Vier Tage nach meiner Ankunft in Aynsford kam ich nach dem Nachmittagsschlaf ins Parterre, wo Charles in der großen Halle vor einer riesigen Kiste stand und darin wühlte. Auf dem ganzen Parkett war Holzwolle verstreut, auf einem niedrigen Tisch neben ihm lagen Trophäen seiner Wühlarbeit, für mein ungeübtes Auge nichts als Gesteinsbrocken.
Ich nahm einen davon in die Hand. Auf einer Seite war der Stein glattgeschliffen. Dort klebte ein Etikett.
>Porphyr< stand darauf und darunter >Mineralogiestiftung Carverc.
«Ich wußte nicht, daß du dich so für Quarz interessierst.«
Er warf mir einen seiner ausdruckslosen Blicke zu, die nicht bedeuteten, daß er mich nicht gehört oder verstanden hätte, sondern daß er sich nur nicht zu erklären gedachte.
«Ich angele«, sagte er und griff wieder in die Kiste. Der Quarz war also ein Köder. Ich legte den Porphyr weg und nahm ein anderes Stück. Es war klein, ungefähr eigroß und wunderschön, klar und durchsichtig wie Glas. Auf dem Etikett stand nur >Bergkristallc.
«Wenn du dich nützlich machen willst«, sagte Charles,»kannst du auf die leeren Etiketten, die auf meinem Schreibtisch liegen, die Namen schreiben, die Klebezettel der Stiftung ablösen und die neuen aufkleben. Aber die alten nicht wegwerfen! Wir müssen sie auswechseln, wenn das Zeug zurückgeschickt wird.«
«In Ordnung.«
Der nächste Brocken, den ich aufhob, war schwer und von Gold durchzogen.
«Sind die Dinger wertvoll?«erkundigte ich mich.
«Manche schon. Irgendwo muß eine Broschüre sein. Ich habe der Stiftung erklärt, daß sie hier in Sicherheit sind. Ich sagte, ein Privatdetektiv wäre im Haus und bewachte sie ständig.«
Ich lachte und begann, nach der Inventurliste neue Etiketten zu schreiben. Die Brocken hatten keinen Platz mehr auf dem Tisch und mußten auf den Boden gelegt werden, bevor die Kiste leer war.
«Draußen ist noch eine Kiste«, meinte Charles.
«Um Gottes willen!«
«Ich sammle Quarz«, sagte Charles würdevoll,»das bitte ich nicht zu vergessen. Ich sammle schon seit Jahren, nicht wahr?«
«Seit Jahren«, stimmte ich zu.»Du bist eine Autorität.«
«Ich habe genau einen Tag Zeit, um alle Namen auswendig zu lernen«, sagte Charles lächelnd.»Sie sind später gekommen, als ich dachte. Bis morgen abend darf mir kein Fehler mehr unterlaufen.«
Er holte die zweite Ladung, die wesentlich kleiner war und wichtigtuerische Siegel trug. In der Kiste befanden sich ungeschliffene Halbedelsteine, jeder auf eigenem Sockel. Der Gesamtwert machte mich schwindlig. Die Stiftung Carver mußte das Märchen mit dem Privatdetektiv ernst genommen haben. Man hätte die Schätze nicht herausgegeben, wenn mein Gesundheitszustand dort bekannt gewesen wäre.
Wir arbeiteten geraume Zeit an der Auswechslung der Etiketten, während Charles die Namen wie Beschwörungsformeln vor sich hinmurmelte.
«Chrysopras, Aventurin, Achat, Onyx, Chalzedon, Tigerauge, Karneol, Citrin, Rosentopas, Plasma, Basanit, Heliotrop, Hornstein. Warum, zum Teufel, habe ich damit angefangen?«
«Na, und warum?«
Wieder der ausdruckslose Blick. Er wollte nicht damit herausrücken.
«Du kannst mich abhören«, sagte er.
Wir trugen sie Stück für Stück ins Eßzimmer, wo neben dem Kamin die großen Bücherschränke mit den Glastüren geleert worden waren.
