9 Ein kleiner Fuß

Als ich die Augen wieder aufschlug, lag ich auf einem Fell neben dem Feuer, um das wir uns zu jenem schrecklichen Fest versammelt hatten. An meiner Seite lag Leo, anscheinend immer noch bewußtlos, und über ihn beugte sich die schlanke Gestalt Usta-nes, welche eine tiefe Speerwunde in seiner Seite mit kaltem Wasser auswusch und dann mit Leinen verband. Hinter ihr an der Wand der Höhle lehnte Job, unverletzt, wie es schien, doch zitternd und voller Schrammen. Auf der anderen Seite des Feuers kreuz und quer, als hätten sie sich zutiefst erschöpft hingeworfen, um zu schlafen, die von uns in dem schrecklichen Kampf Getöteten. Ich zählte sie - es waren zwölf außer der Frau und dem armen, von mir getöteten Mahomed, der neben dem rußgeschwärzten Topf am Ende der Reihe lag. Links davon stand eine Gruppe von Männern, die den am Leben gebliebenen Kannibalen die Arme auf den Rücken banden und sie zu zweien aneinanderfesselten. Die Schurken ließen dies mit düsteren, gleichgültigen Mienen, die jedoch schlecht zu der in ihren Augen glühenden Wut paßten, über sich ergehen. Vor ihnen stand, Anweisungen erteilend, kein anderer als unser Freund Billali. Er sah ein wenig müde aus, wirkte jedoch mit seinem langen wallenden Bart wie ein echter Patriarch und schien so ruhig und unbeteiligt, als überwache er das Schlachten eines Ochsen.

Plötzlich drehte er sich um, und als er sah, daß ich mich aufgerichtet hatte, kam er zu mir und fragte mich mit äußerster Höflichkeit, ob es mir besser gehe. Ich erwiderte, daß ich das Gefühl hätte, am ganzen Körper zerschlagen zu sein.

Daraufhin beugte er sich zu Leo nieder und untersuchte seine Wunde.

»Ein böser Stich«, sagte er, »doch die Eingeweide hat der Speer nicht verletzt. Er wird es überstehen.«

»Dank deines Eingreifens, mein Vater«, erwiderte ich. »Noch eine Minute, dann hätten diese Teufel uns ebenso getötet wie unseren Diener.« Ich deutete auf Mahomed.

Der Alte biß die Zähne zusammen, und ich sah, wie seine Augen böse aufblitzten.

»Keine Sorge, mein Sohn«, sagte er. »Schauerliche Rache wird sie treffen. Man wird sie vor >Sie< bringen, und ihre Rache wird ihrer Größe würdig sein. Dieser Mann«, er deutete auf Mahomed, »dieser Mann ist eines gnadenvollen Todes gestorben im Vergleich zu dem, den diese menschlichen Hyänen sterben werden. Doch nun erzähle mir, wie es zu alldem kam.«

In wenigen Worten berichtete ich, was geschehen war. »Dacht' ich mir's doch«, antwortete er. »Du mußt wissen, mein Sohn, es ist hier Sitte, daß Fremde, die ins Land kommen, mit dem Topf getötet und verzehrt werden.«

»Das ist ja eine merkwürdige Gastfreundschaft«, erwiderte ich. »Bei uns ist es gerade umgekehrt. In unserem Land bewirtet man Fremde und gibt ihnen zu essen. Hier werden sie gegessen.«

