Kapitel 10

Am Dienstag vormittag lieh mir Dolly resigniert ihr Telefon, und ich ließ mich mit der Vermißtenabteilung verbinden.

«Sammy?«sagte ich.»Sid Halley, Rennsport. Haben Sie zu tun?«

«Wir haben gerade den letzten Teenager aus Gretna Green geholt. Nur zu! Wer ist verschwunden?«

«Ein Mann namens Smith!«

Ein paar Flüche drangen aus der Muschel. Ich lachte.

«Ich glaube, er heißt wirklich Smith. Er ist von Beruf Kraftfahrer und hat im vergangenen Jahr einen Tanklaster für die Firma Intersouth gesteuert. Er verließ letzten Mittwoch seinen Arbeitsplatz und seine Wohnung, neue Anschrift unbekannt.«

Ich erzählte ihm von dem Unfall, der angeblichen Gehirnerschütterung und der nächtlichen Feier.

«Sie glauben, daß er vor einem Jahr absichtlich auf diese Stelle geschleust worden ist? Dann heißt er bestimmt nicht Smith, und es wäre schwieriger.«

«Ich weiß nicht. Aber ich halte es für wahrscheinlicher, daß er ein ganz normaler Kraftfahrer war, dem man für besondere Dienste eine Barprämie anbot.«

«Okay, ich versuche es zuerst damit. Vielleicht gibt er die Intersouth irgendwo als Referenz an, und ich kann ihn durch die Gewerkschaft aufspüren. Vielleicht war auch die Frau in Arbeit. Ich sage Ihnen Bescheid.«

«Danke.«

«Vergessen Sie nicht, wenn der Alte einen Direktorentisch mit Goldplatte für Sie kauft, möchte ich meinen zurückhaben.«

«Da warten Sie ewig«, meinte ich lächelnd.

Auf dem fraglichen Tisch lag die dünne Akte über den Fall Andrews, die Jones aus dem Keller geholt hatte. Ich sah mich im Zimmer um.

«Wo ist Chico?«fragte ich.

Dolly hob den Kopf.

«Er hilft einem Buchmacher beim Umziehen.«

«Was tut er?«

«Der Buchmacher nimmt seinen Tresor mit und wollte, daß Chico im Möbelwagen mitfährt. Es müßte unbedingt Chico sein, sagte er. Der Kunde hat immer recht, also ist Chico losgezockelt.«

«Verdammt.«

Sie griff in eine Schublade.

«Er hat Ihnen ein Band dagelassen«, sagte sie.

«Dann nehme ich alles zurück.«

Sie lächelte und gab mir das Tonband. Ich trug es zum Abspielgerät hinüber, fädelte es ein und hörte es mir über Kopfhörer an.

«Nachdem ich mir die Füße abgelaufen hatte«, sagte Chicos fröhliche Stimme,»fand ich heraus, daß Ihr Administrator in Dunstable nichts Schlimmeres getan hat, als Rennen anzusetzen, die nicht von erstklassigen Pferden bestritten wurden, und daß er zu allen Menschen saugrob war. Bis zu dem Jahr, in dem er sich umbrachte, war er allgemein beliebt. Dann scheint er plötzlich übergeschnappt zu sein. Er war so unfreundlich zu den Leuten, die auf dem Rennplatz arbeiteten, daß einer nach dem anderen kündigte. Die Geschäftsleute in der Umgebung wurden schon wild, wenn ich nur seinen Namen erwähnte. Ich sage Ihnen genau Bescheid, wenn wir uns wieder treffen, aber ein Vergleich mit Seabury ist nicht angebracht — keine Unfälle, keine Schäden, nichts.«

