Natürlich landete ich dort, wo ich angefangen hatte: in einem Krankenhaus, aber diesmal nicht lange. Ich hatte ein nettes sonniges Zimmer mit Blick aufs Meer, ein paar außerordentlich hübsche Krankenschwestern und eine endlose Reihe von Besuchern. Chico kam als erster am Sonntag nachmittag. Er grinste mich an.
«Sie sehen miserabel aus.«
«Herzlichen Dank.«
«Zwei blaue Äuglein, aufgeschlagene Lippen, überall Blutergüsse und drei Tage alte Bartstoppeln.«
«Kann ich mir denken.«
«Wollen Sie mal sehen?«fragte er und gab mir einen Spiegel.
Ich nahm ihn und schaute mich an. Er hatte nicht übertrieben. In einem Horrorfilm wäre ich nicht weiter aufgefallen. Ich seufzte. Er lachte und legte den Spiegel wieder in die Schublade.
«Das ist ein schöneres Zimmer als in London«, meinte er, als er zum Fenster schlenderte.»Und es riecht auch gut. Wenn man bedenkt, daß das ein Krankenhaus ist!«
«Reden Sie nicht um den Brei herum. Erzählen Sie mir, was los war.«
«Ich soll Sie nicht überanstrengen.«
«Quatsch.«
«Meinetwegen. In mancher Beziehung sind Sie eben schlicht und einfach ein Verrückter, finden Sie nicht?«
«Kommt darauf an, wie man es betrachtet«, meinte ich friedlich.
«Na klar.«
«Heraus mit der Sprache, Chico«, flehte ich.»Los!«
«Na, ich döste in Radnors Lehnsessel vor mich hin, das Telefon auf der einen, ein paar prima Sandwiches auf der anderen Seite, träumte von einer kurvenreichen Blondine und war ganz zufrieden, als es an der Tür läutete. «Er grinste.»Ich stand auf, reckte mich und ging hin. Ich dachte, vielleicht sind Sie es. Radnor konnte es nicht sein, es sei denn, er hatte seinen Schlüssel vergessen. Und wer kommt schon um zwei Uhr früh, um ihn aus dem Bett zu läuten? Da steht der Kerl in seinem dunklen Anzug vor der Tür und behauptet, Sie hätten ihn geschickt.
>Nur hereinc, sagte ich und gähnte. Ich führte ihn in Radnors Arbeitszimmer, wo ich gesessen hatte.
>Sid hat Sie geschickt?< fragte ich ihn dann. >Warum?<
Er sagte, Ihre Freundin wohnte hier. Ich hätte mir beinahe die Kinnlade verrenkt, weil ich gerade gähnte. Ob er die Kleine sprechen könnte, meinte er. Es täte ihm leid, daß es so spät wäre, aber es duldete keinen Aufschub.
>Sie ist nicht da<, erwiderte ich, >für ein paar Tage weggefahren. Kann ich Ihnen helfen?<
>Wer sind Sie?< sagte er und starrte mich von oben bis unten an.
Ich behauptete, ihr Bruder zu sein. Er sah sich um, entdeckte die Brote, das Buch, das mir im Schlaf heruntergefallen war, und schien alles in Ordnung zu finden.
>Sid hat mich gebeten, etwas abzuholen, das sie für ihn aufbewahrt hat. Könnten Sie mir helfen, es zu suchen?<
>Na klar<, sagte ich. >Was ist es denn?<
Er zögerte ein bißchen, sah aber ein, daß es merkwürdig klingen würde, wenn er sich weigerte.
>Ein Päckchen mit Negativen<, erklärte er. >Sid sagte, Ihre Schwester würde verschiedenes für ihn aufbewahren, auf dem bewußten Päckchen stünde der Name des Filmherstellers Jigoro Kano.<
>Oh?< sagte ich unschuldig. >Sid hat Sie um ein Päckchen geschickt, auf dem Jigoro Kano steht?<
>Richtig<, sagte er, sich umsehend, >ist es vielleicht hier?<
>Selbstverständlich<, sagte ich.«
Chico verstummte, kam zu mir herüber und setzte sich aufs Bett.
«Wieso wissen Sie etwas von Jigoro Kano?«fragte er ernsthaft.
