Kapitel 3

Als ich unten ankam, schlenderte Charles mit seinen Gästen gerade ins Eßzimmer. Die Männer trugen weiße Jacketts zur schwarzen Hose, die Frauen festliche Kleider. Charles hatte mich absichtlich nicht darauf aufmerksam gemacht, dachte ich. Er wußte, daß mein Rekonvaleszentengepäck keine Gesellschaftskleidung enthielt.

Er blieb nicht stehen, um mich seinen Gästen vorzustellen, sondern nickte nur knapp und marschierte schnurstracks ins Eßzimmer, in charmantes Geplauder mit der rundlichen, gepflegten Frau vertieft, die er neben sich hatte. Viola und eine große dunkelhaarige Frau, die verblüffend hübsch war, folgten. Viola, Charles’ ältere, verwitwete Kusine, lächelte mich im Vorbeigehen verlegen und besorgt an. Ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte; normalerweise empfing sie mich mit großer Wärme, und erst vor kurzer Zeit hatte sie herzliche Genesungswünsche geschickt. Die junge Frau neben ihr blickte nur kurz in meine Richtung, die beiden Männer dahinter gönnten mir überhaupt keinen Blick.

Achselzuckend folgte ich ihnen ins Eßzimmer. Der für mich gedeckte Platz war nicht zu übersehen: Er bestand aus einem Löffel, einer kleinen Matte, einem Glas und einer Gabel. Mir gegenüber hatte man eine Lücke gelassen.

Charles führte seine Gäste an ihre Plätze, er selbst nahm wie üblich am Tischende Platz, die mollige Mrs. van Dysart rechts und die auffallend schöne Mrs. Kraye links neben sich. Ich saß zwischen Mrs. Kraye und Rex van Dysart. Es dauerte eine Weile, bis ich sie alle unterscheiden konnte. Charles enthielt sich jeder Vorstellung.

Die Gruppen an beiden Enden des Tisches begannen angeregt miteinander zu plaudern und schenkten mir keinerlei Beachtung.

Ich begann mir zu überlegen, ob ich nicht zu Bett gehen sollte.

Der Diener, den Charles bei solchen Gelegenheiten zu engagieren pflegte, servierte Schildkrötensuppe in Tassen. Meine Tasse enthielt wieder Fleischextrakt. Man reichte Brot, Löffel klirrten, Salz und Pfeffer wurden benützt, und das Essen begann. Noch immer sprach mich niemand an, obwohl die Besucher ein wenig neugierig zu werden schienen. Mrs. van Dysart ließ ihre scharfen porzellanblauen Augen von Charles zu mir und zurückgleiten. Offenbar erwartete sie, daß man mich vorstellte, aber nichts dergleichen. Er unterhielt sich weiter mit den beiden Damen, ließ seinen Charme spielen und schien mich nicht zu bemerken.

Rex van Dysart, der links von mir saß, hielt mir mit hochgezogenen Brauen und schwachem, unverbindlichen Lächeln den Brotkorb hin. Er war ein großer Mann mit flachem, blassen Gesicht, einer dicken schwarzen Hornbrille und großspurigem Benehmen. Als ich dankend ablehnte, stellte er den Korb auf den Tisch, nickte mir auf knappste Weise zu und beschäftigte sich wieder mit Viola.

Noch bevor von den Kristallen die Rede war, hatte ich erraten, daß das Schauspiel für Howard Kraye inszeniert worden war. Ich fand ihn von Anfang an so unsympathisch, daß ich mich selbst wunderte. Wenn Charles beabsichtigte, daß ich je für, mit oder bei Mr. Kraye arbeiten sollte, würde er sich wundern.

Kraye war ein imposanter Mann Ende Vierzig mit breiten Schultern und massiger Gestalt. Sein Jackett trug er, als sei es ihm angegossen, und wenn er gelegentlich die Manschetten vorschießen ließ, so ohne Geziertheit. Seine Hände waren überaus gepflegt.

Er hatte glattes graubraunes Haar, gerade Brauen, eine schmale Nase, einen kleinen festen Mund, ein rundes Kinn und sehr hohe, faltenlose untere Lider, die seinen Augen einen undurchdringlichen Ausdruck verliehen.

Ein Gesicht wie eine Maske, hinter der sich Übles verbergen mochte. Man konnte es spüren. Ich erlaubte mir die Abschweifung, daß er zuviel über zu viele Laster wußte. Äußerlich war er glatt und weltgewandt, viel zu glatt, in meinen Augen ein Blender. Ich begann seinem Gespräch mit Viola zuzuhören.

