Radnor beraumte am nächsten Vormittag eine Besprechung über Seabury an, an der er selbst, Dolly, Chico und ich teilnahmen. Das rührte in erster Linie davon her, daß es mir am vergangenen Nachmittag doch noch gelungen war, Lord Hagbourne das Zugeständnis abzuringen, für kommenden Donnerstag, Freitag und Samstag durchgehend eine Wache für den Rennplatz einzusetzen.
Die Erdbewegungen mit den Bulldozern waren ohne Schwierigkeiten vonstatten gegangen. Ein Anruf in Seabury hatte ergeben, daß die Lohe mit Lastwagen angefahren und ausgebreitet wurde. Wenn nicht in letzter Sekunde etwas dazwischenkam, war die Durchführung der Rennen gesichert. Selbst das Wetter schien mitzuspielen. Das Barometer stieg; die Voraussage sprach von trocken, kalt und sonnig.
Dolly schlug reguläre Streifengänge vor, und Radnor neigte zu ihrer Meinung. Chico und ich hatten andere Vorstellungen.
«Wenn jemand die Bahn beschädigen will, wird er von einer Streife abgeschreckt«, meinte Dolly.»Genauso ist es, wenn sich die Anschläge auf die Tribünen richten.«
Radnor nickte.
«Das ist der sicherste Weg zu garantieren, daß die Rennen stattfinden. Wir brauchen wohl mindestens vier Mann.«
«Ich gebe zu, daß wir heute nacht, morgen und Freitag nacht eine Streife brauchen, für alle Fälle«, sagte ich.»Aber morgen, wenn der Platz mehr oder weniger verlassen ist. Für uns kommt es doch darauf an, sie dabei zu schnappen, und nicht, sie abzuschrecken. Bis jetzt haben wir noch kein Beweismaterial, das vor Gericht bestehen könnte. Wenn wir sie sozusagen mitten bei der Sabotage erwischen würden, wären wir viel besser dran.«
«Stimmt«, sagte Chico.»Verstecken und dann zupacken. Viel besser, als sie zu verjagen.«
«Ich erinnere mich dunkel«, sagte Dolly grinsend,»daß bei eurer letzten Falle die Maus auf den Käse geschossen hat.«
«Du lieber Gott, Dolly, mich trifft der Schlag«, sagte Chico lachend.
Selbst Radnor mußte lachen.»Aber jetzt im Ernst«, sagte er.
«Ich wüßte nicht, wie ihr das machen wollt. Ein Rennplatz ist viel zu groß. Wenn ihr euch versteckt, seht ihr nur einen kleinen Teil davon. Und wenn ihr euch zeigt, ist die Wirkung dieselbe wie bei einer Streife. Ich sehe keine Möglichkeit.«
«Hm«, sagte ich.»Aber es gibt immer noch etwas, was ich besser kann als jeder andere hier.«
«Und was wäre das?«fragte Chico angriffslustig.
«Reiten.«
«Oh«, sagte Chico.»Das stimmt allerdings.«
«Ein Pferd«, meinte Radnor nachdenklich.»Das ist eine Idee. Ein Reiter sieht auf einem Rennplatz nicht verdächtig aus. Und beweglich ist er auch. Woher wollen Sie das Pferd nehmen?«
«Ich könnte Mark Whitneys Privatpferd leihen. Er ist in der Nähe von Seabury zu Hause.«
«Aber können Sie noch.?«begann Dolly und verstummte plötzlich.»Ihr braucht mich gar nicht so anzufunkeln. Ich kann nicht einmal mit zwei Händen reiten.«
«Ein gewisser Gregory Philips mußte sich ziemlich weit oben den Arm amputieren lassen und ritt noch jahrelang bei Jagdrennen mit«, sagte ich.
«Genug gesagt«, erwiderte Dolly.»Und Chico?«
«Er kann Reithosen von mir haben, zur Tarnung. Und lässig am Geländer lehnen.«
«Sie mich auch«, sagte Chico liebenswürdig.
«Wollen wir es so machen, Sid?«fragte Radnor.
Ich nickte.
