Kapitel 4

Ich telefonierte ein Taxi herbei, fuhr nach Oxford und kaufte einen Fotoapparat. Obwohl im Laden sehr viele Leute waren, ging der junge Mann, der mich bediente, das Problem eines einhändigen Fotografen mit Begeisterung an. Gemeinsam suchten wir eine Minox-Miniaturkamera aus, die aus Deutschland stammte, siebeneinhalb Zentimeter lang und drei Zentimeter breit war, und die ich ohne die geringste Schwierigkeit mit einer Hand halten, einstellen und bedienen konnte.

Er zeigte mir genau, wie man damit umgehen mußte, schraubte noch einen kleinen Belichtungsmesser auf, legte den Film ein und steckte den ganzen Apparat in einen so kleinen, schwarzen Behälter, daß ich ihn ohne weiteres in der Hosentasche tragen konnte. Er bot mir auch an, den Film später auszuwechseln, falls ich es nicht schaffen sollte. Wir waren beide sehr zufrieden.

Als ich zurückkam, saßen alle im Wohnzimmer um das gemütliche Kaminfeuer und aßen gebackene Sauerteigfladen. Ich ärgerte mich, weil ich nicht mithalten durfte.

Niemand achtete auf mich, als ich hereinkam und mich dazusetzte, mit Ausnahme von Mrs. van Dysart, die sofort ihre Krallen zu schärfen begann. Sie ließ ein paar unverschämte Bemerkungen über Faulpelze fallen, die wegen Geldes heiraten. Charles widersprach nicht. Viola sah mich forschend an und biß sich auf die Unterlippe. Ich blinzelte ihr zu, und sie seufzte erleichtert.

Ich erfuhr, daß die Beute des Vormittags nicht aus dem üblichen Rahmen fiel — Fasanen, Wildenten, ein Hase, weil Charles lieber auf eigenem Grund jagte, als Treiber anzustellen. Die Frauen hatten eine schlechte Meinung über die Verkäufer

Oxfords gewonnen und eine Broschüre über die Herstellung von Glas im Italien des 15. Jahrhunderts mitgebracht. Alles ganz normal für ein Wochenende auf dem Land. Nur meine Beschäftigung schien der Wirklichkeit zu widersprechen. Dies und die falsche Position, in die mich Charles gesteuert hatte.

Krayes Blick und seine Hände kehrten wieder zu der Halbedelsteinsammlung zurück. Man öffnete die Tür, das Licht flammte auf, man nahm die Steine einzeln heraus, gab sie herum und bewunderte sie. Mrs. van Dysart schien von einem Stück Rosenquarz besonders angetan zu sein, das sie zärtlich streichelte.

«Rex, du mußt für mich auch so etwas sammeln!«befahl sie, und der gute Rex nickte brav.

«Wissen Sie, Roland, das sind wirklich erstklassige Stücke«, sagte Kraye.»Man sieht selten etwas Besseres. Ihr Vetter muß sehr viel Glück und Beziehungen gehabt haben, um so viele schöne Kristalle in die Hände zu bekommen.«

«Das kann man wohl sagen«, stimmte Charles zu.

«Ich wäre interessiert, wenn Sie einmal vorhaben sollten, sie zu Geld zu machen — sagen wir, eine erste Option?«

«Eine erste Option auf jeden Fall«, erwiderte Charles lächelnd,»aber ich verkaufe nicht, das kann ich Ihnen versichern.«

«Ach was, das sagen Sie jetzt, aber ich gebe nicht so leicht auf. Ich versuche es später noch mal. Sie werden die Option bestimmt nicht vergessen?«

«Keineswegs«, sagte Charles,»mein Wort darauf.«

Kraye sah lächelnd auf den Stein, den er in der Hand hatte — einen großartigen, ungeschliffenen Amethyst, der wie ein Büschel erstarrter Veilchen aussah.

«Lassen Sie den nicht ins Feuer fallen«, sagte er,»er würde sofort gelb werden.«

Und er hielt einen Vortrag über Amethyste, der durchaus hätte

Interesse beanspruchen können, wenn er sich auf einfache Worte beschränkt hätte, aber die Blenderei mit Worten war bei ihm entweder Gewohnheit oder Absicht. Ich konnte es nicht entscheiden.

«… Mangan kommt natürlich in Drusen oder Achatklümpchen in Südamerika und Rußland vor, aber bei dieser weltweiten Verbreitung ist es nur allzu verständlich, daß primitive Gesellschaften suprarationale Tendenzen und Attribute darin.«

Ich bemerkte plötzlich, daß er mich ansah, und mir fiel ein, daß mein Gesicht nicht gerade beeindruckte Bewunderung verraten mußte, eher amüsierte Ironie. Das gefiel ihm nicht. In seinen Augen blitzte etwas auf.