«Da kommen sie später hinein«, sagte Charles, während er den großen Eßtisch mit einer dicken Filzplatte bedeckte.»Leg sie zunächst auf den Tisch.«
Als sie in Reih und Glied dalagen, ging er langsam im Kreis herum und lernte die Namen auswendig. Es waren ungefähr fünfzig Stück. Ich hörte ihn nach einer Weile ab, und er vergaß ungefähr die Hälfte. Kein Wunder, die meisten sahen einander ähnlich. Er seufzte.
«Jetzt trinken wir einen Schluck, und du gehst wieder ins Bett.«
Er ging voraus in das kleine Wohnzimmer und füllte zwei Gläser mit Kognak. Er prostete mir zu und trank genießerisch den ersten Schluck. Man spürte eine unterdrückte Erregung an ihm. In den unergründlichen Augen glitzerte es. Ich schlürfte den Kognak und fragte mich mit größerem Interesse, was er vorhatte.
«Übers Wochenende kommt Besuch«, sagte er gleichgültig.
«Mr. Rex van Dysart mit Frau und Mr. Howard Kraye mit Frau und meine Kusine Viola, die als Gastgeberin fungiert.«
«Alte Bekannte?«murmelte ich, da ich bisher nur von Viola gehört hatte.
«Nicht sehr«, sagte er beiläufig.»Sie werden morgen bis zum Abendessen hier sein. Da kannst du sie kennenlernen.«
«Aber ich bin doch überflüssig. Ich gehe hinauf, bevor sie kommen, und lasse mich übers Wochenende nicht blicken.«
«Nein«, sagte er scharf, viel zu nachdrücklich.
Ich war überrascht. Dann kam mir plötzlich die Idee, daß die ganze Spielerei mit den Gesteinsproben und seinem Angebot, mich bei ihm zu erholen, wohl nur dazu gedient hatte, eine Begegnung zwischen mir und den Wochenendgästen zu ermöglichen. Er bot mir Ruhe. Mr. van Dysart und Mr. Kraye bot er Quarzbrocken. Wir hatten seinen Köder geschluckt. Ich beschloß, ein bißchen an der Schnur zu zerren, um herauszufinden, wie entschlossen der Angler war.
«Ich bin aber lieber oben. Du weißt, daß ich Diät halten muß.«
Meine Ernährung bestand zu dieser Zeit aus Kognak, Bouillon und im Vakuum abgepackter Pasten, die man für die Versorgung von Astronauten erfunden hatte. Offenbar fügten diese Dinge meinen zerschossenen Gedärmen keinen weiteren Schaden zu.
«Beim Essen werden die meisten Leute aufgeschlossener, sie reden viel, und man lernt sie besser kennen.«
Er gab sich Mühe, nicht zu drängen.
«Sie reden mit dir genauso, wenn ich nicht dabei bin, sogar ungezwungener. Und ich kann euch nicht zusehen, wenn ihr alle Steaks verdrückt.«
«Du kannst alles, Sid«, sagte er nachdrücklich,»und ich glaube, daß du interessiert sein wirst, nicht gelangweilt — das verspreche ich dir! Noch einen Kognak?«
Ich schüttelte den Kopf und gab nach.
«Na schön, ich komme zum Essen, wenn du willst.«
Er entspannte sich nur wenig, ein beherrschter und kluger Mann. Ich lächelte ihn an, und er erriet, daß ich nur getestet hatte.
«Du bist ein Halunke«, sagte er.
Bei ihm war das ein Kompliment.
Das Transistorgerät neben meinem Bett brachte die Morgennachrichten, während ich langsam mein Astronautenfrühstück hinunterwürgte.
«Die für heute und morgen in Seabury vorgesehenen Rennveranstaltungen mußten abgesagt werden«, erklärte der Sprecher.
«Ein Tankzug mit flüssigen Chemikalien stürzte gestern nachmittag auf einer die Rennbahn überquerenden Straße um. Der Rasen wurde sehr stark beschädigt, und die Rennleitung entschied heute morgen nach einer Besichtigung, daß die Rennen nicht stattfinden können. Man hofft, die Bahn bis zur nächsten Veranstaltung in vierzehn Tagen wieder in rennfähigen Zustand bringen zu können. Hierzu erfolgt zu einem späteren Zeitpunkt noch eine Bekanntmachung. Abschließend der Wetterbericht «Das arme Seabury, dachte ich, immer dasselbe. Erst vor einem Jahr waren vor einer Veranstaltung die Stallungen abgebrannt. Auch damals hatte man absagen müssen, weil über Nacht nicht einmal Behelfsstallungen errichtet werden konnten, und das Nationale Rennsportkomitee nach Rücksprache mit Radnor entschieden hatte, daß die beliebige Unterbringung von Pferden in der Umgebung zu riskant wäre.
