II Erinnerung an Nelson

«Bitte, glauben Sie mir, Sir Richard, eine Respektlosigkeit war nicht beabsichtigt.»

Bolitho stand am großen Kajütfenster und hörte das Schlagen der Blöcke und das Plätschern der Wellen. Die Truculent lag beigedreht. Ihre Unterredung mußte kurz sein, denn der Wind würde bald wieder auffrischen, wie der Master vorhergesagt hatte. Die andere Fregatte sah er nicht, sie lag wohl in Lee.

Er setzte sich auf die Bank unter dem Fenster und deutete auf einen Stuhl.»Eine Tasse Kaffee, Kapitän Varian?«Er hörte Ozzards leise Schritte, der mit der Kanne herbeikam. So hatte Bolitho Zeit, seinen Gast genauer zu betrachten.

Kapitän Varian war das genaue Gegenteil von Poland: sehr groß, breitschultrig und selbstsicher. Wie sich Landratten wahrscheinlich Fregattenkapitäne vorstellten.

«Ich brannte eben auf Neuigkeiten, Sir Richard«, fuhr Varian fort.»Da sah ich dieses Schiff und. «Er hob seine großen Hände und versuchte, entwaffnend zu lächeln.

Bolitho musterte ihn unbewegt.»Daß ein Kommandant der Kanalflotte kaum Zeit zum Übersetzen haben dürfte, ist Ihnen nicht eingefallen? Sie hätten doch leicht auf Rufweite herankommen können.»

Ozzard goß Kaffee ein und starrte an dem Besucher vorbei.

«Ich hab' eben nicht nachgedacht«, nickte Varian.»Aber daß gerade Sie hier sind, Sir Richard, der doch sicher woanders dringend gebraucht wird…«Das Lächeln blieb, der Blick wurde hart.

Das ist kein Mann, mit dem man sich streitet, jedenfalls nicht als Untergebener, dachte Bolitho.»Sie werden sofort auf Ihr Schiff zurückkehren, Kapitän«, sagte er.»Aber vorher bitte ich um Ihre Beurteilung der Lage. «Er trank einen Schluck heißen Kaffee. Was ist bloß los mit mir? dachte er. Warum bin ich so kurz angebunden? Als junger Kommandant hätte er doch genauso gehandelt. Tausend Meilen von zu Hause monatelang warten und dann ein befreundetes Schiff treffen.»Ich habe neue Befehle auch für Sie«, schloß er.

Varian sah ihn aufmerksam an.»Sie wissen, Sir Richard, der größte Teil von Heer und Marine für die Rückeroberung von Kapstadt ist bereits hier. Das Geschwader ankert nordwestlich von hier vor der Saldanhabucht. Sir David Baird befehligt die Truppen, Commodore Popham die Transporter und Begleitschiffe. Wie ich hörte, soll die Landung bald beginnen. «Er verstummte unter Bolithos festem Blick.

«Sie gehören zur Einsatzreserve. «Bei dieser Feststellung zuckte Varian mit den Schultern und schob seine Tasse auf dem Tisch hin und her.

«Jawohl, Sir Richard. Ich erwarte aber noch einige Schiffe. «Als Bolitho schwieg, fuhr er fort:»Wir beobachteten das Kap und sahen Ihre Segel. Da nahm ich an, Sie seien vom Kurs abgekommen.»

«Warum hat Ihr Vorgesetzter, Commodore Warren, Sie dazu abgestellt? Zest ist doch seine wichtigste Fregatte, deren Hilfe er jederzeit brauchen kann. «Bolitho erinnerte sich an Commodore Warren wie an ein verblaßtes Bild. Er hatte mit ihm vor Toulon zu tun gehabt. Damals wollten französische Königstreue den Hafen der Revolutionsarmee wieder abnehmen, und Bolitho war zum ersten Mal Kommandant der Hyperion gewesen. Seither hatte er Warren nicht mehr getroffen, hatte nur gehört, daß er in der Karibik Dienst tat.

