Kapitel 20

Radnor, der am nächsten Tag erschien, wirkte müde, entmutigt und zehn Jahre älter.

Er starrte bedrückt meinen verbundenen Arm an, der zehn Zentimeter unter dem Ellbogen aufhörte.

«Tut mir leid ums Bürohaus«, sagte ich.

«Herrgott noch mal.«

«Kann man es wieder aufbauen? Wie schlimm ist das Ganze?«

«Sid.«

«Stehen die Außenmauern noch, oder muß man alles abreißen?«

«Ich bin zu alt, um noch einmal anzufangen«, sagte er.

«Was da zerstört ist, ist doch nur ein Haus. Sie brauchen nicht neu anzufangen. Das Unternehmen sind Sie, nicht das Gebäude, die Leute können anderswo genausogut für Sie arbeiten.«

Er setzte sich in einen Sessel, lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen.»Ich bin müde«, sagte er.

«Sie sind wohl kaum ins Bett gekommen?«

«Ich bin einundsiebzig«, erwiderte er tonlos.

Ich war völlig verblüfft. Bis zu diesem Augenblick hatte ich ihn auf Ende Fünfzig geschätzt.

«Unmöglich!«

«Die Zeit vergeht«, sagte er.»Einundsiebzig.«

«Wenn ich nicht vorgeschlagen hätte, daß wir uns um Kraye kümmern, wäre das Ganze nicht passiert«, sagte ich reumütig.

Er öffnete die Augen.

«Sie können nichts dafür, eher ich. Sie hätten Hagbourne die Fotos nicht mitgegeben. Daß sie nach Seabury gelangten, war

die direkte Ursache für die Bombenexplosionen. Es war also meine Schuld, nicht die Ihre.«

«Das konnten Sie doch nicht wissen«, wandte ich ein.

«Ich hätte es wissen müssen, bei meiner Erfahrung. Ich glaube. Manchmal sehe ich nicht mehr so klar — Konsequenzen dieser Art. «Seine Stimme wurde immer leiser.»Weil ich Hagbourne die Fotos mitgab, haben Sie Ihre Hand verloren.«

«Nein«, sagte ich entschieden.»Es ist albern, wenn Sie sich das aufladen. Hören Sie auf damit. Was sollen denn die andern tun, wenn Sie so weitermachen?«

Er schwieg.

«Meine Hand war sowieso nicht mehr zu gebrauchen«, sagte ich.»Wenn ich Kraye nachgegeben hätte, wäre sie mir geblieben. Das hatte mit Ihnen nichts zu tun.«

Er stand auf.

«Sie haben Kraye allerhand vorgelogen«, sagte er.

«Stimmt.«

«Aber mich lügen Sie nicht an.«

«Natürlich nicht.«

«Ich glaube Ihnen nicht.«

«Konzentrieren Sie sich drauf, das wird schon.«

«Sie haben keinen Respekt vor alten Leuten, Sid.«

«Nur dann nicht, wenn sie sich so dumm benehmen«, gab ich trocken zu.

Er stieß den Atem durch die Nase aus, aber er sagte nur:»Und Sie, arbeiten Sie noch für mich?«

«Das hängt von Ihnen ab. Beim nächstenmal fliegen wir vielleicht alle in die Luft.«

«Das Risiko gehe ich ein.«

«Also gut. Aber wir sind ja noch gar nicht fertig. Hat Chico die Negative bekommen?«»Ja. Er hat von allen zwei Abzüge machen lassen, einen für sich und einen für Sie. Er sagte, Sie wollten sie sehen, aber ich.«

«Haben Sie sie mitgebracht?«

«Ja, sie sind in meinem Wagen. Wollen Sie wirklich?«

«Na klar, ich kann es kaum noch erwarten«, sagte ich.

Tags darauf hatte ich ein paar Kissen mehr, ein Telefon neben dem Bett und den Ruf, ein schwieriger Patient zu sein.

Die Firma Hunt Radnor nahm an diesem Tag die Arbeit wieder auf, in Radnors kleinem Haus.

