Kapitel 5

Zwei Tage später ging ich wieder durch den Säuleneingang von Radnors Bürohaus, weit lebendiger, als man mich das letztemal hinausgetragen hatte.

Ich wurde von dem Mädchen am Klappenschrank freudig begrüßt, stieg beinahe wohlgelaunt die weitgeschwungene Treppe hinauf und wurde von einer Salve witziger Kommentare der Abteilung Rennsport empfangen. Was mich am meisten überraschte, war ein Gefühl der Heimkehr. Ich hatte mich vorher eigentlich nie recht dem Unternehmen angehörig gefühlt, obwohl mir in Aynsford klargeworden war, daß ich gar nicht gern von dort weggehen würde. Diese Entdeckung kam ein bißchen spät. Wahrscheinlich würde man mir den Stuhl bald vor die Tür setzen.

Chico grinste breit:»Sie haben es also geschafft.«

«Nun ja.«

«Ich meine, zurück in die Tretmühle hier.«-»Ja.«

«Aber wie üblich zu spät«, meinte er und schaute auf die Uhr.

«Sie können mich mal«, sagte ich.

Chico wandte sich den anderen zu, die uns lächelnd beobachteten.

«Unser Sid ist zurück, charmant wie eh und je. Die Arbeit kann beginnen.«

«Ich sehe, daß ich immer noch keinen Schreibtisch habe«, meinte ich,»keinen Schreibtisch, keine Wurzeln, keinen richtigen Posten — wie zuvor!«

«Setz dich an Dollys Schreibtisch, sie hat ihn für dich saubergehalten.«

Dolly sah Chico lächelnd an. Ihre großen blauen Augen verrieten allzu deutlich, wie sehr sie sich nach der Mutterrolle sehnte. Sie mochte die zweitbeste Abteilungsleiterin sein, die Radnor hatte, ausgestattet mit einem phänomenalen Gedächtnis. Sie war eine massive, große, selbstsichere Frau über vierzig, die schon zwei Ehen hinter sich hatte und von einem die Hoffnung nicht aufgebenden alten Junggesellen verfolgt wurde, aber sie betrachtete ihr Leben immer noch als Mißerfolg, weil sie keine Kinder bekommen konnte. Dolly war ungeheuer emsig. Sie strömte über vor weiblicher Vitalität und nicht zu beherrschender Traurigkeit.

Chico wollte nicht bemuttert werden. Er hatte etwas gegen Mütter — gegen Mütter als Gesamtheit, nicht nur gegen jene, die ihre Kinder vor Polizeirevieren aussetzen.

Ich hockte mich auf ihren Schreibtisch und ließ ein Bein baumeln.

«Na, liebste Dolly, was macht der Detektivberuf?«sagte ich.

«Sie sollten lieber mehr arbeiten und weniger quatschen«, erwiderte sie mit gespielter Strenge.

«Dann geben Sie mir etwas zu tun.«

«Ah, ja«- sie überlegte —»Sie könnten. «begann sie und verstummte.»Nein. lieber nicht. Nach Lambourn muß Chico. Ein Trainer möchte einen zweifelhaften Burschen überprüfen lassen.«

«Für mich ist also nichts da?«

«Ah. Tja. «sagte Dolly.»Nein.«

Sie hatte schon hundertmal nein gesagt und nicht ein einzigesmal ja. Ich schnitt eine Grimasse, zog das Telefon heran, nahm den Hörer ab, drückte auf den richtigen Knopf und erwischte Radnors Sekretärin.

«Joanie? Hier Sid Halley. Ja. Zurück aus dem Jenseits, richtig. Ist der Alte beschäftigt? Ich möchte ihn sprechen.«

«Wichtigkeit«, sagte Chico.

Joanies Stimme erwiderte:»Er hat gerade einen Klienten bei sich. Wenn er fort ist, frage ich ihn gleich und rufe zurück.«

«Okay.«

Ich legte auf. Dolly zog die Brauen hoch. Als Abteilungsleiterin war sie meine unmittelbare Vorgesetzte, und meine Bitte, mit Radnor sprechen zu dürfen, ließ den Dienstweg außer acht. Aber ich war überzeugt, daß ihre bestimmte Weigerung, mir etwas zu tun zu geben, auf einer direkten Anweisung Radnors beruhte. Wenn ich etwas erreichen wollte, mußte ich zu ihm selbst gehen.

