Kapitel 12

Chico und ich kauerten frierend im Ginstergebüsch und sahen die Sonne über dem Rennplatz aufsteigen. Wir hatten eine kalte, klare Nacht hinter uns, die Temperatur hatte um null Grad geschwankt, und wir zitterten beide erbärmlich. Hinter uns im Gebüsch und von außen nicht einzusehen, frühstückte >Revelation<, ehemaliger Gewinner des Cheltenham Gold Cup, auf magerer Weide. Wir hörten das Knirschen, wenn er tief an den Wurzeln zubiß, und das leise Knarren des Zaumzeugs. Chico und ich widerstanden schon seit geraumer Zeit der Versuchung, ihm seine warme Decke abzunehmen.

«Vielleicht versuchen sie es jetzt«, sagte Chico hoffnungsvoll,»bevor jemand wach wird.«

Während der Nacht hatte sich nichts gerührt, dessen waren wir uns sicher. Ich war mit >Revelation< jede Stunde einmal die ganze Bahn abgeritten, und Chico hatte leise die Tribünen durchforscht, eins mit den Schatten. Niemand war uns begegnet. Kein Laut, außer dem Wind — kein Licht, als das der Sterne und eines abnehmenden Mondes.

Unser Warteplatz — ausgewählt, als der Himmel heller wurde und wir uns verbergen mußten — befand sich so weit von der Tribüne entfernt wie möglich, an der unteren Kurve, wo die Straße die Rennbahn kreuzte. Büsche und Sträucher wuchsen zwischen Bahn und Zaun und schützten uns vor allen nicht zu neugierigen Blicken. Hinter dem Zaun lagen die kleinen rückwärtigen Gärten der ersten Bungalow-Reihe. Die Sonne stieg hell und gelblich zu unserer Linken empor, und die Vögel sangen. Es war halb acht Uhr.

«Wird ein herrlicher Tag«, meinte Chico.

Zehn Minuten nach neun Uhr begann es sich vor der Tribüne zu rühren, und der Traktor rollte mit einem Anhänger auf die Bahn. Ich nahm mein Fernglas aus dem Futteral, balancierte es auf meinen hochgezogenen Knien und schaute hindurch. Die Ladung des Anhängers schien aus Hürden zu bestehen. Drei Männer gingen zu Fuß daneben her. Ich gab Chico das Glas ohne Kommentar und gähnte.

«Nichts einzuwenden«, meinte er gelangweilt.

Wir sahen zu, wie der Traktor mit dem Anhänger langsam zum anderen Ende der Bahn fuhr, dort zum Abladen hielt und umkehrte, um die zweite Ladung zu holen. Bei der zweiten Fahrt kam er so nahe an uns vorbei, daß wir die Hürden genau sehen konnten, die man in regelmäßigen Abständen ablud, jeweils vier oder fünf, für den Fall, daß bei den Rennen einige zu Bruch gingen. Wir sahen eine Weile schweigend zu. Dann sagte ich langsam:

«Chico, ich bin blind gewesen.«

«Wieso?«

«Der Traktor«, sagte ich.»Der Traktor! Und die ganze Zeit hatten wir ihn vor der Nase.«

«So?«

«Der Tanklaster mit der Schwefelsäure ist von einem Traktor umgekippt worden. Ein kompliziertes Hebewerkzeug war da gar nicht erforderlich. Nur ein paar Seile oder Ketten um den Tank geschlungen und an den Achsen befestigt. Dann schraubt man die Luken auf und begibt sich in geziemende Entfernung. Jemand fährt den Traktor mit voller Kraft die Bahn hinauf, der Tanker kippt um, und die Sauce läuft heraus.«

«Auf jedem Rennplatz gibt es einen Traktor«, sagte Chico nachdenklich.