«Es ist symptomatisch für die Slum-Mentalität, zu verspotten, was sie nicht versteht«, meinte er.

«Sid«, sagte Charles scharf, unbewußt einen Teil meines Namens preisgebend,»du hast doch sicher auch etwas anderes zu tun. Wir können dich bis zum Essen entbehren.«

Ich stand auf. Natürlich stieg die Wut in mir hoch, aber ich ließ sie nicht durchbrechen. Ich schluckte.

«Schon gut«, murmelte ich.

«Bevor Sie gehen, Sid«, sagte Mrs. van Dysart vom Sofa her,»übrigens Sid, ein entzückender plebejischer Name, so passend — legen Sie das für mich auf den Tisch!«

Sie hielt mir beide Hände hin, einen Stein in jeder Handfläche, dazwischen noch einen. Ich kam nicht damit zurecht und ließ sie fallen.

«Ach, du meine Güte«, sagte Mrs. van Dysart, als ich niederkniete, die Steine aufhob und auf den Tisch legte.»Ich habe vergessen, daß Sie körperbehindert sind. Wirklich albern von mir.«

Sie hatte es nicht vergessen.

«Kann man denn dagegen nichts machen? Sie müßten ein bißchen üben, das nützt sehr viel. Man darf nicht einfach aufgeben. Sie sind es dem Admiral schuldig, meinen Sie nicht?«

Ich schwieg, und Charles war vornehm genug, es mir gleichzutun.

«Ich kenne hier einen sehr guten Mann«, fuhr Mrs. van Dysart fort,»er hat früher bei der Armee gearbeitet und kann vor allem mit Faulpelzen sehr gut umgehen. Er wäre genau der richtige für Sie. Was meinen Sie, Admiral, soll ich einen Termin für Ihren Schwiegersohn vereinbaren?«

«Äh.«, sagte Charles,»ich glaube nicht, daß das etwas wird.«

«Unsinn. Sie dürfen nicht zulassen, daß er sich den Rest seines Lebens herumtreibt und nichts tut. Er braucht einen Anstoß.«

Sie wandte sich mir zu.»Damit ich genau weiß, wovon ich rede, wenn ich die Verabredung für Sie treffe — zeigen Sie mir doch einmal Ihre kostbare, verkrüppelte Hand!«

Es blieb kurze Zeit still. Ich spürte ihre forschenden Augen, die unfreundliche Neugierde.

«Nein«, sagte ich ruhig.»Verzeihen Sie, nein.«

Als ich durchs Zimmer ging und es verließ, hörte ich sie sagen:

«Na bitte, Admiral, er will ja gar nicht gesund werden. Sie sind alle gleich.«

Ich lag auf dem Bett und las das Buch über Gesellschaftsrecht noch einmal durch, vor allem den Teil über den Erwerb einer Aktienmajorität. Die Lektüre fiel mir nicht leichter als im Krankenhaus, und seit ich wußte, warum ich den Text studierte, kam er mir eher noch komplizierter vor. Wenn der Vorstand von Seabury Schwierigkeiten voraussah, hätte er sicherlich eigene Ermittler angesetzt, Leute, die sich an den Börsen auskannten wie ich auf den Rennplätzen. Einen Fachmann! Ich war ganz und gar nicht die richtige Person, Kraye in die Parade zu fahren, falls das überhaupt möglich war. Und doch. Ich starrte an die Decke und zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Und doch hatte ich eine ausgefallene Idee.

Viola kam herein. Sie hatte geklopft und gleichzeitig die Tür geöffnet.

«Sid, ist alles in Ordnung mit dir? Kann ich etwas für dich tun?«

Sie schloß die Tür. Ich setzte mich auf und schwang die Beine vom Bett.

«Nein danke, mir fehlt nichts.«

Sie setzte sich auf die Armlehne eines Sessels, sah mich mit ihren freundlichen, ein wenig traurigen braunen Augen an und sagte:

«Sid, warum läßt du es zu, daß Charles so schreckliche Dinge von dir erzählt? Nicht nur, wenn du im Zimmer bist, sie haben sich auch hinter deinem Rücken über dich amüsiert, Charles und diese entsetzliche Mrs. van Dysart. Was ist zwischen euch vorgefallen? Als es dir so schlecht ging, hätte er sich keine größeren Sorgen machen können, wenn du sein eigener Sohn gewesen wärst. Und jetzt ist er so gemein und ungerecht zu dir.«

«Liebe Viola, mach dir keine Sorgen. Charles treibt irgendein Spiel, und ich mache mit.«