»Es ist eben so Sitte«, sagte er achselzuckend. »Ich halte es auch für eine schlechte Sitte, und außerdem«, fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu, »schmek-ken mir Fremde nicht, besonders wenn sie durch die Sümpfe gewandert sind und sich von wilden Vögeln ernährt haben. Als >Sie< uns den Befehl sandte, euer Leben zu schonen, sagte ich nichts von dem schwarzen Mann, und deshalb gelüstete es die Hyänen nach seinem Fleisch, und jene Frau, die du mit Recht getötet hast, stachelte sie dazu auf, sich über ihn herzumachen. Nun, sie werden dafür büßen. Es wäre besser für sie gewesen, nie das Licht der Welt erblickt zu haben, als vor die Herrscherin in ihrem furchtbaren Zorn hinzutreten. Jene, die von eurer Hand starben, sind glücklich zu preisen dagegen. Wahrlich, ihr habt euch tapfer geschlagen. Weißt du, du langarmiger alter Pavian, daß du den beiden dort drüben die Rippen zerbrochen hast, als wären es Eierschalen? Und der Junge, dieser Löwe, hat sich ganz prächtig gehalten. Drei hat er erschlagen, und der dort« - er deutete auf einen Körper, der sich noch ein wenig rührte -»wird auch bald tot sein, denn sein Schädel ist mittendurch gespalten, und noch viele andere von den Gefesselten sind verwundet. Es war ein wackerer Kampf, so ganz nach meinem Herzen, und ihr habt mich damit zum Freund gewonnen. Doch sage mir, du Pavian - ja, jetzt erst sehe ich, daß auch dein Gesicht voller Haare ist und ganz dem eines Pavians gleicht -, wie habt ihr jene getötet, die ein Loch im Körper haben? - Wie man mir erzählt hat, machtet ihr einen lauten Krach, und sie fielen tot um. Hat dieser Krach sie zu Boden gestreckt?«

Ich erklärte ihm, so gut ich konnte, doch in aller Kürze - denn ich war schrecklich müde -, die Eigenschaften des Schießpulvers, und er bat mich sofort, sie durch ein praktisches Experiment an einem der Gefangenen zu illustrieren. Er meinte, auf einen mehr oder weniger käme es nicht an und es würde nicht nur ihn sehr interessieren, sondern mir auch Gelegenheit geben, mich zu rächen. Als ich ihm sagte, daß es bei uns nicht Sitte sei, sich auf so grausame Weise zu rächen, und daß wir die Rache den Hütern des Gesetzes und einer höheren Macht, von der er nichts wüßte, überließen, war er zutiefst erstaunt. Ich fügte jedoch hinzu, daß ich ihn, wenn ich wieder gesund sei, gern zu einer Jagd mitnehmen würde und daß er dann selbst ein Tier töten könne, und darüber freute er sich wie ein Kind, dem man ein neues Spielzeug verspricht.

In diesem Augenblick öffnete Leo, belebt von einem Schluck Kognak, den Job ihm eingeflößt hatte, die Augen, und so brachen wir unsere Unterhaltung ab.

Wir trugen Leo, der immer noch sehr schwach und halb bewußtlos war, auf ein weiches Lager, wobei uns Job und die tapfere Ustane halfen, die ich am liebsten mit einem Kuß dafür belohnt hätte, daß sie meinen Leo unter Einsatz ihres eigenen Lebens gerettet hatte, doch ich fürchtete, sie könnte es mir übelnehmen. Sodann zog ich mich, am ganzen Körper voller Beulen und Schrammen, doch erfüllt von einem Gefühl der Sicherheit, das ich seit vielen Tagen nicht empfunden hatte, in meine kleine Grabkammer zurück, versäumte jedoch nicht, bevor ich mich niederlegte, der Vorsehung von ganzem Herzen dafür zu danken, daß sie mir nicht tatsächlich zur letzten Ruhestätte geworden war, wie es ohne eine glückliche Fügung, die ich nur ihr zuschreiben kann, an je-nem Abend leicht der Fall hätte sein können. Wohl nur wenige Menschen sind je dem Tode so nahe gewesen und ihm dennoch entronnen wie wir an jenem schrecklichen Tag.

Mein Schlaf ist schon normalerweise nicht der beste, und die Träume, die mich in dieser Nacht heimsuchten, waren alles andere als angenehm. Ich sah den armen Mahomed, wie er dem glühend roten Topf zu entrinnen suchte, und im Hintergrund stand eine verschleierte Gestalt, die von Zeit zu Zeit das sie umhüllende Gewand öffnete und bald den Körper eines schönen blühenden Weibes zeigte, bald die bleichen Knochen eines grinsenden Skeletts, das die geheimnisvollen und sinnlos scheinenden Worte sprach:

»Was lebt, trägt schon den Tod in sich, und was tot ist, kann niemals sterben, denn im Kreise des Geistes sind Tod und Leben ein Nichts. Ja, alle Dinge leben ewiglich, nur zuweilen schlafen sie und sind vergessen.«

