Kapitel 8

Zehn Minuten nach sechs kam sie aus dem Haus, in einem hübschen dunklen Mantel und einem seidenen Kopftuch. Es verbarg nur einen geringen Teil ihres verunstalteten Gesichts, und als ich sie so sah — wehrlos, ohne den Schutz, den ihr das Büro bot —, wurde mir klar, was sie Tag für Tag auf dem Weg zur Arbeit durchmachte.

Sie hatte nicht damit gerechnet, daß ich mein Wort halten würde. Sie sah sich nicht nach mir um, als sie herauskam, sondern schlug den Weg zur U-Bahn ein. Ich ging ihr nach und berührte sie am Arm. Selbst mit flachen Absätzen war sie größer als ich.

«Mr. Halley!«sagte sie.»Ich habe nicht angenommen-«

«Wollen Sie zuerst etwas trinken?«fragte ich.

«O nein!«

«O doch. Warum nicht?«

Ich nahm ihren Arm und führte sie über die Straße zur nächsten Bar. Dunkle Eiche, sanftes Licht, Messing, Bierhähne und der Geruch nach Zigarren: eine gemütliche warme Zwischenstation auf dem Nachhauseweg. Ein halbes Dutzend Männer stand um die Theke.

«Nicht hier«, protestierte sie.

«Genau hier.«

Ich führte sie zu einem kleinen Tisch in der Ecke und fragte sie, was sie zu trinken wünschte.

«Sherry, trocken.«

Ich brachte ihr Sherry und für mich Kognak. Sie saß auf dem Stuhlrand und hatte sich so gesetzt, daß sie allen Leuten außer mir den Rücken zuwandte.

«Auf Ihr Wohl, Miss-?«

«Martin, Zanna Martin.«

«Auf Ihr Wohl, Miss Martin. «Ich lächelte.

Zögernd erwiderte sie das Lächeln. Für ihr Gesicht war das eine Katastrophe: die Muskeln an der verunstalteten rechten Seite funktionierten nicht, so daß weder der Mundwinkel angehoben wurde, noch die Haut um das Auge Fältchen zeigte. Unter normalen Umständen wäre sie eine hübsche, selbstsichere Frau von Ende Dreißig mit liebevollem Ehemann und ein paar Kindern gewesen; statt dessen hatten herzzerreißende Jahre sie zu einer schüchternen, einsamen Jungfer gemacht, die sich kleidete und bewegte, als versuchte sie sich unsichtbar zu machen.

«Arbeiten Sie schon lange bei Mr. Bolt?«fragte ich und lehnte mich bequem zurück.

«Erst ein paar Monate.«

Sie beantwortete meine Fragen über ihre Arbeit, aber sie schien keine Ahnung davon zu haben, ob bei Charing, Street und King dunkle Machenschaften hinter den Kulissen an der Tagesordnung waren. Ich erwähnte die Umschläge, die sie adressiert hatte, und erkundigte mich, was man damit verschicken wolle.

«Das weiß ich noch nicht«, sagte sie.»Die Rundschreiben sind noch nicht von der Druckerei zurück.«

«Aber Sie werden doch den Text mit der Maschine geschrieben haben«, meinte ich nebenbei.

«Nein, das war Mr. Bolt selbst. Er ist in dieser Hinsicht wirklich großzügig. Wenn ich viel zu tun habe, schreibt er seine Briefe oft selbst.«

Interessant, dachte ich, tatsächlich. Was mich anging, so war Miss Martin völlig entlastet. Ich brachte ihr noch etwas zu trinken und fragte sie nach ihrer Meinung über Bolt als

Börsenmakler.

«Solide«, sagte sie,»aber nicht überbeschäftigt.«

Sie hatte früher für andere Makler gearbeitet und wußte Bescheid.

«Es gibt nicht mehr viele Makler, die allein arbeiten«, erklärte sie,»und — nun ja, ich sitze nicht gern in einem großen Büro, verstehen Sie? Es wird immer schwieriger, eine Stellung zu finden, die mir angenehm ist. Die meisten Börsenmakler schließen sich zu größeren Firmen zusammen. Dadurch werden die Spesen geringer.«

«Wo sind Mr. Charing, Mr. Street und Mr. King?«fragte ich.

Charing und Street waren tot, und King hatte vor ein paar Jahren zu arbeiten aufgehört. Die Firma bestand jetzt einzig und allein aus Ellis Bolt.

Als die meisten Männer das Lokal verlassen hatten, gingen wir auch und schlenderten durch die leeren Straßen Richtung Tower. Wir fanden ein ruhiges, kleines Restaurant. Wie vorher ging sie sofort zu einem Ecktisch und setzte sich mit dem Rücken zu den anderen Leuten.