«Dolly, Liebste, ich habe es satt, dauernd herumzuhocken, auch wenn es auf Ihrem Schreibtisch ist, der mir einen herrlichen Ausblick gestattet.«

Sie trug wie meistens eine seidene Wickelbluse. Der Ausschnitt endete an einer Stelle, die bei einem jungen Mädchen Unruhen hervorgerufen hätte. Bei Dolly war die Wirkung immer noch gewaltig.

«Wollen Sie Schluß machen?«fragte Chico, zur Sache kommend.

«Das hängt vom Alten ab«, erwiderte ich.»Vielleicht wirft er mich hinaus.«

Es blieb im Zimmer eine Weile still. Sie wußten alle sehr gut, wie wenig ich arbeitete, mit wie wenig Arbeit ich mich zufriedengegeben hatte. Dolly machte ein ausdrucksloses Gesicht, was mir nicht weiterhalf. Der junge Jones kam mit einem Tablett herein, auf dem Teetassen standen. Er war sechzehn — laut, unhöflich, anarchistisch, grob; aber wahrscheinlich der tüchtigste Bürobote in ganz London. Das Haar trug er fast bis zu den Schultern, gewellt und peinlich sauber. Von hinten sah er wie ein Mädchen aus, was ihn nicht störte. Von vorn wies ihn sein knochiges, mit Pickeln übersätes Gesicht als unzweifelhaft männlich aus. Er verbrauchte die Hälfte seines Lohnes auf der Jagd nach Mädchen. Seinen

Behauptungen nach stellte er seine Beute auch. Bis jetzt war noch kein Mädchen im Büro aufgetaucht, die das bestätigen konnte.

Unter dem rosa Hemd schlug ein steinernes Herz, in seinem Schädel lauerte ein großes >Na und?<. Aber weil dieses amüsante, ehrgeizige, unfreundliche Wesen grundsätzlich lange vor Dienstbeginn im Büro erschien, war ich noch rechtzeitig gefunden worden. Irgendwo mußte da eine Moral verborgen sein. Jones warf mir einen Blick zu.

«Die Leiche ist wieder da, sehe ich.«

«Dank dir«, meinte ich leichthin, aber er wußte, daß ich es ernst meinte. Es war ihm trotzdem egal.

«Ihr Blut ist durch einen Riß im Linoleum gelaufen und hat das Holz durchtränkt«, sagte er.»Der Alte fragt sich jetzt, ob die Balken verfaulen werden.«

«Jones!«protestierte Dolly entsetzt.»Verschwinde und halt den Mund!«Ihr Telefon läutete. Sie nahm den Hörer ab, lauschte und sagte:»In Ordnung. «Sie legte auf.»Der Alte will Sie sprechen, sofort!«

«Danke.«

Ich stand auf.

«Rauswurf?«fragte der junge Jones.

«Halt du deine Rotznase raus«, sagte Chico.»Das geht dich einen nassen Staub an.«

Ich verließ lächelnd das Zimmer und hörte noch, wie Dolly zum tausendstenmal versuchte, den stetig schwelenden Streit zwischen Jones und Chico zu schlichten.

Ich ging die Treppe hinunter, durch die Halle, in Joanies kleines Büro und von dort aus in Radnors Arbeitszimmer.

Er stand am Fenster und beobachtete den Verkehr in der Cromwell Road. Das Zimmer, wo die Klienten ihr Herz auszuschütten pflegten, war in ruhigem Grau gehalten, mit roten

Teppichen und roten Vorhängen, ausgestattet mit bequemen Sesseln, praktischen kleinen Tischen mit Aschenbechern, Bildern an der Wand und mit Blumenvasen. Abgesehen von Radnors kleinem Schreibtisch in der Ecke sah das Ganze wie ein normales kleines Wohnzimmer aus. Radnor war des Glaubens, daß die Leute in einer derart friedlichen Umgebung die Tatsachen nicht so sehr übertrieben und verdrehten wie in einem Büro.

«Kommen Sie rein«, sagte er. Er blieb am Fenster stehen, und ich trat zu ihm. Er gab mir die Hand.

«Sind Sie wirklich schon soweit, daß Sie wieder anfangen können? Es hat nicht so lange gedauert, wie ich dachte. Obwohl ich Sie kenne.«

Er lächelte schwach und sah mich aufmerksam an.