«. Als Doria und ich nach New York kamen, suchte ich diese Leute in ihrem Kristallpalast in der First Avenue auf und brachte sie ein bißchen in Bewegung. Man muß die Karrierediplomaten antreiben, wissen Sie, eigene Initiative entwickeln sie nicht. Hören Sie, sagte ich, unilaterales Vorgehen ist nicht nur nicht ratsam, sondern auch nicht zu verteidigen. Aber sie sind so in ihren Pragmatismus vernarrt, daß fundierte Meinungen kaum mehr Chancen haben.«

Viola nickte verständnisvoll, obwohl sie kein Wort begriff. Das ganze Theater ließ sie unberührt. Das blendende Äußere schien mir Teil eines geplanten Betrugs zu sein: Man sollte sich tief beeindruckt zeigen. Ich konnte einfach nicht glauben, daß Charles auf ihn hereingefallen war. Ausgeschlossen! Nicht mein kluger, überlegener, kühl denkender Schwiegervater. Mr. van Dysart jedoch hing an Krayes Lippen.

Nach der Suppe konnte seine Frau ihre Neugierde nicht mehr bezähmen. Sie legte ihren Löffel weg, sah mich an und sagte leise, aber deutlich hörbar zu Charles:»Wer ist das?«

Alle Gesichter wandten sich ihm zu, als habe man nur auf die Frage gewartet. Charles reckte das Kinn vor und sprach so laut, daß ihn alle verstehen konnten.

«Das ist mein Schwiegersohn«, sagte er.

Sein Tonfall war leicht, amüsiert und grenzenlos verächtlich. Er traf mich an einer wunden Stelle, die ich längst vernarbt geglaubt hatte. Ich sah Charles an, und sein Blick begegnete dem meinen — ausdruckslos, undurchdringlich.

Ich hob den Kopf und starrte auf die Wand hinter ihm. Seit

Jahren, und ganz ohne Zweifel auch noch an diesem Morgen, hatte dort ein Ölgemälde gehangen, auf dem ich in Cheltenham auf einem Pferd über eine Hürde setzte. Es war durch ein altmodisches Seestück ersetzt worden.

Charles beobachtete mich. Ich blickte ihn an und schwieg. Er wußte wohl, daß ich nichts sagen würde. Meine einzige Abwehr gegen seine Beleidigungen war von Anfang an Schweigen gewesen. Er zählte offenbar auf die Gleichartigkeit meiner Reaktionen. Mrs. van Dysart beugte sich ein wenig vor und murmelte mit langsam erwachender Bösartigkeit:»Erzählen Sie doch weiter, Admiral.«

Ohne Zögern fuhr Charles im selben Tonfall fort:»Soviel ich weiß, waren seine Eltern ein Fensterputzer und ein neunzehnjähriges lediges Mädchen aus den Slums von Liverpool. Später hat sie wohl als Packerin in einer Keksfabrik gearbeitet.«

«Aber nein, Admiral!«rief Mrs. van Dysart atemlos.

«Gewiß«, sagte Charles nickend.»Wie Sie sich denken können, habe ich alles versucht, meiner Tochter diese unpassende Idee auszureden. Er ist klein, wie Sie sehen, und hat eine verkrüppelte Hand. Arbeiterklasse, unter Normal größe. Aber meine Tochter war entschlossen. Sie wissen ja, wie junge Mädchen sind.«

Er seufzte.

«Vielleicht hat er ihr leid getan«, meinte Mrs. van Dysart.

«Vielleicht«, sagte Charles. Er war noch nicht zu Ende und ließ sich nicht ablenken.»Wenn sie ihn als Student oder dergleichen kennengelernt hätte, wäre es noch begreiflich gewesen. Aber er hat nicht einmal etwas gelernt. Er ging mit fünfzehn von der Schule ab, um ein Handwerk zu lernen. Jetzt ist er schon seit einiger Zeit arbeitslos. Meine Tochter, das darf ich hinzufügen, hat sich von ihm getrennt.«

Ich saß da wie eine Statue, starrte in meine Suppentasse, versuchte, meine verkrampften Backenmuskeln zu lösen und klar zu denken. Vor noch nicht ganz vier Stunden hatte er sich fürsorglich um mich bemüht. Soweit man irgend etwas mit Sicherheit sagen konnte, schien seine Zuneigung zu mir echt und unverändert gewesen zu sein. Er mußte also gute Gründe für sein jetziges Verhalten haben. Wenigstens hoffte ich das.