Ich seufzte, löschte das Tonband und gab es Dolly zurück. Dann schlug ich die Akte auf meinem Schreibtisch auf und studierte sie. Ein Mr. Mervyn Brinton aus Reading, Grafschaft Berkshire, hatte das Detektivbüro Radnor um persönlichen Schutz gebeten, weil er sich in Gefahr glaubte. Er hatte nicht mitteilen wollen, warum, und sich auch geweigert, Ermittlungen durchführen zu lassen. Er bestand nur auf einer Leibwache. In dem Bericht hieß es, es bestünde die Möglichkeit, daß Brinton sich als Amateurerpresser versucht und Pech gehabt habe. Brinton hatte noch angegeben, im Besitze eines gewissen Briefes zu sein, und er befürchtete, überfallen und des Briefes beraubt zu werden. Nach einer Überredung mit Chico Barnes, der darauf hinwies, daß Brinton sich ja nicht sein ganzes Leben lang bewachen lassen könnte, hatte er sich bereit erklärt, einer bestimmten Person mitzuteilen, daß sich der fragliche Brief in einer bestimmten Schublade der Rennsportabteilung des Detektivbüros Hunt Radnor befände. Das war natürlich nicht der Fall, und keiner der Angestellten Radnors hatte den Brief je gesehen. Thomas Andrews erschien jedoch, um den Brief zu holen, wurde von J. S. Halley dabei ertappt, worauf Andrews Halley niederschoß und die Flucht ergriff. Zwei Tage später rief Brinton an, um zu erklären, daß er keinen Bewacher mehr brauchte. Für die Firma Radnor war damit der Fall erledigt.

Die Informationen waren nach der Verletzung Halleys der Polizei zur Verfügung gestellt worden.

Ich klappte die Akte zu.

Brinton!

Der Rennplatzadministrator in Dunstable hatte auch den Namen Brinton getragen. Ich starrte die Akte an. Brinton war kein ungewöhnlicher Name. Wahrscheinlich gab es überhaupt keinen Zusammenhang. Brinton in Dunstable war schon zwei Jahre tot, als Brinton aus Reading um Schutz gebeten hatte. Der einzig sichtbare Zusammenhang war, daß sowohl der Brinton aus Dunstable wie Thomas Andrews mit dem Rennsport zu tun gehabt hatten. Es war nicht viel. Wahrscheinlich nichts, aber es ließ mir keine Ruhe.

Ich ging nach Hause, holte den Wagen und fuhr nach Reading. Ein nervöser, grauhaariger älterer Mann öffnete die Tür bei vorgelegter Kette und starrte durch den Spalt.

«Ja?«

«Mr. Brinton?«

«Was wollen Sie?«

«Ich komme von der Detektei Radnor. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich Sie sprechen könnte.«

Er zögerte und kaute an seiner Oberlippe, auf der ein schwarzweiß-gesprenkelter Schnurrbart wucherte. Ängstliche braune Augen sahen mich von oben bis unten an und richteten sich schließlich auf meinen weißen Sportwagen.

«Ich habe einen Scheck geschickt«, sagte er schließlich.

«Das ist alles in Ordnung«, versicherte ich ihm.

«Ich will keine Schwierigkeiten. Ich konnte nichts dafür, daß der Mann angeschossen wurde.«

«Dafür können Sie natürlich nichts«, sagte ich.»Er ist schon wieder gesund und arbeitet wieder.«

Seine Erleichterung war nicht zu übersehen.

«Na schön«, sagte er und drückte die Tür zu, um die Kette abzunehmen.

Ich folgte ihm ins Wohnzimmer.

«Meine Frau ist beim Einkaufen. Sie kommt bald wieder.«

Er sah erwartungsvoll zum Fenster hinaus, aber Mrs. Brinton blieb aus.

«Ich wollte Sie nur fragen, Mr. Brinton, ob Sie zufällig mit einem Mr. William Brinton, dem ehemaligen Administrator der Rennbahn Dunstable, verwandt sind.«

Er starrte mich bedrückt an, setzte sich zu meiner Verblüffung aufs Sofa und begann zu weinen. Er bedeckte mit zitternden Händen die Augen, und die Tränen liefen ihm übers Gesicht.

«Bitte, Mr. Brinton, es tut mir so leid«, sagte ich verlegen.