«Genau.«

«Also hat niemand Veranlassung, zweimal hinzusehen, wenn ein Traktor auf der Bahn unterwegs ist — klar. Niemand regt sich über die Spuren auf. Niemand spricht davon, wenn er einen gesehen hat. Wenn Sie recht haben, und ich bin überzeugt davon, muß es ja nicht unbedingt dieser, der zur Rennbahn gehörige Traktor gewesen sein.«

«Ich wette aber, daß man ihn benützt hat. «Ich erzählte Chico von den überprüften Initialen und Zahlen.»Morgen überprüfe ich die Anfangsbuchstaben aller Arbeiter hier, von Ted Wilkins an abwärts nach der Liste. Wahrscheinlich hat man einen dafür bezahlt, daß er den Traktor einfach auf der Rennbahn stehenließ. Das Tankfahrzeug kippte am Abend vor der Rennveranstaltung um, so wie heute. Der Traktor war damals auch in Betrieb: warm und voll Dieselöl. Nichts einfacher! Und nachher einfach die Bahn entlang und weg.«

«Es war nicht mehr sehr hell«, stimmte Chico zu.»Solange — während der paar Minuten, die es dauerte, die Seile oder Ketten abzumachen — niemand vorbeikam, konnte den Leuten nichts passieren. Keine Straßensperren, keine Umleitungen, nichts.«

Wir saßen da, beobachteten den Traktor und sahen ein, daß wir nichts beweisen konnten.

«Wir müssen uns verziehen«, sagte ich nach einer Weile.»Da vorn ist eine Hürde, keine fünfzig Meter entfernt. Sie werden gleich vorbeikommen.«

Wir zogen uns mit >Revelation< zu dem Pferdetransportwagen zurück, der fast einen Kilometer entfernt abgestellt war. Wir benützten die Gelegenheit, zu frühstücken. Als wir fertig waren, trat Chico als erster den Rückweg an, zuversichtlich in meiner Reithose, mit Reitstiefeln und Pullover dahinschlendernd, der perfekte Reitersmann von Kopf bis Fuß. Dabei hatte er in seinem ganzen Leben noch nie auf einem Pferd gesessen.

Nach einer Weile folgte ich auf >Revelation<. Die Männer hatten die Hürden in das Halbrund an der Kurve gebracht und zurechtgelegt. Sie marschierten jetzt die Bahn entlang und luden die letzte Ladung ab. Unbemerkt ritt ich ins Gebüsch zurück und stieg ab.

Von Chico war die nächste halbe Stunde nichts zu sehen, dann kam er, die Hände in den Taschen, pfeifend daher.

«Ich habe mich noch einmal an den Tribünen umgesehen«, sagte er.»Keiner paßt auf. Niemand hat mich gefragt, was ich dort treibe. Ein paar Frauen machen sauber, ein paar andere arbeiten im Stallgebäude. Ich sagte >Guten Morgenc, und sie begrüßten mich freundlich.«

Er war empört.

«Für Saboteure nicht gerade ideal«, sagte ich mürrisch.»Putzfrauen in den Tribünen und Arbeiter auf der Bahn.«

«Wenn es aber dunkel wird«, sagte Chico nickend.»Das halte ich jetzt für am wahrscheinlichsten.«

Der Vormittag verging langsam. Die Sonne stieg zu ihrem niedrigen Scheitelpunkt empor und schien uns grell in die Augen. Ich vertrieb mir die Zeit, indem ich >Revelation< und Chico fotografierte. Die winzige Kamera begeisterte ihn, er schwor sich, so ein Ding umgehend zu beschaffen. Ich steckte den Apparat in die Tasche, legte die Hand über die Augen und schaute zum hundertstenmal zur Rennbahn. Nichts — keine Männer, kein Traktor.

Ich blickte auf die Uhr: ein Uhr, Mittagszeit. Wir warteten. Chico nahm das Fernglas und besichtigte die Bahn.

«Vorsichtig«, sagte ich.»Nicht in die Sonne schauen damit. Das schadet den Augen.«

«Schon gut.«

Ich gähnte.

