Kapitel 9

«Hören Sie«, sagte Lord Hagbourne mitten im Trubel des Rennplatzes Kempton,»ich habe mit Captain Oxon gesprochen, und er ist mit dem Fortschritt der Arbeiten zufrieden. Ich kann mich nicht mehr einmischen. Das begreifen Sie doch?«

«Nein, Sir, das begreife ich nicht. Ich bin nicht der Meinung, daß Captain Oxons Gefühle wichtiger sind als ganz Seabury. Die Bahn müßte schnellstens in Ordnung gebracht werden, auch über seinen Kopf hinweg.«

«Captain Oxon versteht mehr von seiner Arbeit als Sie«, sagte Hagbourne leicht sarkastisch.»Ich messe seinem Wort mehr Gewicht bei als Ihrer kurzen Besichtigung der Rennbahn.«

«Wollen Sie sie nicht selbst ansehen, solange noch Zeit ist?«

Er ließ sich nicht gern drängen, das verriet sein Gesichtsausdruck.

«Vielleicht — vielleicht habe ich am Montag Zeit«, sagte er schließlich widerstrebend.»Ich werde sehen. Haben Sie konkrete Hinweise für Ihre Theorie gefunden, daß die Schwierigkeiten in Seabury bewußt herbeigeführt werden?«

«Bis jetzt noch nicht, Sir.«

«Ein bißchen weit hergeholt, wenn Sie mich fragen«, sagte er verärgert.»Ich habe das gleich zu Anfang erklärt, wenn Sie sich erinnern. Falls Sie nicht bald etwas finden — das kostet alles Geld.«

George hatte noch nichts Belastendes gegen Kraye gefunden, Bolt war von Carter ohne Ergebnis durchleuchtet worden, und Chico hatte nichts aus Seabury mitgebracht.

Wir waren im Büro zusammengetroffen, bevor ich die Fahrt nach Kempton angetreten hatte.

«Nichts«, sagte Chico.»Ich habe mir den Mund fransig geredet, völlig zwecklos. Das Straßenstück an der Rennbahn war nicht gesperrt, das steht fest. Der Verkehr ist sowieso gering, ich habe gezählt. Nur vierzig Autos in der Stunde, im Durchschnitt. Immerhin ist das nicht so wenig, daß die Nachbarn nicht aufmerksam geworden wären, wenn sich etwas Ungewöhnliches abgespielt hätte.«

«Hat jemand den Tanklaster gesehen, bevor er umkippte?«

«Tankfahrzeuge gibt es die Menge. Niemand hat auf dieses bestimmte geachtet.«

«Es kann doch kein Zufall sein — genau zu dieser Zeit an dieser Stelle, wo der Schaden am größten sein mußte. Und zwei Tage später verschwindet der Fahrer.«

«Tja. «Chico kratzte sich am Ohr.»Ich bin auch mit dem Hebezug nicht weitergekommen. Es gibt in der Gegend nicht viel davon, und an dem Tag war nichts im Einsatz. Von den Bewohnern der kleinen Häuser hat niemand etwas gesehen außer den Abschleppkranwagen.«

«Und die Abflußkanäle?«

«Nichts«, sagte er.

«Gut.«

«Wieso?«

«Wenn sie auf einer Karte verzeichnet gewesen wären, hätte man den Zwischenfall bei dem Rennen als wirklichen Unfall ansehen können. So sieht es nach Sabotage aus.«

«Glauben Sie, daß die Kerle nach Einbruch der Dunkelheit mit Spaten angerückt sind?«

Ich runzelte die Stirn.

«Durchaus. Es mußte aber früh genug gemacht werden, damit man die aufgeschüttete Erde nicht sehen konnte.«»Und so fest, daß ein Traktor darüberrollen konnte.«

«Traktor?«

«Gestern war einer an der Rennbahn, der die Rasenstücke abtransportierte.«

«Ach ja, natürlich. Ja, fest genug, um einen Traktor auszuhalten, aber die großen Reifen durchbohren den Boden nicht wie ein Pferdefuß, das Gewicht verteilt sich besser.«

«Stimmt.«

«Wie schnell ging die Arbeit vonstatten?«fragte ich.