«Sehen Sie es sich mal von der schlimmsten Seite her an: Wir besitzen kein Material gegen Kraye, das bestehen könnte. Möglicherweise finden wir Smith, den Lastwagenfahrer, nicht, und selbst wenn es uns gelingt, hat er alles zu verlieren, wenn er den Mund aufmacht, und nichts zu gewinnen. Als vor einem Jahr die Stallungen abbrannten, konnten wir nicht nachweisen, daß das kein Unfall war. Ein Zigarettenstummel zum Beispiel. Die Stallburschen rauchen immer wieder, trotz des Verbotes. Der sogenannte Abzugskanal, der eingebrochen ist — wir wissen nicht, ob er einen Tag, eine Woche oder sechs Wochen vorher gegraben wurde. Der Brief, den William Brinton an seinen Bruder schrieb, ist nur eine Fassung aus dem Gedächtnis, als Beweis völlig unbrauchbar. Er hat uns lediglich davon überzeugt, daß Kraye zu allem fähig ist. Wir können ihn Lord Hagbourne nicht zeigen, weil ich ihn unter dem Siegel der Verschwiegenheit bekommen habe und er immer noch nicht hundertprozentig davon überzeugt ist, daß Kraye mehr getan hat als Aktien aufgekauft. So, wie ich die Sache sehe, müssen wir dem Gegner eine Gelegenheit geben, die nächste Aktion zu starten.«
«Sie glauben, daß er es tun wird?«
«Das ist doch sehr wahrscheinlich, nicht? Bis Februar sind in Seabury keine Rennen mehr. Das sind drei Monate. Und wenn ich richtig verstanden habe, eilt es Kraye wegen der politischen Lage ganz besonders. Er möchte doch sicher vermeiden, Fünfzigtausend für den Kauf von Seabury auszugeben, um dann festzustellen, daß über Nacht das Bauland verstaatlicht worden ist. An seiner Stelle würde ich schnell zum Zug kommen und an meine Bauherren verkaufen wollen. Den Fotos der Aktienverkaufsorders zufolge besitzt er jetzt schon dreiundzwanzig Prozent des Aktienkapitals. Das dürfte bei einer Abstimmung fast sicher reichen, den Verkauf durchzusetzen. Aber er ist habgierig. Er wird noch mehr haben wollen. Allerdings nur, wenn es schnell geht. Bis Februar zu warten, bedeutet ein Risiko für ihn. Ich bin der festen Meinung, daß er diese Woche wieder etwas unternehmen wird, wenn er eine Chance dazu sieht.«
«Ein Risiko ist es«, meinte Dolly.»Wenn nun etwas Schreckliches passiert und wir es weder verhindern noch die Täter fassen können?«
Sie diskutierten ein paar Minuten miteinander, aber schließlich sah mich Radnor an und sagte:»Sid?«
«Es ist Ihr Unternehmen«, sagte ich ernst,»also Ihr Risiko.«
«Aber Ihr Fall! Immer noch Ihr Fall. Sie müssen entscheiden.«
Ich verstand ihn nicht. Daß er mir bisher freie Hand gegeben hatte, war nicht allzu folgenschwer gewesen, aber daß er mir eine derartige Entscheidung überließ, hätte ich nie erwartet.
Immerhin.
«Chico und ich übernehmen das«, sagte ich.»Wir fahren heute abend los und bleiben morgen den ganzen Tag. Ich bin dafür, daß wir nicht einmal Captain Oxon verständigen, keinesfalls den Vorarbeiter Ted Wilkins oder seine Untergebenen. Wir rücken von der anderen Seite her an, und ich borge mir das Pferd, damit ich beweglich bin. Dolly kann für morgen nacht mit Oxon den Einsatz offizieller Streifen vereinbaren. Er soll ihnen ein heizbares Zimmer zur Verfügung stellen. Die Zentralheizung müßte funktionieren.«
«Und Freitag und Samstag?«fragte Radnor.
«Volle Bewachung, würde ich sagen. So viel Lord Hagbourne zuläßt. Im Gedränge kann man nicht Katz und Maus spielen.«
«In Ordnung«, sagte er entschieden.»Abgemacht!«
Als Dolly, Chico und ich an der Tür angekommen waren, sagte er:»Sid, könnte ich diese Fotos noch einmal sehen? Schicken Sie Jones damit herunter, wenn Sie sie nicht mehr brauchen.«
«Klar«, sagte ich.»Ich habe sie so studiert, daß ich sie schon auswendig kann. Ihnen fällt sicher gleich etwas auf, das mir entgangen ist.«
«Das geht oft so«, sagte er nickend.