Er schnupfte, hustete, wischte sich mit einem Taschentuch die Augen. Nach einer Weile sagte er unsicher:»Wie sind Sie darauf gekommen? Ich habe Ihnen doch gesagt, ich möchte nicht, daß Fragen gestellt werden.«

«Das war reiner Zufall. Niemand hat herumgefragt, das versichere ich Ihnen. Wollen Sie mir nicht davon erzählen? Dann werden überhaupt keine Fragen nötig sein.«

«Die Polizei — «, sagte er zweifelnd,»- war schon einmal hier. Ich habe nichts gesagt und hatte meine Ruhe.«

«Ihre Angaben werden vertraulich behandelt.«

«Ich war so ein Narr. Ich möchte wirklich mit jemandem darüber sprechen. Es war der Brief, wissen Sie. Der Brief, den William mir schreiben wollte, obwohl er ihn nie abgeschickt hat. Ich fand ihn in einem Koffer, der gefunden wurde, als William sich umbrachte. Ich war damals in Sarawak, und man schickte mir ein Telegramm. Es war ein Schock. Wenn der einzige Bruder so etwas — so etwas Schreckliches tut. Er war jünger als ich, sieben Jahre. Wir standen einander nicht sehr nahe. Ich wäre gerne — aber jetzt ist es zu spät. Als ich nach Hause kam, holte ich seine Sachen und brachte sie hier in den Speicher, die ganzen Rennbücher und so weiter. Ich wußte nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich interessierte mich nicht dafür, aber es schien, ich weiß nicht, ich konnte sie einfach nicht verbrennen. Es dauerte Monate, bis ich mich damit befaßte, und dabei fand ich den Brief.«

Seine Stimme schwankte, und er sah mich flehend an.

«Kitty und ich hatten entdeckt, daß meine Pension bei weitem nicht reichte. Alles ist ja so schrecklich teuer. Wir kamen dahinter, daß wir das Haus wieder verkaufen müßten, obwohl wir es erst gekauft hatten, und Kittys Verwandte wohnen alle in der Nähe. Und dann — ich dachte —, vielleicht könnte ich statt dessen den Brief verkaufen.«

«Aber statt Geld gab es nur Drohungen«, meinte ich.

«Ja. Der Brief brachte mich auf die Idee — «

Er kaute wieder an seinem Schnurrbart.

«Und jetzt haben Sie ihn nicht mehr«, sagte ich sachlich, als wüßte ich es genau.»Als Sie das erstemal bedroht wurden, glaubten Sie den Brief immer noch verkaufen zu können, wenn die Firma Radnor Sie beschützte. Dann bekamen Sie es mit der Angst zu tun und rückten den Brief heraus. Anschließend brauchten Sie keinen Schutz mehr, weil weitere Drohungen ausblieben.«

Er nickte.

«Ich habe ihnen den Brief gegeben, weil der Mann angeschossen wurde. Ich hatte nie gedacht, daß es soweit kommen würde. Ich war entsetzt, es war furchtbar. Ich hatte nicht geglaubt, daß es so gefährlich sein könnte, einen Brief zu verkaufen. Wenn ich ihn nur nie gefunden hätte! Wenn ihn William nur nie geschrieben hätte!«

«Was stand in dem Brief?«

Er zögerte.

«Das macht vielleicht nur wieder Ärger, sie könnten wiederkommen.«

«Sie wissen ja nicht, daß Sie mir davon erzählt haben«, sagte ich.

«Woher denn?«

«Das stimmt.«

Er sah mich an und traf seine Entscheidung. Einen Nutzen hat es, wenn man klein ist: Niemand hat Angst vor einem. Wenn ich groß und breit gewesen wäre, hätte er es wohl nicht riskiert. Aber sein Gesicht entspannte sich, und er gab seine Zurückhaltung auf.