«Schnell? Machen Sie Witze?«

Das war genauso deprimierend wie Lord Hagbournes Zögern. Genauso deprimierend wie der ganze Tag — weil ich hielt, was ich Zanna Martin versprochen hatte. Mitleid, Neugierde, Überraschung, Verlegenheit und Ekel, ich lernte alles kennen. Ich gab mir große Mühe, manche Dinge als Taktlosigkeit oder schlechte Manieren anzusehen, aber es klappte nicht. Es half auch nichts, wenn ich mir einredete, es wäre idiotisch, so empfindlich zu sein. Wenn Miss Martin sich nicht an die Abmachung gehalten hatte, dachte ich düster, würde ich sie erwürgen.

Am Nachmittag goß ich mir zusammen mit Mark Whitney in der großen Bar im ersten Stock einen hinter die Binde.

«Das hast du also die ganze Zeit in Hosentaschen und Handschuhen versteckt«, sagte er.»Sieht schlimm aus.«

«Leider.«

«Schmerzt sie noch?«

«Nein, nur wenn ich mich anstoße. Und manchmal beim Wetterumschlag.«

«Hm«, sagte er mitfühlend.»Mein Knöchel tut auch weh. «Er grinste.»Zeit genug. Ich bin erst wieder am Fünften dran.«

Wir tranken noch ein Glas, unterhielten uns über Pferde, und ich dachte, wie einfach es sein müßte, wenn alle so wären wie er.

«Mark«, sagte ich, als wir zum Wiegeraum zurückgingen,»erinnerst du dich, ob in Dunstable Pannen vorgekommen sind, ehe zugemacht wurde?«

«Das muß schon eine Weile her sein. «Er überlegte.»Die letzten ein, zwei Jahre lief es nicht mehr so gut, es kamen immer weniger Zuschauer, und man hielt auch alles nicht mehr so in Schuß.«

«Aber keine eigentlichen Katastrophen?«

«Der Rennplatzadministrator hat sich mit Schlaftabletten umgebracht, wenn du das eine Katastrophe nennen willst. Ja, jetzt erinnere ich mich, man hat den plötzlichen Niedergang auf die Gemütskrankheit des Administrators zurückgeführt. Ich glaube, er hieß Brinton — ja. Er schnappte unauffällig über und traf eine verrückte Entscheidung nach der anderen.«

«Das hatte ich vergessen«, sagte ich bedrückt.

Mark verschwand im Wiegeraum, und ich lehnte mich draußen ans Geländer. Ein Rennplatzadministrator, der Selbstmord begangen hatte, das konnte nicht Krayes Werk sein, dachte ich. Es mochte ihm aber die Idee gebracht haben, in Seabury ein bißchen nachzuhelfen.

Am Ende des allzu langen Nachmittags ging ich heim, gönnte mir einen größeren Schluck als gewöhnlich und verbrachte den Abend mit Nachdenken, ohne zu welterschütternden Ergebnissen zu gelangen. Am folgenden Vormittag, als ich wieder vor mich hinbrütete, läutete es. Vor der Tür stand Charles.

«Komm rein«, sagte ich überrascht.

Er hatte mich in meiner Wohnung kaum je besucht und war selten über das Wochenende in London.

«Hast du Hunger? Das Restaurant unten ist ganz gut.«»Vielleicht später.«

Er zog Mantel und Handschuhe aus und ließ sich einen Whisky geben. Er kam mir ein wenig unruhig vor, als habe er unangenehme Nachrichten bekommen.

«Okay«, sagte ich.»Was ist los?«

«Äh. Ich komme gerade von Aynsford. Zur Abwechslung mal überhaupt kein Verkehr. Ein herrlicher Vormittag, und ich dachte, die Fahrt würde mir. Ach, verflucht«, stieß er hervor und stellte sein Glas auf den Tisch.»Damit wir’s hinter uns bringen. Jenny hat gestern nacht aus Athen angerufen. Sie hat dort einen Mann kennengelernt, und ich soll dir sagen, daß sie die Scheidung haben möchte.«

«Oh«, sagte ich.

Das sah ihr ähnlich, dachte ich. Charles mit der Axt ausrücken zu lassen. Die praktische Jenny, gierig nach einem neuen Feuer, wobei das tote Holz weggehackt werden mußte. Und wenn Teile davon noch lebten, sehr bedauerlich.

