Kapitel 13

«Ich halte es für besser, wenn Sie wieder hineingehen«, sagte ich leise zu dem Ehepaar.»Wir erklären dem Mann, der eben kommt, was wir mit seinem Spiegel anstellen.«

>Papa< sah zur Straße, legte seinen Arm schützend um die Schultern seiner Frau und sagte dankbar:»Ja, ja.«

Beide verschwanden hastig durch die Hintertür in ihrem Häuschen, während ein großer Mann mit einer auseinanderklappbaren Leichtmetalleiter und einer großen Papierrolle zur Gartentür hereinkam. Ich hatte gehört, wie sein blauer Kombi gehalten hatte, wie die Handbremse angezogen worden war und die Leiter ausgeladen wurde. Chico, der noch im Baum saß, rührte sich nicht.

Ich stand mit dem Rücken zur Sonne, aber dem großen Mann schien sie direkt ins Gesicht, als er den Garten betrat.

Er sah aus wie eine Mischung zwischen einem Schwergewichtsringer und dem Vesuv — kantig, von brutaler Kraft und kurz vor einem Ausbruch.

Er kam direkt auf mich zu, ließ die Leiter fallen und fragte:

«Was ist los?«

«Der Spiegel«, sagte ich,»kommt hier runter!«

Seine Augen verengten sich plötzlich.

«Da kommt ein Plakat drauf«, sagte er noch ganz vernünftig und hob die Papierrolle hoch. Aber auf einmal kochte die Lava über, das Papier flog davon, und die Muskeln wölbten sich.

Von einem Kampf konnte kaum die Rede sein. Er zielte zuerst auf mein Gesicht, überlegte es sich anders und hämmerte mir beide Fäuste in den Bauch. Ich krümmte mich, fiel auf den Rasen, packte die Leiter und traf ihn damit in den Kniekehlen.

Unter dem Aufprall erzitterte der Boden. Er stürzte auf die Seite, und sein Jackett öffnete sich. Ich warf mich nach vorn und griff nach dem Revolver, der in einer Halfter an seinem Brustkorb steckte. Ich ergriff die Waffe, aber er wischte mich mit einem Arm beiseite, der dick war wie ein Telegrafenmast. Ich fiel um. Er raffte sich auf, riß den Revolver wieder an sich und feixte mich verächtlich an. Er schnellte hoch wie eine losgelassene Feder und stieß mir bei der Gelegenheit die Stiefelspitze in den Nabel. Außerdem legte er den Sicherungshebel seiner Waffe um.

Oben auf dem Baum stieß Chico einen Schrei aus. Der große Mann drehte sich um und machte drei Schritte auf ihn zu. Er sah ihn zum erstenmal. Da er die Auswahl hatte, wählte er sich ein Ziel aus, das noch Widerstand zu leisten vermochte. Die Hand mit dem Revolver richtete sich auf Chico.

«Leo!«schrie ich.

Keine Reaktion. Ich versuchte es noch einmal.

«Fred!«

Der große Mann drehte kurz den Kopf, und Chico sprang von oben auf ihn herab.

Ein Schuß löste sich, und wieder zersplitterte der Tag in glitzernde, winzige Bruchstücke. Ich saß auf dem Boden, die Knie angezogen, stöhnte leise, fluchte laut und versuchte hochzukommen.

Vom Lärm angelockt, erschienen die Nachbarn in ihren Gärten und starrten erstaunt über die Zäune. Das ältliche Ehepaar verharrte mit blassen Gesichtern am Fenster, mit offenen Mündern. Der große Mann hatte jetzt zuviel Publikum für einen Mord.

Chico war ihm an Größe unterlegen und an Geschicklichkeit nur knapp im Vorteil. Er und der große Mann schleuderten einander eine Weile herum, während ich zusammengekrümmt am Haus vorbei zum Gartentor kroch, aber der Kampf war schon entschieden. Es ging nur noch um den Rückzug.