Ich sagte, es ginge mir gut. Er sprach vom Wetter, vom Stoßverkehr und der Politik und kam schließlich zu dem Thema, das zur Debatte stand.»Sie werden sich also jetzt auch ein bißchen umsehen?«

Klar ausgedrückt, dachte ich.»Wenn ich hierbleiben wollte.«

«Wenn? Hm, ich weiß nicht. «Er schüttelte den Kopf.

«Nicht unter denselben Bedingungen, das gebe ich zu.«

«Tut mir leid, daß es nicht geklappt hat.«

Er schien es wirklich zu bedauern, machte es mir aber nicht leicht.

Ich sagte mit erzwungener Ruhe:»Sie haben mich zwei Jahre lang umsonst bezahlt. Jetzt könnten Sie mir eine Chance geben, mir mein Geld zu verdienen. Ich will nicht weg.«

Er hob den Kopf, schwieg aber.

«Ich arbeite umsonst für Sie, um das auszugleichen. Aber nur, wenn es sich um wirkliche Arbeit handelt. Ich will nicht mehr herumsitzen. Das macht mich verrückt.«

Er starrte mich eine Weile an und atmete dann kräftig aus.

«Du guter Gott, endlich!«sagte er.»Und es hat eine Revolverkugel gebraucht.«

«Was meinen Sie damit?«sagte ich.

«Sid, haben Sie schon mal einen Geist aufwachen sehen?«

«Nein«, sagte ich betroffen, aber ich verstand ihn.»So schlimm war es doch gar nicht.«

Er hob eine Schulter.»Ich habe Sie reiten sehen, vergessen Sie das nicht. Man merkt es, wenn ein Feuer ausgeht. Bei uns war bloß noch die Asche zu sehen.«

Er lächelte besänftigend. Es machte ihm Spaß, solche Wortbilder zu erfinden.

«Dann flackere ich jetzt wenigstens wieder?«meinte ich lächelnd.»Und ich habe eine komplizierte Sache mitgebracht, der ich auf den Grund kommen will.«

«Eine lange Geschichte?«

«Ziemlich lang.«

Er winkte mich zu einem Sessel, nahm Platz und hörte mir zu. Ich erzählte von Krayes Geschäften mit Rennplätzen. Was ich wußte und was ich nur vermutete. Als ich fertig war, sagte er ruhig:»Wo haben Sie das alles her?«

«Mein Schwiegervater, Charles Roland, servierte es mir, als ich am letzten Wochenende bei ihm wohnte. Er hatte Kraye eingeladen.«

«Und Roland hat es woher?«

«Der Rennplatzadministrator in Seabury erzählte ihm, die Direktoren machten sich über allzu große Aktienkäufe Sorgen, außerdem habe Kraye auch Dunstable an sich gebracht, und sie befürchteten, daß er es jetzt auf Seabury abgesehen haben könnte.«

«Und das andere, was Sie mir erzählt haben, ist Ihre eigene

Vermutung?«

«Ja.«

«Sie beruht auf Ihrer Einschätzung Krayes an einem Wochenende?«

«Zum Teil auf seinem Charakter, den er mir deutlich zeigte. Zum Teil auf dem, was ich in seinen Unterlagen fand.«

Mit Zögern berichtete ich von meiner Schnüffelei und den Fotos.». das übrige ist wohl nichts als eine Ahnung.«

«Hm — müßte überprüft werden. Haben Sie die Filme mitgebracht?«

Ich nickte, nahm sie aus der Tasche und legte sie auf den kleinen Tisch neben mir.

«Ich lasse sie entwickeln.«

Er trommelte mit den Fingern auf die Armlehne und dachte nach. Dann schien er plötzlich eine Entscheidung zu fällen:»Als erstes brauchen wir einen Klienten.«

«Einen Klienten?«wiederholte ich zerstreut.

«Natürlich, was denn sonst. Wir sind nicht die Polizei. Wir arbeiten nach Gewinn. Bei uns werden die Spesen und Gehälter nicht von den Steuern bestritten, sondern von Klienten.«

«O ja, natürlich.«

«Der geeignetste Klient in diesem Fall wäre entweder der Geschäftsführer des Rennplatzes in Seabury oder vielleicht das Nationale Rennsportkomitee. Ich spreche wohl am besten mit dem Vorsitzenden. Kann nicht schaden, wenn man ganz oben anfängt.«

«Vielleicht zieht er die Polizei vor«, sagte ich,»das kostet nichts.«

«Mein lieber Sid, Leute, die Privatdetektive beauftragen, wollen in erster Linie Geheimhaltung. Sie bezahlen dafür. Wenn die Polizei etwas untersucht, erfährt alle Welt davon. Bei uns nicht. Deshalb haben wir es manchmal mit Strafsachen zu tun, obwohl es da zweifellos billiger wäre, zur Polizei zu gehen.«

«Aha. Sie sprechen also mit dem Vorsitzenden.«

«Nein«, unterbrach er mich.»Das tun Sie.«

«Ich?«

«Natürlich, das ist Ihr Fall.«

«Aber Ihr Detektivbüro. Er ist daran gewöhnt, mit Ihnen zu verhandeln.«

«Sie kennen ihn auch«, erklärte er.

