In der Abteilung Rennsport war es ruhig, als ich am nächsten Morgen erschien, in erster Linie, weil Chico unterwegs war. Alle anderen Köpfe waren über die Schreibtische gebeugt. Dolly sah auf und sagte seufzend:»Sie sind schon wieder zu spät dran. «Es war zehn vor zehn.»Der Alte möchte Sie sprechen.«
Ich schnitt ihr eine Grimasse und ging die Treppe hinunter, Joanie schaute auf die Uhr.
«Er fragt schon seit einer halben Stunde nach Ihnen.«
Ich klopfte und ging hinein. Radnor saß an seinem Schreibtisch und studierte Unterlagen, den Bleistift in der Hand. Er sah mich an und runzelte die Stirn.
«Warum kommen Sie so spät?«
«Ich habe Bauchweh gehabt«, sagte ich spöttisch.
«Lassen Sie die Witze«, fauchte er mich an und sagte dann etwas ruhiger:»Ach so, ich habe es nicht so gemeint.«
«Nein. Aber es tut mir leid, daß ich mich verspätet habe.«
Es tat mir keineswegs leid, daß es aufgefallen war. Früher hatte kein Mensch auch nur einen Ton gesagt, wenn ich den ganzen Tag nicht erschienen war.
«Wie sind Sie mit Lord Hagbourne zurechtgekommen?«fragte Radnor.»War er interessiert?«
«Ja. Er ist mit einer Untersuchung einverstanden. Ich sagte, die Bedingungen könnte er mit Ihnen besprechen.«
«Aha. «Er drückte auf die Taste des Gegensprechgeräts.
«Joanie, versuchen Sie Lord Hagbourne zu erreichen. Wahrscheinlich ist er noch in seiner Londoner Wohnung.«
«Ja, Sir«, klang ihre Stimme aus dem Lautsprecher.
«Hier«, sagte Radnor und nahm eine flache braune Schachtel aus einer Schublade.
«Sehen Sie sich das an!«
Die Schachtel enthielt einen Stapel großer Fotografien. Ich sah sie mir der Reihe nach an und atmete erleichtert auf. Sie waren alle scharf gestochen bis auf ein paar, die ich doppelt geschossen hatte. Das Telefon auf Radnors Schreibtisch läutete einmal. Er nahm den Hörer ab.
«Ah, guten Morgen, Lord Hagbourne. Hier Radnor. Ja, richtig.«
Er bedeutete mir mit einer Handbewegung, ich möchte mich setzen, was ich tat. Ich hörte zu, während er gelassen und selbstsicher verhandelte.
«In solchen Fällen ist natürlich noch eins zu beachten, Lord Hagbourne. Wir stellen eine kleine Zusatzprämie in Rechnung, wenn unsere Leute größere Risiken eingehen müssen. Ja, wie im Fall Canless. Genau. Gut, Sie werden in ein paar Tagen einen Zwischenbericht bekommen. Ja. Wiedersehen.«
Er legte auf, biß sich nachdenklich auf die Unterlippe und sagte schließlich:»Na schön, Sid. Machen Sie sich an die Arbeit!«
«Aber.«, begann ich.
«Nichts aber«, sagte er.»Das ist Ihr Fall. Tun Sie etwas.«
Ich stand auf, die Fotos in der Hand.
«Kann ich, kann ich Bona Fides heranziehen und so weiter?«
Er nickte.
«Sid, Sie können sich des ganzen Unternehmens bedienen. Aber achten Sie auf die Spesen, wir müssen an die Konkurrenz denken. Und wenn Sie Leute hinausschicken, arrangieren Sie das über Dolly oder die anderen Abteilungsleiter. Einverstanden?«
«Wird das nicht Schwierigkeiten geben? Ich meine, ich zähle doch hier nicht viel.«
«Und an wem liegt das? Wenn sie nicht tun wollen, was Sie verlangen, verweisen Sie sie an mich. «Er starrte mich ausdruckslos an.
«In Ordnung. «Ich ging zur Tür.»Äh — wer bekommt die Gefahrenzulage?«fragte ich.»Der Ermittler oder die Firma?«
«Sie sagten doch, Sie wollten ohne Gehalt arbeiten«, bemerkte er trocken.