Er kam allein daher, stürmte den Weg entlang, sah mich am Gartentor hängen und hob die Waffe. Auf der Straße standen schon Leute, und an den Fenstern erschienen immer mehr Zuschauer. In ohnmächtiger Wut ließ er die Waffe auf meinen Kopf niedersausen. Ich mußte das Tor loslassen und sackte zusammen — die Latten zum Glück zwischen mir und seinem Stiefel.

Er rannte zu seinem Wagen, ließ den Motor an und brauste in einer Staubwolke davon.

Chico kam angetorkelt. Aus einer aufgerissenen Braue lief Blut. Er wirkte besorgt und leicht angeschlagen.

«Ich dachte, Sie könnten wenigstens kämpfen«, knurrte ich spöttisch.

Er sank vor mir auf die Knie.»Trottel!«Er betastete mit den Fingern die Stirn und zuckte zusammen. Ich grinste ihn an.

«Sie sind davongelaufen«, sagte er.

«Natürlich.«

«Was haben Sie da?«Er nahm mir die kleine Kamera aus der Hand.»Jetzt sagen Sie bloß noch.«, rief er strahlend aus.

«Deswegen sind wir ja schließlich hergekommen.«

«Wie viele?«

«Vier von ihm, zwei vom Wagen.«

«Sid, mich trifft der Schlag.«

«Und mir ist schlecht. «Ich konnte nicht mehr. Ich rollte mich auf den Bauch und beförderte den Rest meines Frühstücks in die Hecke. Dann wurde mir langsam besser.

«Ich hole Sie mit dem Wagen ab«, sagte Chico.

«Kommt gar nicht in Frage«, bremste ich und wischte mir den Mund mit meinem Taschentuch ab.»Wir gehen in den Garten, ich brauche die Kugel!«»Die finden Sie nie«, wandte er ein und borgte sich mein Taschentuch, um sich das Blut von der Braue zu wischen.

«Was wetten wir?«sagte ich.

Ich zog mich am Gartentor hoch und konnte ein paar Augenblicke später wieder einigermaßen gerade stehen. Wir grinsten unseren Zuschauern beruhigend zu und kehrten in den Garten zurück. Die glitzernden Splitter des Spiegels lagen im Gras verstreut.

«Steigen Sie hinauf und sehen Sie nach, ob die Kugel im Holz steckt. Sie hat den Spiegel zertrümmert. Eigentlich müßte sie oben sein. Sonst müssen wir das Gras absuchen.«

Chico benützte diesmal die Leiter.

«Mensch, so ein Glück«, rief er herunter.»Sie ist hier.«

Ich sah, wie er ein Taschenmesser herausholte und aus dem Holzrahmen ein Stück herausschnitt. Er stieg herunter und hielt mir den kleinen verformten Klumpen auf der Handfläche hin. Ich steckte ihn in die Uhrentasche meiner Reithose.

Das Ehepaar war inzwischen wieder aus dem Haus gekommen, verwirrt und verängstigt, was man verstehen konnte.

Chico erbot sich, die Überreste des Spiegelrahmens zu entfernen, und tat es auch. Aber das Aufsammeln der Bruchstücke überließen wir den beiden.

Chico folgte einer plötzlichen Eingebung und holte das Plakat von einem Strauch herunter. Er entrollte es und zeigte es uns lachend: >Selig sind die Sanftmütigen, denn ihrer ist das Himmelreich<.

«Feiner Humor«, meinte Chico.

Ganz gegen seinen Wunsch kehrten wir auf unseren Beobachtungsposten in den Ginsterbüschen zurück.

«Haben Sie noch nicht genug?«fragte er gereizt.

«Die Streifenwagen kommen erst um sechs«, erinnerte ich ihn.