«Ich bezahle meinen Anteil«, erklärte sie entschieden, als sie die Preise auf der Speisekarte sah.»Ich wußte nicht, daß es hier so teuer ist, sonst wäre ich nicht einverstanden gewesen. Mr. Bolt sagte, daß Sie in einem Laden arbeiten.«

«Vergessen wir die Erbschaft nicht«, sagte ich.»Das Essen bezahlt meine Tante.«

Sie lachte. Ich entdeckte, daß ich mit ihr reden konnte, ohne dauernd an ihr Gesicht zu denken. Man gewöhnte sich sehr schnell daran. Das mußte ich ihr gelegentlich einmal sagen.

Ich mußte immer noch Diät halten, was zusammen mit der Einhändigkeit das Essen in Lokalen nicht gerade erleichterte, kam aber gut zurecht mit Bouillon und Seezunge aus Dover, die der Kellner geschickt entgrätete.

Miss Martin, die sichtlich einige Hemmungen abzuwerfen schien, bestellte sich Hummercocktail, Filetsteak und Birnen in Kirschwasser. Wir tranken Wein, Kaffee und Kognak und ließen uns Zeit.

«Oh!«sagte sie plötzlich begeistert,»es ist schon so lange her, daß ich mir etwas gegönnt habe. Mein Vater hat mich früher ab und zu ausgeführt, aber seit er tot ist. Ich kann ja nicht allein in solche Lokale gehen. Manchmal esse ich in einem Cafe bei meiner Wohnung, da kennt man mich. Das Essen ist zwar nicht schlecht — Hammelkoteletts, Eier und Kartoffelchips, Sie wissen schon, das Übliche.«

Ich konnte sie mir vorstellen, wie sie dort allein an einem Tisch saß und ihr Gesicht zur Wand drehte. Ich hätte ihr gern geholfen.

Als sie den Kaffee umrührte, meinte sie ganz nebenbei:»Es war eine Rakete. «Sie berührte ihr Gesicht.»Ein Feuerwerkskörper. Die Flasche, in der er stand, kippte um, als er losging. Er traf mich am Backenknochen und explodierte. Niemand konnte etwas dafür. Ich war sechzehn.«

«Man ist aber sehr gut damit fertig geworden«, meinte ich.

Sie schüttelte den Kopf.

«Gegen den Zustand vorher vielleicht, aber — sie sagten, wenn die Rakete ein paar Zentimeter weiter oben getroffen hätte, wäre ich tot gewesen. Das habe ich mir seitdem oft gewünscht.«

Sie meinte es ernst. Ihre Stimme klang ruhig. Sie konstatierte eine Tatsache.

«Ja«, sagte ich.

«Es ist eigenartig, aber ich habe es heute abend fast vergessen. Das kommt äußerst selten vor, wenn ich mit jemandem zusammen bin.«

«Danke.«

Sie trank, stellte ihre Tasse ab und sah mich nachdenklich an.

«Warum haben Sie dauernd die Hand in der Tasche?«fragte sie dann.

Ich war es ihr schuldig. Ich legte die Hand auf den Tisch, ungern.

Sie sagte überrascht» Oh «und sah mir ins Gesicht.»Sie wissen also Bescheid. Deswegen fühle ich mich so — so ungezwungen bei Ihnen. Sie begreifen.«

Ich schüttelte den Kopf.

«Nur ein bißchen. Ich habe eine Tasche, Sie nicht. Ich kann meine Hand verstecken.«

Ich zog sie zurück und legte sie auf den Schoß.

«Aber Sie können ja nicht einmal die einfachsten Dinge tun«, rief sie. Ihre Stimme verriet tiefes Mitleid.»Sie können nicht einmal die Schuhbänder knüpfen. Sie können in einem Lokal kein Steak essen, ohne — «

«Halten Sie den Mund«, sagte ich scharf.»Halten Sie den Mund, Miss Martin. Tun Sie mir nicht an, was Sie selbst nicht ertragen können!«

«Mitleid.«, sagte sie, biß sich auf die Unterlippe und starrte mich betroffen an.»Ja, das fällt so leicht.«

«Und ist so peinlich, wenn man es hinnehmen muß. «Ich grinste sie an.»Meine Schuhe haben keine Schnürsenkel.«

«Man kann sehr wohl wissen, wie es ist, und trotzdem einem anderen — «Sie war ganz durcheinander.

«Quälen Sie sich nicht. Es war Güte, Mitgefühl.«

«Meinen Sie, daß Mitleid und Mitgefühl dasselbe sind?«fragte sie zögernd.