Die Bahn in Seabury war ausgesprochen gut, eine große Rundbahn ohne scharfe Kurven. Es hatte auch im Frühling schon einmal Schwierigkeiten gegeben: Während eines
Hindernisrennens war ein Entwässerungsgraben eingebrochen. Das Vorderbein eines bedauernswerten Pferdes war bis zu einer Tiefe von ungefähr vierzig Zentimetern abgerutscht, was zu einem Beinbruch geführt hatte. Bei dem sich entwickelnden Massensturz waren zwei weitere Pferde und ein Jockey schwer verletzt worden. Aus den Landkarten ließ sich das Vorhandensein des Abwasserkanals nicht ersehen, und ich hatte manchen Trainer Bedenken äußern hören, daß es vielleicht noch mehr solch alte Wassergräben gäbe, die ebenso unerwartet einbrechen könnten. Die Geschäftsführung behauptete natürlich das Gegenteil.
Eine Weile träumte ich vor mich hin, bestritt in Seabury ein Rennen und wünschte mir nutzlos, hoffnungslos, qualvoll, es in
Wirklichkeit tun zu können.
Mrs. Cross klopfte an die Tür und kam herein. Sie war eine kleine, unauffällige Frau mit braunem Haar und ein wenig schielenden graugrünen Augen. Obwohl sie völlig temperamentlos zu sein schien und kaum je sprach, hielt sie das Haus hervorragend in Schuß, unterstützt von einer meist unsichtbaren Armee von >Hilfenc. Für mich besaß sie die große Tugend, erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit hier zu arbeiten und Jenny und mir neutral gegenüberzustehen. Ihrer Vorgängerin, die Jenny wie ihr eigenes Kind betrachtet hatte, hätte ich nicht getraut.
«Der Admiral möchte wissen, ob Sie sich wohl fühlen, Mr. Halley?«fragte Mrs. Cross geziert und hob mein Tablett auf.
«Ja, danke, mehr oder weniger.«
«Er sagte, Sie möchten doch zu ihm ins Eßzimmer hinunterkommen.«
«Zu seinen Felsbrocken?«
Sie lächelte schwach.
«Er ist heute schon vor mir aufgestanden und hat dort gefrühstückt. Soll ich ihm sagen, daß Sie kommen?«
«Bitte.«
Als sie gegangen war und ich mich langsam anzog, läutete das Telefon. Kurz danach kam Charles selbst herauf.
«Das war die Polizei«, sagte er stirnrunzelnd,»offenbar hat man eine Leiche gefunden, die du identifizieren sollst.«
«Wessen Leiche?«
«Davon war nicht die Rede. Man schickt aber sofort einen Wagen her. Offenbar rief man hier an, weil man nicht genau wußte, wo du dich aufhältst.«
«Ich habe keine Angehörigen. Das muß ein Irrtum sein.«
Er zuckte die Achseln.»Wir werden ja bald Bescheid wissen. Komm jetzt mit hinunter und hör mich mit den Steinen ab. Ich glaube, jetzt habe ich’s.«
Wir gingen ins Eßzimmer, wo ich feststellen konnte, daß er nicht übertrieben hatte. Er ging die ganze Sammlung ohne einen einzigen Fehler durch. Ich veränderte die Reihenfolge, aber das brachte ihn nicht aus dem Konzept. Er lächelte zufrieden.
«Es klappt«, sagte er.»Jetzt legen wir sie in die Fächer, das heißt, die nicht so wertvollen da hinauf und die Halbedelsteine in den Bücherschrank im Wohnzimmer, den mit den Vorhängen an den Glastüren.«
«Sie gehören in einen Tresor. «Das hatte ich schon gestern abend erklärt.
«Trotz deiner Ängste ist nichts passiert, obwohl sie die ganze Nacht auf dem Tisch lagen.«
«Als beratender Privatdetektiv empfehle ich trotzdem einen Tresor.«
Er lachte.