«Und Sie haben selbst gesagt, daß man wohl am ehesten kurz vor Einbruch der Dunkelheit etwas unternehmen wird.«

«Aber man hat doch schon etwas unternommen.«

«Kein Mensch kann sie daran hindern, mehr als eine Fußangel zu legen«, sagte ich.»Vor allem, weil die Sache mit dem Spiegel nicht hundertprozentig verläßlich war, selbst wenn wir ihn nicht entdeckt hätten. Es kommt ja darauf an, daß die Sonne scheint. Der Wetterbericht ist gut, ich weiß, aber seit wann kann man sich darauf verlassen? Eine einzige Wolke hätte alles vermasseln können Ich bin der Meinung, daß sie noch etwas in petto haben.«

«Sehr angenehm«, sagte er resigniert. Er führte >Revelation< weg, um ihn in den Wagen zurückzubringen. Er blieb lange fort. Als er zurückkam, setzte er sich neben mich und sagte:»Ich war noch in den Stallungen. Kein Mensch hat mich aufgehalten oder gefragt, was ich will. Kümmert sich denn da niemand darum? Die Putzfrauen sind nach Hause gegangen, in der Kantine ist noch eine Köchin. Sie sagte, ich wäre zu früh dran und sollte um halb sieben wiederkommen. In dem Tribünenbau war niemand bis auf einen alten Mann, der am Boiler herumwerkelte.«

Die Sonne stand tief am Himmel. Es wurde kälter. Wir froren.

«Sie haben das mit dem Spiegel geahnt, ehe Sie losgeritten sind«, sagte Chico.

«Es war eine Möglichkeit, mehr nicht.«

«Sie hätten am Zaun entlangreiten und in die Gärten schauen können, wie wir es nachher gemacht haben, statt über die Hürden zu springen.«

Ich grinste.

«Ja. Wie gesagt, ich habe der Versuchung nachgegeben.«

«Einfach verrückt. Sie müssen doch gewußt haben, daß Sie stürzen.«

«Durchaus nicht. Das mit dem Spiegel mußte ja nicht unbedingt klappen. Außerdem ist es besser, die Theorie in der Praxis zu erproben. Und ich wollte hier einfach mal reiten. Ich hatte eine gute Ausrede, für den Fall, daß ich erwischt worden wäre. Also habe ich es probiert. Es war großartig! Schenken Sie sich den Rest.«

Er lachte.»In Ordnung. «Er stand auf und sagte, er wollte sich noch einmal umsehen. Während er unterwegs war, beobachtete ich den Rennplatz mit und ohne Fernglas, aber nichts rührte sich.

Er kam leise zurück und ließ sich neben mir ins Gras sinken.

«Wie gehabt.«

«Hier war auch nichts los.«

Er sah mich von der Seite an.»Fühlen Sie sich so miserabel, wie Sie aussehen?«

«Würde mich nicht wundern«, entgegnete ich.»Und Sie?«

Er berührte vorsichtig seine Stirn.»Schlimmer, viel schlimmer. So ein Pech, daß er Sie in den Magen geschlagen hat.«

«Das war Absicht«, sagte ich,»und sehr aufschlußreich.«

«Was?«

«Es zeigt, daß er wußte, wer ich bin. Er hätte uns nicht zu überfallen brauchen, wenn wir einfach vom Rennplatz herübergekommen wären, um den Spiegel zu drehen. Aber er erkannte mich und wußte, daß er bei mir mit dem Märchen vom Plakat nicht durchkommen würde. Solche Typen wie er ziehen sich nicht einfach zurück, ohne sich zu revanchieren. Er schlug einfach da hin, wo er wußte, daß es die größte Wirkung haben würde. Ich konnte in seinem Gesicht lesen, was er dachte.«

«Aber woher wußte er das?«

«Er hat Andrews zu uns geschickt«, sagte ich.»Er war der Mann, den Brinton beschreibt: groß, fast kahlköpfig,

Sommersprossen auf dem Handrücken. Er bedrohte Brinton und schickte Andrews zu uns ins Büro, um den Brief zu holen. Ja. Andrews kannte mich, und ich kannte ihn. Er mußte zu seinem Auftraggeber gegangen sein und ihm berichtet haben, daß ich einen Bauchschuß abbekommen hatte. Von meinem Tod stand nichts in den Zeitungen, also wußte Fred, daß ich noch lebte und Andrews sofort identifizieren würde. Andrews war für Fred kein tragbares Risiko, also dürfte er ihn sofort nach Epping Forest geschafft und umgelegt haben.«