«Ich bin früher für ihn geritten, und das ist eine schlechte Ausgangsbasis. Für ihn bin ich ein Jockey, ein ausgedienter Jockey, er wird mich nicht ernst nehmen.«

Radnor zog eine Schulter hoch.

«Wenn Sie es mit Kraye aufnehmen wollen, brauchen Sie einen Klienten. Beschaffen Sie sich einen!«

Ich wußte sehr gut, daß er nicht einmal seine Abteilungsleiter, geschweige denn unerfahrene Angestellte beauftragen würde, Verhandlungen zu führen, so daß ich ein paar Sekunden lang gar nicht glauben konnte, daß es ihm ernst war. Aber er fügte nichts hinzu. Ich stand auf und ging zur Tür.

«In Sandown ist heute ein Rennen«, meinte ich, einen Versuchsballon steigen lassend.»Da ist er auf jeden Fall dabei.«

«Eine gute Gelegenheit. «Er sah starr vor sich hin.

«Dann versuche ich’s mal.«

«Richtig.«

Er gab mir keine Ermunterung, aber schließlich hatte er mich auch nicht hinausgeworfen.

Ich ging hinaus, machte die Tür hinter mir zu, und während ich noch ungläubig zögerte, hörte ich ihn plötzlich auflachen, kurz, laut, triumphierend.

Ich ging zu Fuß zu meiner Wohnung, holte den Wagen und fuhr nach Sandown. Es war ein angenehmer Tag, trocken, sonnig, ziemlich warm für November, genau richtig, um viele Zuschauer anzulocken.

Ich fuhr in merklich gehobener Stimmung durch das Tor, stellte den Wagen ab — einen großen Sportwagen mit automatischem Getriebe, Lenkhilfe und einer Aufschrift am Heck >Keine Handzeichen<. Dann gesellte ich mich zu der Menschenansammlung vor der Tür des Wiegeraums. Hinein durfte ich nicht mehr. Mich daran zu gewöhnen, war mir mit am schwersten gefallen, und an die Tatsache, daß mir alle Umkleide- und Wiegeräume, in denen ich vierzehn Jahre lang zu Hause gewesen war, von dem Tag an, als ich mein letztes Rennen hinter mir hatte, versperrt waren.

Man verlor nicht nur eine Stellung, wenn man seine Jockeylizenz zurückgab, man gab eine Lebensweise auf.

Auf dem Rennplatz gab es viele Bekannte, und da ich seit sechs Wochen bei keinem Rennen gewesen war, bekam ich eine Menge Klatsch zu hören. Niemand schien von meiner Schußverletzung zu wissen, was mir nur recht war. Ich fügte mich zufrieden in die Rennplatzatmosphäre ein, und der Gedanke an Kraye trat für eine Weile in den Hintergrund.

Ich verlor zwar den Zweck meines Besuches nicht aus dem Auge, aber bis zum dritten Rennen kam ich nicht an den Vorsitzenden des Nationalen Rennsportkomitees, Viscount Hagbourne, heran. Obwohl ich jahrelang für ihn Rennen bestritten hatte und stets gut mit ihm ausgekommen war, stand er mir mehr oder weniger fremd gegenüber. Er war ein zurückhaltender Mensch, der Wert auf Distanz legte und schwer Kontakt zu anderen Menschen fand. Unglücklicherweise hatte er auch als Vorsitzender des Rennsportkomitees keine großen Erfolge zu verzeichnen. Er schob alle Entscheidungen hinaus, bis es beinahe zu spät war, und selbst dann bestand immer noch die Gefahr, daß er seine Meinung änderte. Trotzdem war er der entscheidende Mann, bis seine einjährige Amtszeit ablief, und ich mußte mit ihm verhandeln.