«Du weißt sehr gut, daß ich keinen Tresor habe. Aber als beratender Privatdetektiv kannst du die Steine heute abend bewachen. Leg sie dir unters Kissen! Was hältst du davon?«
«Einverstanden.«
«Das ist doch nicht dein Ernst?«
«Eigentlich nicht, da schläft sich’s so hart.«
«Mensch.«
«Aber oben, entweder bei mir oder bei dir. Ein paar von diesen Steinen sind sehr wertvoll. Die Versicherungsprämie muß dich einen schönen Batzen Geld gekostet haben.«
«Äh. Nein«, gestand Charles.»Ich habe zugesichert, daß ich alles ersetze, was beschädigt wird oder verlorengeht.«
Ich riß die Augen auf.»Ich weiß, daß du reich bist, aber du bist vollkommen verrückt! Laß sie sofort versichern! Hast du eine Ahnung, was jedes einzelne Stück wert ist?«
«Nein, eigentlich nicht. Ich habe nicht gefragt.«
«Na, wenn dich ein Sammler besucht, wird er wohl davon ausgehen, daß du weißt, was du für die Stücke bezahlt hast.«
«Daran habe ich schon gedacht«, unterbrach er mich.»Ich habe sie von einem entfernten Vetter geerbt. Damit läßt sich viel Unwissenheit vertuschen, nicht nur Kosten und Wert, sondern auch Näheres über Kristallographie, Vorkommen, Seltenheit und so weiter. Ich habe festgestellt, daß sich an einem Tag einfach nicht genug lernen läßt, aber es müßte genügen, wenn ich mich mit der Sammlung ein bißchen vertraut zeige.«
«Gewiß. Du rufst jetzt sofort die Stiftung an und erkundigst dich, was die Steine wert sind, dann setzt du dich mit deinem Versicherungsmann in Verbindung. Du bist einfach zu ehrlich, Charles. Andere Leute sind es nicht. Du lebst jetzt in der großen bösen Welt, nicht mehr in der Marine.«
«Na schön«, sagte er jovial,»wird gemacht. Gib mir die Liste!«
Er ging ans Telefon, und ich legte die Steine in die leeren Fächer, aber bevor ich einigermaßen vorangekommen war, läutete es an der Eingangstür. Mrs. Cross öffnete und kam herein, um mir zu sagen, daß mich ein Polizeibeamter zu sprechen wünschte.
Ich steckte meine nutzlose, verkrüppelte linke Hand in die Tasche, wie ich es immer vor Fremden machte, und ging in die Halle. Ein großer, breitschultriger junger Mann in Uniform stand da und versuchte den Eindruck zu erwecken, als überwältigte ihn die großartige Umgebung überhaupt nicht.
«Ist es wegen der Leiche?«fragte ich.
«Ja, Sir, ich glaube, sie erwarten uns schon.«
«Wessen Leiche ist es denn?«»Das weiß ich nicht, Sir. Ich soll Sie nur abholen.«
«Tja. Wohin?«
«Nach Epping Forest, Sir.«
«Aber das ist ja weit weg«, wandte ich ein.
«Jawohl, Sir«, gab er mit einer Spur von Bedrückung zu.
«Sind Sie sicher, daß ich gebraucht werde?«
«Absolut, Sir.«
«Na schön. Setzen Sie sich einen Augenblick, ich hole meinen Mantel und sage Bescheid.«
Der Polizist trieb Schindluder mit dem Getriebe, was mich empörte. Wir brauchten zwei Stunden von Aynsford nach Epping Forest, viel zu lange. Schließlich nahm uns an einer Kreuzung ein anderer Polizist auf einem Motorrad in Empfang, und wir fuhren hinter ihm eine kurvenreiche Nebenstraße lang. Überall dehnte sich Wald, naß und düster an diesem graufeuchten Tag.
Nach einer scharfen Kurve trafen wir auf zwei Autos und einen Kombiwagen. Der Motorradfahrer hielt und stieg ab. Der Polizist und ich stiegen aus.