«Da ist ein Mann unterwegs«, sagte er plötzlich,»einer. Er marschiert einfach so dahin.«

Er gab mir das Glas. Er hatte recht. Ein Mann wanderte über den Rennplatz. Nicht die Bahn entlang, sondern über das Gras. Er war zu weit entfernt, als daß ich sein Gesicht hätte erkennen können, außerdem trug er einen Dufflecoat und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen. Ich hob die Schultern und ließ das Glas sinken. Er schien harmlos zu sein.

Da wir nichts Besseres zu tun hatten, sahen wir ihm zu, wie er zur anderen Seite ging, unter dem Geländer hindurchschlüpfte und weiterschlenderte, bis er hinter einer Hürde stand. Wir konnten nur noch Kopf und Schultern sehen.

Chico meinte, daß er seinen Tribut an die Natur ja auch in den Toiletten hätte entrichten können. Ich gähnte lächelnd. Der Mann blieb hinter der Hürde stehen.

«Was treibt er denn da?«sagte Chico nach fünf Minuten.

«Gar nichts«, sagte ich durchs Glas starrend.»Er steht nur da und schaut in unsere Richtung.«

«Glauben Sie, daß er uns entdeckt hat?«

«Nein, unmöglich, er hat kein Fernglas, und wir sitzen im Gebüsch.«

Weitere fünf Minuten vergingen.

«Er muß doch irgend etwas tun«, sagte Chico.

«Eben nicht«, sagte ich.

Chico nahm mir das Glas weg.

«Durch die Sonne sieht man überhaupt nichts«, beschwerte er sich.»Wir hätten uns auf der anderen Seite aufstellen sollen.«

«Vielleicht auf dem Parkplatz?«sagte ich ironisch.»Die Straße zu den Stallungen und dem Haupttor läuft doch dort entlang. Da gibt es überhaupt keine Deckung.«

«Er hat eine Flagge«, sagte Chico plötzlich.»Zwei Flaggen. In jeder Hand eine, links weiß, rechts orange. Er winkt abwechselnd damit. Wahrscheinlich irgendein Halbverrückter, der übt, wie man Krankenwagen und Tierarzt herbeiruft.«

Er war enttäuscht.

Ich beobachtete, wie die Flaggen geschwenkt wurden, zuerst weiß, dann orange, dann weiß, dann orange, mit Pausen von ein oder zwei Sekunden dazwischen. Verstehbare Signale schienen das nicht zu sein. Es handelte sich, wie Chico schon gesagt hatte, ganz einfach um die Flaggen, wie sie nach einem Sturz beim Rennen verwendet wurden; weiß, um den Krankenwagen für den Jockey herbeizuordern; orange, wenn ein Pferd verletzt war. Er trieb es nicht lange. Nach ungefähr achtmaligem Winken gab er auf und marschierte zu den Tribünen zurück.

«Wofür soll das gut gewesen sein?«fragte Chico.

Er suchte mit dem Fernglas noch einmal die ganze Rennbahn ab.

«Außer ihm und uns ist kein Mensch zu sehen.«

«Wahrscheinlich war er seit Monaten neben einer Hürde postiert und hat auf eine Gelegenheit gewartet, mit seinen Flaggen zu winken. Und die Versuchung war eben jetzt zu groß.«

Ich stand auf, streckte mich, ging durch das Gebüsch zu >Revelation< und nahm ihm die Decke ab.

«Was treiben Sie denn?«fragte Chico.

«Dasselbe wie der Mann mit den Flaggen. Ich erliege einer unerträglichen Versuchung. Helfen Sie mir hinauf!«

Er tat es, hielt aber die Zügel fest.

«Sie sind wahnsinnig. Sie haben heute nacht gesagt, daß man Sie vielleicht nach der Rennveranstaltung läßt, aber nie vorher. Wenn sie nun die Hürden zertöppern?«

«Dann gibt es einen Riesenstunk«, gab ich zu.»Aber ich sitze auf einem großartigen Sprungpferd, vor einer einmaligen Rennbahn, an einem herrlichen Tag, und alle sind beim Essen. «Ich grinste.»Hände weg!«

Chico gehorchte.

«Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich«, sagte er zweifelnd.

«Nur nicht zu Herzen nehmen«, erwiderte ich und trieb

>Revelation< an.

Ich ritt langsam hinaus auf die Bahn, Richtung Tribüne. Die Rennen wurden entgegen dem Uhrzeigersinn gelaufen. Immer noch langsam erreichten wir die Straße und überquerten die noch unbedeckte Teerdecke. Auf der anderen Seite der Straße war alles mit Lohe zugedeckt. Dem Pferd konnte es nicht schwerfallen, darüberzugaloppieren.

Auf der anderen Seite, als wir wieder Rasen unter uns hatten, begann >Revelation< zu traben. Er wußte, wo er war. Selbst ohne Zuschauer und ohne Lärm erregte es ihn, auf einer vertrauten Rennbahn zu sein. Seine Ohren stellten sich auf, seine Gangart wurde schneller. Mit vierzehn genoß er schon seit einem Jahr das Gnadenbrot, aber er bewegte sich unter mir wie ein Vierjähriger. Auch ihm, so schien es mir, machte es satanischen Spaß, dieses unerlaubte Vergnügen zu genießen.

Chico hatte natürlich recht. Ich durfte kurz vor einem Rennen nicht auf der Bahn reiten. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich wußte es besser.

Ich trieb >Revelation< an. Da ich nicht sicher war, ob >Revelation< ohne weiteres über die Hecke springen würde, versuchte ich es bei den Hürden.

Sobald er sie gesehen und meine Absicht gespürt hatte, wäre er wohl nicht mehr aufzuhalten gewesen, selbst wenn ich es gewollt hätte. Er setzte federleicht über die erste Hürde und raste auf die nächste zu. Danach ließ ich ihm freie Bahn, und er suchte sich meist die Hecke aus. Es schien ihm nichts auszumachen, daß er auf sich selbst gestellt war. Schließlich hatte er einmal den Gold Cup gewonnen und durfte endlich wieder mal etwas tun, wofür er geboren war. Er flog wie ein Vogel über die Hecke.

Meine Gefühle ließen sich nicht in Worte fassen. Ich hatte, seit ich gezwungen gewesen war, den Rennsport aufzugeben, gelegentlich auf Pferden gesessen, aber nie mehr tun können, als mit Marks Pferden zum Spazierritt auszureiten. Jetzt saß ich wieder da, wo ich früher hingehört hatte, konnte tun, was mir zweieinhalb Jahre versagt geblieben war. Ich grinste übers ganze Gesicht und lenkte >Revelation< auf den Wassergraben zu.

Er übersprang ihn mit weitem Abstand. Ideal! Von der Tribüne zu meiner Rechten drangen keine Zornesrufe an mein Ohr, und wir rasten um die Kurve. Wieder eine Hecke, >Revelation< schwebte darüber, fünf weitere auf der anderen Seite. Bei der dritten Hürde hatte der Mann mit seinen Flaggen gewinkt.

Da kam die Stange, der Graben, und das hohe Hindernis. >Revelation< setzte zum Sprung an.

Als wir in die Luft stiegen, kam er, der gleißende Blitz. Weißes, grelles, ins Gehirn dringendes Licht, das den Tag in eine Million Fragmente zersplitterte und die Welt im Sonnenglast für mich versinken ließ.

Ich spürte, wie >Revelation< unter mir stürzte, und rollte mich instinktiv zur Seite, mit offenen Augen, aber ohne etwas zu sehen. Dann der harte Aufprall am Boden, langsam wiederkehrendes Sehvermögen, vom grellen Licht zur Schwärze, durch Grau zu normal.