Ich lachte.»Stimmt. Und die Spesen?«
«Ihr Wagen braucht irrsinnig viel Benzin.«
«Halb so schlimm.«
«Sie bekommen, was den anderen auch zusteht — und die übrigen Spesen.«
«Danke.«
Er lächelte plötzlich.»Der Start ist freigegeben«, sagte er.»Was Sie im Rennen anfangen, hängt von Ihrer Geschicklichkeit ab, wie früher auch. Ich decke Sie mit dem Ruf meiner Firma, und ich kann mir den Verlust meines Einsatzes nicht leisten. Denken Sie daran!«
«Ja«, sagte ich ernsthaft,»das werde ich tun.«
In der Abteilung Bona Fides telefonierten wie üblich sechs Personen auf einmal. Der Abteilungsleiter, die Muschel ans eine Ohr, die Hand an das andere gepreßt, war ein großer, glatzköpfiger Mann mit Brille, die auf die Nase heruntergerutscht war. Wie immer war er in Hemdsärmeln, trug einen zerfransten Pullover und eine ausgebeulte graue Hose, keine Krawatte. Er schien einen unerschöpflichen Fundus an uralter Kleidung zu haben.
Ich wartete, bis er sein langes Gespräch mit einem Direktor über die Meriten eines künftigen Geschäftsführers einer Glasfabrik beendet hatte. Jack Copeland verfügte über den Vorzug, sich in vielen Branchen auszukennen. Er unterhielt sich mit dem Glasfabrikanten, als sei er in diesem Zweig groß geworden. Fünf Minuten später konnte er ebenso fundiert über die Brauchbarkeit eines Stadtkämmerers diskutieren.
Er hatte große Macht, schien sich dessen aber nicht bewußt zu sein, was ihm die Sympathie vieler Menschen eintrug. Nach Radnor war er der wichtigste Mann in der Firma.
«Jack«, sagte ich, als er auflegte,»könnten Sie für mich jemanden überprüfen lassen, bitte?«
«Und was ist mit der Abteilung Rennsport?«fragte er.
«Er hat nichts mit der Branche zu tun.«
«Oh? Um wen geht es?«
«Um einen Howard Kraye. Ich weiß nicht, ob er einen Beruf hat. Er spekuliert an der Börse und ist leidenschaftlicher Sammler von Kristallen.«
Ich nannte Krayes Anschrift in London. Copeland notierte sich hastig meine Angaben.
«Okay, Sid. Ich setze einen meiner Leute darauf an und gebe Ihnen einen Vorbericht. Ist es dringend?«
«Ziemlich.«
«Gut. «Er riß das Blatt vom Block.»George? Sie sind noch mit Ihrem Wollfritzen beschäftigt? Da ist der nächste, sobald Sie fertig sind!«
«George«, sagte ich,»seien Sie vorsichtig!«
Die beiden starrten mich an.
«Eine Bombe mit Zeitzünder«, sagte ich,»nicht kippen!«
«Mal was anderes«, meinte George fröhlich,»keine Sorge, Sid.«
Jack Copeland beäugte mich durch die Brille.»Sie haben sich doch mit dem Alten abgesprochen?«
«Ja«, ich nickte.»Er sagte, Sie sollten bei ihm rückfragen, wenn Sie es für nötig halten.«
Er lächelte kurz.»Schon gut. Ist das alles?«
«Im Augenblick ja, danke.«
«Übrigens, ist das Ihr eigener Fall, oder steckt Dolly dahinter?«
«Meiner.«
«Aha«, sagte er.»Da hat sich also doch was geändert.«
Ich lachte.»Soll vorkommen.«
In der Abteilung Rennsport war Dolly gerade dabei, die Umstellung der Schreibmaschine zu überwachen. Ich erkundigte mich, was los wäre, und sie lächelte strahlend.
«Sieht so aus, als wären Sie am Drücker. Der Alte hat eben angerufen und erklärt, daß Sie einen Platz zum Arbeiten brauchen. Jones klaut schnell einen Tisch in der Vermißtenabteilung. Das genügt doch vorerst, nicht wahr? Wir haben keinen freien Schreibtisch.«
Lautes Krachen und Poltern draußen kündigte die Rückkehr des jungen Jones an, der einen zerbrechlichen Schreibtisch hereinschleppte.
«Wie die Kerle hier einen Vermißten finden, weiß der Teufel.«
Er verschwand und kam kurz darauf mit einem Stuhl wieder.
«Was ich alles für Sie mache«, sagte er.»Im Schreibzimmer sitzt ein dummes Ding jetzt auf einem Hocker.«
«Wir brauchen mehr Möbel«, murmelte ich.