Wir kehrten in unsere Abteilung zurück. Über die Vermittlung ließ ich Jones aufspüren, der in der Vermißtenabteilung war. Während er herunterkam, sah ich noch einmal den Stapel Fotos durch. Die Aktienverkaufsbescheinigungen, die Liste mit der Aufstellung der Bankkonten, die Briefe von Bolt, die Zehnpfundnoten und die beiden Blätter mit Daten, Initialen und Zahlen, die ganz zuunterst in dem Aktenköfferchen gelegen hatten. Von Anfang an war klar gewesen, daß es sich dabei um Listen über Ausgaben oder Einnahmen handelte. Inzwischen war ich aber überzeugt davon, daß das erstere in Frage kam. Ein gewisser W. L. B. hatte über ein Jahr lang regelmäßig jeden Monat fünfzig Pfund erhalten, und vier Tage nach dem letzten Datum mit W. L. B. hatte William Leslie Brinton, der Rennplatzadministrator in Dunstable, den schnellsten Ausweg gewählt — sechshundert Pfund und eine Drohung: der Preis für einen Menschen.
Die meisten anderen Anfangsbuchstaben bedeuteten mir nichts, bis auf die letzten, J. R. S., die auf den Tankwagenfahrer zu passen schienen. Die letzte Eintragung für J. R. S. über einhundert Pfund war einen Tag, bevor das Tankfahrzeug auf dem Rennplatz Seabury umgekippt war, datiert, an dem Tag, ehe Kraye nach Aynsford fuhr.
In der nächsten Zeile, der letzten, war eine weitere Summe von einhundertfünfzig Pfund für J. R. S. vermerkt. Das Datum war das des folgenden Dienstags, drei Tage bevor ich die Fotos aufnahm. Smith hatte an diesem Dienstag seine Stellung aufgegeben und die Wohnung gewechselt.
Zwischen den anderen, wechselnden Initialen tauchten ständig zwei Vornamen auf, Leo und Fred. Beide schienen regelmäßig besoldet zu werden. Entweder Leo oder Fred mußte meiner Meinung nach der große Mann gewesen sein, der Brinton besucht und erschreckt hatte. Entweder Leo oder Fred war der >große Manne, der Andrews mit einem Revolver in die Cromwell Road geschickt hatte.
Ich mußte also noch mit Leo oder Fred abrechnen.
Jones kam, um die Fotos zu holen. Ich legte sie in die Schachtel zurück und gab sie ihm.
«Wo ist denn unser Kaffee, du Hanswurst?«fragte Chico grob.
Wir waren bei Radnor gewesen, als Jones seine Runde gemacht hatte. Jones setzte Chico mit unfeinen Worten auseinander, wo er sich den Kaffee holen könnte. Chico ging einen Schritt auf ihn zu und sagte:»Das nimmst du zurück!«
Jones wiederholte die Beschimpfung. Chico ließ die Faust vorschnellen. Jones sprang einen Schritt zurück, lachte beleidigend, dabei fiel ihm die Schachtel aus der Hand und ging auf.
«Hört doch auf, ihr beiden!«schrie Dolly, als die großen Fotos auf ihren Schreibtisch und den Boden flatterten.
Jones half Dolly und mir, die Fotos aufzusammeln, legte sie ungeordnet in die Schachtel zurück und verschwand grinsend.
«Chico, der Klügere gibt nach«, sagte Dolly streng.
«Ach, lassen Sie mich in Ruhe«, zischte Chico.
Dolly biß sich auf die Lippe und sah in eine Ecke. Chico starrte mich trotzig an.
«Nur keine Aufregung, Kinder«, meinte ich beruhigend.
Chico machte ein grimmiges Gesicht und verließ das Zimmer. Die Vorstellung war vorbei, man machte sich wieder an die
Arbeit. Schreibmaschinen klapperten, jemand schaltete das Tonbandgerät ein, ein anderer begann zu telefonieren. Dolly seufzte und machte sich über die Liste für Seabury her. Ich saß da und dachte an Leo und Fred.