Kurz danach rief Chico von einer Zelle aus an.»Sammy hat den Kraftfahrer gefunden, diesen Smith«, sagte er.»Er war gestern in Birmingham. Da Kraye im Gefängnis sitzt, will Smith jetzt aussagen. Er gibt zu, daß er zweihundertfünfzig Pfund bekommen hat, um auszusteigen, nach dem Kippen des Tankfahrzeugs die Ketten abzumachen und sich an den Straßenrand zu setzen und eine Gehirnerschütterung zu simulieren. Leicht verdientes Geld.«

«Gut«, sagte ich.

«Aber das ist noch nicht alles. Er hat das Geld noch, jedenfalls fast alles. Kraye bezahlte die zweite Rate in Zehnpfundnoten von einem der Päckchen, die Sie fotografiert haben. Smith hat sogar noch einen der Scheine, die auf dem Bild sind. Er will ihn als Beweismaterial herausrücken, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß ihm jemand den Rest abnehmen wird. Oder Sie?«

«Nein.«

«Damit sitzt Kraye schön in der Tinte.«

«Prima«, sagte ich.»Trotzdem besitzt er immer noch dreiundzwanzig Prozent der Aktien.«

«Allerdings«, gab Chico zu.

«Wie sieht es mit dem Bürohaus aus?«fragte ich.

«Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. Die Außenmauern stehen noch, das Innere ist stark lädiert.«

«Wir könnten verschiedenes anders machen«, sagte ich,»zum Beispiel einen Lift einbauen.«

«Feine Sache«, meinte er zufrieden,»ich wüßte auch etwas Interessantes.«

«Was denn?«

«Das Haus nebenan steht zum Verkauf.«

Am Nachmittag kam Charles. Ich schlief gerade und fuhr entsetzt hoch, weil ich schlecht geträumt hatte.

«Du lieber Gott, Sid«, sagte er erschrocken,»bekommst du denn keine Spritzen?«

Ich nickte.»Keine Sorge. Erzähl mir lieber, was mit Fred war.«

Fred war schon in Charles’ Haus gewesen, als die Polizei auftauchte. Vier Beamte hatten ihn mit Mühe festhalten können.

«War der Schaden groß?«fragte ich.

«Er hatte alle Unterlagen in meinem Schreibtisch zerrissen. Anschließend wollte er alles in die Luft sprengen. «Er machte eine Pause.»Wie bist du auf die Idee gekommen, daß er bei mir auftauchen würde?«

«Sie wußten, daß ich die Fotos in Aynsford aufgenommen hatte, konnten aber nicht ahnen, daß sie in London entwickelt worden sind.«

Charles lächelte.

«Kommst du auf ein paar Tage nach Aynsford, wenn man dich hier entläßt?«

«Das muß ich doch schon mal gehört haben«, meinte ich,»vielen Dank, nein.«»Ich setze dir keinen Kraye mehr vor«, versprach er,»diesmal nur zur Erholung.«

«Ich möchte schon, aber ich habe keine Zeit. Die Firma muß über die Runden gebracht werden. Und ich habe mit meinem Chef das getan, was du mit mir in Aynsford angestellt hast.«

«Und das wäre?«

«Ich habe ihm wieder Mut gegeben.«

Charles lächelte amüsiert.

«Weißt du, wie alt er ist?«fragte ich.

«So um die Sechzig, warum?«Ich war überrascht.»Ich hatte keine Ahnung, daß er schon so alt ist, bis er es mir gestern erzählte.«

Charles starrte seine Zigarre an.

«Du hast immer gedacht, ich hätte ihn gebeten, dir eine Stellung zu verschaffen, nicht wahr?«meinte er.

Ich sah ihn verlegen an.

«So war es ganz und gar nicht. Ich kannte ihn nicht persönlich, nur vom Namen her. Er sprach mich eines Tages im Klub an und fragte mich, ob ich der Meinung wäre, daß du für ihn arbeiten könntest. Ich sagte ja, da wäre schon etwas zu machen, wenn er sich Zeit ließe.«

«Das glaube ich nicht.«

Er lächelte.»Ich erzählte ihm, daß du gut Schach spielest. Außerdem auch, daß du nur durch Zufall Jockey geworden bist, als du klein warst und deine Mutter gestorben war, und daß du auch in jedem anderen Beruf Erfolg haben würdest. Er sagte, er habe dich bei den Rennen beobachtet und hätte die Meinung, du wärst genau der Richtige. Dabei erzählte er mir sein Alter. Das war alles. Aber wir begriffen beide, was er meinte.«

«Ich hatte schon alles weggeworfen«, sagte ich,»ohne dich.«

«Ah ja«, sagte er.»Du hast mir für vieles zu danken, für sehr vieles.«

Bevor er ging, bat ich ihn, sich die Fotos anzusehen. Er studierte sie der Reihe nach, und gab sie kopfschüttelnd zurück.