«Zwölf Uhr fünfzehn«, sagte der Motorradfahrer nach einem Blick auf die Uhr.»Ihr habt euch verspätet. Die hohen Tiere warten schon seit zwanzig Minuten.«
«Auf der Hauptstraße war viel Verkehr«, entschuldigte sich mein Fahrer.
«Sie hätten sich beeilen müssen«, meinte der Motorradfahrer.
«Los, hier herüber!«
Er führte uns auf einem kaum erkennbaren Pfad in den Wald. Wir stapften auf dem toten Laub dahin. Nach fast einem Dreiviertelkilometer stießen wir auf eine Gruppe von Männern, die vor einer Abschirmung aus Sackleinwand standen. Sie stapften mit den Beinen, um sich warm zu halten, und unterhielten sich mit leisen Stimmen.
«Mr. Halley?«
Einer gab mir die Hand, ein jovial wirkender Mann mittleren Alters, der sich als Chefinspektor Cornish vorstellte.
«Tut uns leid, daß wir Sie den ganzen Weg herschleppen mußten, aber wir möchten, daß Sie sich die — äh — Überreste ansehen, bevor wir sie wegschaffen. Ich möchte Sie gleich warnen, der Anblick ist scheußlich.«
Er schauderte.
«Wer ist es?«fragte ich.
«Wir hoffen, daß Sie uns das mit Bestimmtheit sagen können. Wir nehmen an — das sollen Sie uns selbst sagen. In Ordnung?«
Ich nickte. Er führte mich um die Abschirmung herum.
Es war Andrews. Was von ihm übriggeblieben war. Er mußte schon geraume Zeit tot sein. Ich begriff, warum mich die Polizeibeamten hierher geholt hatten; wenn man ihn aufhob, würde nicht mehr viel zu besichtigen sein.
«Nun?«
«Thomas Andrews«, sagte ich.
Sie sahen einander erleichtert an.
«Sind Sie sicher? Ganz sicher?«
«Ja.«
«Nicht nur wegen der Kleidung?«
«Nein. Haaransatz, vorstehende Ohren, außergewöhnlich runde Ohrleiste, verkümmerte Läppchen, sehr kurze Brauen, an der Nasenwurzel verdickt — spatelförmige Daumen, weiße Flecken auf den Nägeln, Haare auf den Grundgliedern der Finger.«
«Gut«, sagte Cornish.»Das reicht, würde ich sagen. Wir haben wegen der Kleidung ziemlich schnell eine vorläufige
Identifizierung durchführen können. Sie war ja auf der Fahndungsliste beschrieben. Aber die erste Erkundigung verlief negativ. Er scheint keine Angehörigen zu haben, und niemand konnte sich an besondere Kennzeichen erinnern. Keine Tätowierungen, keine Narben, keine Operationen, und, soweit wir das feststellen konnten, ist er nie bei einem Zahnarzt gewesen.«
«Gute Idee, das alles zu prüfen, bevor er dem Pathologen übergeben wird«, meinte ich.
«Das war eigentlich ein Einfall des Pathologen. «Er lächelte.
«Wer hat ihn gefunden?«fragte ich.
«Ein paar kleine Jungen.«
«Wann?«
«Vor drei Tagen, aber offenbar liegt er schon seit Wochen hier, wahrscheinlich bald, nachdem er auf Sie geschossen hat.«
«Ja. Hatte er die Waffe noch in der Tasche?«
Cornish schüttelte den Kopf.
«Nicht zu finden.«
«Sie wissen noch nicht, wie er ums Leben gekommen ist?«
«Nein, bis jetzt noch nicht. Aber jetzt, wo Sie ihn für uns identifiziert haben, können wir weitermachen.«
Wir traten hinter der Abschirmung hervor, und ein paar von den anderen machten sich mit einer Bahre auf den Weg. Ich beneidete sie nicht.
Cornish ging mit mir zum Wagen zurück. Der Fahrer folgte uns in kurzem Abstand. Wir ließen uns Zeit und sprachen über Andrews, aber der Weg schien sich endlos zu dehnen. Ich war noch nicht kräftig genug für solche Anstrengungen.
Als wir zu den Autos kamen, lud mich Cornish zum Mittagessen ein. Ich schüttelte den Kopf, erklärte, daß ich Diät halten müßte, und schlug statt dessen vor, etwas zu trinken.