«Ich kenne ihn auswendig«, sagte er.»Ich schreibe Ihnen alles auf, wenn Sie es wollen, das ist einfacher.«

Ich wartete, während er einen Kugelschreiber und einen Schreibblock holte und sich an die Arbeit machte.

Als der Brief vor seinen Augen wieder entstand, war er sichtlich bewegt, aber ich konnte nicht entscheiden, ob es Angst, Reue oder Trauer war. Er beschrieb eine Seite, riß das Blatt vom Block und gab es mir mit zitternder Hand.

Ich las, was er geschrieben hatte. Ich las es zweimal. Wegen dieser kurzen, verzweifelten Sätze, dachte ich leidenschaftlich, hätte ich beinahe mein Leben verloren.

«Herzlichen Dank«, sagte ich.

«Wenn ich ihn nur nie gefunden hätte«, wiederholte er.»Der arme William.«

«Sind Sie bei diesem Mann gewesen?«fragte ich und deutete auf den Brief, während ich ihn in die Brieftasche legte.

«Nein, ich habe ihm geschrieben. Er war nicht schwer zu finden.«

«Und wieviel haben Sie verlangt?«

Er murmelte beschämt:»Fünftausend Pfund.«

Zu wenig, dachte ich. Für Fünfzigtausend hätte er ins Geschäft kommen können. Aber Fünftausend verrieten seine Mittelmäßigkeit. Kein Wunder, daß man ihm auf die Zehen getreten war.

«Und was passierte dann?«erkundigte ich mich.

«Ein großer Mann wollte den Brief holen, eines Nachmittags gegen vier. Es war schrecklich. Ich verlangte das Geld, aber er lachte mich aus und stieß mich in einen Sessel. Geld bekäme ich keines, sagte er, aber wenn ich den Brief nicht sofort herausrückte, würde er — würde er mir verschiedenes beibringen. So drückte er sich aus. Ich erklärte, daß ich den Brief in meinem Schließfach in der Bank aufbewahrte, daß die Bank geschlossen sei und ich ihn erst am nächsten Tag holen könnte. Er sagte, er würde mit mir am nächsten Tag zur Bank gehen. Damit verließ er das Haus.«

«Und Sie haben sofort bei Radnor angerufen?«

«Ja.«

«Wie sind Sie gerade auf dieses Detektivbüro gekommen?«

Er sah mich überrascht an.

«Es war das einzige, das ich kannte. Gibt es denn überhaupt andere? Die meisten Leute haben von Hunt Radnor gehört.«

«Ich verstehe. Radnor schickte Ihnen einen Bewacher, aber der große Mann gab nicht auf.«

«Er telefonierte dauernd. Dann schlug Ihr Angestellter vor, wir sollten ihm eine Falle in Ihrem Büro stellen, und ich stimmte zu. Ich hätte das nicht erlauben dürfen. Ich war ein Narr. Ich wußte die ganze Zeit, wer mich bedrohte, aber ich konnte es nicht sagen, weil ich sonst zugegeben hätte, daß ich mir Geld auf — auf illegale Weise beschaffen wollte.«

«Ja. Nur noch eine Kleinigkeit. Wie sah er aus, der Mann, der Sie bedroht hat?«

«Er war sehr stark. Hart! Ich bin — ich meine, ich konnte nie gut mit den Fäusten umgehen. Wenn er zugeschlagen hätte, wäre ich nicht.«

«Ich nehme es Ihnen nicht übel, daß Sie sich mit ihm nicht auf eine Rauferei eingelassen haben«, sagte ich.»Ich will nur wissen, wie er aussah.«

«Sehr groß«, sagte er unklar,»riesig.«

«Ich weiß, daß es schon ein paar Wochen her ist, aber können Sie sich nicht an mehr erinnern? Die Haare? Sein Gesicht? Wie alt er war?«

Er lächelte zum erstenmal.