Ich schaute zu Viola hinüber. Sie hatte nicht protestiert, sondern sah unglücklich auf den Tisch. Ich erinnerte mich an ihre Verlegenheit draußen in der Halle. Charles hatte sie offenbar gewarnt. Mir hätte er auch etwas sagen können, dachte ich erbost.

Nicht unerwartet starrten mich alle an. Die dunkelhaarige schöne Doria Kraye zog die feingeschwungenen Brauen hoch und meinte mit tonloser, etwas nasaler Stimme:»Sie sind also nicht beleidigt.«

Ihre Stimme troff vor Verachtung. Anscheinend dachte sie, ich müßte beleidigt sein, wenn ich auch nur über einen Funken Ehrgefühl verfügte.

«Er ist nicht beleidigt«, sagte Charles lässig.»Warum sollte die Wahrheit beleidigen?«

«Es stimmt also, daß Sie unehelich sind, und das andere ebenfalls?«fragte Doria und sah mich von oben herab an.

Ich atmete tief ein und lehnte mich zurück.

«Ja.«

Kurze Zeit herrschte peinliches Schweigen.

Doria sagte» Oh «und begann ihr Brot zu zerkrümeln.

Auf einen Wink von Charles kam der Diener herein, um die Tassen abzuservieren. Langsam entspann sich wieder ein Gespräch unter den anderen.

Ich dachte an die Einzelheiten, die Charles weggelassen hatte: An die Tatsache, daß mein Vater, der damals zwanzig Jahre alt gewesen war, Überstunden gemacht hatte, um zusätzliches Geld zu verdienen, wobei er von einer hohen Leiter gestürzt und drei Tage vor seiner Hochzeit ums Leben gekommen war; auch daran, daß ich acht Monate später das Licht der Welt erblickt hatte; an die Tatsache, daß meine junge Mutter, die an einer unheilbaren Nierenkrankheit litt, mich mit fünfzehn aus der Schule nehmen mußte und mich, weil ich für mein Alter so klein war, zu einem Rennpferdtrainer nach Newmarket gab, damit ich ein Heim und einen Menschen hatte, an den ich mich wenden konnte. Sie waren beide ordentliche Menschen gewesen, meine Eltern, und Charles wußte, wie ich über sie dachte.

Als nächsten Gang gab es irgendeinen Fisch in pilzfarbener Sauce. Meine Astronautenpaste, die zur gleichen Zeit serviert wurde, unterschied sich nicht allzusehr davon, weil sie auf einem Teller gebracht wurde.

Die liebe Mrs. Cross, dachte ich erleichtert, ich könnte sie küssen. Auf diese Weise konnte ich die Gabel benutzen und mit einer Hand essen. Sonst gab es die Paste in kleinen Töpfchen, die man festhalten mußte, in meinem Fall also ungeschickt zwischen Unterarm und Brustkorb; in diesem Augenblick wäre ich aber lieber verhungert, als daß ich die linke Hand aus der Tasche gezogen hätte.

Mrs. van Dysart genoß das Leben in vollen Zügen. Man sah deutlich, wie sehr es ihr Vergnügen machte, mich praktisch isoliert zu sehen — in unpassender Kleidung, Gegenstand offenen Spottes für ihren Gastgeber. Mit ihrem blonden aufgetürmten Haar, den babyblauen Augen und dem mit Silberfäden durchwirkten rosa Seidenkleid sah sie so süß aus wie Zuckerguß. Ihre Worte zeigten, wie klar sie die Annehmlichkeit erkannte, einen Prügelknaben um sich zu haben.