«Ich muß schon sagen, daß du das sehr gründlich machst«, sagte Charles.

«Was?«

«Daß es dir egal ist, was mit dir geschieht.«

«Es ist mir nicht egal.«

«Auf die Idee kommt aber keiner«, meinte er seufzend.»Als ich dir erzählte, daß sich deine Frau von dir scheiden lassen will, sagst du einfach >oh<. Als das da passierte«, er deutete auf meinen Arm,»war deine erste Bemerkung hinterher, als ich voll Mitgefühl und Traurigkeit anrückte: >Kopf hoch, Charles, mehr kann man für sein Geld nicht verlangen.««

«Na ja, stimmt auch.«

Schon von frühester Kindheit an hatte ich eine Abneigung gegen allzuviel Mitgefühl gehabt. Ich wollte nichts davon wissen. Ich mißtraute solchen Gefühlen. Ich wurde weich davon, und das durfte ich mir nicht leisten.

Wir aßen unten gemeinsam zu Mittag und besprachen zivilisiert den Ablauf der Scheidung. Jenny, so schien es, wünschte nicht, daß ich wegen böswilligen Verlassens die Scheidung beantragte. Ich sollte statt dessen eine >vernünftige Lösung< finden. Von meiner Arbeit bei Radnor her müßte mir das doch leichtfallen. Charles entschuldigte sie: Jennys künftiger Ehemann sei in diplomatischem Dienst und ziehe es vor, sie nicht als den schuldigen Teil angesprochen zu sehen.

Charles erkundigte sich diskret, ob ich — äh — Jenny schon untreu gewesen sei?

Nein, erwiderte ich und sah ihm zu, wie er sich eine Zigarre anzündete, leider nicht. Die meiste Zeit sei ich ja aus dem einen oder anderen Grund nicht in bester Verfassung gewesen. Diese Entschuldigung ließ er amüsiert gelten.

Ich deutete an, daß ich Jennys Wunsch entsprechen würde, weil meine Zukunft davon nicht so betroffen war wie die ihre. Sie würde mir dankbar sein, meinte Charles. Ich glaubte sie besser zu kennen: Sie würde es als selbstverständlich voraussetzen.

Da wir zu diesem Thema nichts mehr zu sagen hatten, befaßten wir uns mit Kraye. Ich fragte Charles, ob er ihn inzwischen wiedergetroffen habe.

«Ja, das wollte ich dir noch erzählen. Ich habe am Donnerstag im Club mit ihm zu Mittag gegessen. So ganz zufällig.«

«Hast du ihn da kennengelernt, im Club?«

«Richtig. Er bedankte sich für das Wochenende und so weiter. Er unterhielt sich mit mir über die Steine. Sehr interessante Sammlung, meinte er, aber der St. Lukas-Stein wurde nicht erwähnt. Ich hätte ihn am liebsten direkt gefragt, nur um seine Reaktion zu beobachten. «Er lächelte.»Nebenbei kam ich auch auf dich zu sprechen, worauf er seinen ganzen Charme spielen ließ und erklärte, du hättest zwar seine Frau tödlich beleidigt, aber das hätte sein Vergnügen nicht trüben können. Ich hielt das für ausgesprochen gemein. Er legte es darauf an, dir größte Schwierigkeiten zu machen.«

«Ja«, sagte ich fröhlich.»Ich habe ihn beleidigt und außerdem bespitzelt. Alles, was er über mich sagt, ist vollauf gerechtfertigt.«

Ich erzählte Charles, wie ich die Fotos gemacht hatte und was mir im Laufe der vergangenen Woche alles aufgefallen war. Seine Zigarre ging aus. Er schien völlig verblüfft zu sein.

«Das wolltest du doch, oder nicht?«fragte ich.»Du hast damit angefangen. Was hast du erwartet?«

«Ich hatte es beinahe vergessen — so warst du früher. Entschlossen sogar bedenkenlos. «Er lächelte.»Meine Therapie hat sich doch als recht nützlich erwiesen.«

«Gnade Gott deinen anderen Patienten«, sagte ich,»wenn Kraye bei dir die übliche Medizin ist.«

Wir gingen die Straße entlang zu Charles’ Wagen. Er wollte wieder nach Hause fahren.