Schließlich fing ich ihn ab, als er ein Gespräch mit dem Rennplatzadministrator beendete, wobei ich einem Trainer zuvorkam, der offenbar eine Beschwerde vorbringen wollte. Lord Hagbourne wandte in einer seiner seltenen Anwandlungen von Humor dem Beschwerdeführer den Rücken zu und begrüßte mich deshalb mit größerer Herzlichkeit als sonst.

«Sid«, sagte er.»Ich freue mich sehr! Wo waren Sie die ganze Zeit?«

«Ferien«, erwiderte ich kurz.»Sir, kann ich nach den Rennen mit Ihnen reden? Ich habe etwas äußerst Dringendes mit Ihnen zu besprechen.«

«Na, dann heraus damit«, sagte er, mit einem Seitenblick auf den Trainer.

«Nein, Sir, das dauert seine Zeit und verlangt Ihre ganze Aufmerksamkeit.«

«Hm?«Der Trainer zog sich zurück.»Heute nicht, Sid. Ich muß nach Hause. Was gibt es denn? Schießen Sie los!«

«Ich möchte mit Ihnen die Übernahmemanöver um Seabury besprechen.«

Er sah mich verblüfft an.

«Sie wollen.?«

«Stimmt. Hier draußen werden wir doch dauernd gestört — wenn Sie vielleicht nachher zwanzig Minuten.?«

«Äh. Was haben Sie mit Seabury zu tun?«

«Nichts Direktes, Sir. Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, aber ich habe in den letzten zwei Jahren mit Hunt Radnor zusammengearbeitet. Über Seabury sind uns verschiedene Dinge zu Ohren gekommen, und Mr. Radnor meinte, Sie würden sich dafür interessieren. Ich bin als sein Beauftragter hier.«

«Ah, verstehe. Na gut, Sid, kommen Sie nach dem letzten Rennen in den Imbißraum der Rennleitung. Wenn ich noch nicht da bin, warten Sie auf mich. Einverstanden?«

«Ja, danke.«

Ich stieg die eiserne Treppe zur Jockeyloge auf der Tribüne hinauf und lächelte vor mich hin. Beauftragter. Ein hübsches, bedeutsames Wort. Umfaßte alles, vom Botschafter an abwärts. Warum nicht?

«Nur Verrückte lachen über nichts«, sagte eine Stimme an meinem Ohr.»Was freut dich denn so? Und wo zum Teufel bist du den ganzen Monat gewesen?«

«Erzähl mir bloß nicht, daß ich dir gefehlt habe. «Ich grinste, ohne mich umzudrehen. Wir gingen gemeinsam hinaus und sahen auf den Rennplatz hinunter.

«Der schönste Ausblick in ganz Europa.«

Er seufzte. Mark Whitney, achtunddreißig Jahre alt, Trainer. Er hatte von allzu vielen Rennunfällen ein Gesicht wie ein zerschlagener Boxer und war in den zwei Jahren, seit er die Stiefel an den Nagel gehängt hatte, dick geworden — ein dicker, häßlicher Mann. Wir hatten viele Erinnerungen gemeinsam, und ich mochte ihn.

«Wie geht’s?«fragte ich.

«Nicht schlecht. Aber wesentlich besser, wenn mein Pferd das fünfte Rennen gewinnt.«

«Es hat sichere Chancen.«

«Und ob. Was hältst du übrigens von dem jungen Cotton? Der scheint offenbar Karriere zu machen.«

Wir unterhielten uns angeregt, während sich die Loge füllte und die Pferde an den Start geführt wurden.

Es war ein Dreimeilenrennen, und eines meiner früheren Pferde galt als Favorit. Ich beobachtete den Mann, der an meinen Platz getreten war, bei einem hervorragenden Rennen und dachte gleichzeitig an Bauplätze.

Sandown selbst hatte vor ein paar Jahren einen Versuch überlebt, hier Häuser zu errichten. Aber Sandown verfügte über mächtige Freunde. Die Rennplätze von Hurst Park, Manchester und Birmingham waren jedoch schon der Flut von Ziegelsteinen und Mörtel zum Opfer gefallen, besiegt von den Argumenten, daß Aktionäre Geld sehen wollten und die Menschen Wohnungen brauchten. Um sich vor einem solchen Schicksal zu schützen, hatte man in Cheltenham die Aktiengesellschaft in eine gemeinnützige Stiftung umgewandelt, und andere Rennbahnen waren später diesem Beispiel gefolgt.

Nicht Seabury. Und Seabury ging es schlecht. Ebenso Dunstable, und der Rennplatz von Dunstable hatte Miethäusern Platz machen müssen.

