Ich kam an der Tattersallbar vorbei und hatte kaum zwei Schritte gemacht, als die Tür aufging und ich im Licht stand. In den zwei Sekunden, die Oxon brauchte, um mich zu erkennen, war ich schon sechs Schritte weitergerannt. Seine Rufe mischten sich mit anderen weiter hinten, und ich dachte immer noch, daß ich eine Chance hatte, auch wenn Kraye hinter mir war. Plötzlich tauchte eine Gestalt vor mir auf.
Ich warf mich herum, rutschte auf einem Kronenkorken aus, bewahrte mit Mühe das Gleichgewicht und stürmte durch eine Tür in den leeren Ausschankraum, wo ich schon einmal gewesen war. Ich rannte über den Bretterboden, kam aber nicht mehr bis zur Hintertür. Sie ging auf, bevor ich sie erreichte. Es war das Ende.
Doria Kraye stand da, bösartig lächelnd, triumphierend. Sie trug eine weiße lange Hose und eine kurze weiße Jacke. Ihr dunkles Haar fiel voll auf die Schultern, ihr Gesicht war so makellos schön wie je, und in der Rechten hatte sie die kleine Pistole, die ich zuletzt in einer Pralinenschachtel in ihrem Schmuckkasten gesehen hatte.
«Das war’s«, sagte sie.»Bleiben Sie schön ruhig stehen!«
Ich zögerte und überlegte, ob ich sie anspringen sollte.
«Riskieren Sie’s nicht«, sagte sie.»Ich schieße gut. Von hier aus kann ich nicht verfehlen. Soll ich Ihnen die Kniescheibe zertrümmern?«
Es gab nicht viel, was ich weniger wünschte. Ich drehte mich langsam um. Drei Männer betraten den Raum: Kraye, Oxon und Ellis Bolt. Alle drei sahen aus, als wären sie der Jagd schon lange müde und spürten jetzt die Neigung, ihre Wut an der Beute auszulassen.
«Gehen Sie freiwillig«, sagte Doria hinter mir,»oder müssen wir Sie tragen?«
Ich zuckte die Achseln. Trotzdem konnte Kraye nicht stillhalten. Als ich an ihm vorbeiging, zurück zum Flur, packte er mich von hinten am Kragen und gab mir einen Tritt. Ich schlug nach hinten aus, was nicht sehr klug war, weil ich kurz danach am Boden lag. Einer der verdammten Kronenkorken hatte mich zu Fall gebracht.
«Stehen Sie auf!«befahl Kraye.
Doria stand neben ihm und zielte mit der Waffe auf mich. Ich gehorchte.
«Gut«, sagte Doria.»Jetzt gehen sie den Korridor entlang in den Wiegeraum. Howard, warte, bis wir dort sind, sonst entwischt er uns wieder. Los, Kleiner! Ganz langsam und in der Mitte. Wenn du entwischen willst, schieß ich dir ins Bein.«
Ich sah keinen Grund, ihr nicht zu glauben. Ich marschierte den Korridor entlang, sie folgte mir, die Männer schlossen sich ihr an.
«Halt«, sagte Kraye vor dem Heizungsraum. Ich blieb stehen und schaute mich nicht um. Kraye öffnete die Tür und warf einen Blick hinein.
«Na?«fragte Oxon.
«Die Pfütze ist wesentlich größer geworden«, Krayes Stimme klang erfreut. Er schloß die Tür, ohne näher nachzusehen. Offenbar hatte mich das Glück nicht ganz verlassen.»Marsch!«Ich gehorchte.
Der Wiegeraum war groß und leer wie eh und je. Ich blieb stehen und drehte mich um. Die vier standen nebeneinander und sahen mich an. Was ich in ihren Gesichtern las, gefiel mir gar nicht.
«Setzen Sie sich da hin«, sagte Doria und deutete auf den Stuhl, der auf der Waage befestigt war. Die vier kamen näher.
Es war eine gewisse Erleichterung, daß Fred nicht dabei war, aber viel half mir das nicht. Kraye schien sich genausowenig beherrschen zu können wie vor zwölf Tagen in Aynsford. Und damals hatte ich nur seine Frau beleidigt.
«Halten Sie seine Arme fest«, sagte er zu Oxon. Oxon trat hinter mich, packte meine Ellbogen und zog sie nach hinten. Kraye schlug mir ein paarmal ins Gesicht.
«Wo sind sie?«fragte er.
«Was?«fragte ich undeutlich.