«Ja«, sagte sie.»Er hat mich gewarnt. Er sagte, ihr wolltet beide eine Tarnaktion starten, und ich dürfte auf keinen Fall das ganze Wochenende über ein Wort zu deiner Verteidigung sagen. Aber es ist gar nicht so, nicht wahr? Als ich dein Gesicht sah bei der Bemerkung über deine arme Mutter, wußte ich, daß du nichts ahnen konntest.«

«War das so deutlich?«sagte ich betroffen.»Ich kann dir jedenfalls versichern, daß ich keinen Streit mit ihm habe. Sei bitte so lieb und tu genau, was er verlangt hat. Und erwähne bitte mit keinem Wort den anderen gegenüber die erfolgreicheren Abschnitte in meinem Leben, oder daß ich bei Radnor beschäftigt bin, auch nichts von der Schießerei. Du hast hoffentlich heute auf der Fahrt nach Oxford geschwiegen?«schloß ich etwas besorgt.

Sie nickte.»Ich wollte zuerst mit dir reden.«

«Gut«, sagte ich lächelnd.

«Ach, du meine Güte!«rief sie, halb erleichtert, halb verwirrt.

«Wenn das so ist — Charles hat mich gebeten, dich auf alle Fälle mit zum Essen zu bringen.«

«So, hat er das? Er befürchtet wohl, daß ich ihm einen Stiefel nachwerfe, nachdem er mich so aus dem Zimmer geschickt hat. Du gehst jetzt schön zu Charles hinunter und sagst ihm, ich käme unter der Bedingung zum Essen, daß er nachher eine Kartenpartie arrangiert und mich in Frieden läßt.«

Das Essen war wieder eine Prüfung. Zu Räucherlachs und Fasan genossen die Gäste die nächste Runde mit mir als Sparringspartner. Kraye und seine Frau hatten, angefeuert von Charles und Mrs. van Dysart, eine großartige Geschicklichkeit bei diesem neuartigen Gesellschaftsspiel entwickelt, und ich wünschte mir von Herzen, Charles wäre nie auf diese Idee gekommen. Er hielt sich jedoch an die Abmachung und versammelte seine Gäste nach Kaffee und Kognak und einer weiteren Besichtigung der Steine um den Tisch im Wohnzimmer. Als sie alle ins Spiel vertieft waren, ging ich hinauf, holte Krayes Aktenköfferchen und nahm es mit in mein Zimmer.

Weil sich eine solche Chance nie mehr bieten würde und ich nichts versäumen wollte, was ich später zu bedauern hätte, fotografierte ich jedes einzelne Blatt, alle Briefe des Börsenmaklers, alle Berichte über Kapitalanlagen — auch die beiden Blätter unter der Schreibunterlage.

Obwohl ich bei sehr hellem Licht arbeitete und den Belichtungsmesser zur Verfügung hatte, nahm ich die

Unterlagen, die ich für die wichtigsten hielt, mehrmals mit verschiedenen Werten auf, um möglichst scharfe Fotos zu erzielen. Die kleine Kamera funktionierte ausgezeichnet, und ich konnte die Filme in ihren winzigen Kassetten ohne Schwierigkeiten auswechseln. Am Schluß hatte ich drei ganze Filme mit je zwanzig Aufnahmen verbraucht. Das nahm mich ziemlich lange in Anspruch, weil ich zwischen jedem Schnappschuß den Fotoapparat weglegen mußte, um das nächste Blatt unter die Lampe zu legen, überdies mußte ich ja besonders darauf achten, die Reihenfolge der Unterlagen nicht zu verändern.

Jedesmal, wenn ich den Umschlag mit den Zehnpfundnoten sah, hoffte ich, Howard Kraye möchte nicht stark ins Verlieren kommen und dadurch gezwungen sein, Nachschub zu holen. Ich fand es zu der Zeit eigentlich lächerlich, aber ich nahm die beiden Geldbündel aus dem Umschlag und fotografierte auch sie. Bevor ich sie zurücklegte, blätterte ich sie durch: Die Scheine waren neu, mit fortlaufenden Nummern versehen, fünfzig pro Päckchen — insgesamt also tausend Pfund.

Als alles wieder im Aktenköfferchen verstaut war, saß ich eine Weile da, starrte den Inhalt an, während ich mir ins Gedächtnis rief, wie das Ganze vorher ausgesehen hatte. Als ich zufrieden war, klappte ich das Köfferchen zu, sperrte es ab, wischte es sauber, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, und brachte es an seinen Platz zurück.

Dann ging ich ins Eßzimmer, um mir den Kognak zu genehmigen, den ich vorher abgelehnt hatte. Jetzt brauchte ich ihn. Ich nahm das Glas mit, lauschte kurz vor der Tür zum Wohnzimmer auf das Stimmengemurmel, ging wieder hinauf und legte mich zu Bett. Ich ließ mir das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen.