Die meisten Rennbahnen in England sind oder waren private Firmen, deren Anteile zu erlangen für einen Außenseiter gegen den Willen der Mitglieder praktisch unmöglich war. Aber vier — Dunstable, Seabury, Sandown und Chapstow — waren Aktiengesellschaften, und die Papiere konnte man auf der Börse frei erwerben.

Um Sandown hatte man sich ehrlich und ohne Tricks bemüht, aber die Pläne zur Errichtung einer Vorortsiedlung waren von den Stadt- und Gemeinderäten abgelehnt worden. Sandown florierte, erzielte ordentliche Gewinne, zahlte zehn Prozent Dividende und war jetzt praktisch unangreifbar.

Chapstow war etwas abgelegen und hatte deshalb die Habgier von Bodenspekulanten weniger zu befürchten. Aber der kleine Rennplatz in Dunstable war eine Oase in einem sich ausbreitenden Industriegebiet.

Seabury lag in der Tiefebene an der Südküste, auf allen Seiten von endlosen Reihen gemütlicher kleiner Häuschen umgeben, Träume und Ersparnisse von Menschen repräsentierend, die ein arbeitsreiches Leben hinter sich hatten. Der große Rennplatz mit seinen Anlagen würde Wohnraum für dreitausend bieten. Wenn man sechs- oder siebenhundert Pfund auf den Baupreis aufschlug, ergab sich eine Einnahme von rund zwei Millionen.

Der Favorit gewann und wurde bejubelt. Ich polterte mit Mark die eiserne Treppe hinunter. In der Bar tranken wir einen Schluck.

«Schickst du nächste Woche ein Pferd nach Seabury?«fragte ich.

«Vielleicht. Ich weiß noch nicht. Kommt natürlich darauf an, ob die Veranstaltung überhaupt stattfindet. Ich habe auch in Lingfield gemeldet und werde sie lieber dorthin schicken. Das scheint besser zu florieren, und die Eigentümer fühlen sich dort wohler. Gutes Essen und so weiter. Seabury ist ein bißchen heruntergekommen. Ich hatte alle Mühe, den alten Carmichael dazu zu bringen, daß ich beim letzten Rennen sein Pferd einsetzen durfte — und was passierte? Die Veranstaltung wurde abgesagt, und wir konnten in Worcester auch nicht starten. Das war zwar nicht mein Fehler, aber ich hatte ihm weisgemacht, daß wir in Seabury größere Chancen hätten. Er gab mir natürlich die Schuld, weil das Pferd überhaupt nicht an die Reihe kam. Er meinte, mit Seabury sei es einfach verhext, und ich kenne noch ein paar Eigentümer, die auch nicht wollen, daß ich ihre Pferde dort melde. Ich erkläre ihnen immer wieder, daß die Bahn hervorragend ist, aber das spielt keine große Rolle bei ihnen, sie kennen sie nicht so gut wie wir.«

Wir leerten unsere Gläser und gingen zum Wiegeraum zurück. Sein Pferd gewann das fünfte Rennen um eine Nasenlänge, und ich sah ihn später am Absattelplatz strahlend die Glückwünsche entgegennehmen.

Nach dem letzten Rennen ging ich zum Imbißraum der Rennleitung. Mehrere Mitglieder des Rennsportkomitees mit ihren Frauen und Bekannten tranken Tee. Lord Hagbourne war nirgends zu sehen. Man gab mir einen Stuhl, begrüßte mich und unterhielt sich mit mir über den Rennsport. Die meisten hatten früher Amateurrennen bestritten, ich kannte sie alle gut.

«Sid, was halten Sie von den neuen Hürden?«

«Sie sind viel besser, vor allem für jüngere Pferde.«

«Finden Sie nicht, daß Haiworth ein großartiges Rennen geliefert hat. Green soll sich gestern wieder ein paar Rippen gebrochen haben.«

«Ich mag diese Rasse nicht, es fehlt am Standvermögen.«

«Könnten Sie in unserem Club mal einen Vortrag halten? Wann hätten Sie Zeit?«

Sie tranken ihren Tee, verabschiedeten sich und fuhren nach Hause. Ich wartete. Endlich kam er hereingeeilt, entschuldigte sich und erklärte mir, warum er aufgehalten worden war.