«Es ist ganz bestimmt einfacher, wenn man solche Fragen beantworten kann. Er war ziemlich kahlköpfig, und er hatte große Sommersprossen am Handrücken. Wie alt er war, ist schwer zu sagen, auf alle Fälle über dreißig. Was noch? Ah ja. Offenbar Arbeiter.«

«Engländer?«

«Ja, kein Ausländer.«

Ich stand auf, bedankte mich und wollte gehen.

«Glauben Sie, daß es keine Schwierigkeiten mehr gibt?«fragte er.

«Von mir oder von meiner Firma aus nicht.«

«Und der Mann, der niedergeschossen wurde?«

«Von dem auch nicht.«

«Ich habe mir immer einreden wollen, daß ich nichts dafür konnte, aber ich kann seitdem nicht mehr richtig schlafen. Warum war ich nur so dumm? Ich hätte dem jungen Mann nicht erlauben dürfen, eine Falle zu stellen. Ich hätte Ihre Firma nicht beauftragen dürfen. Das hat wieder ein Loch in unsere Ersparnisse gerissen. Ich hätte kein Geld für diesen Brief verlangen dürfen!«

«Das ist wahr, Mr. Brinton. Aber geschehen ist geschehen, und ich nehme nicht an, daß Sie so etwas noch einmal machen.«

«Nein, nein«, sagte er gequält,»niemals mehr. Die letzten Wochen waren. «Er verstummte. Dann sagte er etwas lauter:

«Wir müssen das Haus jetzt verkaufen. Kitty gefällt es hier zwar sehr, aber ich wollte immer ein kleines Häuschen am Meer.«

Als ich ins Büro kam, nahm ich den katastrophalen Brief heraus und las ihn noch einmal durch, bevor ich ihn zur Akte legte. Da es sich weder um das Original noch um eine Kopie, sondern nur um eine Wiedergabe aus dem Gedächtnis handelte, hatte er keinen Beweiswert. Er lautete: >Lieber Mervy, lieber Bruder, wenn Du mir nur helfen könntest, wie früher, als ich klein war. Ich habe in fünfzehn Jahren den Rennplatz Dunstable aufgebaut, und ein Mann namens Howard Kraye zwingt mich jetzt dazu, ihn zugrunde zu richten. Ich muß Rennen ansetzen, die kein Mensch besucht, es kommen kaum mehr Pferde, und die Zuschauer werden immer weniger. In dieser Woche muß ich dafür sorgen, daß die Rennzeitung zu spät in die Druckerei kommt und die Telefone im Pressezimmer nicht funktionieren. Es wird ein schreckliches Durcheinander geben. Die Leute werden mich für verrückt halten. Ich kann nichts gegen ihn machen. Er bezahlt mich, und ich muß tun, was er verlangt. Ich kann nicht gegen meine Natur an, das weißt Du. Er hat festgestellt, daß ich mit einem jungen Mann zusammenlebte, das könnte mich ins Gefängnis bringen. Er möchte die Rennbahn verkaufen und Häuser bauen lassen. Nichts kann ihn aufhalten.

Ich weiß, daß ich diesen Brief nicht abschicken werde. Mervy, wenn Du nur hier wärst. Ich habe sonst niemanden. Ich halte es nicht mehr lange aus, wirklich nicht.<

Fünf Minuten vor sechs Uhr öffnete ich die Tür zu Zanna Martins Büro. Sie saß mit dem Gesicht zur Tür am Schreibtisch. Sie hob den Kopf, erkannte mich und erwiderte meinen Blick mit einer Mischung aus Stolz und Verlegenheit.

«Ich habe es fertiggebracht«, sagte sie.»Wenn Sie abgesprungen sind, bringe ich Sie um.«

Sie hatte ihr Haar noch weiter nach vorn gekämmt, so daß es ihr Gesicht zum Teil verhüllte, aber man sah trotzdem die Verunstaltung auf den ersten Blick. Ich hatte seit Freitag vergessen, wie schlimm sie war.

«Mir ging es genauso«, sagte ich grinsend.

«Sie haben Ihr Versprechen wirklich gehalten?«fragte sie.