«Glauben Sie, daß Freds Waffe. Wollten Sie deshalb die Kugel haben?«

Ich nickte.»Richtig. Ich versuchte, die Waffe auch in die Hände zu bekommen, aber das klappte nicht. Wenn ich in dem Beruf bleibe, müssen Sie mir Judo beibringen.«

Er sah mich zweifelnd an.»Mit der Hand?«

«Dann erfinden Sie eben eine neue Sportart«, sagte ich.»Judo einarmig.«

«Ich nehme Sie mit in den Club«, sagte er lächelnd.»Da gibt es einen alten Japaner, der bestimmt einen Weg findet.«

«Gut.«

Oben am anderen Ende des Rennplatzes bog ein Pferdetransportwagen von der Hauptstraße ab und rollte zu den Stallungen. Das erste der Pferde für die morgigen Rennen war eingetroffen.

Chico machte sich auf den Weg, um nachzusehen. Ich saß in der Dämmerung, ohne daß etwas geschah, und dachte Grimmiges über Fred — nicht Leo, Fred!

Sie waren zu viert, dachte ich: Kraye, Bolt, Fred und Leo.

Mit Kraye war ich zusammengetroffen: Er kannte mich nur als Sid, einen unliebsamen Schmarotzer im Haus eines pensionierten Admirals, den er in seinem Club kennengelernt hatte.

Ich war Bolt begegnet: Er kannte mich als John Halley, einen

Verkäufer, der ein Geschäft machen wollte, indem er ein Geschenk seiner Tante investierte.

Ich war Fred begegnet: Er kannte meinen vollen Namen, wußte, daß ich für Radnor arbeitete und in Seabury aufgetaucht war.

Ich wußte nicht, ob ich Leo schon getroffen hatte — aber es war möglich, daß Leo mich kannte. Wenn er mit dem Rennsport zu tun hatte, war das bestimmt der Fall.

Zu befürchten hatte ich nichts, dachte ich, solange sie nicht zu früh dahinterkamen, daß alle diese Sids und Halleys ein und dieselbe Person waren. Aber da war meine verkrüppelte Hand, die mir Kraye aus der Tasche gerissen hatte, die Fred im Garten aufgefallen sein mußte und von der Leo in der letzten Woche erfahren haben konnte, dank meines Versprechens gegenüber Zanna Martin, die für Bolt arbeitete. Ein richtiges Karussell, dachte ich.

Chico tauchte plötzlich auf.

«Das war Pingpong. Er startet morgen im ersten Rennen. Soweit ist alles in Ordnung«, sagte er.»Nirgends rührt sich etwas. Wir können gehen.«

Es war lange fünf vorbei. Ich stimmte zu und erhob mich mühsam.

«Dieser Fred«, sagte Chico, während er mir aufhalf,»ich habe nachgedacht. Er ist mir schon ein paarmal begegnet bei den Rennen. Er arbeitet nicht für einen Buchmacher oder so, taucht aber immer wieder auf.«

«Hoffentlich bringt er uns nicht alles durcheinander«, sagte ich.

«Ich wüßte nicht, warum«, meinte er ernsthaft.»Er kommt doch niemals auf die Idee, daß Sie ihn mit Andrews oder Kraye in Verbindung bringen. Sie haben ihn nur dabei erwischt, daß er ein Plakat an einem Baum anbringen wollte. An seiner Stelle

würde ich ruhig schlafen.«

«Ich habe ihn Fred genannt«, sagte ich.

«Oh«, entfuhr es Chico,»das stimmt.«

Wir erreichten die Straße und marschierten zum Pferdewagen.

«Fred scheint die Hauptarbeiten zu übernehmen«, sagte Chico.

«Er gräbt die Abzugskanäle, zündet Stallungen an und kippt Tankfahrzeuge um.«

«Mit den Flaggen hat er aber nicht gewinkt, da war er auf dem Baum.«

«Hm, ja! Wer war das?«

«Nicht Bolt«, sagte ich.»Bolt ist viel dicker — vielleicht Kraye, wahrscheinlich aber Leo.«

«Oder einer der Arbeiter oder Vorarbeiter.«

«Ja.«

Chico steuerte den Pferdewagen zu Mark zurück und durfte dann mit meinem Wagen nach London zurückfahren.

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