Howard Kraye hatte, angelockt durch den Köder einer Kri stall sammlung, eine Einladung zu einem ruhigen Wochenende auf dem Land bei einem pensionierten Admiral angenommen. Er hatte eine Reihe von privaten Unterlagen mitgebracht. Da es für ihn keinen Grund gab zu unterstellen, daß man ihn in einer solch unschuldigen Umgebung bespitzeln würde, konnte es sich durchaus um allerpersönlichste Unterlagen handeln; so persönliche, daß er sich nur ruhig fühlte, wenn er sie bei sich hatte. Zu persönlich, um sie zu Hause zu lassen? Und dann schlief ich ein.

Aber mein Leib ließ mir keine Ruhe. Nachdem ich ungefähr fünf Stunden lang erfolglos gegen die Schmerzen angekämpft hatte, entschied ich, daß das Herumgrübeln nichts eingebracht hatte. Ich stand auf und zog mich an.

Zum Teil gegen meinen Willen ging ich den Flur entlang zu Jennys Zimmer und trat ein. Es war der kleine helle Raum, den sie als Kind bewohnt hatte. Sie war dorthin zurückgekehrt, als sie sich von mir getrennt hatte, und er gehörte ihr ganz allein. Ich hatte dort nie geschlafen. Das Bett, die Überbleibsel aus der Kindheit, mädchenhafte Rüschen an Vorhängen und Frisiertisch, alles schloß mich aus. Die Fotos im Zimmer zeigten ihren Vater, ihre tote Mutter, ihre Schwester, den Schwager und ihre Pferde, aber nicht mich. Sie hatte die Ehe ausgelöscht, so gut sie konnte.

Ich ging langsam herum, berührte ihre Sachen und dachte daran, wie sehr ich sie geliebt hatte. Aber ich wußte auch, daß es kein Zurück gab und wir — wenn sie in diesem Augenblick die Tür geöffnet hätte — uns nicht tränenreich in die Arme sinken würden.

Ich nahm einen einäugigen Teddybären von ihrem Sessel und setzte mich eine Weile hin. Es ist schwer zu sagen, woran genau eine Ehe krankt, weil der behauptete Grund oft nicht der wahre ist. Die Auseinandersetzungen zwischen mir und Jenny rührten oberflächlich gesehen nur von einer Ursache her: meinem Ehrgeiz. Als ich zu schwer für Flachrennen geworden war, hatte ich mich in der Saison vor unserer Hochzeit ausschließlich auf

Hindernisrennen umgestellt und wollte Champion werden. Diesem Ziel zuliebe war ich bereit, wenig zu essen, kaum zu trinken, früh ins Bett zu gehen und sogar die ehelichen Pflichten zu vernachlässigen, wenn ich am nächsten Tag ein Rennen zu bestreiten hatte. Es war bedauerlich, daß sie gern auf Partys ging, die bis in den frühen Morgen dauerten, und daß sie liebend gern tanzte. Zuerst gab sie bereitwillig nach, dann mürrisch und schließlich zornig. Danach ging sie allein aus.

Am Ende verlangte sie von mir, ich sollte zwischen ihr und dem Rennsport wählen. Inzwischen war ich tatsächlich Champion geworden und konnte nicht aufhören. Jenny verließ mich. Man konnte es als Ironie des Schicksals auffassen, daß ich sechs Monate später den Rennsport aufgeben mußte. Seither war mir langsam klargeworden, daß eine Ehe nicht einfach daran zugrunde geht, daß ein Partner gern ausgeht und der andere nicht. Ich war jetzt der Ansicht, daß Jennys Vorliebe für ein tolles Leben daher rührte, daß ich in einer wesentlichen Phase versagt hatte. Diese Erkenntnis tat natürlich weder meinem Selbstvertrauen noch meiner Selbstachtung gut.

Ich seufzte, stand auf, setzte den Teddybären an seinen Platz und ging hinunter ins Wohnzimmer. Es war elf Uhr und ein windiger Herbstvormittag.

Doria saß allein in dem großen gemütlichen Zimmer auf der Fensterbank und las die Sonntagszeitungen, die in einem wilden Haufen um sie ausgebreitet lagen.

«Guten Morgen«, sagte sie,»aus was für einem Loch kommen Sie denn gekrochen?«

Ich trat ans Fenster, ohne etwas zu erwidern.

«Armer kleiner Mann, sind wir beleidigt?«

«Ich habe Gefühle wie jeder andere Mensch auch.«

«Sie können tatsächlich sprechen?«sagte sie spöttisch.»Ich hatte mich schon gewundert.«»Ja, ich kann sprechen.«

«Dann erzählen Sie mir doch von Ihren Sorgen, kleiner Mann.«

«Das Leben ist herrlich.«

Sie erhob sich und kam zum Kamin. In ihrer hautengen Hose mit Leopardenfellmuster und der schwarzen Seidenbluse wirkte sie völlig fehl am Platz.