«Sehr oft, ja. Aber Mitgefühl ist diskret, Mitleid taktlos. Ach, entschuldigen Sie. «Ich lachte.»Es war mitfühlend von Ihnen zu bedauern, daß ich mir das Fleisch nicht selbst schneiden kann, aber taktlos, es auszusprechen — das ideale Beispiel.«»Es wäre gar nicht so schwer, den Menschen zu verzeihen, die nur taktlos sind«, meinte sie nachdenklich.

«Nein«, gab ich überrascht zu,»das stimmt auch wieder.«

«Taktlosigkeit würde gar nicht so weh tun, finden Sie nicht?«

«Vielleicht.«

«Und Neugier — auch damit käme man leicht zurecht, wenn man sie auf schlechte Manieren zurückführt. Ich meine, Taktlosigkeit und schlechte Manieren sind oft gar nicht so schwer zu ertragen. Mir könnten diese Leute sogar leid tun, weil sie nicht wissen, wie sie sich benehmen müssen. Warum bin ich nicht schon früher daraufgekommen?«

«Miss Martin«, sagte ich dankbar.»Noch einen Kognak? Sie sind eine Befreierin.«

«Wie meinen Sie das?«

«Mitleid kommt von schlechten Manieren und kann ertragen werden, wie Sie sagten.«

«Das haben Sie gesagt«, wandte sie ein.

«Nein, nicht so.«

«Also gut«, sagte sie fröhlich.»Trinken wir auf eine neue Ära. Ich werde meinen Schreibtisch wieder umstellen, damit mich jeder sehen kann. Ich. «Ihre Stimme klang heiser.»Wenn sie mich allzu offensichtlich bedauern, halte ich sie für schlecht erzogen.«

Wir tranken noch einen Kognak. Innerlich fragte ich mich, ob sie morgen noch genauso entschlossen sein würde. Ich bezweifelte es.

«Ich weiß nicht, ob ich es allein schaffe«, meinte sie plötzlich.

«Aber wenn Sie mir etwas versprechen, wird es gehen.«

«Einverstanden«, sagte ich vorschnell,»was?«

«Stecken Sie morgen Ihre Hand nicht in die Tasche. Lassen Sie sie alle Menschen sehen.«

Ich konnte das nicht, morgen wollte ich zu den Rennen. Ich sah sie entsetzt an und begriff erst in diesem Augenblick ganz, was sie zu ertragen hatte und wieviel es sie kosten würde, ihren Schreibtisch umzustellen. Sie sah, was ich dachte, und in ihren Augen erlosch ein Licht.

«Miss Martin — «, ich schluckte.

«Es spielt keine Rolle«, sagte sie müde.»Es spielt keine Rolle. Außerdem ist morgen Samstag. Ich gehe nur kurz ins Büro, um die Post durchzusehen. Da hätte es keinen Sinn, den Schreibtisch zu verrücken.«

«Und am Montag?«

«Vielleicht.«

Das hieß nein.

«Wenn Sie morgen umstellen und die ganze nächste Woche durchhalten, mache ich, was Sie verlangen«, sagte ich, wobei ich vor mir selbst erschrak.

«Sie können nicht«, sagte sie traurig.»Ich sehe, daß Sie es nicht können.«

«Wenn Sie es können, kann ich es auch.«

«Ich hätte Sie nicht darum bitten sollen. Sie arbeiten ja in einem Laden.«

«Oh. «Das hatte ich vergessen.»Darauf kommt es nicht an.«

«Meinen Sie es wirklich ernst?«

Ich nickte. Ich hatte etwas für sie tun wollen, irgend etwas. Du lieber Himmel.

«Versprechen Sie es?«fragte sie zweifelnd.

«Ja. Und Sie?«

«Gut. Aber ich schaffe es nur, wenn ich weiß, daß Sie im selben Boot sitzen. Dann darf ich Sie nicht im Stich lassen, verstehen Sie?«

Ich bezahlte und brachte sie nach Hause, obwohl sie behauptete, das wäre nicht nötig. Wir fuhren mit der Untergrundbahn nach Finchley. Sie ging sofort zum abgelegensten Platz und präsentierte die unverletzte Seite ihres Gesichts der Umwelt. Sie lachte plötzlich über sich selbst und entschuldigte sich.

«Macht nichts«, sagte ich,»die neue Ära beginnt erst morgen.«

Und ich verbarg meine Hand, Feigling, der ich war.

Sie wohnte nahe bei der U-Bahnstation in einem großen Zweifamilienhaus. Am Tor blieb sie stehen.

«Möchten Sie — ach, ich meine, möchten Sie mit hereinkommen? Es ist noch nicht sehr spät, aber vielleicht sind Sie müde?«

Sie drängte nicht, aber als ich annahm, schien sie sich zu freuen.