«Machen Sie keine Witze«, sagte Dolly.»Jedesmal, wenn der Alte einen Schreibtisch kauft, stellt er zwei neue Leute ein. Als ich vor fünfzehn Jahren hier anfing, hatte jeder sein eigenes Zimmer, ob Sie es glauben oder nicht.«
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und sortierte die Fotografien, nahm die undeutlichen und doppelten Aufnahmen heraus, zerriß sie und warf die Fetzen in Dollys Papierkorb. Damit blieben mir einundfünfzig Fotos über den Inhalt von
Krayes Aktenköfferchen.
Die zwei größten Stapel waren die Verkaufsbescheinigungen von Seabury-Aktien und die Briefe von Krayes Börsenmakler. Das Blatt mit der Überschrift >S. R.< erwies sich als eine Aufstellung von Aktien, so daß ich sie diesem Päckchen zuschlug. Geblieben waren die Fotos der Banknoten, von Transaktionen, die mit Seabury nichts zu tun hatten, und die beiden Blätter, die ich unter der Schreibunterlage gefunden hatte.
Ich las alle Briefe des Börsenmaklers durch, eines gewissen Ellis Bolt, der einer Firma Charing, Street and King angehörte. Bolt und Kraye verkehrten in freundschaftlichem Ton miteinander. Die Briefe enthielten Bemerkungen über gesellschaftliche Veranstaltungen, bei denen sie sich getroffen hatten. Aber vorwiegend beschäftigten sie sich mit Aktien, vorgeschlagenen oder durchgeführten Käufen, mit Steuern, Gebühren und Provisionen.
Zwei Briefe waren mit der Hand geschrieben. Der erste, datiert vor zehn Tagen, lautete ganz kurz: >Erwarte mit Interesse die Nachrichten am Freitag. E.<
Der zweite Brief, den Kraye am Morgen vor seiner Abfahrt nach Aynsford erhalten haben mußte, hatte folgenden Text:
>Lieber H.
Ich habe die verbesserte Fassung in die Druckerei gegeben. Die Rundschreiben müssen Ende nächster Woche oder spätestens am kommenden Dienstag versandt sein. Jedenfalls zwei oder drei Tage vor der nächsten Versammlung. Das müßte genügen, denke ich. Wenn es wieder Schwierigkeiten gibt, sollte die Unruhe beträchtlich sein, aber Sie werden sich ja darum kümmern. E.<»Dolly«, sagte ich,»darf ich schnell telefonieren?«
«Bitte.«
Ich rief zur Abteilung Bona Fides hinauf.
«Jack, kann ich noch Auskünfte über einen anderen Mann haben? Ellis Bolt, Börsenmakler, bei einer Firma Charing, Street and King. «Ich gab ihm die Anschrift.»Er ist mit Kraye befreundet. Auch hier dürfte Vorsicht geboten sein.«
«In Ordnung. Sie bekommen Bescheid.«
Ich starrte die beiden harmlos aussehenden Briefe an.
>Erwarte mit Interesse die Nachrichten am Freitag.<
Das konnte alles mögliche bedeuten, aber auch die >Nachrichten<. Ich hatte am Freitag im Radio gehört, daß das Rennen in Seabury abgesagt worden war, weil ein Tankfahrzeug mit Chemikalien umgekippt war und den Rasen verbrannt hatte.
Der zweite Brief war genauso vieldeutig. Er konnte sich durchaus auf eine Aktionärsversammlung beziehen, in der Schwierigkeiten auf jeden Fall vermieden werden mußten. Oder er konnte sich auf eine Rennveranstaltung in Seabury beziehen, wo weitere Schwierigkeiten den Verkauf der Aktien beeinflussen würden.
Es war wie bei einem Zauberkunststück: Von der einen Seite sah man einen normalen Gegenstand, von der anderen einen Trick.
Wenn es ein Trick war, steckte Mr. Ellis Bolt bis zu den Ohren in unsauberen Geschäften. Wenn ich aber voreilige Schlußfolgerungen zog, tat ich einem respektablen Börsenmakler bitteres Unrecht.
Ich nahm den Hörer ab und ließ mir eine Amtsleitung geben.
«Charing, Street and King, guten Morgen«, sagte eine ruhige Frauenstimme.
«Oh, guten Morgen. Ich möchte gerne einen Termin bei Mr. Bolt, um die Anlage einer größeren Summe zu besprechen.