«Ich hoffe, daß wir uns trotz der Scheidung auch künftig sehen?«meinte ich.»Ich würde das sonst sehr bedauern. Als dein ehemaliger Schwiegersohn kann ich ja schlecht nach Aynsford kommen.«

Er sah mich überrascht an.

«Wenn du nicht kommst, bin ich beleidigt. Jenny wird auf der ganzen Welt zu Hause sein wie Jill. Komm nach Aynsford, sooft du willst.«

«Danke«, sagte ich.

Ich meinte es ernst. Er stand neben seinem Wagen und sah auf mich herunter.

«Jenny ist eine dumme Gans«, sagte er schließlich.

Ich schüttelte den Kopf. Das stimmte nicht. Jenny wußte genau, was sie brauchte, nur ich gehörte nicht dazu.

Als ich am nächsten Morgen pünktlich ins Büro kam, fing mich das Mädchen am Klappenschrank ab und sagte, Radnor wünsche mich sofort zu sprechen.

«Guten Morgen«, sagte er.»Lord Hagbourne hat mir am Telefon gerade erklärt, es wäre langsam Zeit, daß wir Resultate vorwiesen. Er könnte außerdem heute nicht nach Seabury fahren, weil sein Wagen zum Kundendienst müßte. Bevor Sie explodieren, Sid. Ich habe ihm gesagt, daß Sie ihn mit Ihrem eigenen Wagen hinbringen. Beeilen Sie sich!«

Ich grinste.

«Das hat ihm wohl nicht gepaßt.«

«In der Eile fiel ihm keine andere Entschuldigung ein. Fahren Sie nur schnell und holen Sie ihn ab, bevor er sich eine andere Ausrede ausdenkt.«

«Gut.«

Ich ging noch bei der Abteilung Rennsport vorbei, wo Dolly gerade Lippenstift auftrug, diesmal ohne Wickelbluse: enttäuschend! Ich sagte ihr, wo ich hinwollte, und fragte, ob ich Chico einsetzen könnte.

«Meinetwegen«, erwiderte sie resigniert.»Wenn Sie überhaupt zu Wort kommen. Er ist in der Buchhaltung und streitet mit dem kleinen Jones.«

Chico hörte jedoch aufmerksam zu und wiederholte, was ich ihn beauftragt hatte:»Ich soll im einzelnen feststellen, was für Fehler der Administrator in Dunstable gemacht hat, und mich vergewissern, daß sie und nichts anderes die Ursache dafür waren, daß die Rennbahn mit Verlust arbeitete.«

«Genau. Und suchen Sie die Akte von Andrews und den Fall heraus, den Sie gerade bearbeiteten, als ich niedergeschossen wurde.«

«Aber das ist doch alles abgeschlossen«, protestierte er.»Die Akte liegt im Keller.«»Dann schicken Sie Jones hinunter«, schlug ich grinsend vor.

«Wahrscheinlich handelt es sich nur um einen Zufall, aber ich möchte etwas nachprüfen. Das mache ich morgen früh. Okay?«

«Wenn Sie meinen.«

Ich eilte nach Hause, ließ den Wagen auftanken und fuhr zum Beauchamp Place. Lord Hagbourne stieg mit einem höflichen, aber kühlen >Guten Morgen< ein, und wir traten die Fahrt nach Seabury an. Er brauchte eine Viertelstunde, um damit fertig zu werden, daß man ihn überrumpelt hatte. Endlich seufzte er, drehte sich herum und bot mir eine Zigarette an.

«Nein, danke, Sir. Ich rauche nicht.«

«Stört es Sie, wenn ich rauche?«

«Natürlich nicht.«

«Das ist ein schöner Wagen«, bemerkte er und schaute sich um.

«Er ist schon drei Jahre alt. Ich habe ihn in meiner letzten Rennsaison gekauft.«

«Ich muß schon sagen, daß Sie sehr gut damit zurechtkommen«, meinte er.»Ich hätte nicht gedacht, daß man einen solchen Wagen mit nur einer Hand steuern kann.«

Der Zustand der Rennbahn in Seabury bedrückte ihn. Wir gingen zusammen mit Captain Oxon, der sich starr aufrecht hielt und betont höflich gab, zu der beschädigten Stelle. Ich hielt Oxon für einen Dummkopf. Er hätte den Vorsitzenden des Rennsportkomitees anflehen müssen, sofort für Hilfe zu sorgen. Captain Oxon war ein schlanker, freundlicher Mann um die Fünfzig, mit langem spitzen Kinn und wäßrigen Augen. Der Ausdruck beleidigter Sturheit in seinem Gesicht wirkte eher kindisch, als daß er echte Stärke verraten hätte.