Sie war genauso groß wie Jenny, genauso groß wie ich, knapp einsachtundsechzig. Da meine geringe Größe sich für den Rennsport als Vorteil erwiesen hatte, war sie mir nie als Handicap für das Leben im allgemeinen erschienen, weder physisch noch gesellschaftlich. Ich hatte auch nie begreifen können, warum so viele Menschen der Ansicht sind, Größe sei um ihrer selbst willen wichtig. Aber es wäre naiv gewesen, nicht von der weitverbreiteten Meinung Kenntnis zu nehmen, daß sich Verstand und Herz an körperlicher Größe messen ließen. Der kleine Mann mit den großen Gefühlen ist stets eine komische Figur gewesen und wird es bleiben; reine Unvernunft. Was ändern denn fünf oder zehn Zentimeter am Wesen eines Menschen?

«Sie haben hier einen guten Stall gefunden, nicht wahr?«sagte sie und nahm eine Zigarette aus der silbernen Dose auf dem Sims.

«Ich denke schon.«

«Wenn ich der Admiral wäre, würde ich Sie hinauswerfen.«

«Danke«, sagte ich und gab ihr absichtlich kein Feuer. Sie warf mir einen bösen Blick zu, fand eine Schachtel Streichhölzer und zündete sich die Zigarette selbst an.

«Sind Sie krank oder was?«

«Nein. Warum?«

«Sie essen Diät und sehen richtig mickrig aus. Ich dachte nur. «Sie blies den Rauch in die Luft.»Die Tochter des

Admirals muß ganz verzweifelt nach einem Ehering gewesen sein.«

«Das eine muß man ihr lassen«, sagte ich ruhig,»wenigstens hat sie sich nicht eine reiche Vatergestalt ausgesucht, die doppelt so alt ist.«

Einen Augenblick lang dachte ich, sie würde mir eine Ohrfeige geben, aber in der Hand, die sie dazu gebraucht hätte, hielt sie die Zigarette.

«Sie kleiner Kacker«, sagte sie statt dessen — eine freundliche Dame, alles in allem!

«Ich komme durch.«

«Bei mir nicht.«

Ihre Lippen waren schmal geworden. Offenbar hatte ich sie tief getroffen.

«Wo sind die anderen?«fragte ich.

«Irgendwo mit dem Admiral unterwegs. Und Sie können auch wieder verschwinden. Sie sind hier nicht erwünscht.«

«Ich bleibe aber. Schließlich wohne ich ja hier, erinnern Sie sich?«

«Gestern abend sind Sie aber schnell abgezogen«, sagte sie verächtlich.»Wenn der Admiral sagt >Spring!<, dann springen Sie, aber schnell, kleiner Mann. Und das sehe ich gern.«

«Vom Admiral hänge ich ab«, gab ich zurück,»da muß man manches einstecken.«

«Stiefellecker.«

Ich grinste sie bösartig an und setzte mich. Ich fühlte mich immer noch nicht besonders wohl.

Doria klopfte die Asche von ihrer Zigarette und starrte mich von oben herab an. Sie schien ihre nächste Attacke vorzubereiten. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür und ihr Mann kam herein.

«Doria«, sagte er erfreut, da er mich nicht gleich bemerkte,»wo hast du mein Zigarettenetui versteckt? Ich werde dich bestrafen müssen.«

Sie machte eine hastige Handbewegung, Howard sah mich und blieb abrupt stehen.

«Was tun Sie hier?«fragte er brüsk.

«Ich vertreibe mir die Zeit.«

«Verschwinden Sie, ich möchte mit meiner Frau sprechen.«

Ich schüttelte den Kopf und blieb sitzen.

«Wenn du ihn nicht direkt hinauswirfst, wirst du ihn nicht los«, sagte Doria.»Ich habe es schon versucht.«

Kraye zuckte die Achseln.»Roland duldet ihn, wir können das dann auch. «Er nahm eine der Zeitungen und setzte sich mir gegenüber in einen Sessel. Doria ging zur Fensterbank zurück und schmollte. Kraye glättete die Zeitung und begann die erste Seite zu studieren. Auf der letzten Seite, dem Rennsportteil, sprang mir eine dicke Schlagzeile ins Auge.

>Ein zweiter Halley? <

Darunter befanden sich nebeneinander zwei Fotografien, eine von mir, die andere von einem jungen Jockey, der tags zuvor ein wichtiges Rennen gewonnen hatte.