Wäre das möglich?«
«Selbstverständlich ja. Hier ist Mr. Bolts Sekretärin. Ihr Name?«
«Halley, John Halley.«
«Sind Sie ein neuer Klient, Mr. Halley?«
«Ja.«
«Aha. Mr. Bolt wird morgen nachmittag im Büro sein. Sie könnten um halb vier kommen. Ist Ihnen das recht?«
«Danke, ausgezeichnet. Ich komme rechtzeitig.«
Ich legte auf und sah Dolly an.
«Haben Sie etwas dagegen, wenn ich weggehe?«
«Lieber Sid, Sie sind ja sehr süß, aber Sie brauchen mich nicht um Erlaubnis zu fragen. Der Alte hat klargestellt, daß Sie jetzt auf sich selbst gestellt sind. Sie sind keinem verantwortlich, nur dem Alten. Ich gebe zu, daß er so etwas noch nie gemacht hat, aber Sie können tun, was Sie wollen. Ich bin nicht mehr Ihre Vorgesetzte.«
«Es macht Ihnen nichts aus?«
«Nein«, sagte sie nachdenklich.»Wenn ich mir’s richtig überlege — nein. Ich habe das Gefühl, was der Alte von Ihnen immer schon wollte, ist, daß Sie sein Partner werden.«
«Dolly!«sagte ich entsetzt.»Machen Sie sich doch nicht lächerlich.«
«Er wird nicht jünger«, meinte sie.
«Und da sucht er sich ausgerechnet einen lädierten Jockey aus?«
«Er sucht sich jemanden aus, der Geld genug hat, sich als Partner einzukaufen; jemanden, der in seinem Beruf an der Spitze war und der in ein paar Jahren in einem anderen wieder an die Spitze kommen wird.«
«Sie sind nicht bei Trost, Dolly. Gestern früh hätte er mich beinahe hinausgeworfen.«
«Aber Sie sind immer noch hier, oder? Mehr als je zuvor. Und Joanie sagte, er wäre gestern, nachdem Sie bei ihm waren, in großartiger Stimmung gewesen.«
Ich schüttelte lachend den Kopf.
«Sie sind romantisch. Aus einem Jockey wird genauso wenig ein Privatdetektiv, wie — «
«Na was?«
«— aus einem Auktionator oder einem Buchhalter ein Vertreter wird.«
Sie schüttelte den Kopf.
«Sie sind schon ein Privatdetektiv, ob Sie’s wissen oder nicht. Ich habe Sie die ganzen zwei Jahre beobachtet, erinnern Sie sich? Es hat zwar den Anschein, als täten Sie nichts, aber Sie haben alles gelernt, was man hier lernen kann. Wenn Sie nicht aufpassen, sitzen Sie Ihr ganzes Leben hier fest.«
Ich glaubte ihr nicht, und ich schenkte ihren Worten keine große Beachtung. Ich grinste.
«Ich fahre heute nachmittag nach Seabury, zum Rennplatz. Wollen Sie mitkommen?«
«Soll das ein Witz sein?«seufzte sie. Ihr Schreibtisch war beladen mit Akten.»Ich wäre schon zufrieden, wenn ich in Ihrer Rakete mitfahren und ein bißchen Seeluft atmen könnte.«
Ich sammelte die Fotos ein und legte sie zusammen mit den Negativen in die Schachtel zurück. Der Tisch, der mir zugeteilt worden war, verfügte über eine Schublade, und ich zog sie heraus, um die Fotos aufzuheben. Sie enthielt ein Paket Stullen, ein paar Päckchen Zigaretten und eine halbe Flasche Whisky. Ich begann zu lachen.
«Von der Vermißtenabteilung wird gleich jemand kommen und sein Eigentum als vermißt melden«, sagte ich.
Der Rennplatz Seabury lag ungefähr einen Kilometer von der Küste entfernt, direkt an einer Nebenstraße zum Meer. Wenn man sich auf den Tribünen umdrehte, konnte man die silbrigglänzende Oberfläche des Kanals sehen. Dazwischen und auf beiden Seiten lagen Häuschen, nichts als Häuschen. In jedem ein pensionierter Lehrer, Beamter oder Pfarrer — oder ihre Witwen, die es geschafft hatten und in einem Häuschen am Meer wohnen konnten.