Chefinspektor Cornish rief an, um mir mitzuteilen, daß Fred keine Chancen mehr hatte.

«Die Kugeln stimmen überein. Er zog dieselbe Waffe, als er überrascht wurde, aber zum Glück zu spät.«

«Schön dumm von ihm, den Revolver nicht wegzuwerfen.«

«Allerdings. Aber so etwas kommt oft vor, sonst würden wir die Kerle nie fassen. Er hat Kraye von dem Mord nichts erzählt, so daß wir ihn leider nicht als Mittäter anklagen können — sehr schade. Kraye scheint einen Tobsuchtsanfall bekommen zu haben, als er davon erfuhr. Offenbar bedauert er am meisten, daß er nichts von dem Bauchschuß wußte, als er Sie in seiner Gewalt hatte.«

«Zum Glück!«sagte ich.

Cornish lachte.»Fred sollte Brintons Brief selbst bei euch abholen, aber er wollte zu einem wichtigen Fußballspiel und schickte statt dessen Andrews. Den Revolver lieh er ihm nur zum Spaß, er wollte nicht, daß Andrews damit herumknallte. Und dann kam Andrews völlig entnervt daher und sagte, er habe Sie erschossen. Fred ging mit ihm in den Wald. Dabei soll sich der Schuß angeblich durch Zufall gelöst haben. Ich bitte Sie, was werden die Geschworenen sagen? Fred behauptete, er habe Kraye nichts erzählt, weil er ihn fürchtete.«

«Was? Fred fürchtet sich?«

«Kraye scheint keinen guten Eindruck auf ihn gemacht zu haben.«

«Das wundert mich nicht«, sagte ich.

Am Mittwoch vormittag erschienen Lord Hagbourne und

Mr. Fotherton. Ich saß auf dem Bettrand in einem dunkelblauen Bademantel, Hausschuhe an den Füßen, meinen Arm in der Schlinge, frisch rasiert, gekämmt und gewaschen. Meine Besucher waren erleichtert, mich so zu sehen, und machten es sich in den Lehnsesseln bequem.

«Sie erholen sich also, Sid?«fragte Lord Hagbourne.

«Ja, danke.«

«Gut, gut.«

«Wie war der Renntag?«fragte ich.»Am Samstag?«

Die beiden schienen von der Frage überrascht zu sein.

«Er hat doch stattgefunden?«fragte ich besorgt.

«Ja«, sagte Fotherton.»Das Wetter war gut, und wir hatten ziemlich viele Zuschauer.«

Lord Hagbourne sagte:»Übrigens sind nicht nur Ihre Streifenbeamten mit Schlafpulver versorgt worden. Die Stallburschen hatten am anderen Tag auch furchtbare Kopfschmerzen, und der alte Mann, der sich um die Heizung zu kümmern hatte, schlief in der Kantine auf dem Boden. Oxon hatte allen ein Glas Bier spendiert.«

Ich seufzte.

«Gestern war ein Techniker da, um den Heizkessel zu überprüfen«, sagte Lord Hagbourne.»Das Ding wäre schon zu alt, um größeren Belastungen noch standzuhalten, und es hätte sicher keine drei Stunden gedauert bis zur Explosion.«

«Sehr charmant«, sagte ich.

«Ich habe mich übrigens mit den Gemeinde- und Stadträten in Verbindung gesetzt«, fuhr Lord Hagbourne fort.»Man will den Beschluß fassen, daß keine Baugenehmigung erteilt werden soll.«

«Wunderbar«, sagte ich erfreut.

Fotherton räusperte sich, sah Lord Hagbourne zögernd an und richtete seinen Blick auf mich.

«Wir haben besprochen. «begann er.»Man hat beschlossen, Sie zu fragen, ob Sie — interessiert daran wären, den Posten. Ob Sie Rennplatzadministrator in Seabury werden wollen?«

«Ich?«fragte ich entgeistert.