Es war inzwischen von entscheidender Wichtigkeit geworden, daß Kraye nicht erfuhr, in welch falschem Licht mich Charles gezeigt hatte; das Ganze war schon viel zu weit gegangen, um als Spaß hinwegerklärt werden zu können. Zur Abwechslung war das Bild auch noch sehr gut. Selbst wenn niemand von den Gästen die Rennsportseite las, was auf Doria wohl zutraf, konnte ihnen das Bild zufällig auffallen.

Kraye war mit der ersten Seite fertig und begann die Zeitung umzudrehen.

«Mr. Kraye«, sagte ich,»haben Sie eine große Steinsammlung?«

Er ließ die Zeitung sinken und sah mich von oben herab an.

«Ja, gewiß«, erwiderte er kurz.

«Könnten Sie mir dann bitte sagen, was man dem Admiral als Ergänzung für seine Sammlung schenken sollte? Wo ich so einen Stein bekommen könnte und wieviel er kosten dürfte?«

Die Zeitung klappte in der Mitte nach unten, so daß mein Bild verborgen war. Er räusperte sich und begann mir mit kühler Höflichkeit von irgendeinem obskuren Kristall zu erzählen, den der Admiral nicht besaß.

Man braucht nur den richtigen Knopf zu drücken, dachte ich. Aber Doria verdarb mir alles. Sie stakte zu Kraye und sagte verärgert:»Howard! Der kleine Schleicher tut dir doch nur schön. Ich möchte wetten, daß er irgend etwas will. Du läßt dich von jedem einwickeln, der mit dir über Kristalle spricht.«

«Mich hält man nicht zum Narren«, erklärte Kraye tonlos.

«Nein«, sagte ich,»ich möchte nur dem Admiral zu Gefallen sein.«

«Er ist ein raffinierter Bursche«, quengelte Doria.»Ich mag ihn nicht.«

Kraye zuckte die Achseln, starrte die Zeitung an und begann sie auseinanderzufalten.

«Beruht auf Gegenseitigkeit«, sagte ich gleichmütig.»Sie Pappipuppchen.«

Kraye stand langsam auf, und die Zeitung fiel zu Boden, mit der ersten Seite nach oben.

«Was haben Sie gesagt?«

«Ich sagte, daß ich von Ihrer Frau nicht viel halte.«

Er war außer sich, was mich nicht wunderte. Er machte einen Schritt auf mich zu, und plötzlich ging es hier um mehr als um unfreundliche Worte.

Obwohl ich in seinen Augen ein unbedeutendes Wesen war, ging etwas ausgesprochen Bedrohliches von ihm aus. Die glatte Maske war verschwunden, mit ihr die wortreiche, blenderhafte Oberflächlichkeit. Der vage Verdacht, den ich beim Studium seiner Papiere gewonnen hatte, zusammen mit der Antipathie, die vom ersten Augenblick an vorhanden gewesen war, klärten sich verspätet zur Erkenntnis: Dies war kein harmloser glatter Spekulant, der am Rande des Gesetzes arbeitete, sondern ein ausgekochter, gefährlicher Gauner, der um große Einsätze spielte.

Mein Talent, dachte ich, in einem Ameisenhaufen herumzustochern und ein Hornissennest zu erwischen; eine Blindschleiche am Schwanz zu packen und sich einer Boa Constrictor gegenüberzusehen. Wie würde er sich benehmen, fragte ich mich, wenn man Schlimmeres tat, als nur den Geschmack in puncto Ehefrau in Frage zu stellen?

«Er schwitzt«, sagte Doria erfreut,»er hat richtig Angst vor dir.«

«Stehen Sie auf!«schrie er.

Da ich überzeugt war, daß ich nur aufstehen sollte, um sofort niedergeschlagen zu werden, blieb ich, wo ich war.

«Ich entschuldige mich«, sagte ich.

«O nein«, fuhr Doria dazwischen,»das ist viel zu einfach!«

«Etwas mit Finesse?«schlug Kraye vor.

«Ich weiß etwas!«Doria schien von ihrer Idee begeistert zu sein.»Sehen wir uns mal seine Hand an, die er immer in der Tasche hat.«

Sie sahen mir beide an, daß es Schlimmeres für mich nicht gab. Sie lächelten beide. Ich dachte an Flucht, aber das hieß, die Zeitung zurücklassen zu müssen.

«Das ist genau das Richtige«, sagte Kraye. Er beugte sich vor, packte mit der einen Hand mein Hemd, mit der anderen mein Haar und zog mich hoch. Mit dem Scheitel reichte ich ihm bis zum Kinn. Ich war nicht in der richtigen Verfassung, um Widerstand leisten zu können, aber ich versuchte doch einen Schlag zu landen. Doria packte meinen Arm und drehte ihn mir auf den Rücken, mit beiden Händen und reichlich grob. Sie war eine starke, gesunde Frau, und es schien ihr nichts auszumachen, anderen Leuten weh zu tun.