Nach einer Weile ging ich zur Abteilung Bona Fides hinauf, wo wie üblich wild durcheinander telefoniert wurde. George sah mich und schüttelte den Kopf. Jack Copeland, der einen geflickten grünen, ärmellosen Pullover trug, sagte mir zwischen zwei Telefongesprächen schnell, es wäre zwar bedauerlich, aber Fortschritte bei Kraye hätte man noch nicht erzielen können. Er habe seine Spuren aus der Zeit vor zehn Jahren ausgezeichnet verwischt. Man würde aber weiterschürfen, wenn ich es wollte.
Oben in der Vermißtenabteilung erklärte Sammy, es wäre noch zu früh, über den Verbleib von Smith etwas in Erfahrung bringen zu können.
Als ich der Meinung war, daß Mark Whitney nach dem zweiten Spaziergang wieder zu Hause sein müßte, rief ich ihn an und bat ihn, mir sein Gebrauchspferd zu leihen, ein altes Hindernisrennpferd ersten Ranges, das jetzt das Gnadenbrot bekam.
«Klar«, sagte er.»Wozu?«
Ich erklärte es ihm.
«Dann nehmen Sie am besten noch meinen Transportwagen mit«, meinte er.»Was tut ihr, wenn es die ganze Nacht gießt? Da sitzt ihr wenigstens im Trockenen.«
«Brauchen Sie den Wagen nicht? Im Wetterbericht heißt es >klar und trocken<.«
«Ich brauche ihn erst Freitag vormittag. Mein nächster Start ist erst in Seabury. Und auch da nur ein Pferd, obwohl es so nahe ist. Die Besitzer wollen einfach nicht mittun. Ich muß am Samstag bis nach Banbury fahren. Ausgesprochen albern, wo ich vor der Haustür eine viel bessere Bahn habe.«
«Wen lassen Sie in Seabury starten?«
Er erzählte mir des langen und breiten von einem halb blinden, völlig vertrottelten, gewohnheitsmäßigen Nichtspringer, mit dem er das Neulingsrennen gewinnen wollte. So, wie ich ihn kannte, würde er es wahrscheinlich schaffen. Wir vereinbarten, daß Chico und ich um acht Uhr abends bei ihm erscheinen würden. Ich legte auf. Dann verließ ich das Büro, fuhr mit der Untergrundbahn zum Company House in der City und ließ mir die Unterlagen über den Rennplatz Seabury geben. In einem numerierten Stuhl an einem langen Tisch, umgeben von ernsthaften Männern und Frauen, die ähnliche Unterlagen studierten und sich Notizen machten, ging ich die Liste der Aktionäre durch. Abgesehen von Kraye und seinen diversen Mittelsmännern, die ich durch die Vertrautheit mit den Fotos kannte, gab es keine größeren Aktienpakete. Niemand sonst besaß mehr als drei Prozent der Aktien, und da drei Prozent bedeuteten, daß ungefähr zweieinhalbtausend Pfund keinen Pfennig Dividende einbrachten, war leicht zu verstehen, warum niemand bestrebt war, sich einen größeren Anteil zu verschaffen.
Fothertons Name stand nicht auf der Liste. Obwohl das nichts bewies, weil ein Name wie >Mayday-Investitionen< alle möglichen Leute verbergen konnte, war ich mehr oder weniger überzeugt, daß Seaburys Administrator nicht auf den Untergang des Rennplatzes spekulierte. Alle großen Aktientransaktionen im vergangenen Jahr waren von Kraye lanciert.
Einige kleine Aktionäre, die an die zweihundert Anteilscheine besaßen, waren Leute, die ich persönlich kannte. Ich schrieb mir ihre Namen und Adressen auf, weil ich vorhatte, mir Bolts Rundschreiben zeigen zu lassen, sobald es mit der Post eintraf. Das war zwar ein Umweg, aber dafür sicher.
Ich scheute mich, an Zanna Martin zu denken.