«Für mich wird die Arbeit zuviel«, gab Fotherton zu.

«Sie haben den Rennplatz in letzter Sekunde gerettet«, erklärte Lord Hagbourne.»Wir wissen alle, daß es ungewöhnlich ist, einem Jockey so kurz nach dem Rücktritt diesen Posten anzubieten, aber das Direktorium von Seabury hat sich einstimmig dafür entschieden.«

Das war eine einmalige Ehrung. Ich bedankte mich, zögerte und erkundigte mich, ob ich es mir überlegen dürfte.

«Natürlich«, sagte Lord Hagbourne,»aber sagen Sie ja!«

Ich bat sie, sich die Fotos anzusehen, und das taten sie auch. Sie betrachteten jede Aufnahme gründlich, konnten mir aber nicht helfen.

Am nächsten Nachmittag erschien Zanna Martin mit riesigen Chrysanthemen, eine völlig veränderte Zanna Martin, in einem eleganten dunkelgrünen Kostüm und hochhackigen Schuhen. Sie trug das Haar kürzer und in modernem Schnitt. Sogar Lippenstift und Puder hatte sie aufgelegt. Man sah die Narben deutlich, aber Miss Martin war endlich damit zurechtgekommen.

«Sie sehen großartig aus«, sagte ich.

Sie war verlegen, aber sehr erfreut.

«Ich habe eine neue Stellung. Mein Gesicht scheint gar nicht aufzufallen. Jedenfalls sagte kein Mensch etwas. Diesmal ist es ein größeres Büro, auch das Gehalt ist erheblich größer.«

«Das freut mich sehr«, sagte ich.

«Ich komme mir vor wie ein neuer Mensch«, meinte sie.

«Ich auch.«

«Ich bin froh, daß wir uns kennengelernt haben. «Sie lächelte.

«Haben Sie die Akte zurückbekommen? Mr. Barnes war bei mir.«

«Ja, danke.«

«War sie wichtig?«

«Warum?«

«Er kam mir ein bißchen merkwürdig vor. Zuerst dachte ich mir, er wollte mir etwas darüber erzählen. Er fing auch an, verstummte aber schnell wieder.«

Na warte, Chico, dachte ich.

«Eine ganz normale Akte, nichts Besonderes«, sagte ich.

Ich zeigte auch ihr die Fotos, aber sie konnte nichts damit anfangen. Sie stand auf und zog die Handschuhe an.

«Auf Wiedersehen, Mr. Halley. Und herzlichen Dank für alles. Ich werde niemals vergessen, wieviel ich Ihnen schulde.«

«Wir waren nicht beim Essen«, sagte ich.

«Nein. «Sie lächelte. Jetzt brauchte sie mich nicht mehr.

«Macht nichts, ein andermal. «Sie gab mir die Hand.»Leben Sie wohl!«

Sie verließ das Zimmer.

«Leben Sie wohl, Miss Martin«, sagte ich in den leeren Raum hinein.»Leben Sie wohl.«

Ich seufzte ironisch und schlief ein.

Am Freitag vormittag erschien mein Steuerberater, Noel Wayne, den ich gebeten hatte, mich zu besuchen.

«Was ist los?«fragte er, nachdem er den Mantel abgelegt hatte.

Ich ging zum Fenster und schaute hinaus. Es regnete.

«Man hat mir einen Posten angeboten«, sagte ich,»als Administrator in Seabury.«

«Nein!!«sagte er verblüfft.»Nehmen Sie an?«

«Die Versuchung ist groß«, sagte ich,»die Sicherheit auch.«

«Gut. Dann übernehmen Sie den Posten!«

«Vor einer Woche war ich entschlossen, nie mehr als Privatdetektiv zu arbeiten.«

«Aha.«

«Deswegen möchte ich wissen, was Sie davon halten, wenn ich als Teilnehmer bei Radnor eintrete.«

Er bekam einen Hustenanfall.

«Ich dachte, Sie fühlen sich da nicht wohl?«

«Das war vor vier Wochen. Ich habe mich inzwischen verändert. Und ich will dabei bleiben.«

«Hat Ihnen Radnor angeboten, sein Teilhaber zu werden?«

«Nein. Er hätte es sicher getan, aber inzwischen explodierte ja die Bombe. Er wird mich nicht bitten, die Hälfte einer Ruine zu übernehmen. Und er gibt sich die Schuld daran.«

Ich deutete auf meinen Arm.