«Arme Verwandte sind wirklich ein Problem, nicht wahr?«sagte sie mitfühlend zu Charles, absichtlich so laut, daß ich es hören mußte.»In unserer Position kann man sie sich nicht selbst überlassen. Sie treten sonst in den Boulevardblättern alles breit. Und es ist besonders schwierig, wenn man sie noch dazu im

Haus hat. Man kann sie ja schlecht in die Küche setzen, aber es gibt auch Gelegenheiten, wo man recht gut ohne sie auskäme. Vielleicht wäre da ein Tablett aufs Zimmer das beste.«

«Ah ja«, gab Charles zu,»aber damit sind sie wieder nicht einverstanden.«

Ich wäre beinahe erstickt, als ich daran dachte, welche Mittel er angewandt hatte, um mich an den Tisch zu bekommen. Und schlagartig war ich nicht nur beruhigt, sondern auch sehr interessiert. Darauf hatte er es also von Anfang an abgesehen, mich als Mann in den Augen seiner Gäste zu demolieren. Er würde zweifellos zu gegebener Zeit erklären, was ihn dazu bewogen hatte. Jedenfalls war meine Neigung, zu Bett zu gehen, plötzlich nicht mehr so groß wie vorher.

Ich sah Kraye an und fand seine grünlich-bernsteinfarbenen Augen auf mich gerichtet. Bei ihm war es nicht so deutlich wie bei Mrs. van Dysart, aber auch hier: Vergnügen. Ich krümmte die Zehen in den Schuhen. Interesse hin, Interesse her, es fiel mir schwer, bei diesem widerlichen, höhnischen Lächeln ruhig sitzen zu bleiben. Ich starrte vor mich hin, um ihn nicht mehr ansehen zu müssen.

Er gab einen Laut von sich, der halb ein Husten, halb ein Lachen war, und begann mit Charles über das Sammeln von Kristallen zu sprechen.

«Sehr vernünftig von Ihnen, sie alle hinter Glas aufzubewahren, obwohl mich das natürlich sehr reizt. Ist das eine Druse, im mittleren Fach? Die Spiegelung, wissen Sie. Ich sehe es nicht deutlich.«

«Äh. «sagte Charles, der genausowenig wie ich wußte, was eine Druse war.»Ich freue mich, Ihnen die Steine nachher zeigen zu können. Nach dem Essen vielleicht, oder morgen?«

«Oh, unbedingt heute abend, eine solche Gelegenheit möchte ich nicht verschieben. Sagten Sie nicht, Sie hätten Feldspat in Ihrer Sammlung?«

«Nein«, erwiderte Charles unsicher.

«Nun, ich sehe schon, daß das eine kleine Spezialsammlung ist. Vielleicht tun Sie gut daran, sich auf Kieselsäureanhydride zu beschränken.«

Charles brachte mit Geschick die Lüge vom Vermächtnis seines Vetters ins Spiel, die Kraye höflich enttäuscht zur Kenntnis nahm.

«Aber ein sehr interessantes Thema, mein lieber Roland, die Mühe, sich damit zu beschäftigen, lohnt sich. Die Erde unter den Füßen, die Ablagerungen aus den verschiedenen geologischen Perioden, sind unser kostbares Erbe, die Quelle unseres Lebens, unserer Macht. Mich interessiert nichts so sehr wie der Boden.«

Doria neben mir schnaubte kaum vernehmlich. Ihr Mann schien es nicht bemerkt zu haben, denn er gab eine vielsilbige und im großen und ganzen unverständliche Plauderei über die Natur des Universums von sich.

Ich saß untätig, während die andern Steaks, Pudding, Käse und Obst verzehrten. Die Gespräche wurden links und rechts, manchmal auch an mir vorbei geführt. Ein Taubstummer hätte keine schlechtere Rolle als ich spielen können. Mrs. van Dysart kommentierte die Schwierigkeiten der Ernährung armer Verwandter mit empfindlichen Mägen und wählerischem Appetit. Charles verschwieg ihr, daß ich angeschossen worden war und Geld genug hatte — gab aber zu, daß eine schlechte Verdauung bei schmarotzenden Angehörigen als moralischer Defekt zu betrachten wäre.

Mrs. van Dysart strahlte. Doria betrachtete mich gelegentlich, als wäre ich ein interessantes Exemplar niedrigen Lebens. Rex van Dysart bot mir wieder Brot an. Schließlich führte Viola Mrs. van Dysart und Doria ins Wohnzimmer zum Kaffee, während Charles den männlichen Gästen Portwein und Kognak anbot. Er reichte mir die Kognakflasche mit einer Spur von

Gereiztheit und preßte mißbilligend die Lippen zusammen, als ich mir einschenkte. Seinen Gästen entging das nicht. Nach einer Weile erhob er sich, öffnete die Tür des Bücherschranks und zeigte Kraye die Steinsammlung. Die beiden besprachen Stück für Stück, während van Dysart danebenstand, höfliches Interesse heuchelte und seine Langeweile zu verbergen trachtete. Ich blieb im Sessel sitzen und genehmigte mir noch einen Kognak.