Ich kehrte wieder ins Büro zurück und stellte fest, daß die
meisten noch beim Essen waren. Nur Chico saß an seinem Schreibtisch und kaute an seinen Nägeln. Ich sprach ihn an:»Wenn wir die ganze Nacht auf sein müssen, nehmen wir uns am besten den Nachmittag zum Schlafen frei.«
«Nicht nötig.«
«O doch. Ich bin nicht so jung wie Sie.«
«Armer alter Opa. «Er grinste plötzlich und entschuldigte sich für den Auftritt am Vormittag.»Ich kann nichts dafür. Dieser Jones geht mir auf die Nerven.«
«Jones ist mir egal. Ich denke an Dolly.«
«Komisch, ich mag sie eigentlich sogar sehr gern«, sagte er lachend.»Nur ihr mütterliches Gehabe macht mich verrückt.«
«Kein Wunder«, sagte ich freundlich.»Sie können auf meinem Sofa schlafen.«
Er seufzte.»Für Sie arbeitet es sich jedenfalls schwerer als für Dolly, das sehe ich schon.«
«Wie?«
«Sie verstehen mich schon, Freundchen — Sir, meine ich.«
Die anderen kamen zurück, auch Dolly, mit der ich vereinbarte, daß Chico den Nachmittag frei bekam.
«Die erste Streife fängt morgen um achtzehn Uhr an«, sagte sie.
«Soll ich den Leuten sagen, daß man Sie suchen und sich bei Ihnen melden soll?«
«Nein«, sagte ich entschieden.»Ich weiß nicht, wo ich dann sein werde.«
«Dann machen wir es wie sonst auch«, sagte sie.»Sie können sich beim Alten zu Hause melden, wenn sie anfangen, und das zweitemal um sechs Uhr früh, wenn sie abgelöst werden.«
«Und sie rufen ihn auch dazwischen an, wenn etwas passiert?«fragte ich.
«Ja. Wie üblich.«
«Das ist ja beinahe so schlimm wie bei einem Arzt«, meinte ich lächelnd.
Dolly nickte und sagte halb zu sich selbst:»Das werden Sie schon noch merken.«
Chico und ich gingen zu meiner Wohnung. Wir zogen die Vorhänge vor und versuchten zu schlafen. Mir fiel das nicht leicht, um halb drei Uhr nachmittags. Das war die Zeit fürs Rennen, nicht fürs Ausruhen. Es kam mir vor, als wär ich gerade erst eingedöst, als das Telefon läutete. Ich schaute auf die Uhr, als ich ins Wohnzimmer ging, und sah, daß es erst zehn vor fünf war. Ich hatte den Weckauftrag für sechs Uhr erteilt. Es war nicht der Auftragsdienst, sondern Dolly.
«Jemand hat einen Brief für Sie gebracht mit dem Vermerk >Sehr dringende Ich dachte, Sie wollten ihn noch sehen, bevor Sie nach Seabury fahren.«
«Wer hat ihn gebracht?«
«Ein Taxifahrer.«
«Schicken Sie ihn her.«
«Er ist schon fort.«
«Von wem ist der Brief?«
«Keine Ahnung. Ein einfacher, brauner Umschlag, wie wir ihn hier auch verwenden.«
«Na schön, ich komme.«
Chico stützte sich schläfrig auf den Ellbogen.
«Schlafen Sie weiter«, sagte ich.»Ich muß noch mal ins Büro, dauert nicht lange.«
Als ich wieder in meiner Abteilung war, entdeckte ich, daß nicht nur etwas für mich gekommen, sondern auch etwas verschwunden war: mein Schreibtisch. Ich war wieder ohne.
«Sammy bedauert, aber er hat einen neuen Assistenten und keinen Platz für ihn«, erklärte Dolly.
«Ich hatte doch meine Sachen in der Schublade«, beschwerte ich mich.
«Die sind hier«, sagte Dolly und wies auf ihren Schreibtisch.»Die Akte Brinton, eine halbe Flasche Kognak und ein paar Tabletten. Außerdem habe ich das am Boden gefunden.«
Sie gab mir ein in Zelloidinpapier eingewickeltes Päckchen.
«Das sind die Negative«, sagte ich.»Sie waren aber in einer Schachtel.«
«Die Jones weggeworfen hat.«
«Ach ja.«
Ich legte das Päckchen Negative in die Akte Brinton und schob ein großes Gummiband darüber.