«Ich weiß, daß es mich eigentlich nichts angeht«, sagte ich,»aber ein Bulldozer könnte doch in ein paar Stunden den Rest des verbrannten Rasens abräumen? Neuen wird man nicht mehr einsetzen können, man muß dann eben ein paar Tonnen Lohe oder Torf aufschütten, dann geht es schon. Sie müssen doch sowieso für die Aufschüttung an der Straße Lohe beziehen. Warum bestellen Sie nicht einfach eine größere Menge?«

Oxon sah mich gereizt an.»Das können wir uns nicht leisten.«

«Sie können sich keine Absage in letzter Minute mehr leisten«, korrigierte ich.

«Dagegen sind wir versichert.«

«Ich bezweifle, ob eine Versicherungsgesellschaft da noch mitmacht«, sagte ich.»Man wird Ihnen sagen, die Rennen hätten stattfinden können, wenn man sich größere Mühe gegeben hätte.«

«Heute ist Montag«, sagte Lord Hagbourne nachdenklich.

«Die Rennen sollen am Freitag stattfinden. Wenn wir morgen einen Bulldozer einsetzen, kann die Lohe am Mittwoch und Donnerstag abgeladen und aufgeschüttet werden. Das müßte klappen.«

«Aber die Kosten. «begann Oxon erneut.

«Das Geld muß eben beschafft werden«, sagte Lord Hagbourne.»Sagen Sie Mr. Fotherton, daß ich die Ausgaben gutgeheißen habe. Die Rechnungen werden bezahlt, so oder so. Man darf nicht behaupten können, es sei nicht versucht worden.«

Es lag mir auf der Zunge, darauf hinzuweisen, daß Oxon die Löhne für sechs Arbeiter hätte einsparen können, wenn gleich am ersten Tag ein Bulldozer eingesetzt worden wäre, aber da die Schlacht gewonnen war, hielt ich mich zurück.

Wir gingen zu den Tribünen zurück. Lord Hagbourne blieb stehen und registrierte mit düsterer Miene ihren schäbigen Zustand. Wirklich bedauerlich, daß Seabury mit einem Administrator geschlagen war, der sein Hauptinteresse dem erfolgreichen Rennplatz in Bristol widmete.

Ich folgte Lord Hagbourne und Captain Oxon durch das Tor, die Straße entlang zu Captain Oxons Wohnung, die über der Kantine im Stallblock lag.

Auf Lord Hagbournes Vorschlag rief Oxon ein Tiefbauunternehmen in der Nähe an und vereinbarte für den folgenden Vormittag den Einsatz des Bulldozers. Er war immer noch gereizt, und es trug nicht zur Versöhnung bei, daß ich die Schinkenbrote ablehnte, die er anbot, obwohl ich sie gerne gegessen hätte. Ich war seit vierzehn Tagen aus dem Krankenhaus entlassen, aber ich mußte noch mindestens zwei Wochen warten, bis frisches Brot, Schinken und Senf wieder zugelassen waren.

Nach dem Imbiß entschloß sich Lord Hagbourne zu einem Besichtigungsrundgang. Wir schlenderten zu dritt zuerst um die Stallungen herum in die Unterkunftsräume der Stallburschen, durch die Kantine in die Küche und von dort in die Büros — überall dasselbe. Abgesehen von den hölzernen Stallboxen, die nach dem Brand errichtet worden waren, sah man keine Spur von Instandsetzungsarbeiten oder frischer Farbe.

Wir kehrten wieder zum Tor zurück und gingen hinüber zur Tribüne, an deren Rückseite sich Wiegeraum, Speisesäle, Bars und Garderoben befanden. Das eine Ende beherbergte Büros für Sekretärinnen, Presse und Rennleitung, das andere die Sanitätsstation und einen Lagerraum. Ein breiter Tunnel lief durch das ganze Gebäude und ermöglichte einen zweiten Zugang zu den meisten Räumen, auf der anderen Seite zu den Tribünenplätzen. Wir ließen nichts aus, besuchten sogar den Heizungsraum und die Öltanks, so daß ich endlich auch zu einem wehmütigen Blick in die Wiege- und Umkleideräume kam.