«Gewiß. Den ganzen Samstag und Sonntag, gestern und heute. Es war scheußlich.«

Sie seufzte erleichtert.

«Ich bin froh, daß Sie da sind. Heute früh hätte ich beinahe aufgegeben. Ich dachte, Sie würden nicht mitmachen und sich auch nie mehr blicken lassen.«

«Na, ich bin aber da«, sagte ich.»Ist Mr. Bolt auch da?«

Sie schüttelte den Kopf.»Er ist nach Hause gegangen. Ich räume gerade auf.«

«Sind Sie mit den Umschlägen fertig?«fragte ich.

«Mit den Umschlägen? Ach, die vom letztenmal? Ja, sie sind fertig.«

«Und abgeschickt?«

«Nein, die Rundschreiben sind noch nicht von der Druckerei zurück. Mr. Bolt hat sich sehr geärgert. Wahrscheinlich kann ich sie morgen wegschicken. «Sie stand auf, zog den Mantel an und band sich das Kopftuch um.

«Haben Sie heute abend etwas vor?«fragte ich.

«Ich gehe nach Hause.«

«Kommen Sie mit mir essen«, schlug ich vor.

«Das Geschenk der lieben Tante wird so nicht lange reichen, wie Sie das Geld ausgeben. Ich glaube, Mr. Bolt hat Ihr Kapital schon investiert. Sparen Sie lieber.«

«Na, dann gehen wir ins Cafe oder ins Kino.«

«Passen Sie auf«, sagte sie zögernd.»Manchmal kaufe ich mir auf dem Heimweg ein Brathuhn. Neben der U-Bahnstation ist eine Braterei. Möchten Sie — möchten Sie mitkommen und mir helfen, es aufzuessen? Als Revanche für Freitagabend?«

«Mit Vergnügen«, sagte ich.

«Wirklich?«

«Wirklich.«

Wie das letztemal fuhren wir mit der U-Bahn nach Finchley, aber diesmal saß sie so, daß alle Leute ihr Gesicht sehen konnten. Ich legte meinen Arm auf die Lehne zwischen uns beiden. Sie sah meine Hand an und schaute mir dann dankbar in die Augen. Als wir die Treppe hinaufstiegen, sagte sie:»Wissen Sie, es macht einen großen Unterschied, wenn man einen Mann dabei hat, selbst. «Sie verstummte plötzlich.

«Selbst, wenn er kleiner ist und auch lädiert«, ergänzte ich lächelnd.

«Ach, du meine Güte, und auch noch viel jünger.«

«Das Huhn kaufe ich«, sagte ich, als wir vor dem Laden stehenblieben. Der Geruch nach heißen Kartoffelchips vermischte sich mit den Dieselabgasen aus einem vorbeifahrenden Lkw. Zivilisation, dachte ich — großartig!

«Kommt gar nicht in Frage.«

Miss Martin kaufte das Huhn selbst. Ich trug es unter dem Arm. Es war in Zeitungspapier eingewickelt.

«Ich habe auch ein paar Chips und Erbsen mitgebracht«, sagte sie.

«Und ich kaufe Kognak«, erklärte ich entschieden.

Was Chips und Erbsen meinem Magen antun würden, wagte ich mir nicht vorzustellen.

Wir gingen mit unseren Einkäufen zu ihrem Haus und betraten ihr Zimmer.

«Dort drüben im Schrank stehen Gläser und eine Flasche Sherry«, sagte sie, während sie den Mantel auszog.»Gießen Sie mir ein? Sie trinken wahrscheinlich lieber Kognak, aber nehmen Sie sich Sherry, wenn Sie wollen. Ich trage nur die Sachen noch schnell in die Küche.«

Während ich die Flaschen öffnete und die Gläser füllte, hörte ich sie in der Küche rumoren. Als ich mit ihrem Glas durchs Zimmer ging, wurde es plötzlich totenstill. Als ich an die Tür kam, sah ich auch, warum. Sie hatte das Huhn in der einen Hand und las die Zeitung, in die es eingewickelt gewesen war. Sie starrte mich verblüfft an.