«Dem Commodore geht es nicht gut, Sir Richard«, antwortete Varian.»Er hätte meines Erachtens kein Kommando mehr, wenn.»

«Sie haben also als dienstältester Kapitän die gesamte Verantwortung für die Begleitschiffe übernommen?»

«Ich habe einen ausführlichen Bericht darüber geschrieben, Sir Richard.»

«Den werde ich lesen, sobald ich Zeit dazu habe. «Bolitho hob die Hand.»Ich will, daß wir Kapstadt früher angreifen. Die Zeit ist entscheidend. Darum sind wir so schnell gesegelt. «Das traf Varian.»Also werden unsere beiden Schiffe sofort zum Geschwader stoßen. Ich möchte Commodore Warren unverzüglich sprechen.»

Er stand auf und sah aus dem Heckfenster. Die Wellenkämme kräuselten sich im Wind wie weiße Spitzen. Das Schiff hob sich ungeduldig.

Varian versuchte Haltung zu bewahren.»Und wo bleiben die anderen uns versprochenen Schiffe, Sir Richard?»

«Es gibt keine anderen Schiffe und wird auch keine geben. Ich muß sogar einige der hiesigen Einheiten sofort nach England in Marsch setzen.»

«Ist etwas Schlimmes passiert, Sir Richard?»

«Im Oktober hat unsere Flotte unter Lord Nelson den Feind bei Trafalgar besiegt«, sagte Bolitho leise.

Varian schluckte trocken.»Das wußten wir nicht, Sir Richard. «Für einen Moment verlor er die Kontrolle.»Ein Sieg! Mein Gott, was für eine wunderbare Nachricht!»

Bolitho zuckte mit den Schultern.»Aber der tapfere Lord Nelson ist dabei gefallen. Der Sieg war also zu teuer erkauft.»

Es klopfte, Poland trat ein. Die Kapitäne musterten einander, nickten sich zu wie alte Freunde. Doch Bolitho spürte, daß sie Welten trennten.

«Der Wind frischt auf aus Nordwest, Sir Richard. «Poland sah Varian nicht wieder an.»Und Zests Beiboot hängt immer noch an den Großrüsten in Luv.»

«Bis demnächst, Kapitän Varian. «Bolitho streckte die Hand aus und ergänzte etwas freundlicher:»Wir blockieren noch immer alle feindlichen Häfen, Sir. Das ist lebenswichtig für unser Land und muß auch so bleiben. Aber trotz des ermutigenden Siegs von Trafalgar ist unsere Flotte geschwächt.»

Die Tür fiel hinter den beiden Kapitänen zu, und Bolitho hörte das Schrillen der Pfeifen, als Varian von Bord ging.

Unruhig lief Bolitho in seiner Kajüte auf und ab und erinnerte sich an seine letzte Besprechung in der Admiralität in London.

Admiral Sir Owen Godschale hatte ihm erläutert, warum Eile geboten war. Zwar war die vereinigte französischspanische Flotte geschlagen, aber der Krieg noch lange nicht gewonnen. Es gab Berichte, wonach mindestens drei kleine französische Geschwader die Blockade durchbrochen hatten und in den Weiten des Atlantiks verschwunden waren. War es Napoleons neue Strategie, abgelegene Häfen und einsame Inseln zu überfallen, Versorgungsschiffe aufzubringen und Handelswege zu bedrohen? Gab es keine Ruhe für die Engländer, während die Franzosen ihre neue Flotte aufbauten?

Godschales verächtliche Einschätzung der französischen Kriegsmarine ärgerte Bolitho. Ein Geschwader, das aus Brest ausgebrochen war, hatte der erfahrene alte Vizeadmiral Leissegues geführt, und sein Flaggschiff, die Imperial, hatte 120 Kanonen. Das war also gewiß keine Lappalie, wie Sir Owen meinte.