Es war überall feuchtkalt, zugig und schmutzig. Nichts wirkte frisch, nicht einmal der Staub.

Captain Oxon erklärte, der allgemeine Verfall rührte in erster Linie von der Meeresluft her, weil der Rennplatz so nah an der Küste läge. Im Prinzip hatte er wohl auch recht, nur — man hatte der Meeresluft zu lange freie Hand gelassen.

Schließlich kehrten wir zu meinem Wagen zurück, der am Tor stand, und schauten zur Tribüne hinüber — alles verloren, verlassen, verfallend, wie ein kalter Novembernachmittag.

«Was kann man tun?«fragte Lord Hagbourne bedrückt, als wir wieder unterwegs waren.

«Ich weiß es nicht. «Ich schüttelte den Kopf.»Das Ganze ist einfach tot.«

Ich konnte nicht widersprechen. Seabury war wohl nicht mehr zu helfen. Die Rennveranstaltungen am Freitag und Samstag konnte man jetzt zwar abhalten, aber so, wie die Dinge standen, würden die Einnahmen kaum die Kosten decken. Kein Unternehmen vermochte auf die Dauer mit Verlust zu arbeiten. Seabury mochte sich noch eine Weile über Wasser halten, indem es die Reserven angriff, aber aus den Bilanzen ergab sich, daß sie nur ein paar tausend Pfund betrugen. Es würde noch schlimmer werden.

Der Bankrott schien unvermeidbar. Es war sicherlich vernünftiger, wenn man zugab, daß Seabury keine Zukunft hatte, und man den Grund zum bestmöglichen Preis zum Verkauf anbot. Warum sollten die Aktionäre nicht entschädigt werden und acht Pfund für jedes investierte Pfund erhalten? Viele würden gewinnen, wenn Seabury unter den Hammer kam, niemand verlieren. Seabury war nicht mehr zu retten.

Mein Gedankengang brach jäh ab. Genau das mußte die Einstellung des Administrators, Mr. Fotherton, und des Verwalters Oxon und aller Verantwortlichen sein. Das erklärte, warum man sich nicht richtig bemüht hatte, den Rennplatz zu retten. Der Niedergang war einfach hingenommen und nicht nur als harmlos, sondern auch als gewinnbringend angesehen worden. Wie bei anderen Rennplätzen und großen Bahnen wie Hurst Park und Birmingham würde es auch mit Seabury zu Ende gehen.

Was spielte es für eine Rolle, daß Cardiff, Derby, Bournemouth, Newport einen weiteren Nachfolger finden würden? Was spielte es für eine Rolle, daß vielbeschäftigte Leute wie Inspektor Cornish nicht mehr oft zu Rennen gehen konnten, weil der Rennplatz in der Nähe aufgelöst worden war? Was spielte es für eine Rolle, wenn Seaburys Feriengäste statt dessen in andere Vergnügungsstätten wanderten?

Die Rennpferdbesitzer müßten wie ein Mann aufstehen, dachte ich, und verlangen, daß Seabury gerettet würde, weil es für ihre Pferde einfach keine bessere Rennbahn gab. Natürlich würden sie das nicht tun. Man konnte den Pferdebesitzern auseinandersetzen, wie gut die Bahn war, aber wenn sie nicht selbst etwas vom Fach verstanden, nützte das nichts. Sie sahen nur die verfallenden Tribünen, nicht die ausgezeichneten Hindernisse. Sie wußten nicht, daß ihre Pferde den federnden Boden liebten, daß der Bahnverlauf ideal war.

Ich trat wütend auf das Gaspedal, und der Wagen schoß wie ein Vogel dahin. Ich fuhr sonst nicht mehr allzu schnell, weil ich nur mit einer Hand steuern konnte. Nach einer Weile pendelte sich der Tachometer wieder auf achtzig ein.

«Mir geht es genauso«, sagte er.

Ich sah ihn überrascht an.