Charles hielt sich sehr gut und ging die ganze Sammlung ohne einen einzigen Schnitzer durch. Dann führte er die Gäste ins Wohnzimmer, wo sich seine Halbedelsteinsammlung als großer Erfolg erwies. Ich marschierte mit, setzte mich auf einen Stuhl und hörte ihnen zu, kam aber zu keinen größeren Schlußfolgerungen, abgesehen von der Überzeugung, daß ich nicht mehr aus eigener Kraft nach oben kommen würde, wenn es nicht bald soweit war. Die Zeiger der Uhr wiesen auf elf, und ich hatte einen langen Tag hinter mir. Charles drehte sich nicht um, als ich das Zimmer verließ.

Eine halbe Stunde später, als seine Gäste unter Gemurmel auf ihre Zimmer gegangen waren, kam er leise herein und trat an mein Bett. Ich lag immer noch in Hemd und Hose da und versuchte vergeblich die Energie zusammenzuraffen, mich ganz ausziehen zu können. Er schaute lächelnd auf mich herab.

«Na?«sagte er.

«Der ausgepichte, achtzehnkarätige, hinterhältige Halunke bist du«, sagte ich.

Er lachte.»Ich dachte, du schmeißt mir die ganze Schau, als dir auffiel, daß dein Bild nicht mehr an der Wand hing. «Er zog mir Schuhe und Socken aus.»Du siehst völlig erledigt aus. Wo ist dein Schlafanzug?«

«Unter dem Kissen.«

Er half mir, mich auszuziehen.

«Warum hast du das getan?«fragte ich.

Er wartete, bis ich unter der Decke lag, dann setzte er sich auf den Bettrand.

«Hat es dir etwas ausgemacht?«

«Verflixt, Charles, natürlich! Wenigstens zu Anfang.«

«Es ist leider schlimmer geworden, als ich es erwartet hatte, aber ich will dir sagen, warum ich auf diese Idee gekommen bin. Erinnerst du dich an unser erstes Schachspiel? Als ich glatt geschlagen wurde? Weißt du, warum du so spielend gewonnen hast?«

«Du hast nicht aufgepaßt.«

«Genau. Ich habe nicht aufgepaßt, weil ich dich nicht für einen ernst zu nehmenden Gegner hielt — ein schwerer taktischer Fehler. «Er grinste.»Gerade ein Admiral darf sich so etwas nicht leisten. Wenn man einen starken Gegner unterschätzt, ist man im Nachteil. Wenn man ihn stark unterschätzt, wenn man überzeugt ist, daß er überhaupt nicht ins Gewicht fällt, hält man eine Abwehr nicht für nötig und besiegelt damit die eigene Niederlage. «Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er fort:»Es ist deshalb kluge Strategie, den Feind in dem Glauben zu wiegen, man sei zu schwach, um ins Gewicht zu fallen. Und das habe ich heute abend für dich getan.«

Er sah mich ernsthaft an.

«Und in welchem Spiel soll ich gegen Howard Kraye antreten?«fragte ich nach einer Weile.

Er seufzte zufrieden und lächelte.

«Erinnerst du dich, was ihn am meisten interessiert?«

Ich überlegte.»Der Boden.«

Charles nickte.»Boden. Richtig! Er sammelt ihn. Stückweise, quadratmeter-, hektarweise. «Er zögerte.

«Und?«

«Du kannst gegen ihn um den Rennplatz Seabury spielen.«

Ich war so verblüfft, daß mir fast der Atem wegblieb.

«Was?«sagte ich ungläubig.»Mach keine Witze! Ich bin doch nur — «

«Sei still«, unterbrach er mich.»Ich will nicht hören, was du nur zu sein glaubst. Du bist doch intelligent, nicht wahr? Du arbeitest für ein Detektivbüro. Du möchtest doch nicht, daß Seabury geschlossen wird? Warum willst du dann nichts dagegen unternehmen?«

«Aber ich nehme doch an, daß er auf rein geschäftlicher Basis einsteigen will, nach dem, was du sagst. Da brauchst du einen mächtigen Geschäftsmann oder einen Stadtrat als Gegner für ihn, nicht mich.«