Die Franzosen hatten sicher Kapstadt im Auge, und was sie mit einer Eroberung der Stadt erreichen würden, konnte man sich leicht vorstellen. Dann konnten sie wie mit einer Axt Englands Handelswege nach Indien und Ostasien kappen.

Bolitho erinnerte sich, wie kühl Godschale zu ihm gewesen war. Der Admiral war zur selben Zeit wie er in die Marine eingetreten, sie waren also dem Dienstalter nach gleich. Aber vielleicht wollte Godschale wie so viele andere, möglicherweise sogar auf Betreiben Belindas, Catherine und ihn trennen. Oder liebte der Admiral seine neue Macht so sehr, wie er Skandale haßte? Es hieß, Godschale strebe einen Sitz im Oberhaus an.

Catherines Worte klangen ihm wieder im Ohr:»Begreifst du nicht, was sie uns antun?»

Vielleicht war dieser Auftrag nur ein Anfang. Jeder in London wußte, wie Bolitho eine Aufgabe anging: furchtlos, ohne Zögern und ohne Rücksicht auf das, was zu Hause geschah. Wollte man ihm eine Falle stellen?

Er trat vor den alten Familiendegen an der Wand. Er sah schäbig aus, verglichen mit der prunkvollen Präsentierwaffe darunter. Aber so viele Bolithos vor ihm hatten die alte Waffe geführt und waren manchmal sogar mit ihr gefallen. Keiner seiner Vorfahren hatte sie kampflos gestreckt. Das machte Bolitho zuversichtlich, und er lächelte grimmig, als Allday eintrat.

«Jetzt ist die Nachricht über Lord Nelsons Tod im Geschwader rum, Sir. Das wird manchem den Mut nehmen. «Er deutete auf das afrikanische Festland.»Dafür zu kämpfen lohnt sich nicht, werden sie sagen. Ja, wenn man zwischen den Franzosen und England stünde.«»Mit solch knorrigen alten Eichen wie dir werden sie schon wieder Mut fassen«, antwortete Bolitho.

«Außerdem wette ich, daß sich zwei gewisse Kapitäne bald in den Haaren liegen«, grinste Allday.

Bolitho musterte ihn forschend.»Verdammt noch mal, was weißt du noch, du alter Fuchs?»

«Nicht viel im Augenblick, Sir Richard. Nur daß unser Kapitän Poland früher mal Erster Offizier bei diesem anderen Kapitän war.»

Bolitho schüttelte den Kopf. Nur mit Allday konnte er freimütig über alles reden. Die anderen erwarteten von ihm nur Führung und sonst nichts.

Allday nahm den Degen von der Wand und wickelte ihn in ein Tuch.»Ich sag' ja immer, Sir Richard, achtern finden Sie zwar die meiste Ehre, aber vorn die besseren Männer. Und dabei bleibt's.»

Als Allday gegangen war, setzte sich Bolitho und öffnete sein Tagebuch. Darin lag der Brief an Catherine, den er begonnen hatte, als England in Dunst und Regen achteraus verschwunden war — zu Beginn der langen Reise. Ob sie diesen Brief je lesen würde, konnte er erst wissen, wenn sie wieder in seinen Armen lag. Er beugte sich vor und berührte das Medaillon unter seinem frischen Hemd.

Wieder ein Morgen, liebste Kate, und ich sehne mich so nach dir … Er schrieb noch immer, als das Schiff über Stag ging und der Ausguck im Masttopp das versammelte Geschwader meldete.

Mittags ging er an Deck und spürte die Sonne wie Feuer im Gesicht. Seine Schuhe blieben am aufgeweichten Teer kleben, der aus den Ritzen der Planken quoll. In seinem Teleskop sah er braunrote und rosa Berge unter dem harten, glitzernden Licht liegen. Die Sonne gleißte wie poliertes Silber und sog alle Farbe aus dem Himmel. Er bewegte das Glas, fing den Schwell darin ein, der das Schiff anhob und an beiden Seiten vorbeirauschte. Das also war der Tafelberg: ein dunkler Klotz in geheimnisvollem Dunst, dräuend wie ein riesiger Altarstein.