«Und was ist mit der geheimnisvollen Nachricht?«fragte ich. Dolly schlitzte stumm den Umschlag auf, zog ein Blatt Papier heraus und gab es mir. Ich faltete es auseinander und starrte es ungläubig an.
Es war ein Rundschreiben mit dem Briefkopf >Charing, Street and King, Börsenmakler^ vordatiert auf morgen, mit dem Text:
>Sehr verehrte gnädige Frau, sehr geehrter Herr, verschiedene Kunden von uns möchten kleine Aktienpakete der in der folgenden Liste zusammengefaßten Gesellschaften erwerben. Wenn Sie gesonnen sein sollten, Ihre Anteilscheine zu veräußern, wären wir Ihnen dankbar, wenn Sie sich mit uns in Verbindung setzen würden. Wir sichern Ihnen einen auf dem heutigen Kurswert aufbauenden vernünftigen Preis zu.<
Dann folgte eine Liste von ungefähr dreißig Firmen. Ich kannte nur eine davon. Im letzten Drittel stand >Rennplatz Seabury<.
Ich drehte das Blatt um. Zanna Martin hatte mit hastiger Hand dort hingeschrieben:
>Das Rundschreiben geht nur an die Aktionäre von Seabury. Nicht ein einziges an jemanden, der Aktien anderer Gesellschaften besitzt. Die Rundschreiben sind heute früh von der Druckerei gekommen und werden morgen zur Post gegeben. Hoffentlich ist es das, was Sie brauchen. Das mit gestern abend tut mir leid.<
«Was ist das?«fragte Dolly.
«Ein Gnadenerweis«, sagte ich leichthin, während ich das Schreiben in die Akte Brinton schob.»Außerdem die Bestätigung dafür, daß Ellis Bolt nicht in den Heerscharen der Engel kämpft.«
«Sie sind ein Verrückter«, sagte sie.»Und nehmen Sie das Zeug von meinem Schreibtisch, ich habe keinen Platz dafür!«
Ich steckte Tabletten und Kognak in die Tasche und nahm die Akte an mich.
«Besser?«
«Danke, ja.«
«Bis dann, Süße! Wir sehen uns am Freitag.«
Auf dem Weg zurück zur Wohnung beschloß ich plötzlich, Zanna Martin aufzusuchen. Ich ging zu meinem Wagen in die Garage hinunter, ohne Chico aufzuwecken, und fuhr zum zweitenmal an diesem Tag in die City. Der Stoßverkehr war so stark, daß ich schon befürchtete, sie zu verfehlen, aber sie kam zehn Minuten später als sonst aus dem Büro, und ich holte sie ein, kurz bevor sie die Untergrundbahnstation erreichte.
«Miss Martin«, rief ich.»Darf ich Sie nach Hause bringen?«
«Mr. Halley?«
«Steigen Sie ein!«
Sie stieg ein, das heißt, sie öffnete die Tür, nahm die Akte Brinton, die auf dem Sitz lag, setzte sich, faltete den Mantel über ihren Knien zusammen und machte die Tür zu. Sie wandte mir die verunstaltete Seite ihres Gesichts zu und war sich dessen sehr bewußt. Kopftuch und Haar wurden ein wenig nach vorn gezogen.
Ich nahm einen Pfund- und einen Zehnshillingschein aus der Tasche und gab ihr das Geld. Sie lächelte und nahm es.
«Der Taxichauffeur hat unserer Telefonistin erzählt, daß Sie ihm das für die Überbringung des Briefes gegeben haben. Recht herzlichen Dank.«
Ich reihte mich in den Verkehr ein und fuhr in Richtung Finchley.