«Er ist sehr auf der Hut vor solchen Leuten, aber dir gegenüber ungedeckt.«

«Bist du sicher, daß er es auf Seabury abgesehen hat?«

«Jemand steckt dahinter«, sagte Charles.»In letzter Zeit sind sehr viele Aktien umgesetzt worden, und der Kurswert steigt, obwohl dieses Jahr keine Dividende bezahlt wurde. Der Rennplatzadministrator hat mir davon erzählt. Er sagte, die Direktoren machten sich große Sorgen. Auf dem Papier gibt es keine größere Konzentration von Aktien auf einen Namen, in Dunstable war das genauso. Als darüber abgestimmt wurde, ob man an eine Baugesellschaft verkaufen sollte, stellte man fest, daß ungefähr zwanzig verschiedene Aktionäre plötzlich für Kraye auftraten. Er konnte genügend andere Aktionäre mit sich reißen, und der Rennplatz wurde verbaut.«

«Aber es ging alles gesetzlich?«

«Es war eine krumme Tour, aber gesetzlich — ja. Und genauso scheint es jetzt wieder zu gehen.«

«Aber wie kann man ihn aufhalten, wenn es gesetzlich ist?«

«Du könntest es versuchen.«

Ich starrte ihn stumm an. Er richtete sich auf und glättete die

Decke.

«Es wäre bedauerlich, wenn Seabury dasselbe Schicksal wie Dunstable beschieden wäre.«

Er ging zur Tür.

«Und was hat van Dysart damit zu tun?«erkundigte ich mich.

«Ach, nichts«, sagte er und sah mich über die Schulter an.»Ich habe die Leute erst vor ein paar Wochen kennengelernt. Sie sind aus Südafrika und machen eine größere Reise. Ich war mir sicher, daß sie dich nicht kennen. Es kam mir vor allem auf Mrs. van Dysart an. Sie hat eine äußerst giftige Zunge. Ich wußte, daß sie mir helfen würde, dich in Stücke zu reißen. «Er grinste.»Sie wird dir das Wochenende zur Hölle machen.«

«Herzlichen Dank«, sagte ich sarkastisch.

«Ich hatte ein bißchen Angst, daß Kraye dich erkennt«, meinte er nachdenklich,»aber offenbar ist das nicht der Fall, so daß wir uns keine Sorgen zu machen brauchen. Und ich habe deinen Namen nicht erwähnt, wie dir wohl aufgefallen ist. Ich möchte es auch weiterhin vermeiden. «Er lächelte.»Und er weiß nicht, daß meine Tochter Sid Halley geheiratet hat. Ich gab ihm ein paarmal Gelegenheit, davon zu sprechen, weil das Ganze natürlich nicht in Frage käme, wenn er Bescheid wüßte, aber er hat überhaupt nicht reagiert. Was Kraye angeht«, schloß er zufrieden,»bist du nichts als eine bedauerliche Null.«

«Warum hast du mir das alles nicht vorher erzählt?«fragte ich.

«Zum Beispiel, als du mir so fürsorglich das Buch über Gesellschaftsrecht auf den Nachttisch gelegt hast. Oder wenigstens heute abend, als ich von Andrews zurückkam? Damit ich etwas vorbereitet gewesen wäre.«

Er öffnete die Tür und lächelte mich an. Seine Augen waren wieder undurchdringlich.

«Schlaf gut«, sagte er.»Gute Nacht, Sid!«

Am nächsten Morgen nahm Charles die beiden Männer mit auf die Jagd. Viola chauffierte die Ehefrauen nach Oxford zum Einkaufen und zur Besichtigung einer Ausstellung venezianischer Gläser. Ich benützte die Gelegenheit, mich im Schlafzimmer von Mr. und Mrs. Kraye gründlich umzusehen.

Erst nach einer ganzen Weile fiel mir ein, daß ich noch vor zwei Jahren gar nicht auf die Idee gekommen wäre, so etwas zu tun. Jetzt geschah das schon ganz selbstverständlich, ohne Überlegung. Ich lächelte ironisch. Offenbar genügte es bereits, in einem Detektivbüro herumzusitzen, um zu dieser Einstellung zu gelangen. Überdies wurde mir klar, daß ich aus Instinkt meine Suchaktion methodisch und sorgfältig durchführte. Einerseits war das beunruhigend.

Ich suchte nicht nach etwas Bestimmten. Ich wollte nur den Charakter der beiden etwas kennenlernen. Nicht einmal vor mir selbst gab ich zu, daß mich Charles’ Herausforderung interessierte. Aber trotzdem suchte ich, und zwar gründlich.