Zu seinen Füßen ankerten die Schiffe. Er musterte eins nach dem anderen. Der ältere Vierundsechziger Themis war Commodore Warrens Flaggschiff. Warren war krank. Aber wie schwer? Er hatte Varian nicht weiter ausgefragt, wollte nicht Untergebenen gegenüber unsicher erscheinen, die ihm bald rückhaltlos vertrauen mußten.

Eine zweite Fregatte, einige Schoner und zwei Versorger bildeten den Rest, der Kern der Flotte lag weiter im Nordwesten sicher vor Anker, weit genug von Land entfernt. Hier gab es nur eine kleine flache Bank, auf der man ankern konnte. Hinter der Hundert-FadenLinie fiel der Grund steil ab in schwarze Tiefen.

Licht spiegelte sich drüben in Teleskoplinsen, und Bolitho wußte, daß man die Truculent überrascht beobachtete, ihr langsames Näherkommen unter der Admiralsflagge im Vortopp. Kapitän Poland trat neben ihn.

«Rechnen Sie mit einem langen Feldzug, Sir Richard?«fragte er. Sein Ton war überaus höflich. Sicher wollte er gern wissen, was Bolitho und Varian in der Kajüte besprochen hatten.

Bolitho ließ das Teleskop sinken und sah Poland an.»Ich hatte gelegentlich mit dem Heer zu tun, Kapitän. Die mögen Feldzüge, ich nicht. Eine Seeschlacht ist schnell vorbei, man siegt oder streicht die Flagge. Langwierige Nachschubprobleme und endlose Märsche sind nichts für mich.»

Poland gestattete sich ein seltenes Lächeln.»Für mich auch nicht, Sir Richard.»

Bolitho sah sich nach Jenour um.»Lassen Sie Wasserleichter längsseits kommen, sobald wir ankern, Kapitän. Und loben Sie Ihre Mannschaft mal, das wird allen gut tun. Es war eine sehr schnelle Reise.»

Als die Achterdeckswache den großen Besanbaum schiftete, stach das Sonnenlicht wie mit blitzenden Lanzen nach ihnen. Bolitho biß die Zähne zusammen. Aber sie hatten sich alle geirrt, sein Auge war in Ordnung. Er konnte die anderen Schiffe trotz des Hitzeflimmerns klar und deutlich erkennen.

Jenour beobachtete ihn und nickte Allday zu, der mit dem polierten Degen nach achtern kam. Es gab also doch noch Hoffnung.

Die beiden Fregatten drehten in den Wind und ankerten erheblich früher als selbst der grimmige Mr. Hull vorhergesagt hatte. Signale wurden ausgetauscht, Boote zu Wasser gelassen, Sonnensegel aufgeriggt. Bolitho beobachtete das alles vom Achterdeck aus, während er noch einmal über seinen Auftrag nachdachte.

Der Landeplatz im Nordwesten war für den ersten Angriff gut gewählt, es gab keinen besseren. Bolitho studierte die Karte mit größter Sorgfalt. Die Saldanhabucht war flach und geschützt genug, um dort Truppen und Marineinfanterie anlanden zu können. Die Schiffe würden ihnen zunächst Feuerschutz geben. Doch im Binnenland begannen dann die wirklichen Probleme, denn die Bucht lag einhundert Meilen von Kapstadt entfernt. Die englische Infanterie, wochenlang auf engstem Raum an Bord zusammengepfercht, war noch nicht fit für lange Fußmärsche und ständige Scharmützel. Die Holländer, diese hervorragenden Soldaten, würden sich nicht alle paar Meilen mit ihnen schlagen, sondern Vorräte und Wasserstellen unbrauchbar machen und den erschöpften Truppen erst vor Kapstadt entschlossen entgegentreten. Widerstand bei der bevorstehenden Landung schien also wenig wahrscheinlich.