Wir gingen durch einen kleinen Garten zu einer schwarzgestrichenen Tür mit gräßlichen, farbigen Glasscheiben. Miss Martin kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, und ich dachte, daß ich das Schloß mit meinen Werkzeugen genauso schnell aufgebracht hätte wie sie mit ihrem Schlüssel. Am Ende des langen Korridors kam eine Tür, an der eine Karte mit dem Namen >Martin< befestigt war.

Zanna Martins Zimmer überraschte mich: bequem, groß, dicker Teppich, neu tapeziert und frische, satte Farben. Sie knipste eine Tischlampe an und zog orangefarbene Vorhänge zu. Sie zeigte mir stolz das erst kürzlich angebaute kleine Badezimmer und die winzige Küche, Ergänzungen, die sie selbst bezahlt hatte. Sie wohnte seit elf Jahren hier. Es war ihr Zuhause. Nur: Zanna Martin besaß keinen Spiegel — nicht einen einzigen!

Sie ging in die Küche und kochte Kaffee. Um beschäftigt zu sein, dachte ich.

Ich saß auf ihrem großen, bequemen Sofa und beobachtete, daß sie sich aus alter Gewohnheit die meiste Zeit vorbeugte, so daß ihr das schulterlange Haar das Gesicht verdeckte. Sie brachte das Tablett herein und setzte sich rechts neben mir auf das Sofa. Man konnte es ihr nicht übelnehmen.

«Weinen Sie manchmal?«fragte sie plötzlich.

«Nein.«

«Auch nicht aus — Verzweiflung?«

«Nein. «Ich lächelte.»Ich fluche.«

Sie seufzte.»Ich habe früher oft geweint. Jetzt nicht mehr. Man wird natürlich älter. Ich bin fast vierzig. Ich habe mich damit abgefunden, daß ich nie heiraten werde.«

«Die Männer sind Narren«, erwiderte ich lahm.

«Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, wenn ich so mit Ihnen rede? Ich habe selten jemanden zu Besuch und praktisch nie jemanden, mit dem ich mich aussprechen kann.«

Ich blieb eine Stunde, hörte mir ihre Erinnerungen und ihre Erfahrungen an.

Schließlich sagte sie:»Wie war das bei Ihnen? Ihre Hand — «

«Ach, ein Unfall. Ein scharfes Metallstück.«

Ein rasiermesserscharfes Hufeisen eines galoppierenden Pferdes, um genau zu sein. Ein harter Schlag, als ich mich nach einem ungefährlichen Sturz zur Seite rollte. Wie es eben manchmal so geht.

Ich hatte sofort gewußt, als ich das Blut aus meinem Handgelenk spritzen sah, daß ich als Jockey erledigt war. Aber ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben und bestand bei den Chirurgen darauf, daß man mir die Hand zusammenflickte, obwohl man sie sofort amputieren wollte. Ich werde nie mehr etwas damit anfangen können, sagten sie, und sie hatten recht. Zu viele Nerven und Sehnen waren durchtrennt. Ich überredete sie später, noch zweimal zu operieren, aber es war zwecklos.

Zanna Martin schien mich nach Einzelheiten fragen zu wollen, verzichtete aber zum Glück darauf. Statt dessen fragte sie:»Sind Sie verheiratet? Ich habe soviel von mir selbst gesprochen, daß ich über Sie gar nichts weiß.«

«Meine Frau ist in Athen, zu Besuch bei ihrer Schwester.«

«Herrlich«, seufzte sie.»Ich möchte.«

«Eines Tages tun Sie so etwas auch«, behauptete ich fest.»Sparen Sie und machen Sie in ein, zwei Jahren Urlaub. Eine Busreise, jedenfalls mit anderen Menschen, nicht allein!«

Ich schaute auf die Uhr und stand auf.

«Der Abend hat mir sehr gefallen. Vielen Dank dafür, daß Sie mitgekommen sind. «Sie stand auf und gab mir die Hand, ohne von einem Wiedersehen zu sprechen.»Morgen früh. «sagte sie an der Tür.

«Morgen«, entgegnete ich nickend,»stellen Sie den Schreibtisch um. Und ich — verspreche, daß ich es nicht vergessen werde.«

Ich fuhr nach Hause und verfluchte das Schicksal, das mich mit einem Menschen wie Zanna Martin zusammengeführt hatte.

Ich hatte eine junge hübsche Sekretärin erwartet, mit der ich ins Cafe, ins Kino gehen, mit der ich flirten konnte, ohne daß man sich festlegen mußte. Statt dessen sah es so aus, als müßte ich für meine Informationen über Ellis Bolt mehr bezahlen, als ich wollte.

Загрузка...