«Das blöde Huhn liegt immer noch im Ofen«, sagte sie.»Ich habe das Gas nicht wieder angezündet, nachdem Sie gegangen waren.«
«Ich würde heute abend bleiben«, erwiderte ich,»aber ich muß dienstlich weg; ein andermal gern.«
«Ja, vielleicht ein andermal«, sagte sie ruhig.»Ich verstehe, daß Sie mir nicht sagen konnten, für wen Sie arbeiten, weil Sie nicht wußten, ob ich eine — eine Komplizin von Mr. Bolt bin. Nachher befürchteten Sie, ich würde mich aufregen. Vergessen wir’s.«
«Sie sind großzügig.«
«Realistisch, wenn auch ein bißchen spät.«
Wir schwiegen eine Weile, dann fragte ich:»Was würde aus Krayes Aktien werden, wenn man beweisen könnte, daß er die Gesellschaft geschädigt hat? Wenn man ihn verurteilt, meine ich. Werden dann seine Aktien beschlagnahmt, oder gehören sie ihm noch, wenn er aus dem Gefängnis kommt?«
«Ich habe noch nie gehört, daß man Aktien beschlagnahmt hat«, sagte sie interessiert.»Aber das liegt doch wohl noch in der Zukunft?«
«Wenn ich das nur wüßte. Es fällt sehr ins Gewicht, wenn ich mir überlege, was ich jetzt tun soll.«
«Wie meinen Sie das?«
«Tja — eine einfache Methode, Kraye am Erwerb zu vieler Aktien zu hindern, bestünde darin, der Rennpresse und der Finanzpresse mitzuteilen, daß die Übernahme der Firma beabsichtigt ist. Der Preis würde in die Höhe schnellen. Aber Kraye besitzt schon dreiundzwanzig Prozent, und wenn man ihm seinen Anteil nicht wegnehmen kann, würde er sich entweder damit begnügen und für einen Verkauf stimmen, oder — wenn er kalte Füße bekäme — seine Anteile zu dem höheren Preis abstoßen und immer noch einen fetten Gewinn einstreichen. In beiden Fällen säße er fein da, im Gefängnis ebenso wie draußen. In beiden Fällen würde man Seabury auflösen und bebauen.«
«Ich nehme an, daß eine solche Transaktion schon öfter vorgekommen ist?«
«Solche Übernahmemanöver ja, aber nur ein Fall von bewußter Schädigung: in Dunstable. Auch das war Kraye.«
«Hat denn noch keine Rennbahn einen solchen Versuch überstanden?«
«Ich weiß es nur von Sandown. Vielleicht haben es andere insgeheim bewerkstelligt.«
«Und wie ging das in Sandown vor sich?«
«Der zuständige Gemeinderat fuhr dazwischen. Er erklärte definitiv, daß man keine Baugenehmigung erteilen würde. Damit war Schluß.«
«Es sieht so aus, als hätte Seabury nur eine Hoffnung — wenn der zuständige Gemeinderat genauso vorgehen würde. An Ihrer Stelle würde ich mich um entsprechende Beziehungen bemühen.«»Nicht übel, Miss Martin«, sagte ich lächelnd.»Eine ausgezeichnete Idee. Ich werde mich mal bei den zuständigen Leuten erkundigen.«
Sie nickte.»Es hat keinen Sinn, gegen die allgemeine Stimmung zu argumentieren. Da ist es besser, erst zu ermitteln, wozu die Meinung der Leute neigt, bevor man Druck ausübt.«
Wir erreichten Finchley.
«Ist Ihnen klar, Miss Martin, daß Sie Ihre Stellung verlieren, wenn ich Erfolg habe?«fragte ich.
Sie lachte.
«Der arme Mr. Bolt. Er ist kein schlechter Arbeitgeber. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Für eine erfahrene Maklersekretärin ist es einfach, eine gute Stellung zu finden.«
Ich hielt vor ihrem Haus und schaute auf die Uhr.
«Ich kann leider nicht mit reinkommen, ich bin sowieso schon spät dran.«
Sie öffnete ohne weitere Umstände die Tür und stieg aus.
«Vielen Dank, daß Sie gekommen sind. «Sie lächelte, schloß die Tür und winkte.
Ich fuhr zu meiner Wohnung zurück, so schnell es ging, und fluchte über den Verkehr. Erst als ich unten in der Garage den Motor abstellte und mich hinüberbeugte, um sie aufzuheben, entdeckte ich, daß die Akte Brinton verschwunden war. Dabei fiel mir ein, daß Miss Martin sie während der Fahrt auf dem Schoß gehabt hatte. Die Akte war also bei Zanna Martin. Ich hatte keine Zeit mehr, sie zu holen, und konnte Miss Martin auch nicht anrufen, weil ich den Namen des Hausbesitzers nicht kannte. Aber — so dachte ich mir — bis Freitag ist die Akte dort ja in Sicherheit.