Bolitho verspürte seine alte Ungeduld. Es würde einen langen und teueren Feldzug geben, der um die Nachschublinien geführt wurde von Truppen, die bisher nur den Garnisonsdienst in Westindien kennengelernt hatten — auf den Inseln des Todes, wie die Infanterie sie nannte. Dort starben mehr Männer an Fieber als im Feuer des Feindes.

Jenour näherte sich grüßend.»Ihre Depesche an den General ist unterwegs, Sir Richard. Mit dem Schoner Miranda.»

Bolitho beschattete die Augen und sah den kleinen, grazilen Schoner sich von den anderen Schiffen freikreuzen. Sein Kommandant war sicher froh, für ein paar Tage fremder Befehlsgewalt zu entkommen.

Abendröte breitete sich über den glitzernden Horizont und tauchte Masten und Spieren in Bronze. An Land hatte man die Ankunft der Truculent bestimmt genauso aufmerksam registriert wie auf den anderen Schiffen.

«Was bedrückt Sie, Stephen? Raus damit.»

Jenour hatte sich gut unter Kontrolle, aber Bolitho konnte man nichts vormachen.»Ich denke«, er befeuchtete sich die trockenen Lippen,»der Commodore hätte längst um Erlaubnis bitten müssen, an Bord zu kommen. «Er schwieg unter Bolithos forschendem

Blick.

«Das hätte ich an seiner Stelle getan. «Bolitho erinnerte sich an Kapitän Varians respektlose Bemerkung.»Bitten Sie Kapitän Poland um seine Gig und sagen Sie ihm, daß ich zur Themis übersetzen will.»

Fünfzehn Minuten später saß Bolitho in Ausgehuniform und Hut schwitzend im Heck der Gig, Jenour neben sich und einen kritischen Allday neben Polands Bootsführer. Auf den Schiffen, an denen sie vorbeipullten, hoben Wachoffiziere grüßend die Hüte, bewegungslos und stumm sahen Matrosen von Rahen und Webleinen zu ihnen herunter. Ihre nackten Arme glänzten wie Bronze.

Allday beugte sich vor und sagte leise:»Sehen Sie, Sir, man weiß Bescheid. Eine Stunde nach unserer Ankunft weiß man auf allen Schiffen: Nelson ist gefallen, aber wir haben gesiegt!»

Einer der Bootsgasten starrte Allday verblüfft an, und dieser runzelte die Stirn. Der Bootsgast blickte schnell weg und kam fast aus dem Rudertakt. Das konnte er nicht fassen: Ein Seemann, auch wenn er Bootsführer war, sprach den Admiral an, und der neigte sich sogar vor, um ihm zuzuhören?

Bolitho nickte.»Nelson wird uns allen sehr fehlen. England wird nie wieder einen wie ihn bekommen.»

Allday lehnte sich zurück. Da bin ich nicht so sicher, dachte er und sah Bolitho an.

Der steile Bugsprit der Themis schien bei ihrem Näherkommen vor ihnen zu salutieren. Die Themis war ein altes Schiff und hatte alles mögliche geleistet, nur nie gekämpft. Ursprünglich hatte sie vierundsechzig Kanonen getragen, dann hatte man einige davon ausgebaut, weil sie Truppen von einem Unruheherd zum nächsten transportieren mußte. Sie hatte sogar die Sträflingskolonie in NeuSüdwales angelaufen. Jetzt gehörte sie zur Invasionsflotte in einem Krieg, in dem alles, was sich über Wasser halten konnte, gebraucht wurde.