«Das wird Sie lehren, mich zu beleidigen«, sagte sie befriedigt.

Ich überlegte, ob ich ihr einen Tritt ans Schienbein geben sollte, aber das hätte nur noch größere Vergeltung herausgefordert. Ich hoffte von ganzem Herzen, daß Charles endlich zurückkommen würde.

Er blieb aus.

Kraye ließ mein Haar los, packte mich am linken Unterarm und begann zu ziehen. Der Arm taugte nicht mehr viel, aber ich tat, was ich konnte. Ich preßte den Ellbogen an den Körper, und meine Hand blieb in der Tasche.

«Halt ihn doch richtig fest«, sagte er zu Doria.»Er ist kräftiger, als er aussieht.«

Sie drückte meinen Arm nach oben, und ich drehte mich herum. Kraye hielt mich immer noch am Hemd fest, preßte mir den Unterarm gegen die Kehle, und gegen beide zusammen kam ich nicht an. Trotzdem sollten sie nicht einfach tun können, was ich um jeden Preis vermeiden wollte.

«Er windet sich, nicht wahr?«sagte Doria fröhlich.

Ich wand und wehrte mich noch heftiger, bis sie aus Enttäuschung immer wilder wurden und ich zu keuchen begann. Mein Bauch gab mir schließlich den Rest. Es wurde mir so schlecht, daß ich nicht durchhalten konnte. Kraye riß mir die Hand aus der Tasche.

«Na!«sagte er triumphierend. Seine Finger umklammerten mein Ellbogengelenk, mit der anderen Hand zog er den

Pulloverärmel hinauf. Doria ließ meinen rechten Arm los und kam nach vorn, um sich das Beutestück anzusehen. Ich zitterte vor Wut, Schmerz, Demütigung — weiß Gott, warum.

«Oh«, sagte Doria entgeistert,»oh!«Ihr Lächeln war verschwunden, auch das ihres Mannes. Sie starrten die verkrüppelte, verschmächtigte Hand an, die Narben an Unterarm, Handgelenk und Handfläche — nicht nur die schrecklichen gezackten Spuren der eigentlichen Verletzung, sondern auch die glatten, ordentlichen von den Operationen.

«Deshalb behält ihn der Admiral also bei sich«, sagte Doria angewidert.

«Das entschuldigt sein Verhalten nicht«, meinte Kraye.»Ich werde dafür sorgen, daß er in Zukunft den Mund hält.«

Er streckte die Finger der freien Hand aus und schlug mit der Kante auf die empfindlichste Stelle, die Innenseite des Handgelenks. Es riß mich herum.

«Aaah«, sagte ich.»Nicht!«

«Er wird dem Admiral Bescheid sagen, wenn du ihm zu weh tust«, sagte Doria warnend.»Es ist ja schade, aber ich glaube, das genügt wohl.«

«Ich bin zwar anderer Meinung, aber.«

Es knirschte draußen auf dem Kies. Charles’ Wagen glitt am Fenster vorbei. Kraye ließ meinen Ellbogen los und gab mir einen Stoß. Ich sank auf die Knie, und das war nicht nur Theater.

«Wenn Sie dem Admiral etwas davon erzählen, bestreite ich alles«, sagte Kraye.»Wir wissen ja, wem er glauben wird.«

Ich wußte es tatsächlich, behielt es aber für mich. Die Zeitung, die für den ganzen Zirkus verantwortlich war, lag neben mir auf dem Teppich. Draußen wurden Wagentüren zugeworfen. Die beiden drehten sich zum Fenster und lauschten. Ich nahm die Zeitung, raffte mich auf und ging zur Tür. Sie versuchten nicht, mich aufzuhalten. Auch die Zeitung verlangten sie nicht zurück. Ich öffnete die Tür, ging hinaus, machte sie hinter mir zu und ging schwankend in Charles’ Arbeitszimmer. Bis nach oben schaffte ich es nicht. Ich machte die Tür hinter mir zu, versteckte die Zeitung, setzte mich in Charles’ Sessel und wartete darauf, daß sich meine Schmerzen, seelischer und physischer Natur, legten.

Einige Zeit später kam Charles herein, um ein paar Päckchen Zigaretten zu holen.

«Hallo«, sagte er über die Schulter, als er den Schrank öffnete.

«Ich dachte, du bist noch im Bett. Mrs. Cross sagte, es ginge dir heute nicht gut. Hier ist es doch überhaupt nicht warm. Warum kommst du nicht ins Wohnzimmer?«

«Die Krayes. «Ich verstummte.

«Sie beißen dich nicht. «Er drehte sich um und sah mich an.