«Die Negative!«
«Welche Negative?«
Er schlug wieder zu und verletzte sich die Hand. Er rieb sich die Knöchel und schrie:»Sie wissen genau Bescheid. Die Aufnahmen, die Sie von meinen Unterlagen gemacht haben!«
«Ach die.«
«Ja, die!«
Er schlug wieder zu, aber diesmal nicht so hart.
«Im Büro«, murmelte ich.
Er gab mir eine Ohrfeige, um seine Knöchel zu schonen.
«Büro«, sagte ich nochmals.
Er versuchte es mit der linken Hand, war aber zu ungeschickt. Von da an saugte er an den Knöcheln und schonte seine Hände. Bolt mischte sich zum erstenmal ein.
«Fred hätte sie nie übersehen, vor allem, weil niemand einen Grund hatte, sie zu verstecken. Er ist sehr gründlich.«
«Wo im Büro?«fragte Kraye.
«Schreibtisch.«
«Schlagen Sie zu!«brüllte Kraye.»Meine Hand tut mir weh.«
Bolt versuchte es, aber das war nicht sein Metier.
«Nehmen Sie das«, sagte Doria und bot Bolt die Waffe an, die zum Glück so klein war, daß er sie kaum festhalten konnte. Oxon ließ meine Arme los, kam nach vorn und sah mir ins Gesicht.
«Wenn er sich entschlossen hat, es Ihnen nicht zu sagen, bringen Sie es so nicht aus ihm heraus«, meinte er.
«Ich habe es doch gesagt«, erklärte ich.
«Warum nicht?«fragte Bolt.
«Da tut ihr euch mehr weh als ihm. Und wenn Sie meine Meinung hören wollen, bekommen Sie so überhaupt nichts aus ihm heraus.«
«Seien Sie nicht albern«, sagte Doria verächtlich.»Er ist doch ganz klein.«
Oxon lachte.
«Wenn Fred sagt, daß die Negative nicht im Büro waren, dann stimmt es«, sagte Bolt,»auch nicht in seiner Wohnung. Und mitgebracht hat er sie nicht. Jedenfalls waren sie nicht in seinem Hotel.«
Ich sah ihn von der Seite her an und entdeckte, daß das linke Auge schon aufzuschwellen begann. Wenn ich nicht dafür gesorgt hätte, daß er so schnell aus meinem Hotelzimmer gefeuert wurde, wäre er nicht genau zum falschen Zeitpunkt hier aufgetaucht. Das konnte ich nicht vorhersehen.
«Im Wagen waren sie auch nicht«, keifte Doria,»aber das hier!«
Sie steckte die Hand in die Tasche und holte meine kleine Kamera heraus. Kraye nahm sie, öffnete das Futteral und sah, was darin steckte. Die Adern an seinem Hals und den Schläfen traten hervor. In einem plötzlichen Wutanfall warf er den Apparat an die Wand.
«Kleinbild«, schrie er wütend.»Fred muß sie übersehen haben.«
«Fred findet alles«, sagte Bolt.»Und niemand hatte Ursache, die Filme zu verstecken.«
«Vielleicht hat er sie in der Tasche«, meinte Doria.
«Ziehen Sie das Jackett aus!«Kraye wurde immer wütender.
«Aufstehen!«
Ich stand auf. Oxon zog mir das Jackett aus und gab es Kraye. Er steckte die Hand in meine Hosentasche und fand die Nachschlüssel.
«Hinsetzen!«
«Was ist denn das?«fragte Doria neugierig und ließ sich von Oxon das Schlüsselbund geben.
Kraye riß es ihr weg und warf es ebenfalls an die Wand.
«Nachschlüssel«, zischte er.»Damit hat er meine Koffer aufgesperrt.«
«Aber wie denn?«fragte Doria.»Mit dieser — dieser Klaue?«
Sie starrte meine verkrüppelte Hand an, die ich auf dem Schoß liegen hatte.
«Doria«, sagte Bolt ruhig,»würden Sie in die Wohnung gehen und warten, bis Fred anruft? Vielleicht hat er in Aynsford gefunden, was wir suchen.«
Ich drehte den Kopf und sah, daß er mich abschätzend betrachtete. In seinem Blick lag eine Distanz, eine Ungerührtheit, die mir gefährlicher zu sein schien als Krayes Wut.
«Aynsford«, wiederholte ich heiser. Ich schaute auf die Uhr. Wenn Fred mit seinen Bomben wirklich nach Aynsford gefahren war, mußte er der Polizei direkt in die Hände gelaufen sein. Einer weg, blieben vier. Also fünf insgesamt, nicht vier. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Doria aktiv sein würde. Mein Fehler.
