, die die Hyperion so brutal zerstört hatte. Das Schiff war's doch wohl nicht gewesen, sondern die Besatzung — oder? Ihm wurde immer noch übel, wenn er daran dachte, wie die San Mateo ihre Breitseiten in die Hyperion gefeuert hatte, ohne Rücksicht auf ihre eigenen Gefährten, die sich nicht mehr bewegen konnten. Nein, Ozzard hatte recht: Es war doch das Schiff, nicht die Besatzung.

Keen trat zu ihm, und Bolitho riß sich zusammen.»Hat Benbow die Flagge gestrichen?»

«Nein. Ihr Ruder ist weggeschossen. Ihre Kanonen schweigen. Es hat drüben ein Blutbad gegeben.»

«Ein Fernglas!«Als Bolitho damit Herricks Flaggschiff absuchte, war er entsetzt. Ohne jede Bewegung lag es schwer im Wasser, Masten und Rigg hingen zu beiden Seiten über Bord. Dünne rote Fäden rannen aus den Speigatten über die zerschossene Bordwand auf ihr stilles Spiegelbild herab. Das sah aus, als verblute das Schiff. Bolithos Herz schlug heftiger, als er die zerschossene Flagge von der Poop hängen sah, wo sie irgendjemand festgenagelt haben mußte. Die Handelsschiffe des Konvois trieben hinter der Benbow. Zuschauer, Opfer, die hilflos auf das Ende warteten.

Scharf befahl Bolitho:»Machen Sie alle Kanonen feuerklar, Kapitän Keen!«Niemand antwortete ihm, weil jeder den Atem anhielt.»Wenn die Franzosen die Flagge nicht streichen, müssen sie sterben!«Er drehte sich um.»Ist das klar?»

«Die Larne nähert sich!«Noch einer, der nicht gefallen war: Bosanquet. Vielleicht verhinderte seine Meldung Schlimmeres.

Bolitho sagte:»Lassen Sie meine Barkasse zu Wasser und bitten Sie den Schiffsarzt zu mir. Die Benbow braucht Hilfe. Der Erste Offizier soll mich begleiten!«Kopfschüttelnd erinnerte er sich und ging auf Keen zu.»Tut mir leid, Val, ich habe nicht mehr daran gedacht.»

Cazalet war im ersten Schußwechsel gefallen. Eine Kugel hatte ihn fast zerteilt, als er Männer zu Reparaturen im Rigg nach oben schickte.

Wieder ertönten Hurrarufe und nahmen schier kein Ende. Wie große fallende Blätter sanken die Flaggen aus dem Rigg der San Mateo herab. Die Stückmannschaften traten von ihren Kanonen zurück.

«Sie hat die Flagge gestrichen«, sagte Keen erleichtert. Man merkte ihm an, daß er die Beschießung nicht gern fortgesetzt hätte.

Die Barkasse wurde übers Schanzkleid ausgeschwenkt und langsam zu Wasser gelassen.

«Wir sind soweit, Sir Richard. «Keen sah ihn forschend an.»Soll ich Ihren Mantel holen?»

Bolitho drehte sich um und kniff die Augen zusammen, als ihn ein Sonnenstrahl traf.»Ich brauche ihn nicht.»

Julyan, der Master, rief fragend:»Und Ihren Hut, Sir?«Man hörte ihm an, wie erleichtert er war. Viele waren gefallen, er nicht. Wieder einmal hatte er überlebt, und wieder war es ein Schritt nach oben.

Durch den Rauch sah Bolitho ihn forschend an.»Sie haben doch einen Sohn, nicht wahr? Schenken Sie ihm den Hut. «Schnell schritt er zur Pforte.»Laßt uns aufbrechen!»

Die Überfahrt zur Benbow verlief schweigend. Nur das Quietschen der Riemen in den Dollen und das Keuchen der Rudergasten waren zu hören. Als der große Schatten des zerschossenen Rumpfes über ihnen hing, fragte sich Bolitho, ob er noch die Kraft für die nächsten Minuten aufbringen würde. Hilfesuchend berührte er das Medaillon unter seinem Hemd.

Vor allen anderen kletterte er an Bord. Von der Gangway bis zur Wasserlinie war die Benbow mit Einschußlöchern übersät. Ihr Rigg trieb in der See. Tote hatten sich darin verfangen wie Tang. Aus einigen Stückpforten starrten hohläugige, bleiche Gesichter, aus anderen hingen Leichen.

Das Achterdeck wirkte ohne den Schutz von Kreuz- und Großmast nackt und leer. Bolitho hörte den Schiffsarzt der Black Prince Befehle geben, er war in einem zweiten Boot längsseits gekommen. Doch auf der Poop war Bolitho ganz allein.

Um das zerschossene Rad lagen die toten Rudergänger wie blutige Stoffbündel, ihre Gesichter drückten noch das Entsetzen und die Wut über ihren gewaltsamen Tod aus. Ein Bootsmannsgehilfe hatte offenbar gerade versucht, dem Flaggleutnant das verletzte Bein zu verbinden, als eine Kartätsche sie beide niedergemäht hatte. Ein Signalgast lag auf einer Flagge, die er hatte heißen wollen. Die Flaggleine war gerissen, als der Mast über Bord gestürzt war. Am Kompaßhäuschen lehnte mit angewinkeltem Bein Herrick und war kaum noch bei Bewußtsein.

Er wedelte mit einer Pistole und neigte lauschend den Kopf, als sei sein Trommelfell zerrissen.»Seesoldaten zu mir!«krächzte er.»Der Feind flieht. Zielt gut, Freunde!»

Allday flüsterte:»Guter Gott, seht euch das an!»

Herricks Seesoldaten bewegten sich nicht mehr. Sie lagen, vom Sergeanten bis zum Rekruten, wie umgefallene Spielzeugsoldaten da, ihre Bajonette auf einen unsichtbaren Feind gerichtet.

Bolitho stieg über einen ausgestreckten Arm in scharlachroter Uniform, nahm Herrick die Pistole sanft aus der Hand und gab sie Allday; dieser merkte erschreckt, daß sie geladen und gespannt war.

«Wir sind da, Thomas, und helfen euch. «Bolitho hob Herricks Arm und wartete, bis seine Augen ihn erkannten.»Hörst du die Hurrarufe? Das Gefecht ist vorbei — der Sieg ist unser.»

Herrick ließ sich aufhelfen. Er starrte das zersplitterte Deck an, die verlassenen Kanonen und die Toten. Wie von weit weg sagte er:»Also bist du doch noch gekommen, Richard. «Der Schock des Gefechts und die Erschöpfung hatten bewirkt, daß er kaum noch wußte, was er sagte.»Wieder ein Sieg für dich!»

Bolitho erhob sich und bat den Schiffsarzt:»Bitte kümmern Sie sich um den Konteradmiral. «Der Wind wühlte im Haar des toten Sergeanten, seine Augen blickten so starr, als höre er aufmerksam zu. Bolithos Blicke glitten über die lange Reihe wartender Schiffe.

«Das stimmt nicht ganz, Thomas. Gesiegt hat hier allein der Tod.»

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