Howard Kraye schlief in einem dunkelroten Schlafanzug; auf der Brusttasche waren seine Initialen in Weiß eingestickt. Der Morgenmantel war aus blutrotem Brokat mit schwarzem Kragen und schwarzem Gürtel. Seine Waschutensilien waren in einem großen, nach Maß angefertigten Necessaire im angrenzenden Badezimmer zahlreich und kunstvoll gearbeitet. Er benutzte Rasierwasser, Kölnisch Wasser, Handcreme und ein Haaröl, alles in Kristallflaschen mit goldenen Schraubverschlüssen. Dazu kamen medizinische Seifen, eine für ihn angefertigte Zahnpasta, Körperpuder in einem vergoldeten Behälter und ein hypermoderner elektrischer Rasierapparat. Er trug ein Gebiß und verfügte über ein Ersatzexemplar. Er hatte eine Dose mit Abführtabletten, eine Flasche Mundwasser, antiseptischen Fußpuder, Hustenpillen, Verdauungstabletten und ein Mittel für Augenbäder mitgebracht — alles für den schönen Körper, in- und auswendig.

Seine ganze Kleidung, bis hinab zur Unterwäsche, war maßgeschneidert, und er hatte sich ausstaffiert, um allen Gelegenheiten bei einem Wochenende auf dem Land gerecht werden zu können.

Ich durchsuchte die Taschen seines weißen Smokingjacketts und der drei Anzüge, die hintereinander hingen, aber er war ein ordnungsliebender Mann. Alle Taschen waren leer, abgesehen von einer Nagelfeile in jeder Brusttasche. Seine sechs Paar Schuhe waren maßgefertigt und fast neu. Ich schaute in jeden einzelnen Schuh. Abgesehen von den Spannern waren sie alle leer.

In einer Schublade fand ich, säuberlich gestapelt, Krawatten, Taschentücher und Socken: alles teure Ware. Eine schwere, ziselierte Silberdose enthielt Manschettenknöpfe und Krawattennadeln, vorwiegend aus Gold. Edelsteine schien er nicht zu tragen, aber ein schönes Paar Manschettenknöpfe war aus Steinen gefertigt, die ich als Tigerauge kannte. Die Rücken seiner Haarbürsten bestanden aus Rauchquarz. Zwischen den Borsten hingen ein paar braune und graue Haare.

Es blieb noch sein Gepäck, vier teure Koffer, die hintereinander neben dem Schrank standen. Ich öffnete jeden einzelnen. Sie waren alle leer bis auf den kleinsten, der eine braune lederne Aktenmappe enthielt. Ich sah sie mir sorgfältig an, bevor ich sie berührte, aber da Kraye keine Vorsorge getroffen zu haben schien, zum Beispiel mit Haaren oder Wattebäuschchen, hob ich sie heraus und legte sie auf eins der Betten. Sie war abgesperrt, aber ich hatte längst gelernt, mit solchen Dingen fertig zu werden. Ein früherer Polizeisergeant in Radnors Diensten erteilte mir, so oft er ins Büro kam, Lehrstunden über den Umgang mit Nachschlüsseln. Meine Einhändigkeit war für ihn eine Herausforderung gewesen, und er hatte ein paar neue Techniken und Instrumente speziell für mich erfunden. Vor kurzer Zeit hatte er mir ein großes Bund Nachschlüssel geschenkt, die einem Einbrecher abgenommen worden waren, und mich so lange bedrängt, bis ich sie immer bei mir trug. Sie befanden sich in meinem Zimmer.

Ich holte sie und konnte die Tasche ohne große Mühe öffnen.

Auch hier herrschte dieselbe mustergültige Ordnung wie überall bei Kraye, und ich achtete ganz besonders darauf, weder die Lage noch die Reihenfolge der Papiere zu verändern. Es handelte sich um mehrere Briefe eines Börsenmaklers, ein Bündel Aktienverkaufsbescheinigungen, verschiedene andere Unterlagen und eine Reihe mit Schreibmaschine getippter Blätter unter dem Datum des vergangenen Tages, wobei es sich offenbar um eine genaue Darlegung seiner Investitionen handelte. Er schien ein reicher Mann zu sein und sehr viele Aktien zu kaufen und zu verkaufen. Er hatte sein Geld in Öl, Bergwerken, Grundstücken und Industrieaktien angelegt. Außerdem gab es noch ein Blatt mit der Überschrift >S. R.<, bei dem jede Transaktion als Kauf deklariert war. Für jede Eintragung waren Name und Anschrift einer Bank angegeben. Manchmal kam ein Name drei- oder viermal vor, ab und zu auch nur einmal.