«Er hat den Judosport erfunden«, sagte ich.»Das habe ich mal irgendwo gelesen.«
Chico schüttelte den Kopf.»Erfunden eigentlich nicht. 1882 hat er das Beste aus Jiu-Jitsu zusammengestellt und es Judo genannt.«
«Ich war mir sicher, daß Sie Bescheid wissen«, sagte ich grinsend.»Trotzdem war es ein Risiko. Sie mußten es wissen! Schließlich sind Sie Experte. Sie sind doch schon seit vielen Jahren in diesem Club. Ich hoffte, daß Sie es begreifen würden. Was passierte dann?«
Chico lächelte schwach.»Ich habe ihn ein bißchen verknotet. Er war völlig entgeistert. Eigentlich zum Lachen. Dann setzte ich ihn ein bißchen unter Druck. Sie verstehen schon. Sie hätten ihn brüllen hören sollen. Ich dachte, er weckte alle Nachbarn auf — aber Sie wissen ja, wie es in London ist: Kein Mensch hat sich darum gekümmert. Er wollte nicht mit der Sprache heraus, und ich mußte ein bißchen nachsetzen. Ganz gerecht, wenn man sich überlegt, was die mit Ihnen angestellt haben. Ich erklärte ihm, ich hätte die ganze Nacht Zeit, hätte erst angefangen. Das hat ihn ziemlich mitgenommen. «Chico stand auf und wanderte unruhig hin und her.»Für ihn muß viel auf dem Spiel gestanden haben«, sagte er.»Wenn ich nicht überzeugt gewesen wäre, daß
Sie ihn als eine Art SOS geschickt hatten, hätte ich wohl nicht die Nerven aufgebracht, ihm so zuzusetzen.«
«Es tut mir leid«, sagte ich.
Er betrachtete mich nachdenklich.
«Wir haben beide etwas gelernt, nicht wahr? Sie passiv und ich — es gefiel mir nicht. Ich meine, ein paar Drohungen und gelegentlich eine Ohrfeige oder ein Faustschlag, das macht keine Gewissensbisse, aber ich hatte bisher noch keinen Menschen so bearbeitet, nicht im Ernst, absichtlich, über jedes erträgliche Maß hinaus. Er weinte schließlich, wissen Sie.«
Chico drehte mir den Rücken zu und schaute zum Fenster hinaus.
Es blieb lange Zeit still. Die moralischen Probleme waren nicht so schlimm, wenn man so etwas erdulden mußte, als wenn man es austeilte. Mit seinem Gewissen ließ sich leichter auskommen. Schließlich sagte Chico:»Er hat dann endlich ausgepackt.«
«Ja?«
«Ich hinterließ keine Spuren, wissen Sie — nicht einen Kratzer. Er sagte, Sie wären in Seabury auf der Rennbahn. Ich wußte, daß das stimmen mußte und daß er nicht dasselbe versuchte, was Sie sich hatten einfallen lassen. Er sagte, Sie wären im Wiegeraum, und der Heizkessel müßte bald explodieren. Er sagte, hoffentlich kämen Sie dabei um. Er hätte nicht auf Sie hereinfallen dürfen, er hätte doch begreifen müssen, daß Sie zu raffiniert sind. Er war doch schon einmal übertölpelt worden. Er sagte, er sei überzeugt gewesen, daß Sie die Wahrheit gesagt hätten, als Sie zusammenbrachen und nicht mehr behaupteten, die Negative seien im Büro gewesen, weil Sie — weil Sie um Gnade und Morphium gebettelt hätten.«
«Ja«, sagte ich.»Das weiß ich alles.«
Chico drehte sich um und grinste mich an.»Was Sie nicht sagen!«
«Er hätte mir nicht geglaubt, wenn ich zu früh und nicht so gründlich nachgegeben hätte — Kraye schon, er nicht. Es war sehr ärgerlich.«
«Ärgerlich?«fragte Chico.»Das Wort gefällt mir. «Er schwieg eine Weile und dachte nach.»Wann genau ist Ihnen eingefallen, daß Sie Bolt zu mir schicken könnten?«
«Ungefähr eine halbe Stunde, bevor sie mich erwischten«, gab ich zu.»Weiter! Was geschah dann?«
«Ich fesselte Bolt gründlich. Dann stand zur Debatte, wen ich anrufen sollte, um die Rettungsmannschaft auf Trab zu bringen. Ich meinte, die Polizei von Seabury hätte mich wahrscheinlich für einen Verrückten gehalten. Im besten Fall wäre irgendein Schutzmann hinausgeschickt worden, und die Krayes hätten die Flucht ergreifen können. Ich stellte mir vor, daß Sie die beiden sozusagen in flagranti stellen wollten. Radnor konnte ich ja nicht erreichen, deshalb rief ich Lord Hagbourne an.«
«Was?«
«Ja. Er war wirklich auf Draht. Er hörte sich alles an, sagte >In Ordnung< und wollte sofort dafür sorgen, daß die Polizei von halb Sussex so schnell wie möglich auf dem Rennplatz erschiene.«
«Das war auch der Fall.«
«Allerdings«, gab Chico zu.»Man stellte zwar fest, daß mein alter Freund Sid das Problem mit dem Heizungskessel selbst gelöst hatte, aber ansonsten ging es ihm nicht besonders gut.«
«Danke«, sagte ich,»für alles!«
«Gern geschehen.«
«Würden Sie mir noch einen Gefallen tun?«
«Ja, was für einen?«
«Ich wollte heute jemanden zum Essen ausführen. Sie wird sich wundern, daß ich nicht aufgetaucht bin. Ich würde sie von einer Krankenschwester anrufen lassen, kenne aber ihre Nummer nicht.«
«Sprechen Sie von Miss Zanna Martin? Das arme Ding mit dem schrecklichen Gesicht?«
«Ja«, sagte ich überrascht.