«Gut«, sagte er.»Wir können beide einen Schluck vertragen. Gar nicht weit von hier gibt es ein gutes Wirtshaus. Ihr Fahrer kann vorausfahren.«
Er stieg in seinen Wagen, und wir fuhren ihm nach. In der Bar setzten wir uns an einen schwarzen Eichentisch, ich mit einem großen Kognak, er mit Whisky und belegten Broten. Wir waren von Zaumzeug, Jagdhörnern und Kupfergeschirr umgeben.
«Eigentlich merkwürdig, daß ich Sie so kennenlerne«, sagte Cornish kauend.»Ich habe Sie oft auf dem Rennplatz gesehen. Bei den Wetten auf Sie habe ich übrigens ganz schön gewonnen. Mir ist kaum eine Veranstaltung in Dunstable entgangen, bevor man den Platz verkauft hat. Jetzt stehen Häuser drauf. Ich gehe nicht mehr so oft zum Rennen, es ist mir zu weit. «Er lächelte freundlich und fuhr fort:»Das waren ein paar tolle Dinger in Dunstable. Erinnern Sie sich noch, als Sie auf Brushwood in letzter Sekunde gewonnen haben?«
«Ich erinnere mich«, sagte ich.
«Sie haben ihn buchstäblich auf die Schulter genommen und ins Ziel getragen. «Er biß von seinem Brot ab.»So einen Jubel hört man selten. Ganz ohne Witze, Sie waren wirklich phantastisch. Schade, daß Sie aufgeben mußten.«
«Ja.«
«Immerhin, Hindernisrennsport ist ein großes Risiko. Da gibt es eben immer einen Sturz zuviel.«
«Richtig.«
«Wo ist es eigentlich passiert?«
«In Stratfort on Avon, im Mai vor zwei Jahren.«
Er schüttelte mitfühlend den Kopf.»Scheußliches Pech.«
Ich lächelte.»Immerhin hatte ich vorher ziemlichen Erfolg.«
«Das kann man sagen. «Er schlug mit der Faust auf den Tisch.»Vor drei oder vier Jahren war ich mit meiner Frau in Kempton.«
Er sprach begeistert von Rennen, die er gesehen hatte, einer der echten Enthusiasten, ohne deren beständiges Interesse der ganze Rennsport verschwinden würde. Schließlich trank er seinen Whisky aus und schaute auf die Uhr.
«Ich muß zurück. Hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen. Eigentlich merkwürdig, wie’s oft geht, nicht? Als Sie noch ritten, hätten Sie wohl nie gedacht, daß Sie für diesen Beruf geeignet wären.«
«Was heißt geeignet?«fragte ich überrascht.
«Hm? Na, Andrews meine ich. Die Beschreibung, die Sie von seiner Kleidung gegeben haben, und jetzt die Identifizierung — sehr fachmännisch, wirklich brauchbar. «Er grinste.
«Ich habe mich aber nicht sehr klug benommen, als ich angeschossen wurde«, meinte ich.
Er zuckte die Achseln.»Das kann jedem passieren, glauben Sie mir. Darüber würde ich mir keine Gedanken machen.«
Während mich der Fahrer nach Aynsford zurückbrachte, lächelte ich über den Gedanken, daß mich jemand für einen guten Detektiv hielt. Es gab eine einfache Erklärung für meine Fähigkeit, zu beschreiben und zu identifizieren — ich hatte unzählige Akten über Vermißten- und Scheidungsfälle gelesen. Die ehemaligen Polizeibeamten, die sie zusammenstellten, wußten, wonach man identifizieren mußte: nach den unveränderlichen Dingen wie Ohren und Hände, nicht nach der Haarfarbe, nach Brillen oder Schnurrbärten. Einer hatte mir ohne Stolz erzählt, daß Perücken, Bärte oder der Gebrauch von Kosmetika keinen Eindruck auf ihn machten, weil er sich darum nicht bekümmerte.
«Ohren und Finger«, sagte der Fahrer,»die kann man nicht verändern.«
Er setzte mich an der Hintertür von Charles’ Villa ab, und ich ging durch den Flur in die Halle. Als ich die Treppe hinaufgehen wollte, erschien Charles unter der Tür zum Wohnzimmer.