Jenour versuchte sich zu entspannen. Er hatte die Wache an der Seitenpforte aufziehen sehen, rötliches Sonnenlicht reflektierte von ihren gezogenen Säbeln. Als der Buggast die Gig festgemacht hatte, stieg Bolitho nach oben. Die gebrüllten Kommandos und das Schrillen der Pfeifen betäubten ihn fast. Allday war dicht hinter ihm und würde ihn stützen, falls sein Fuß abglitt oder sein Auge versagte. Bloß das nicht.

Er fing sich und grüßte zum Achterdeck hin, über dem die Kriegsflagge vor dem Abendhimmel tanzte.

Der Offizier, der ihn empfing, trug nur ein einzelnes Schulterstück. Aber für einen Commander war er zu alt, also bei

Beförderungen offensichtlich übergangen worden.»Willkommen an Bord, Sir Richard.»

Bolitho lächelte kurz. Allday hatte recht, auf Schiffen gab es keine Geheimnisse.»Wo steckt der Commodore?«Bolitho sah zu Warrens Flagge auf.»Ist er krank?»

Commander Maguire sah unglücklich drein.»Er bittet um Entschuldigung, Sir Richard. Er erwartet Sie in seiner Kajüte.»

Bolitho nickte den anderen Offizieren zu und wandte sich an Jenour.»Bleiben Sie mit Allday hier und schauen Sie sich um.»

Maguire führte ihn zum Niedergang und verbeugte sich, als Bolitho zur Achterkajüte schritt, vor der ein Seesoldat knallend die Hacken zusammenschlug. Das Schiff strahlte etwas Unwirkliches aus. Vielleicht war es auf zu vielen Stationen und zu lange fern von England eingesetzt worden. Fünfzehn Jahre, hatte Bolitho gehört, war die Themis nicht mehr in England gewesen. Was konnte da ihr Rumpf noch an Belastungen aushalten?

Ein schwarzer Diener in Leinenhose und roter Weste öffnete die Lamellentür. Wieder einmal war Bolitho überrascht.

Man hatte aus der Achterkajüte die Kanonen entfernt, um Quartier für die vielen Offiziere zu schaffen, die bei den langen Truppentransporten untergebracht werden mußten. Um auf die Entfernung den Feind trotzdem zu täuschen, hatte man im Heck Kanonenattrappen eingebaut. Darum also wirkte die Kajüte jetzt so geräumig. Nur ein Gestell mit Musketen erinnerte an den Krieg.

Commodore Arthur Warren kam hinter einer zweiten Lamellentür hervor.»Sir Richard! Was müssen Sie von mir denken?»

Bolitho war entsetzt. Er hatte den gleichaltrigen Warren nie näher gekannt, doch dieser Offizier in der zu großen Uniformjacke wirkte mit seinem faltigen Gesicht wie ein sehr alter Mann.

Die Tür fiel zu. Commander Maguire hatte sich ohne Erlaubnis entfernt. Kein Wunder, daß der selbstbewußte Kapitän Varian hier für seine Zukunft eine Chance sah, dachte Bolitho.

Sie waren allein mit dem Diener.

«Setzen Sie sich doch bitte. «Bolitho wartete, bis der Diener roten Wein in kostbare spanische Gläser gefüllt und sie ihnen gereicht hatte. Warren setzte sich mit schmerzverzogenem Gesicht, ein Bein steif vor sich ausgestreckt, die linke Hand im Jackett verborgen. Das war kein kranker, sondern ein sterbender Mann.

Bolitho hob sein Glas.»Auf gute Besserung. Die Neuigkeiten von Trafalgar haben Sie gewiß schon erfahren.»