«Keine Sorge. Sie weiß, daß Sie hier sind.«
«Wieso?«
«Sie erschien gestern früh in Bolts Büro, offenbar um die Post durchzusehen, aber da wartete schon ein Polizist mit einem Hausdurchsuchungsbefehl. Sie begriff schnell und fuhr sofort zur Cromwell Road, um sich zu erkundigen. Radnor war mit Lord Hagbourne in Seabury, aber ich stocherte in den Ruinen herum, und wir tauschten Informationen aus. Sie war ziemlich aufgeregt, Ihretwegen! Jedenfalls rechnete sie nicht damit, daß sie zum Essen ausgeführt wird.«
«Hat sie erwähnt, daß sie eine unserer Akten hat?«
«Ja. Ich trug ihr auf, sie noch ein paar Tage zu behalten. Im Büro kann man sie ja nirgends unterbringen.«
«Sie fahren trotzdem sofort hin und holen die Akte in der Sache Brinton. Und passen Sie gut auf! Die Negative, auf die es Kraye abgesehen hat, sind dabei.«
Chico starrte mich an.
«Das ist nicht Ihr Ernst.«
«Warum nicht?«
«Aber alle. Radnor, Lord Hagbourne, sogar Kraye und Bolt, auch die Polizei. Alle sind der festen Meinung, daß die Dinger mit dem Büro in die Luft geflogen sind!«
«Zum Glück nicht«, sagte ich.»Lassen Sie Abzüge machen. Wir müssen dahinterkommen, was daran so wichtig war. Und erzählen Sie Miss Martin nicht, daß Kraye es darauf abgesehen hatte.«
Die Tür ging auf, und eine der hübschen Schwestern kam herein.»Sie müssen jetzt aber wirklich gehen«, sagte sie zu Chico. Sie trat ans Bett und fühlte meinen Puls.»Sind Sie denn wirklich so unvernünftig?«fragte sie und sah ihn wütend an.»Ein paar Minuten und ganz ohne Aufregung, das war abgemacht.«
«Versuchen Sie ihm mal etwas zu befehlen«, meinte Chico fröhlich,»dann sehen Sie schon, was dabei herauskommt.«
«Zanna Martins Anschrift — «begann ich.
«Nein«, sagte die Schwester streng.»Jetzt wird nicht mehr geredet.«
Ich gab Chico die Anschrift.
«Sehen Sie?«sagte er zu der Schwester.
Sie schaute mich an und lachte.
Chico ging zur Tür.
«Bis dann, Sid. Übrigens, das habe ich für Sie zum Lesen mitgebracht. Vielleicht interessiert es Sie.«
Er zog eine Broschüre aus der Innentasche und warf sie Richtung Bett. Sie fiel auf den Boden, und die Schwester hob sie auf, um sie mir zu geben. Aber plötzlich besann sie sich anders.
«O nein«, rief sie,»das können Sie ihm nicht geben!«
«Warum nicht?«fragte Chico.»Wofür halten Sie ihn, für ein Baby?«
Er ging hinaus und schloß die Tür. Die Schwester machte ein verstörtes Gesicht. Sie hielt die Broschüre in der Hand.
«Geben Sie her«, sagte ich.
«Ich muß erst den Arzt — «
«Dann kann ich mir schon vorstellen, was es ist. Geben Sie ruhig her.«
Sie gab mir zögernd die Broschüre und wartete meine Reaktion ab, als ich die Überschrift las: >Moderne Prothesen<.
Ich lachte.»Er ist Realist«, sagte ich.»Ich habe nicht erwartet, daß er ein Märchenbuch mitbringt.«