Ich war vor >Revelation< auf den Beinen und hatte die Zügel noch in der Hand. Er raffte sich verwirrt und schwankend auf, war aber offenbar unverletzt. Ich zog ihn vorwärts, um mich zu vergewissern, daß er sich nichts gebrochen oder gezerrt hatte, und stellte erleichtert fest, daß ihm nichts fehlte. Es blieb nur noch, so schnell wie möglich aufzusteigen, aber was ungeheuer schwierig war. Mit beiden Händen hätte ich leicht aufspringen können, aber so kletterte ich erst beim dritten Versuch mühsam in den Sattel, nachdem ich die Zügel verloren und mir auch noch den Sattelknopf in den Bauch gerannt hatte. >Revelation< benahm sich lammfromm. Er trabte nur fünfzig Meter in die falsche Richtung, bis ich mich gesammelt, die Zügel ergriffen und ihn umgedreht hatte. Diesmal verzichteten wir auf weitere

Sprünge.

Ich trabte mit ihm die Bahn entlang, überquerte die Straße und trieb ihn dann nicht zum Halbrund, sondern nach rechts, zu der Stelle, wo der Zaun an die Hauptstraße nach London reichte. Aus dem Augenwinkel sah ich Chico durch das Gras auf mich zurennen. Ich winkte ihn herbei, brachte >Revelation< zum Stehen und wartete.

«Ich dachte, Sie können reiten«, rief er keuchend.

«Ja«, sagte ich.»Das dachte ich auch einmal.«

Er sah mich scharf an.

«Sie sind heruntergefallen. Ich habe zugesehen. Sie sind heruntergefallen wie ein Säugling.«

«Wenn Sie mich beobachtet haben — das Pferd ist gestürzt, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Das ist ein Unterschied, der für Jockeys sehr wichtig ist.«

«Quatsch«, sagte er.»Sie sind heruntergefallen.«

«Los«, sagte ich und trieb >Revelation< zum Zaun.»Wir müssen etwas suchen. «Ich erklärte Chico, worum es sich handelte.»In einem von diesen Häuschen, denke ich. An einem Fenster, auf einem Dach oder in einem Garten.«

«Mistkerle«, sagte Chico wütend.»Diese Mistkerle!«

Es war nicht besonders schwierig, weil nur eine Strecke von ungefähr hundert Metern in Frage kam. Wir suchten methodisch, blieben an jedem Garten stehen, an jedem Haus. Fragende Gesichter zeigten sich an den Fenstern.

Chico sah ihn zuerst. Er steckte an einem hohen, entlaubten Ast eines Baums, der im vorletzten Garten stand. Nur zehn Meter entfernt rollte der Verkehr auf der Straße nach London, und >Revelation< begann unruhig zu werden.

«Schauen Sie!«sagte Chico und deutete nach oben.

Ich blickte nach oben und hatte Mühe, >Revelation< zu bändigen. Er war eineinhalb Meter hoch, einen Meter breit und blankpoliert — ein Spiegel.

«Mistkerle!«wiederholte Chico.

Ich nickte, stieg ab, führte >Revelation< zu einer Stelle zurück, wo der Verkehr nicht mehr störte, und band die Zügel am Zaun fest. Dann gingen Chico und ich zur Autostraße, marschierten um den Zaun herum und erreichten die Nebenstraße. Napoleon Street hieß sie. Wir läuteten am zweiten Haus. Ein Mann und eine Frau öffneten gemeinsam die Tür — ältere, brave Leute.

Ich kam sofort zum Thema und sagte:»Wissen Sie, daß in Ihrem Baum ein Spiegel angebracht ist?«

«Das ist doch albern«, sagte die Frau. Sie hatte gewelltes graues Haar und trug ein braunes Wollkleid.

«Sie sehen wohl besser nach«, schlug ich vor.

«Das ist kein Spiegel«, sagte der Mann erstaunt.»Ein Plakat. Werbung!«

«Richtig«, ergänzte seine Frau.»Ein Plakat.«

«Wir haben zugesagt, unseren Baum ausnahmsweise — «

«Nur für eine kleine Summe. Unsere Pension.«

«Ein Mann hat den Rahmen angebracht. Er wollte mit dem Plakat gleich zurückkommen.«

«Irgend etwas Religiöses, glaube ich.«

«Sonst hätten wir es nicht gemacht.«

Chico fuhr dazwischen.