«Mit Grund?«

«Nein«, sagte ich bedrückt.»Ich bin ein Risiko eingegangen und hatte Pech.«

«Und was hatten Sie angenommen?«

«Daß Kraye zögern würde, so brutal zuzuschlagen.«

«Ich verstehe. «Wayne sagte es ganz gelassen, machte aber ein entsetztes Gesicht.»Und wollen Sie in Zukunft wieder solche Risiken eingehen?«

«Nur wenn es nötig ist.«

«Sie haben immer erzählt, daß Radnor nicht viel mit Strafsachen zu tun hat«, wandte er ein.

«Von jetzt an wird sich das ändern. - Hören Sie, das Haus nebenan steht zum Verkauf. Wir könnten die Zwischenwände herausbrechen lassen. Die Firma wird von Jahr zu Jahr größer. Ich möchte auch eine Abteilung für Versicherungsermittlungen gründen. Da gibt es viel Arbeit.«

«Sind Sie sicher, daß Radnor zustimmen wird?«

«Vielleicht wirft er mich hinaus, aber ich riskiere es. Was meinen Sie?«

«Ich glaube, Sie sind wieder ganz der Alte«, sagte Wayne nachdenklich.»Das ist gut, wirklich gut. Aber sagen Sie mir, was Sie wirklich dabei empfinden«, er deutete auf meinen amputierten Arm,»und diesmal keine dummen Bemerkungen, die Wahrheit!«

Ich sah ihn an und schwieg.

«Es ist erst eine Woche her. Eigentlich dürfte man die Frage noch gar nicht stellen«, sagte er.»Aber ich möchte es wissen.«

Ich schluckte. Es gab ein paar Wahrheiten, die man nicht aussprechen konnte. Statt dessen sagte ich:»Die Hand ist fort, fort wie viele andere Dinge, die ich früher hatte. Ich kann auch so leben.«

«Leben oder existieren?«

«Leben, ganz entschieden: leben!«

Ich griff nach der Broschüre, die mir Chico gebracht hatte, und zeigte sie ihm.

«Sehen Sie!«

Er warf einen Blick auf den Umschlag und erschrak. Er sah mich lächeln.»Na schön«, sagte er ernst.»Ja. Investieren Sie Ihr Geld in sich.«

«In die Firma«, sagte ich.

«Das meine ich ja«, sagte er,»in die Firma. In sich selbst.«

Nachdem wir die Einzelheiten besprochen hatten, zeigte ich auch ihm die Fotos.

«Bisher hat mir kein Mensch etwas sagen können. Die Fotos waren die direkte Ursache für die Bomben in meiner Wohnung und im Büro; auch dafür, daß ich die Hand verloren habe; aber ich sehe nicht, warum. Das macht mich fast verrückt.«

«Die Polizei. «meinte er.

«Die Polizei interessiert sich nur für das Foto einer Zehnpfundnote. Sie haben sich die anderen Aufnahmen angesehen, nichts damit anfangen können und sie Chico zurückgegeben.«

«Aber Kraye hat sich doch nicht um die Banknote gesorgt.«

«Nein, es muß etwas anderes sein.«

Noel nickte. Er nahm die Fotos und studierte sie der Reihe nach. Eine halbe Stunde später hob er den Kopf und starrte zum Fenster hinaus. Schließlich seufzte er.

«Das muß sie sein«, sagte er und gab mir eine Fotografie.

«Das ist doch nur die Zusammenfassung der Transaktionen«, sagte ich enttäuscht. Es war das Blatt mit der Überschrift S. R. -Seabury Rennbahn —, auf dem in summarischer Form alle Aktienkäufe Krayes aufgeführt waren.

«Passen Sie genau auf«, sagte Noel.»Die drei ersten Spalten interessieren nicht, aber was ist mit der letzten?«

«Sie meinen die Banken?«

«Genau.«

«Na und?«fragte ich.

«Wieviel verschiedene sind es?«

Ich zählte ab.