Als endlich der Morgen kam, fühlte ich mich so steif und zerschlagen, daß ich mich nicht dazu überwinden konnte, aufzustehen. Gegen sieben Uhr kam Job hereingehumpelt, dessen Gesicht die Farbe eines faulen Apfels hatte. Er berichtete mir, daß Leo gut geschlafen habe, doch immer noch sehr schwach sei. Zwei Stunden später erschien Billali (den Job >Billy< zu nennen pflegte); er hielt eine Lampe in der Hand und stieß mit seiner riesigen Gestalt fast an die Decke der kleinen Kammer. Ich stellte mich schlafend und betrachtete durch meine halbgeschlossenen Augenlider sein hämisches, doch wohlgeschnittenes altes Gesicht. Seine Falkenaugen auf mich richtend, strich er sich seinen prächtigen weißen Bart, der jedem Londoner Barbier als Reklame sicherlich hundert Pfund im Jahr wert gewesen wäre.

»Hm!« murmelte er leise, »wie häßlich er ist - so häßlich wie der andere schön - ein wahrer Pavian. Doch er gefällt mir. Seltsam, daß mir in meinem Alter noch wer gefallen kann. Wie sagt doch das Sprichwort - >Mißtraue allen Männern und töte jene, denen du am meisten mißtraust; fliehe die Frauen, denn sie sind böse und werden dich am Ende vernichten<. Ein gutes Sprichwort, vor allem der zweite Teil davon -es muß schon sehr alt sein. Dennoch gefällt mir dieser Pavian, und ich frage mich, woher er wohl seine Fertigkeit hat. Ich hoffe nur, >Sie< wird ihn nicht behexen. Armer Pavian! Er ist sicher sehr erschöpft von diesem Kampf, und ich will lieber gehen, um ihn nicht zu wecken.«

Ich wartete, bis er sich abgewandt hatte und auf Zehenspitzen fast bis zum Eingang geschlichen war; dann rief ich: »Bist du es, mein Vater?«

»Ja, mein Sohn, ich bin's; doch laß dich nicht stören. Ich wollte nur nachsehen, wie es dir geht, und dir sagen, daß jene, die dich töten wollten, mein Pavian, bereits unterwegs zur Herrscherin sind. >Sie< möchte, daß auch ihr sogleich zu ihr kommt, doch ich fürchte, dazu seid ihr noch nicht imstande.«

»Nein«, sagte ich, »zuerst müssen wir uns ein wenig erholen; doch ich bitte, mein Vater, laß mich hinaus ins Freie tragen. Hier drinnen ist mir gar nicht wohl.«

»Das glaube ich«, sagte er, »es ist ein unheimlicher Ort. Da fällt mir ein - als ich ein Junge war, fand ich hier einmal eine tote Frau. Sie lag dort, wo du jetzt liegst, ja, auf eben dieser Bank. Sie war so schön, daß ich immer wieder mit einer Lampe hier hereinschlich und sie anschaute. Wären ihre Hände nicht kalt gewesen, so hätte man denken können, sie schlafe nur und werde eines Tages erwachen; so schön und friedlich lag sie da in ihrem weißen Gewand. Auch ihre Haut war weiß, und ihr Haar war blond und reichte fast bis zu ihren Füßen. Dort, wo >Sie< wohnt, liegen noch viele gleich ihr in den Gräbern, denn jene, die sie beisetzten, verstanden sich auf die Kunst, die Toten vor dem Verfall zu schützen.

Ja, Tag für Tag kam ich hierher und schaute sie an, bis ich mich schließlich - lache mich nicht aus, Fremdling, ich war ja damals ein törichter Junge - in jene Tote verliebte, in jene Hülle, die einst ihre entwichene Seele umschlossen hatte. Ich kroch zu ihr und küßte ihr kaltes Antlitz und fragte mich, wie viele Menschen wohl seit ihrer Zeit gekommen und gegangen waren und wer sie wohl in jenen längst entschwundenen Tagen geliebt und umarmt haben mochte. Ich glaube, dieser Toten verdanke ich eine große Weisheit, mein Pavian, denn sie lehrte mich, wie kurz das Leben ist und wie lang der Tod und daß alles unter dieser Sonne den gleichen Weg geht und dereinst dem Vergessen anheimfällt. Ich betrachtete also diese Tote und dachte nach, und es schien, als erfülle sie mich mit dieser Weisheit, bis eines Tages meine Mutter, welche meine Veränderung bemerkte, mir folgte. Als sie die schöne weiße Tote sah, fürchtete sie, sie habe mich behext, womit sie ja nicht so unrecht hatte. So nahm sie, halb in Furcht, halb in Zorn, die Lampe, hob die Tote von der Bank auf, stellte sie an die Wand und zündete ihr Haar an. Sie ging sofort vom Kopf bis zu den Füßen in Flammen auf, denn die so erhaltenen Toten brennen wie Zunder. Dort oben an der Decke, mein Sohn, kannst du noch den Ruß sehen.«