«Ich will jetzt nicht in die Wohnung gehen«, sagte Doria.
Bolt hob die Schultern.
«Spielt keine Rolle. Die Negative sind nicht in Aynsford, weil Halley nicht erschrocken ist, als ich davon sprach, daß Fred sie in Aynsford sucht.«
«Wir müssen sie finden«, sagte Kraye,»oder uns überzeugen, daß sie vernichtet sind. «Er wandte sich an Oxon.»Halten Sie ihm wieder die Arme fest!«
«Nein«, sagte ich. Ich wich zurück.
«Ah, schon besser. Na?«
«Sie waren im Büro.«
«Wo?«
«In Mr. Radnors Schreibtisch, glaube ich.«:
Er starrte mich mit schmalen Augen an.
«Sie waren«, sagte Bolt plötzlich.
«Was?«fragte Kraye ungeduldig.
«Waren«, sagte Bolt.»Halley hat gesagt, >sie warenc. Die Negative waren im Büro. Das ist doch sehr interessant, finden Sie nicht?«
«Das verstehe ich nicht«, warf Oxon ein.
Bolt kam heran und starrte mir ins Gesicht. Ich hielt seinen Blick aus.»Ich glaube, er weiß von den Bomben«, sagte er schließlich.
«Wieso?«fragte Doria.
«Man hat es ihm wohl im Hotel gesagt. Von London aus wird man versucht haben, ihn zu erreichen. Ja, ich glaube, wir können davon ausgehen, daß er Bescheid weiß.«
«Spielt das eine Rolle?«fragte Oxon.
Kraye begriff.
«Er glaubt, er kann ungefährdet behaupten, die Negative waren im Büro, weil wir das Gegenteil nicht beweisen können.«
«Da waren sie auch«, sagte ich.
Bolt schob die Lippen vor.»Wie schlau ist Halley eigentlich?«fragte er.
«Er war Jockey«, sagte Oxon, als wäre das der Beweis dafür, daß ich ein Trottel sein müßte.
«Aber er ist bei Hunt Radnor angestellt«, erwiderte Bolt.
«Das habe ich Ihnen doch schon x-mal erklärt«, meinte Oxon geduldig.»Ich habe mich bei verschiedenen Leuten erkundigt. Radnor hat ihn als Berater übernommen, aber nie mit Aufträgen versorgt. Wenn das nicht beweist, daß er nicht viel taugt, verstehe ich gar nichts. Jeder weiß, daß man mit ihm nur das Gesicht wahren wollte.«
«Howard?«fragte Bolt.
«Ich weiß nicht recht«, sagte Kraye langsam.»Er scheint mir wirklich nicht besonders schlau zu sein, ganz im Gegenteil. Ich gebe zu, daß er die Fotos gemacht hat, aber er weiß sicher nicht, warum wir sie vernichten wollen.«
«Doria?«sagte Bolt.
«Wenn er intelligent wäre, würde er jetzt nicht hier sitzen.«
«Kann sein, daß ihr recht habt«, meinte Bolt,»ich glaube es aber nicht, weil alles schiefging, seit Halley auf der Bildfläche auftauchte. Er hat Hagbourne dazu überredet, die Rennbahn herzurichten, er hat den Spiegel gefunden. Ich schöpfte keinen Verdacht, als er zu mir kam. Ihr zwei habt ihn für einen Schmarotzer gehalten. Wenn man alles zusammennimmt, kann man nur zu dem Schluß kommen, daß er in seinem Beruf erstklassig ist. Sogar die Art, wie er dasitzt, beweist das. Amateure beschimpfen einen und versuchen, damit Eindruck zu schinden, wieviel sie wissen. Er hat nur gesagt, daß sich die Negative im Büro befanden. Ich bin dafür, daß wir einfach vergessen, wofür wir ihn gehalten haben, und ihn nur als erstklassigen Mann Hunt Radnors betrachten.«
Sie überlegten etwa fünf Sekunden. Dann sagte Kraye:»Wir
müssen mit den Negativen klarkommen.«
Bolt nickte.
«Wie?«fragte Doria interessiert.
Kraye starrte seine abgeschürften Knöchel an.
«Herausprügeln könnt ihr es nicht aus ihm«, sagte Oxon,»nicht so. Da besteht nicht die geringste Aussicht.«
«Warum nicht?«
Statt zu antworten, wandte sich Oxon an mich:»Wie viele Rennen haben Sie mit Brüchen geritten?«
Ich schwieg. Ich konnte mich auch nicht erinnern.