Der Wein war schal und flach, aber Bolitho achtete nicht darauf. Er dachte an seine Zeit als Flaggleutnant von Konteradmiral Sir Charles Thelwall auf dem Dreidecker Euryalus. Die Gesundheit seines Vorgesetzten hatte sich damals auf See rapide verschlechtert. Er schätzte Thelwall sehr, und es schmerzte ihn, als er sich an Land zur Ruhe setzte und bald darauf starb. So hatte Thelwall dann auch die Meuterei in der Nore, in Spithead, in Plymouth und Schottland nicht mehr erlebt, die kein Kapitän vergessen durfte, wenn er nicht mit seinem Leben spielen wollte. Der Admiral hatte damals so ausgesehen wie Warren jetzt.

Der Commodore unterdrückte einen tiefen, gurgelnden Husten. Die roten Flecken danach auf seinem Taschentuch stammten nicht vom Wein. Vorsichtig sagte Bolitho:»Ich möchte Sie nicht behelligen, Commodore, aber ich könnte den Arzt der Truculent kommen lassen. Er ist ein guter Mann, den ich schätze.»

Warren richtete sich auf.»Es geht schon, Sir Richard. Ich kenne meine Pflichten.»

Bolitho sah sich um. Das Kommando über dieses alte Schiff und der Dienstrang eines Commodore war alles, was der Mann in seinem ganzen Leben erreicht hatte. Bolitho versuchte, sein Mitleid zu verbergen, und fuhr fort:»Ich habe neue Befehle an das Geschwader geschickt. Einige Schiffe muß ich abziehen und nach England in Marsch setzen. «Schimmerte da Hoffnung in Warrens Augen auf? Er mußte ihn enttäuschen.»Leider nur Fregatten, nicht dieses Schiff, Sir. Wir brauchen eine neue Strategie, um Kapstadt zu erobern und danach auch zu halten, ohne daß wir uns auf eine lange Belagerung einlassen, die nur die Holländer gewinnen würden.»

Warren antwortete heiser:»Die Armee wird das nicht mögen, Sir Richard. Sir David Baird ist ein Eisenfresser.»

Bolitho dachte an den Brief, der in seinem Safe auf der Truculent eingeschlossen lag. Dieser Brief war nicht wie andere von einem Sekretär oder einem Lord der Admiralität unterzeichnet, sondern trug Unterschrift und Siegel des Königs. Obwohl es hieß, daß

Warren unterdrückte wieder einen Hustenanfall.»Was habe ich zu tun? Ich bin Ihr ergebener Diener, Sir Richard. Wenn Kapitän Varian Ihnen gemeldet haben sollte…»

Bolitho unterbrach ihn.»Ich gehöre seit meinem zwölften Lebensjahr der Marine an und habe seither gelernt, mir eine eigene Meinung zu bilden. «Er stand auf, trat ans Fenster und blickte über die Kanonenattrappe hinweg zum nächsten Schiff, einer Fregatte.»Ich werde nicht ein einziges Leben mehr aufs Spiel setzen, Commodore Warren, als nötig ist, damit wir beide hier unser Bestes geben können. Überall in der Marine sind loyale Männer und Offiziere enttäuscht, daß der Sieg von Trafalger nicht vollständig war. Aber es wird noch Jahre dauern, bis der Tyrann Napoleon besiegt ist.»

Warren und der Diener starrten ihn an, denn er hatte sehr laut gesprochen. Nun lächelte er.»Vergeben Sie mir meinen Übereifer. Aber ich habe zu viele gute Schiffe untergehen, zu viele tapfere Männer fallen gesehen, weil ihre Vorgesetzten Fehler begingen. Wer die harten Gesetze des Krieges lieber vergessen möchte, wird es unter meinem Kommando schwer haben. «Er nahm seinen Hut.

«Augenblick noch, Sir Richard. «Warren nahm seinen eigenen Hut aus der Hand des Dieners und folgte ihm an Deck bis zur Seitenpforte. Seine Stimme klang viel fester.»Den Krieg kennen meine Männer und ich bisher nicht. Aber ich werde mein Bestes tun, genau wie meine Leute.»