«Sie!«sagte sie.»Sie sind das.«

Ich schaute auf die Stelle, wo ihr Finger hindeutete. Das Huhn war in die >Sunday Hemisphere< eingewickelt gewesen.

«Hier ist Ihr Sherry«, sagte ich.

Sie legte das Huhn auf den Tisch und nahm das Glas, ohne es zu bemerken.

«Ein zweiter Halley«, sagte sie.»Das fiel mir auf. Natürlich habe ich es gelesen. Das ist Ihr Bild, und sogar von Ihrer Hand wird gesprochen. Sie sind Sid Halley!«

«Stimmt.«

Es hatte keinen Zweck, es zu bestreiten.

«Du meine Güte. Ich kenne Sie seit Jahren. Ich habe von Ihnen gelesen und Sie im Fernsehen gesehen. Mein Vater verfolgte die Rennen, wir sahen immer zu, solange er lebte. «Sie unterbrach sich und sagte plötzlich:»Warum haben Sie dann behauptet, Sie hießen John und arbeiteten als Verkäufer? Warum sind Sie zu Mr. Bolt gekommen? Das verstehe ich nicht.«

«Trinken Sie Ihren Sherry, legen Sie das Huhn ins Rohr, und dann erzähle ich es Ihnen.«

Es gab keine andere Möglichkeit. Ich wollte nicht riskieren, daß sie ihren Arbeitgeber unterrichtete.

Sie stellte das Essen warm, setzte sich aufs Sofa und hob fragend die Brauen.

«Ich arbeite nicht als Verkäufer«, gab ich zu.»Ich bin bei einem Detektivbüro Radnor tätig.«

Wie Brinton kannte sie meine Firma. Sie erstarrte und begann die Stirn zu runzeln. Ich erzählte ihr von Kraye und den Seabury-Aktien, aber sie war nicht dumm und kam sofort zum Wesentlichen.

«Sie verdächtigen also Mr. Bolt, deswegen sind Sie zu ihm gekommen.«

«Ja, leider.«

«Und ich? Sie haben mich nur ausgeführt, um mich auszuforschen?«Ihre Stimme klang bitter.

Ich schwieg eine Weile. Sie wartete. Ihre Ruhe war schlimmer als Tränen oder ein Zornausbruch. Sie verlangte so wenig vom Leben.

Schließlich sagte ich:»Ich bin zu Bolt gegangen, nicht nur, um ihn zu sprechen, sondern auch, um seine Sekretärin auszuführen — j a.«

In der Küche begannen die Erbsen zu kochen. Sie stand langsam auf.

«Wenigstens sind Sie ehrlich. «Sie ging hinaus und drehte das Gas ab.

«Und heute bin ich zu Ihnen gekommen, weil ich mir die Rundschreiben ansehen wollte, die Bolt an die Aktionäre von Seabury verschickt«, sagte ich.»Sie haben mir sofort erklärt, daß sie von der Druckerei noch nicht zurückgekommen sind. Ich hätte Ihre Einladung zum Abendessen also nicht mehr anzunehmen brauchen. Aber ich bin trotzdem hier.«

Sie stand an der Tür und hielt sich mühsam aufrecht.

«Das war wohl auch Lüge«, sagte sie mit gepreßter Stimme und deutete auf meinen Arm.»Warum? Warum haben Sie es getan? Sie hätten doch auch ohne das erfahren können, was Sie interessierte. Warum haben Sie verlangt, daß ich meinen Schreibtisch umstelle? Sie werden sich wohl den ganzen Samstag über krankgelacht haben.«

Ich stand auf.

«Am Samstag war ich in Kempton auf dem Rennplatz«, sagte ich.

Sie rührte sich nicht.

«Ich habe mein Versprechen gehalten.«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

«Es tut mir leid«, sagte ich hilflos.

«Ja. Gute Nacht, Mr. Halley. Gute Nacht. «Ich ging.

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