Ich fuhr durch das offene Tor und hielt vor dem Wiegeraum. Ich stieg aus, streckte mich und klopfte an die Tür des Rennplatzverwalters.
Nichts rührte sich. Ich drückte die Klinke nieder — die Tür war abgesperrt, ebenso die zum Wiegeraum und alle anderen. Die Hände in den Taschen schlenderte ich um die Tribüne herum und sah mir die Rennbahn an. Seabury gehörte offiziell zur Gruppe drei. Das hieß: Niedriger als Doncaster und höher als Windsor eingestuft, wenn Unterstützungsbeträge angefordert wurden.
Die Tribünen taugten nicht viel, hölzerne Stufen mit Wellblechdach, zugig. Die Rennbahn selbst war ideal. Ich hatte es immer bedauert, daß die übrigen Einrichtungen ihr nicht entsprachen.
Auf den Tribünen oder in der Nähe war niemand. Am Ende der Rennbahn sah ich jedoch ein paar Männer mit einem Traktor. Ich machte mich auf den Weg und ging an der Einzäunung entlang. Der Boden war für Rennen im November genau richtig, weich, aber federnd, ideal für Trainer, die ihre Pferde zum Start meldeten. Unter normalen Umständen. Aber so, wie es zur Zeit stand, schickte nicht nur Mark Whitney seine Pferde anderswohin. Eine Rennbahn, die keine guten Pferde anlockte, brauchte auch nicht mit viel Zuschauern zu rechnen. Seaburys Verkauf an Eintrittskarten war in letzter Zeit zurückgegangen. Die Ausgaben stiegen, daher der Verlust.
Ich erreichte die Männer, die an der Bahn arbeiteten. Sie gruben den Boden auf und luden die Rasenstücke auf einen Anhänger hinter dem Traktor. Ein unangenehmer Geruch hing in der Luft.
Entlang der Bahn und fast genau in gleicher Breite war der Rasen auf einer Länge von dreißig Metern bräunlich versengt. Man hatte erst die Hälfte des betroffenen Bodens entfernt und noch enorm viel Arbeit vor sich. Ich war der Meinung, daß hier nicht genug Leute arbeiteten, um die Rennbahn bis zur nächsten Woche instand zu setzen.
«Guten Tag«, sagte ich.»Sieht ja scheußlich aus.«
Einer der Arbeiter stieß seinen Spaten in die Erde und kam herüber. Er wischte sich die Hände an der Hose ab.
«Wollen Sie etwas?«fragte er.
«Ich suche den Verwalter.«
«Er ist heute nicht hier. Mensch, sind Sie nicht Sid Halley?«
«Jawohl.«
Er grinste.»Ich bin der Vorarbeiter, Ted Wilkins.«
Ich schüttelte seine Hand.
«Der Verwalter ist nach London gefahren, er kommt erst morgen wieder.«
«Macht nichts«, sagte ich.»Ich bin gerade hier vorbeigekommen und wollte mir die Bahn ansehen.«
«Wirklich traurig, was?«
«Was ist denn eigentlich passiert?«
«Da vorne ist der Tankzug umgekippt«, er zeigte mir die Stelle, und wir gingen darauf zu. Die schmale geteerte Straße schnitt die Rennbahn kurz vor der unteren Kurve. Während der Rennen wurde die Straßenoberfläche dick mit Torf oder grünen Matten bedeckt, so daß die Pferde ohne Mühe darüber hinweggaloppieren konnten. Das war zwar nicht ideal, kam aber auf vielen Rennbahnen vor, zum Beispiel in Aintree und auch in Ludlow, wo sogar fünf Straßen kreuzten.
«Genau hier«, sagte Ted Wilkins.»Hätte gar nicht schlimmer sein können, mitten auf der Bahn. Der Tankzug ist einfach ausgelaufen. Er kippte hier um, und dabei muß der Verschluß geplatzt sein.«
«Wie ist es denn passiert?«fragte ich.