«Das ist ja albern«, sagte Doria verächtlich.»So etwas gibt es doch gar nicht.«
«Das tun viele Jockeys«, sagte Oxon.»Er ist keine Ausnahme gewesen.«
«Unsinn«, sagte Kraye.
Oxon schüttelte den Kopf.»Schlüsselbeine, Rippen,
Unterarme, sie reiten weiter, solange sie es geheimhalten können.«
Warum hält er nicht den Mund, dachte ich zornig. Er macht ja alles nur noch schlimmer.
«Sie meinen, daß er sehr viel aushält?«fragte Doria.
«Nein«, sagte ich,»nein. «Es klang so flehend, wie es gemeint war.»Man kann mit Knochenbrüchen nur reiten, wenn sie nicht weh tun.«
«Sie müssen immer Schmerzen verursachen«, meinte Bolt.
«Nein«, sagte ich,»nicht immer.«
Das stimmte, aber sie glaubten es nicht.
«Die Negative waren im Büro«, sagte ich verzweifelt,»im Büro!«
«Er hat Angst«, sagte Doria erfreut. Auch das stimmte.
Kraye schien sich an Aynsford zu erinnern.
«Wir wissen, wo es ihm am wehesten tut«, sagte er,»an seiner Hand.«
«Nein!«schrie ich in echtem Entsetzen.
Sie lächelten, Kraye lachte brutal.
«Da haben Sie Ihren tapferen, schlauen Mr. Halley! Es wird nicht schwierig sein, die Wahrheit herauszubringen.«
«Sehr bedauerlich«, näselte Doria.
Sie blieb vor mir stehen und hielt die Pistole auf mich gerichtet, während sie hinausgingen und das zusammensuchten, was sie brauchten. Ich schätzte die Entfernung zur Tür ab und fragte mich, ob ich nicht lieber eine Kugel vorziehen sollte angesichts dessen, was mich erwartete. Doria beobachtete mich amüsiert.
«Versuch’s nur, Kleiner. Versuch’s!«:
Die Männer kamen zurück. Oxon brachte einen Holzstuhl mit Armlehnen, Kraye und Bolt hatten aus dem Umkleideraum den langen Schürhaken und ein Wäscheseil mitgebracht.
Oxon stellte den Stuhl mitten ins Zimmer, und Doria wedelte mit der Waffe, um mir anzudeuten, ich sollte mich dorthin setzen. Ich rührte mich nicht.
«Mensch«, sagte sie enttäuscht,»Sie sind wirklich ein kleiner Wurm, wie in Aynsford.«
«Er ist kein Ladenschwengel«, meinte Bolt.»Vergessen Sie das nicht!«
Ich sah ihn nicht an. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich es sicher leichter gehabt. Oxon hieb mir auf die Schulter.
«Los!«sagte er.
Ich stand müde auf und trat von der Waage. Sie standen ganz nahe vor mir. Kraye stieß mich zum Stuhl. Er, Bolt und Oxon genossen es, mich an den Stuhl zu fesseln, während Doria fasziniert zusah. Ich erinnerte mich ihrer ausgefallenen Vergnügungen.
«Wollen wir tauschen?«fragte ich erschöpft.
Sie wurde nicht wütend, sondern lächelte, steckte die Waffe in die Tasche und küßte mich auf den Mund. Mir ekelte.
«So«, sagte Kraye,»wo sind sie?«
Es schien ihm nichts auszumachen, daß seine Frau mich geküßt hatte. Aber er verstand sie ja auch.
Man hatte mich so gefesselt, daß das linke Handgelenk freiblieb. Die Hand hing nach unten. Was nützt schon eine Hand, die man nicht gebrauchen kann?
Ich sah mir der Reihe nach ihre Gesichter an. Keine Spur von Barmherzigkeit.
«Wo sind sie?«wiederholte Kraye und hob die Hand.
«Im Büro«, sagte ich hilflos.
Er schlug mit dem Schürhaken zu, mit voller Kraft. Der Schürhaken traf meine Hand, und alles war zu Ende. Ich schrie nur nicht, weil ich nicht genug Atem schöpfen konnte. Vor diesem Augenblick hätte ich behauptet, alles über Schmerzen zu wissen, aber das war ein Irrtum. Hinter meinen geschlossenen Augen wurde die Welt gelb und grau wie die Sonne, die durch Nebel scheint, und aus allen Poren brach der Schweiß. So etwas war nicht zu ertragen. Ich schaffte es nicht mehr.
«Wo sind sie?«schrie Kraye.
Ich brachte die Worte kaum heraus. Ich sagte es ihnen. Ich sagte ihnen, wohin sie gehen mußten.