«Ich hätte das nicht für einen guten Platz gehalten. Ihr Baum steht weiter hinten als die anderen. Das ist doch kein Blickfang.«

«Ich dachte«, sagte der Mann zweifelnd,»aber der Mann sagte — «

«Aber da er bereit war, für Ihren Baum Miete zu bezahlen, wollten Sie nicht ablehnen«, sagte ich.»Ein paar Scheinchen möchte man nicht gerne den Nachbarn überlassen.«

Sie hatten es nicht so ausgedrückt, widersprachen aber nicht.

«Sehen Sie sich’s an«, sagte ich.

Sie gingen mit mir auf dem schmalen Weg zurück in den Garten. Der Baum stand auf halbem Wege zwischen dem Haus und dem Rennplatzzaun. Die Sonne schickte ihre Strahlen schräg durch die entlaubten Äste. Wir sahen den Holzrücken des Spiegels und die Seile, mit denen er am Baumstamm befestigt war. Das Ehepaar ging um den Baum herum und starrte verblüfft nach oben.

«Er sagte, es wäre ein Plakat«, wiederholte der Mann.

«Na ja, es ist wohl auch für ein Plakat«, meinte ich.»Aber im Augenblick ist es noch ein Spiegel. Außerdem ist er genau auf die Rennbahn gerichtet, und Sie wissen ja, wie Spiegel das Sonnenlicht reflektieren. Wir dachten nur, daß es vielleicht nicht ungefährlich ist, wenn jemand das Licht in die Augen bekommt. Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir ihn ein bißchen drehen?«

«Du meine Güte«, sagte die Frau, die zum erstenmal unsere Reiterkleidung zu bemerken schien,»da kann ja niemand die Rennen verfolgen, wenn ihm das Licht in die Augen scheint.«

«Genau. Es macht Ihnen also nichts aus, wenn wir den Spiegel ein Stück drehen?«

«Das kann doch bestimmt nicht schaden, Papa?«meinte sie zweifelnd.

Er machte eine unentschlossene Handbewegung, und Chico erkundigte sich, wie der Spiegel überhaupt im Baum befestigt worden war. Der Mann hatte eine Leiter mitgebracht, erwiderte sie, sie selbst besäßen keine. Chico zuckte die Achseln, zog mich zum Baum, stellte einen Fuß auf meine Schenkel, den zweiten auf meine Schulter und kletterte wie ein Eichkätzchen hinauf. Die beiden rissen den Mund auf.

«Wie lange ist es her?«fragte ich.»Wann hat der Mann den Spiegel angebracht?«

«Heute früh«, sagte die Frau.»Er war gerade erst hier, mit noch einem Seil. Und bei der Gelegenheit sagte er, er käme gleich mit dem Plakat.«

Der Spiegel war also im Baum angebracht worden, während Chico und ich im Gebüsch gesessen hatten, und erst dann justiert worden, als die Sonne an der entsprechenden Stelle am Himmel stand: um zwei Uhr. Das dritte Rennen, ein HandicapHindernisrennen, sollte morgen um diese Zeit stattfinden. Wahrlich ein Handicap, dachte ich, ein Lichtblitz in die Augen!

Weiße Flagge: ein bißchen nach links! Orange: ein bißchen nach rechts! Keine Flagge: genau im Ziel!

Man brauchte dann nur noch morgen nachmittag wiederzukommen und ein Plakat auf das Glas zu kleben, so daß selbst eine schnell organisierte Suchaktion keinen Spiegel zutage fördern würde. Eben wieder Pech für Seabury. Tote Pferde, zerdrückte, zertrampelte Jockeys. Pech!

Schicken Sie meine Pferde anderswohin, Mr. Whitney, in Seabury passiert immer etwas. Ich täuschte mich nur in einem. Die Anbringung des Plakats war nicht für den folgenden Tag vorgesehen.

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