«Das weiß niemand genau.«
«Und der Fahrer? Er ist doch nicht umgekommen.«
«Nein, er ist nicht schwer verletzt worden. Aber er wußte nicht, was passiert war. Nach Einbruch der Dunkelheit fuhr ein Wagen vorbei und wäre beinahe mit dem Tankzug zusammengeprallt. Die Leute fanden den Fahrer am Straßenrand. Er hielt sich den Kopf und stöhnte — wahrscheinlich Gehirnerschütterung. Er muß sich irgendwo angestoßen haben, als der Lkw umfiel. Eigentlich erstaunlich, daß er so billig davongekommen ist. Das Führerhaus war ziemlich eingedrückt, und überall lagen Glassplitter herum.«
«Fahren hier oft Tankzüge? Es ist ja ein Glück, daß so etwas nicht schon früher passiert ist.«
«Früher nicht«, sagte er und kratzte sich am Kopf,»aber seit zwei Jahren kommen sie öfter vorbei. Der Verkehr nach London wird immer stärker.«
«Ach. Gehört der Wagen einer hiesigen Firma?«
«Irgendwo an der Küste, Intersouth-Chemiefabrik heißt die Firma.«
«Was glauben Sie, wann hier wieder Rennen stattfinden können?«fragte ich.»Schaffen Sie es bis nächste Woche?«
Er runzelte die Stirn.
«Ganz unter uns, ich glaube nicht, daß es klappt. Wir brauchten ein paar Bulldozer, nicht sechs Mann mit Spaten. Das habe ich schon zum Captain gesagt.«»Der Meinung bin ich auch.«
Er seufzte.»Er sagte nur, das könnten wir uns nicht leisten, und ich sollte mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Wir haben eben weitergemacht. Frühestens bis Mittwoch können wir den Rasen ganz ausgraben.«
«Aber dann bleibt doch keine Zeit mehr, den neuen einzusetzen«, meinte ich.
«Es wäre ein Wunder, wenn man ihn einsetzen kann, geschweige denn, daß Rennen stattfinden können«, meinte er düster.
Ich bückte mich und fuhr mit der Hand über das bräunlich verfärbte Gras. Es fühlte sich schleimig an. Ich verzog das Gesicht, und der Vorarbeiter lachte.
«Gräßlich, was? Es stinkt auch.«
Ich roch an meinen Fingern und bedauerte es sofort.
«War das von Anfang an so schlüpfrig?«
«Ja, hoffnungslos.«
«Na, ich will Sie nicht mehr stören«, sagte ich lächelnd.
«Ich sage dem Verwalter Bescheid, daß Sie da waren. Schade, daß er Sie verfehlt hat.«
«Lassen Sie nur, der hat Sorgen genug.«
«Eine Schwierigkeit nach der anderen«, meinte Wilkins.»Wiedersehen!«Er kehrte zu seinem Spaten zurück.
Ich machte mich wieder auf den Weg zu den verlassenen Tribünen. Eine Weile zögerte ich vor dem Wiegeraum und überlegte, ob ich mit meinen Nachschlüsseln aufsperren sollte, aber ich wußte, daß das vor allem Heimweh war, nicht von der Überzeugung diktiert, daß ich dabei etwas Brauchbares in Erfahrung bringen konnte. Ich begnügte mich damit, durch die Fenster zu starren.
Der leere Wiegeraum bot keine Überraschung: nackter
Holzboden, in einer Ecke ein Tisch und ein paar Stühle, links die große Waage.
Von dem alten Typ, bei dem die Jockeys auf einer Plattform standen, während Gewichte aufgelegt wurden, gab es keine mehr. Das dauerte viel zu lange. Jetzt verwendete man entweder Hängesitze, in denen man sich wie ein Sack Zucker vorkam, oder angeschraubte Stühle auf Federn. In beiden Fällen wurde das Gewicht durch einen Zeiger, der auf einer großen Scheibe herumwanderte, angezeigt. Ganz schlicht ausgedrückt: Es waren moderne Küchenwaagen in großer Ausführung.
Die Waage in Seabury gehörte zu dem Typ mit den angeschraubten Stühlen, die mir immer am praktischsten vorgekommen waren.
Ich zuckte die Achseln und wandte mich ab. Dort würde ich jedenfalls nie mehr Platz nehmen.
Ich setzte mich in den Wagen, fuhr zur nächsten Stadt, erkundigte mich nach der Chemiefabrik Intersouth und unterhielt mich eine Stunde später mit dem Personalchef.
Ich behauptete, im Auftrag des Nationalen Rennsportkomitees in Erfahrung bringen zu wollen, ob der Fahrer des Tanklastzugs inzwischen wieder gesund wäre und ob er sich noch an Einzelheiten erinnern könnte.
Der Personalchef, dick, Ende Fünfzig, war freundlich, konnte mir aber nicht helfen.