Jenour sah Bolithos ernstes Lächeln und wußte, daß Wichtiges vor ihnen lag.

Commodore Warren blickte sich suchend nach Maguire um. Für die alte Themis war offensichtlich kein Flaggoffizier eingeplant worden.

Bolitho nahm Jenour beiseite.»Wir werden später hierher umziehen, Stephen, wenigstens für die nächste Zeit. Bereiten Sie die anderen auf der Truculent darauf vor. Mr. Yovell allerdings wird die ganze Nacht für mich zu schreiben haben. Und dann finden Sie mir hier an Bord einen guten Signalmeister, es tut nie gut, dafür einen Fremden mitzubringen. Ferner möchte ich um acht Glasen morgen alle Kommandanten hier an Bord sehen, also warnen Sie sie vor.

Schicken Sie dazu das Wachboot rum, wenn Sie wollen.»

Jenour verschlug dieses Tempo den Atem. Ihm war, als habe sich Bolitho aus einem Gefängnis befreit.

«Der Feind weiß, daß wir hier sind«, fuhr Bolitho fort.»Er kann uns beobachten. Ich möchte mir jenseits des Kaps den zweiten Ankergrund ansehen, vielleicht erspart uns das einen Hundert-Meilen-Marsch. Mein Befehl an den General lautete deshalb, den Angriff zu verschieben.»

Jenour sah Bolithos Augen, sie waren grau wie der Ozean, über den er blickte.»Aber Sie rechnen mit dem Widerstand des Generals, nicht wahr?»

Bolitho klopfte Jenour auf den Arm.»Wir handeln unabhängig voneinander. Da wir heute schon öfter an Nelson gedacht haben, sollten wir uns auch an seine Worte erinnern: Die kühnsten Maßnahmen sind fast immer die sichersten.»

In dieser Nacht saß Bolitho am Heckfenster seiner Kajüte auf der Themis und beobachtete die Schiffe, ohne Schlaf zu finden.

In diese Kajüte hatte sich einst ein Gouverneur geflüchtet — vor der Pest, die in seiner Kolonie ausgebrochen war.

Die Luft hing schwer und feucht im Raum. Draußen patrouillierte das Wachboot langsam zwischen den ankernden Schiffen. Bolitho dachte an Cornwall und an den scharfen Wind seiner Heimat. Jetzt lag er im Schatten Afrikas, weil andere es so gewollt hatten. Brauchte man sein Können hier so dringend? Oder war ihnen ein toter Held wie Nelson lieber als ein lebender, dessen Anwesenheit sie ständig an ihre Fehler erinnerte?

Das Deck zitterte, als eine Strömung das Schiff an der Ankerkette bewegte. Vom Wechsel auf die Themis hatte Allday nicht viel gehalten. Die Mannschaft war zu lange an Bord, viele waren von Handelsschiffen in der Karibik gepreßt worden, manche hatten Schiffsuntergänge überlebt, und viele waren aus den Gefängnissen Jamaikas geholt worden. Wie Warren war auch dieses Schiff ausgelaugt, erledigt. Bolitho hatte am Seitendeck die Halterungen für die Drehbassen gesehen. Die zeigten nicht auf den Feind, sondern binnenbords auf die eigenen Leute, noch aus der Zeit, als das Schiff Sträflinge und Kriegsgefangene transportiert hatte.

Auch Ozzard schlief nicht, Bolitho hörte ihn in der neuen Speisekammer rumoren. Ozzard, der ein Geheimnis mit sich herumtrug, wie Bolitho aufgefallen war. Er gähnte und rieb sich das verletzte Auge. Warum war Ozzard damals nicht an Deck gewesen, als Überlebende und Verwundete die sinkende Hyperion verließen? Darüber fiel ihm sein Flaggkapitän und Freund Valentine Keen ein, den der Verlust des alten Schiffes genauso geschmerzt hatte. Und dann schlief Bolitho doch ein.

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