«Das Ganze ist zum Verzweifeln«, meinte er.»Im Grunde eine hervorragende Bahn, aber man kann nichts machen.«

«Sie läßt sich retten«, sagte ich.

«Und wie?«

«Eine neue Einstellung. «Ich verstummte.

«Weiter«, sagte er.

Ich konnte ihm doch nicht sagen, daß er alle Verantwortlichen für Seabury an die Luft setzen sollte. Viele davon waren wahrscheinlich enge Freunde oder alte Schulkameraden von ihm.

«Angenommen, Sie hätten freie Hand«, sagte er nach einer Weile.»Was würden Sie tun?«

«Niemand hat freie Hand. Das ist ja die Schwierigkeit. Wenn jemand einen guten Vorschlag macht, ist ein anderer dagegen. Und am Ende wird gar nichts getan.«

«Nein, Sid. Ich meine Sie persönlich. Was würden Sie tun?«

«Ich?«sagte ich grinsend.»Wenn ich tun könnte, was mir vorschwebt, würde die ganze Rennsportkommission in Ohnmacht fallen.«

«Ich möchte es gerne wissen.«

«Im Ernst?«

Er nickte, als könnte er je etwas anderes als ernst sein.

Ich seufzte.»Na schön. Ich würde alle brauchbaren Ideen zur Anlockung von Zuschauern verwenden, die man sich anderswo hat einfallen lassen, und sie sofort in die Tat umsetzen.«

«Zum Beispiel?«

«Ich würde die ganzen Reserven nehmen und den Betrag als Preis für das Hauptrennen aussetzen. Ich würde dafür sorgen, daß wirklich nur erstklassige Pferde an den Start kommen. Dann würde ich persönlich mit den Trainern sprechen, ihnen die Lage erklären und sie um Unterstützung bitten. Ich würde zu den Leuten gehen, die Gold-Cup-Rennen fördern und sie dazu überreden, für alle anderen Rennen Fünfhundertpfund-Preise zu stiften. Ich würde aus dem ganzen eine Kampagne machen. Ich würde im Fernsehen und auf den Sportseiten der Zeitungen über eine Aktion >Rettet Seabury< diskutieren lassen. Ich würde die Menschen interessieren und beteiligen. Ich würde jemanden wie die Beatles zur Überreichung der Siegerpreise herbeischaffen. Ich würde kostenlos parken lassen, kostenlose Rennzeitungen verteilen und am Renntag alles mit Fahnen, Girlanden und Blumen garnieren, damit die alte Farbe nicht auffällt. Ich würde die Angestellten darauf aufmerksam machen, daß die Zuschauer freundlich behandelt werden müssen. Und ich würde darauf bestehen, daß ordentliches Essen serviert wird. Ich würde die Rennveranstaltung Anfang April ansetzen und auf einen sonnigen Frühlingstag hoffen. Das wäre der Anfang«, meinte ich abschließend.

«Und nachher?«

«Ein Darlehen, nehme ich an. Entweder von einer Bank oder von Privatpersonen. Aber die Direktoren müßten zuerst beweisen, daß Seabury erfolgreich sein kann wie früher. Niemand reißt sich darum, einem absterbenden Unternehmen Geld zu leihen. Die Wiedererweckung muß vor dem Geld kommen, wenn Sie mich verstehen.«

«Ich verstehe«, sagte er langsam,»aber.«

«Ja — aber. Darauf läuft es immer hinaus. In Seabury wird sich niemand mehr die Mühe machen.«

Wir schwiegen lange Zeit.

Schließlich sagte ich:»Die Veranstaltungen am Freitag und Samstag. Es wäre schade, noch eine Katastrophe in letzter Minute zu riskieren. Meine Firma könnte für eine Bewachung des Rennplatzes sorgen: Patrouillen und dergleichen.«

«Zu teuer«, erwiderte er sofort.»Und zudem haben Sie noch nicht bewiesen, daß man so etwas wirklich braucht. Die Schwierigkeiten in Seabury scheinen mir immer noch von einer Pechsträhne herzurühren.«

«Na ja — ein paar Nachtstreifen könnten ihre Fortsetzung verhindern.«

«Ich weiß nicht recht. Ich muß es mir überlegen.«

Er wechselte das Thema und sprach auf dem Weg nach London nur noch über andere Rennen auf anderen Bahnen.

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