«Ach, ich dachte schon, daß du es bist. Komm herein und schau dir das an!«
Widerwillig ließ ich das Geländer los und betrat das Zimmer.
«Da«, sagte er. Er hatte Leuchtröhren im Bücherschrank angebracht, und das Licht brachte die Halbedelsteine zum Glitzern. Die offenen Türen mit den roten Seidenvorhängen lieferten einen angenehmen Rahmen. Das Ganze wirkte sehr eindrucksvoll, und ich sagte ihm das auch.
«Gut. Das Licht flammt automatisch auf, wenn man die Tür öffnet. Raffiniert, nicht wahr? Und du kannst dich beruhigen, jetzt sind sie versichert.«
«Ausgezeichnet.«
Er klappte die Türen zu, und das Licht erlosch. Die roten Vorhänge verbargen diskret die Schätze vor dem Auge eines Unbefugten. Charles wandte sich mir zu und fragte mit ernster Miene:
«Wer war die Leiche?«
«Andrews.«
«Der Mann, der dich niedergeschossen hat? Unglaublich, Selbstmord?«
«Nein, ich glaube nicht. Jedenfalls war die Waffe nicht zu finden.«
Er deutete abrupt auf den Sessel.»Mein lieber Sid, setz dich! Du siehst wie ein — wie ein Gespenst aus. Du hättest dir die Anstrengung noch nicht zumuten dürfen. Leg die Beine hoch, ich bringe dir etwas zu trinken.«
Er bemühte sich um mich wie eine Glucke um ihr Jüngstes, holte mir zuerst ein Glas Wasser, dann ein Glas Kognak und schließlich eine Tasse Fleischextrakt aus der Küche, setzte sich mir gegenüber und sah zu, während ich trank.
«Magst du das Zeug?«fragte er mich.
«Ja, zum Glück.«
Ich erzählte ihm von Andrews und dem Zustand, in dem er aufgefunden worden war.
«Sieht aus, als sei er ermordet worden«, meinte er.
«Würde mich nicht wundern. Er war jung und gesund. In Essex wird er nicht plötzlich an Erschöpfung gestorben sein.«
Charles lachte.
«Wann kommen die Gäste?«fragte ich. Es war kurz nach fünf.
«Gegen sechs.«
«Dann gehe ich jetzt noch mal hinauf und lege mich eine Weile aufs Bett.«
«Es ist doch alles in Ordnung, Sid? Ich meine, wirklich in Ordnung?«
«Gewiß. Ich bin nur müde.«
«Kommst du zum Essen herunter?«Eine winzige Spur von Enttäuschung war aus seiner Stimme zu hören. Ich dachte an seine Mühe mit den Steinen, dachte daran, welche Manöver er ausgeführt hatte. Außerdem war ich auf seine Absichten wirklich neugierig geworden.
«Ja«, sagte ich, während ich aufstand,»laß mir einen Teelöffel aufdecken.«
Ich schaffte die Treppe und lag schwitzend auf dem Bett — und fluchte. Obwohl die Kugel alle lebenswichtigen Organe in meinem Körper verschont hatte, waren doch ein paar empfindliche Nerven geschädigt worden. Man hatte mir schon im Krankenhaus gesagt, daß es eine Weile dauern würde, bis ich mich wieder einigermaßen wohl fühlen würde. Es war kein Vergnügen, diese Meinung bestätigt zu finden.
Ich hörte die Besucher kommen, hörte ihre lauten, fröhlichen Stimmen, als man sie zu ihren Zimmern führte, das Zuklappen der Türen, das Rauschen des Wassers, das Poltern und Murmeln aus den Räumen in der Nähe und schließlich das leiser werdende Geplauder, als sie sich umgezogen hatten und an meiner Tür vorbei nach unten gingen. Ich raffte mich auf, zog die weite Hose und das Wollhemd aus, obwohl ich mich darin am wohlsten fühlte, und zog ein weißes Hemd und einen dunkelgrauen Anzug an.
Mein Gesicht starrte mich blaß, hager und dunkeläugig aus dem Spiegel an, als ich mir die Haare bürstete: Totenschädel beim Festessen. Ich grinste mich böse an. Es half nur wenig.