Unter den Unterlagen fand ich einen großen, dicken Umschlag, der zwei Bündel neuer Zehnpfund-Banknoten enthielt. Ich zählte sie nicht, aber es konnten kaum weniger als hundert sein. Der Umschlag befand sich am Boden des Aktenköfferchens, abgesehen von einer Schreibunterlage mit weißem Löschpapier und Krokodillederecken. Ich hob die Unterlage heraus und fand darunter zwei weitere Blätter, beide mit Daten, Initialen und Geldbeträgen beschrieben.

Ich ließ das Ganze zurückfallen, vergewisserte mich, daß alles genauso aussah, wie ich es gefunden hatte, sperrte das Köfferchen ab und legte es in den größeren Koffer zurück.

Die schöne Doria war, wie ich feststellte, bei weitem nicht so pedantisch wie ihr Ehemann. Ihre Sachen lagen heillos durcheinander, was die Aufgabe, sie alle wieder an ihren Platz zurückzutun, erschwerte, gleichzeitig durfte ich aber damit rechnen, daß es ihr nicht so schnell wie ihrem Ehemann auffallen würde, wenn etwas nicht ganz so war wie vorher.

Ihre Garderobe schien zwar teuer zu sein, war aber von der Stange gekauft. Ihre Waschsachen bestanden aus einem Necessaire, einem Badetuch, einer Zahnbürste, Badesalz und Körperpuder. Beinahe armselig neben Howards Sammlung. Keine Medikamente. Sie schien ohne Nachthemd zu schlafen, an der Badezimmertür hing aber ein hübscher, weißer Morgenmantel.

Sie hatte noch nicht ganz ausgepackt. Koffer auf Stühlen und Hockern enthielten noch durchwühlte Unterwäsche und diverse Dinge für Frauen, wie ich sie seit der Trennung von Jenny nicht mehr gesehen hatte.

Auf dem Frisiertisch herrschte ein teures Chaos. Töpfe mit Kosmetika, Parfümflaschen und Haarspraydosen standen auf der einen Seite, eine Schachtel mit Papiertaschentüchern und eine Schale mit Haarnadeln auf der anderen. Eine Schmuckschatulle lag auf dem Boden. Ich hob sie auf und stellte sie aufs Bett. Sie war abgesperrt. Ich öffnete sie und schaute hinein.

Doria war ein tolles Mädchen. Sie besaß falsche Wimpern, falsche Fingernägel und zusätzliche künstliche Haare. Im zweiten Fach lagen die Saphir- und Brillantohrringe, die sie am Abend vorher getragen hatte, dazu eine Brillantbrosche und ein Saphirring; im Fach darunter eine Halskette, ein Armband, Ohrringe, eine Brosche und ein Ring, alles in Gold, Platin und Citrin gearbeitet. Die gelben Edelsteine waren ausgefallen und ohne Zweifel eigens für sie gearbeitet worden.

Unter dem Schmuck entdeckte ich vier Taschenbuchromane von derart pornographischem Inhalt, daß Krayes Fähigkeiten als Liebhaber in Zweifel zu ziehen waren.

Außerdem enthielt die Schatulle noch ein dickes, ledernes Tagebuch, in dem die schöne Mrs. Kraye die merkwürdigsten Gedanken niedergelegt hatte. Ihr Leben schien genauso unordentlich zu sein wie ihre Kleidung — ein Gemisch aus dem üblichen gesellschaftlichen Verhalten, aus Traumfantasien und einer nicht als normal anzusehenden Ehe. Wenn man dem Tagebuch glauben durfte, gewannen Howard und sie großes Vergnügen daraus, daß er sie schlug.

Na ja, dachte ich, jedenfalls passen sie gut zusammen.

Ganz zuunterst schließlich lagen zwei Dinge, die nicht uninteressant waren. Das erste, ein brauner Samtbeutel mit einem Lederriemen, dessen Verwendungszweck angesichts des Tagebuchs nicht in Zweifel stand, und zweitens, in einer Pralinenschachtel, eine Pistole.

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