«Was ist so komisch?«Er sah mich genauer an und fragte scharf:

«Was ist los?«

«Ach nichts. Hast du die Sonntagsausgabe der >Hemisphere< schon gesehen?«

«Nein, noch nicht. Brauchst du sie? Ich dachte, sie liegt drüben im Wohnzimmer.«

«Nein, sie ist in der obersten Schreibtischschublade. Sieh sie dir mal an!«

Erstaunt öffnete er die Schublade, nahm die Zeitung heraus und suchte ohne Zögern die Rennsportseite.

«Um Gottes willen!«sagte er entsetzt,»ausgerechnet heute.«

Er überflog den Text und lächelte.»Du hast das natürlich gelesen?«

Ich schüttelte den Kopf.

«Ich habe sie nur geholt, um sie zu verstecken.«

Er reichte mir die Zeitung.

«Dann lies! Wird dir guttun. Sie vergessen dich nicht. >Der junge Finch<«, zitierte er,»>zeigte Ansätze der Geschicklichkeit und verblüffenden Präzision des großen Sid Halley<. Wie findest du das? Und das ist erst der Anfang.«

«Ja, wie finde ich das?«Ich grinste.»Dispensiere mich vom Mittagessen, wenn es dir nichts ausmacht, Charles. Du brauchst mich nicht mehr.«

«Meinetwegen, wenn du dich nicht wohl fühlst. Sie fahren spätestens gegen sechs. Das wird dir nur angenehm sein.«

Er lächelte und kehrte zu seinen Gästen zurück. Ich las die Zeitung, bevor ich sie wieder versteckte. Charles hatte recht gehabt, es tat mir gut. Der Journalist, den ich seit Jahren kannte, schien aber meine früheren Fähigkeiten etwas zu übertreiben. Wieder mal ein Fall, in dem die Legende größer ist als die Wahrheit. Aber es war trotzdem angenehm.

Am folgenden Vormittag wechselten Charles und ich die Etiketten an den Steinen aus und verpackten sie für die Rückgabe an die Stiftung Carver. Als wir fertig waren, blieb ein Etikett übrig.

«Bist du sicher, daß wir nicht einen Stein in die Kiste gelegt haben, ohne das Etikett auszuwechseln?«fragte Charles.

«Ganz sicher.«

«Wir müssen noch einmal nachsehen. Es kann nur daran liegen.«

Wir nahmen alle Gesteinsproben wieder aus der großen Kiste. Die Halbedelsteinsammlung, die Charles jeden Abend unter Protest mit ins Schlafzimmer genommen hatte, war komplett, aber wir gingen auch sie noch einmal durch, um uns zu vergewissern, daß der fehlende Stein nicht aus Versehen dort hineingeraten war. Wir konnten ihn nirgends finden.

«St. Lukas-Stein«, las ich vom Etikett ab.»Ich weiß noch, wo er war, im obersten Fach rechts.«

«Ja«, sagte Charles,»ein matter Klumpen, ungefähr faustgroß. Hoffentlich haben wir ihn nicht verloren.«

«Doch«, sagte ich.»Kraye hat ihn geklaut.«

«Nein!«rief Charles.»Das kann nicht stimmen.«

«Ruf bei der Stiftung an und erkundige dich, was der Stein wert ist.«

Er schüttelte zweifelnd den Kopf, ging aber zum Telefon und kam stirnrunzelnd zurück.

«Eigentlichen Geldwert hat er angeblich nicht, aber es handelt sich um einen extrem seltenen Meteoritstein. Natürlich wird er weder in Bergwerken noch in Steinbrüchen gefunden. Man muß warten, bis er vom Himmel fällt, und ihn dann finden. Sehr schwierig.«

«Ein Stein, den unser Freund Kraye nicht besitzt.«

«Aber er muß sich doch denken, daß ich auf ihn tippe«, wandte Charles ein.

«Du hättest ihn nie vermißt, wenn er wirklich zu deiner ererbten Sammlung gehört hätte. Im Fach war keine Lücke. Er hatte die anderen einfach zurechtgerückt. Er konnte nicht wissen, daß du sofort alles genau nachprüfen würdest.«

Charles seufzte.»Wir haben also keine Möglichkeit, ihn wiederzubekommen.«

«Nein.«

«Gut, daß du darauf bestanden hast, sie zu versichern«, sagte er.»Der Wert, den die Stiftung für den Meteoritstein festgesetzt hat, ist größer als der aller anderen zusammengenommen. Man hat bisher nur noch einen zweiten Stein dieser Art gefunden, den St. Markus-Stein. «Er lächelte plötzlich.»Offenbar ist uns das Gegenstück zum Schwarzen Einser abhanden gekommen.«

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