«Also«, sagte er und biß in ein Sandwich.»Worum geht’s?«

«Um Seabury.«

«Ach ja, Seabury — besorgniserregend, wirklich besorgniserregend.«

«Ein Mr. Howard Kraye hat eine große Anzahl Aktien erworben.«

«Moment mal, Sid. Das ist nur eine Vermutung, weil Sie an Dunstable denken. Wir haben versucht, durch die Börse den Aufkäufer der Seabury-Aktien zu ermitteln, finden aber keinen klaren Hinweis auf Kraye.«

«Meine Firma hat diese Hinweise.«

Er starrte mich an.

«Beweise?«fragte er.

«Ja.«

«Welcher Art?«

«Fotografien der Verkaufsbescheinigungen.«

«Oh«, sagte er düster.»Wir waren uns nicht sicher, hofften aber, uns getäuscht zu haben. Wo haben Sie die Fotos her?«

«Darüber darf ich leider keine Auskunft geben, Sir. Aber die Firma Radnor wäre bereit, einen Versuch zu unternehmen, den

Verkauf von Seabury zu verhindern.«

«Gegen entsprechendes Honorar, nehme ich an«, sagte er zweifelnd.

«Leider ja, Sir.«

«Solche Dinge passen gar nicht zu Ihnen, Sid. «Er schaute auf die Uhr.

«Wenn Sie vergessen könnten, daß ich Jockey war, und mich nur als Beauftragten von Mr. Radnor ansehen, wäre es viel einfacher. Wieviel ist Seabury dem Rennsport wert?«

Er sah mich überrascht an, beantwortete die Frage auch, wenn auch nicht so, wie ich es erwartet hatte.

«Na, Sie wissen ja, daß es eine ausgezeichnete Rennbahn ist, gut für die Pferde und so weiter.«

«Aber dieses Jahr war kein Gewinn zu verzeichnen.«

«Man hatte sehr viel Pech.«

«Ja. Zuviel, als daß es mit rechten Dingen zugehen könnte, meinen Sie nicht?«

«Was wollen Sie damit sagen?«

«Hat sich das Rennsportkomitee schon einmal überlegt, daß Pechsträhnen — auch arrangiert werden können?«

«Sie wollen doch wohl nicht im Ernst sagen, daß Kraye. Ich meine, daß jemand Seabury absichtlich schädigen könnte? Um zu erreichen, daß man mit Verlust abschließt?«

«An diese Möglichkeit dachte ich, ja.«

«Hm. «Er setzte sich plötzlich.

«Bewußte Schädigung«, sagte ich,»Sabotage, wenn Sie wollen. In der Industrie gibt es genug Beweise dafür. Meine Firma untersuchte erst voriges Jahr die Vorgänge in einer kleinen Landbrauerei, wo die Fermentierung immer wieder danebenging. Es kam zu einer Strafanzeige, und die Brauerei konnte saniert werden.«

Er schüttelte den Kopf.»Ich halte es für albern, Kraye so etwas zu unterstellen. Er gehört einem meiner Clubs an. Er ist ein reicher, geachteter Mann.«

«Ich weiß, ich habe ihn kennengelernt«, sagte ich.

«Dann müssen Sie ja wissen, was für ein Mensch er ist.«

«Ja, nur zu gut.«

«Sie meinen doch nicht im Ernst. «begann er noch mal.

«Es kann nichts schaden, das nachzuprüfen«, unterbrach ich.

«Sie werden die Zahlen kennen. Seabury wäre eine lohnende Beute.«

«Wie sehen Sie die Zahlen?«

Er schien sich tatsächlich für meine Meinung zu interessieren.

«Das Aktienkapital der Rennbahn Seabury beträgt achtzigtausend Pfund in Einpfundaktien. Der Grund wurde gekauft, als dieser Teil der Küste mehr oder weniger unbewohnt war, so daß dieser Betrag in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Wert steht. Jedes Unternehmen in einer solchen Lage fordert ja geradezu einen Interessenten heraus, es zu übernehmen. Ein Käufer brauchte theoretisch einundfünfzig Prozent der Aktien, um die Kontrolle übernehmen zu können, aber in der Praxis genügen, wie Dunstable gezeigt hat, vierzig vollauf. Man könnte es sogar mit sehr viel weniger schaffen, aber vom Standpunkt des Käufers aus ist der Profit um so größer, je mehr Aktien er in die Hand bekommt, bevor er seine Absicht kundtun muß.