«Smith hat gekündigt«, sagte er.»Wir haben ihm ein paar Tage freigegeben. Gestern kam er zurück und sagte, seine Frau wollte nicht, daß er weiter Chemikalien führe. Er wollte Schluß machen.«
«War er lange bei Ihnen?«
«Ungefähr ein Jahr.«
«Ein guter Fahrer, nehme ich an?«
«Ja, guter Durchschnitt. Wir nehmen nur gute Fahrer. Smith war in Ordnung, aber nichts Besonderes.«
«Und Sie wissen immer noch nicht genau, wie es passiert ist?«
«Nein«, seufzte er.»Es gehört allerhand dazu, einen Tankwagen umzuwerfen. Auf der Straße selbst sah man keine Spuren. Sie war mit Öl, Benzin und der Säure bedeckt. Wenn es Spuren gegeben haben sollte, Schleuderspuren meine ich, dann waren sie jedenfalls verschwunden, nachdem die Kranwagen den Tankzug hochgehoben hatten.«
«Benutzen Ihre Fahrzeuge diese Straße oft?«
«In letzter Zeit schon, aber jetzt ist Schluß. Soviel ich mich erinnere, hat sogar Smith diesen Umweg gefunden. Ein paar von den anderen Fahrern waren sehr zufrieden.«
«Sie fahren also regelmäßig über den Platz?«
«Ja. Es ist der direkte Weg nach Southampton und zur Ölraffinerie in Fowley.«
«So. Was transportierte Smiths Fahrzeug?«
«Schwefelsäure. Sie wird unter anderem zur Benzinraffinierung verwendet.«
Schwefelsäure — ölig, ätzend. Etwas Schlimmeres hätte der Rennbahn gar nicht passieren können. Bei einem weniger ätzenden Mittel hätte man Sand auf das tote Gras werfen und die Rennen trotzdem abhalten können. Aber auf einem mit Vitriol getränkten Boden durfte man ein Pferd nicht einsetzen.
«Könnten Sie mir Smiths Adresse geben?«fragte ich.»Ich möchte bei ihm vorbeifahren und mich erkundigen, ob er sich erinnern kann.«
«Gerne. «Er suchte in einer Kartei und gab mir die Anschrift.
«Sagen Sie ihm, er kann wieder bei uns anfangen, wenn er will.«
Ich versprach es ihm, bedankte mich und fuhr in einen Vorort hinaus, wo Smith eine Zweizimmerwohnung hatte. Aber Smith und seine Frau wohnten nicht mehr dort. Sie hätten gepackt und wären gestern ausgezogen, erfuhr ich von einer jungen Frau. Nein, sie wüßte nicht, wo sie hingefahren seien; nein, sie hätten nichts hinterlassen, und ich brauchte mir auch keine Sorgen um seine Gesundheit zu machen, weil er nach dem Unfall die ganze Nacht gelacht, gesoffen und Platten gespielt habe. Offenbar sei seine Gehirnerschütterung sehr schnell vorübergegangen.
Inzwischen war es dunkel geworden. Langsam fuhr ich nach London zurück, zu meiner Wohnung in einem modernen Appartementhaus, nicht weit vom Büro entfernt. Ich brachte meinen Wagen in die Garage und fuhr mit dem Lift zum fünften Stock hinauf. Meine Wohnung hatte zwei Zimmer nach Süden, Schlaf- und Wohnzimmer, zwei Räume dahinter — Bad und Küche —, deren Fenster auf einen Innenhof gingen. Eine hübsche, sonnige Wohnung, die Möbel aus hellem Holz in kühlen Farben, Zentralheizung, Reinigung im Mietvertrag inbegriffen. Woche für Woche wurden mir die Lebensmittel geliefert. Der Abfall verschwand im Müllschlucker. Einfacher ging es nicht. Keine Mühe, kein Schmutz, keine Belastung — und sehr einsam, nach dem Leben mit Jenny.
Ich goß mir einen Kognak ein, setzte mich, legte die Beine auf den Tisch und dachte an Seabury, Ted Wilkins, Intersouth und Smith.
Danach dachte ich an Kraye: eine glatte, verlogene Schale, die unbarmherzige Habgier verbarg; eine Leidenschaft für Kristalle und für Grundstücke; eine Besessenheit, sich sauberzuhalten, um den Schmutz der Seele auszugleichen; und die abnorme Einstellung, eine verkrüppelte Hand anstarren und dann zuschlagen zu können.
Nein, Howard Kraye war nicht im mindesten sympathisch.