«Fünf: Barclays Bank, Piccadilly; Westminster Bank,

Birmingham; British Linen Bank, Glasgow; Lloyds Bank, Doncaster; National Provincial Bank, Liverpool.«

«Fünf Bankkonten in fünf verschiedenen Städten — nichts zu beanstanden. In vieler Beziehung ein vernünftiges Arrangement. Er kann im Land herumfahren und immer an sein Geld herankommen. Ich habe auch Konten bei drei verschiedenen Banken.«

«Das weiß ich. Ich verstehe aber nicht, wieso.«

«Hm«, sagte Noel.»Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß er die Einkommenssteuer hinterzogen hat.«

«Das ist alles?«sagte ich enttäuscht.

Noel betrachtete mich amüsiert.»Sie begreifen wirklich nicht.«

«Sie erwarten doch nicht, daß ein Mann wie Kraye jeden Penny ordnungsgemäß beim Finanzamt anmeldet. Ich weiß, in Amerika kann das sehr teuer kommen. Man braucht nur an Al Capone zu denken. Aber was steht bei uns als Höchststrafe darauf?«

«Er würde höchstens ein Jahr bekommen«, sagte er,»wenn — «

«Er wäre wahrscheinlich mit einer Geldstrafe davongekommen. Jetzt natürlich nicht, nachdem er mich so zugerichtet hat. Selbst dafür bekommt er höchstens drei oder vier Jahre und noch ein bißchen dazu für seine Sabotageakte. Er kommt also viel zu früh wieder heraus. Bolt wird wahrscheinlich seine Zulassung verlieren.«

«Halten Sie doch mal den Mund, und hören Sie mir zu«, sagte Noel.»Das ist zwar normal, wenn man mehr als ein Bankkonto hat. Man muß aber unter Umständen beim Finanzamt ein Formular unterschreiben, in dem bestätigt wird, daß man alle Bankkonten angegeben hat. Und wenn man eines oder mehrere verschweigt, handelt es sich um Betrug, und man kann, wenn es an den Tag kommt, strafrechtlich verfolgt werden. Angenommen, Kraye hat sein Formular unterschrieben und ein, zwei oder gar drei der fünf Konten unterschlagen? Und dann stellt er fest, daß von seinen geheimsten Unterlagen Fotografien existieren, aus denen sich ersehen läßt, daß die fünf Konten eindeutig ihm gehören.«

«Aber das wäre doch keinem Menschen aufgefallen«, wandte ich ein.

«Mag sein. Ihm muß die Gefahr jedoch riesengroß erschienen sein. Menschen, die etwas auf dem Gewissen haben, fürchten immer, daß ihre Schuld anderen offenbar wird. Ich sehe so etwas jeden Tag.«

«Trotzdem sind Bomben doch eine reichlich drastische Methode!«

«Das kommt nur auf die Summe an, um die es geht«, sagte er.

«Die höchste Geldstrafe bei Einkommensteuerhinterziehung beläuft sich auf das Doppelte des Steuerbetrages, den man nicht entrichtet hat. Wenn Sie zum Beispiel zehntausend Pfund verdienen, aber nur zweitausend angegeben haben, würde die Geldstrafe das Doppelte der Steuer für achttausend Pfund betragen. Wenn man die Steuerzuschläge mitrechnet, würde kaum etwas übrigbleiben — eine peinliche Überraschung.«

«Milde ausgedrückt«, ergänzte ich verblüfft.

«Ich frage mich nur«, meinte Noel nachdenklich,»wieviel Geld Kraye auf diesen fünf Konten untergebracht und beim Finanzamt nicht angegeben hat.«

«Es muß sehr viel sein«, sagte ich,»wenn er gleich zu Bomben greift.«

«Eben.«

Wir schwiegen lange Zeit.

Schließlich sagte ich:»Man ist weder gesetzlich noch moralisch verpflichtet, Steuersünder dem Finanzamt zu melden.«

Wayne schüttelte den Kopf.

«Aber wir könnten uns trotzdem diese fünf Banken merken, für alle Fälle.«»Wie Sie wollen«, stimmte ich zu.

«Dann könnte ich Kraye die Negative und die neuen Abzüge zurückgeben«, meinte ich,»ohne ihm zu sagen, daß ich weiß, warum er so scharf darauf ist.«

Noel sah mich fragend an, sagte aber nichts.

Ich grinste ein wenig.»Unter der Bedingung, daß er Seabury sein Aktienpaket von dreiundzwanzig Prozent schenkt!«

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