Die Hauptschwierigkeit bei der Übernahme einer Rennbahn ist, daß die Aktien selten auf den Markt kommen. Soviel ich weiß, ist es durchaus nicht immer möglich, auch nur ein paar Aktien der Börse zu erwerben, weil die Eigentümer meist sehr viel Wert darauf legen und nicht verkaufen, solange eine Dividende bezahlt wird, sei sie auch noch so klein. Aber nicht alle können sich leisten, daß ihr Kapital keine Zinsen trägt, und sobald ein Rennplatz mit Verlust arbeitet, wächst die Versuchung, das Geld anderswo anzulegen. Der Kurswert der Seabury-Aktien beträgt heute dreißig Shilling, das sind etwa vier Shilling mehr als vor zwei Jahren. Wenn Kraye mit einem Durchschnittspreis von dreißig Shilling eine Vierzigprozentmehrheit erringen kann, wird ihn das nur ungefähr achtundvierzigtausend Pfund kosten. Mit einem Aktienpaket von dieser Größe kann er jede Opposition überstimmen und die ganze Firma an einen Bauherrn verkaufen. Die Baugenehmigung wird ihm sicher erteilt werden, weil es sich nicht um ein Naturschutzgebiet handelt und das Areal sowieso schon von Gebäuden umgeben ist. Ich schätze, daß jemand, der dort bauen will, ungefähr eine Million zu zahlen hätte, weil er das Doppelte erzielen würde. Die Steuer ist natürlich hoch, aber die Aktionäre würden, wenn sich der Plan verwirklichen läßt, einen Gewinn von achthundert Prozent erzielen — für Mr. Kraye brutto etwa vierhunderttausend Pfund. Haben Sie überhaupt feststellen können, wieviel er an Dunstable verdient hat?«

Hagbourne schwieg.

«Seabury war eine erfolgreiche Rennbahn. Jetzt ist es plötzlich vorbei. Ich halte es für einen verdächtigen Zufall, daß es mit einem Rennplatz bergab geht, sobald sich ein potenter Käufer zeigt. Im letzten Jahr betrug die Dividende nur noch Sixpence pro Aktie, ein Brutto-Ertrag von nicht einmal eindreiviertel Prozent zum derzeitigen Kurswert, und heuer wiesen die Bücher einen Verlust von dreitausendsiebenhundertvierzehn Pfund aus. Wenn nicht bald etwas getan wird, sind die Aussichten Null.«

Hagbourne starrte eine Weile zu Boden, das halb verzehrte Sandwich in der Hand. Schließlich sagte er:»Wer hat die Berechnungen angestellt, Radnor?«

«Nein, ich. Es ist ganz einfach. Ich war gestern im Compagniehaus in der City und habe mir die Bilanzen der letzten Jahre angesehen. Heute früh ließ ich mir von einem

Börsenmakler den Kurswert sagen. Sie können das selbst nachprüfen.«

«Ich glaube Ihnen. Jetzt erinnere ich mich übrigens. Es hieß einmal, Sie hätten mit zwanzig Jahren an der Börse ein Vermögen gemacht.«

«Die Leute übertreiben«, erwiderte ich lächelnd.»Mein erster Trainer, bei dem ich Lehrling war, verstand etwas von der Börsenspekulation, und ich hatte Glück.«

«Hm.«

Es blieb eine Weile still, während er mit seiner Entscheidung zögerte. Ich störte ihn nicht, war aber sehr erleichtert, als er schließlich sagte:»Sie haben sich vorher mit Radnor

besprochen?«

«Ja.«

«Na gut. «Er stand auf und legte das Sandwich weg.»Sie können Radnor sagen, daß ich mit einer Untersuchung einverstanden bin. Die Zustimmung meiner Kollegen werde ich wohl erreichen. Sie wollen sicher sofort anfangen?«

Ich nickte.

«Zu den üblichen Bedingungen?«

«Keine Ahnung«, sagte ich.»Vielleicht setzen Sie sich deswegen mit Mr. Radnor in Verbindung.«

Da ich nicht wußte, wie die üblichen Bedingungen lauteten, wollte ich nicht darüber sprechen.

«Ja, in Ordnung. Und, Sid. Wir sind uns einig, daß das unter uns bleiben muß! Wir können es uns nicht leisten, daß Kraye ein Verfahren wegen Verleumdung gegen uns anstrengt.«

«Das Detektivbüro Radnor ist berühmt für Diskretion«, sagte ich lächelnd.

Radnor hatte recht. Die Leute zahlten dafür, daß man ihre Geheimnisse bewahrte. Warum auch nicht?

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