Ich blickte zweifelnd hinauf - und wirklich, an dem Fels befand sich ein großer rußiger Fleck. Von der Wand war der Ruß natürlich im Lauf der Jahre abgerieben worden, doch an der Decke war er noch deutlich zu sehen.

»Sie verbrannte«, fuhr er nachdenklich fort, »bis auf die Füße, doch ich kam rechtzeitig zurück, um die Füße selbst zu retten. Ich schnitt das verbrannte Fleisch herunter, wickelte sie in ein Stück Leinwand und versteckte sie unter der Steinbank. Kaum zu glauben, aber ich erinnere mich so gut daran, als ob es erst gestern gewesen wäre. Wenn niemand sie gefunden hat, sind sie vielleicht noch da. Ich selbst habe diese Kammer seit jenem Tag nie mehr betreten. Warte, ich will einmal nachsehen!« Er kniete nieder und tastete mit seinem langen Arm unter der Steinbank herum. Plötzlich erhellte sich seine Miene, und er zog mit einem freudigen Aufschrei einen mit dik-kem Staub bedeckten Gegenstand hervor. Er klopfte den Staub ab, entfernte die zerfallene Leinenhülle, und meinem erstaunten Blick enthüllte sich ein schön geformter, nahezu weißer Frauenfuß, der so frisch und fest aussah, als habe man ihn eben erst dorthin gelegt.

»Siehst du, mein Sohn«, sagte er mit trauriger Stimme, »ich habe dir die Wahrheit gesagt. Ein Fuß ist noch da. Nimm ihn, mein Sohn, und sieh ihn dir gut an.«

Ich nahm dieses kalte Fragment in die Hand und betrachtete es, schwankend zwischen Staunen, Furcht und Faszination, im Licht der Lampe. Der Fuß war leicht, zweifellos viel leichter als zu der Zeit, da noch Leben ihn erfüllte, und das Fleisch daran strömte einen leisen aromatischen Duft aus. Es war weder zusammengeschrumpft noch schwarz oder häßlich wie das Fleisch ägyptischer Mumien, sondern glatt und schön und, ausgenommen die leicht angebrannten Stellen, frisch wie am Tag des Todes - ein wahrer Triumph der Balsamierkunst!

Armer kleiner Fuß! Ich legte ihn auf die Steinbank, auf welcher er so viele tausend Jahre geruht, und fragte mich, was für eine Schönheit er wohl durch den Prunk und das Gepränge einer längst versunkenen Kultur getragen haben mochte - zuerst als fröhliches Kind, dann als errötende Jungfrau und schließlich als vollerblühtes Weib. In welchen Hallen des Lebens war sein sanfter Schritt erklungen, mit welchem Mut war er den düsteren Weg des Todes hinabgeschritten? An wessen Seite war er im Dunkel der Nacht geschlichen, wenn der Negersklave auf dem Marmorboden schlief, wer hatte voll Ungeduld auf das Nahen seiner Schritte gehorcht? Schöner kleiner Fuß! Mag sein, daß er auf den stolzen Nacken eines Eroberers getreten war, der sich nur der Schönheit eines Weibes neigte, daß die Lippen von Edelleuten, ja von Königen sich auf seine juwelengeschmückte Weiße drückten.

Ich hüllte dieses Relikt der Vergangenheit wieder in die Reste des alten Leinentuches, das offenbar ein Teil des Totengewandes jener Frau war, denn es war angebrannt, und legte ihn - welch seltsamer Gegensatz - in meinen Koffer. Dann humpelte ich, auf Bil-lali gestützt, zu Leo. Er war arg zerschlagen und sein Zustand viel schlechter als der meine. Trotz seiner außerordentlichen Blasse und Schwäche infolge des Blutverlustes aus der Speerwunde an seiner Seite war er jedoch bester Dinge und bat um ein Frühstück. Job und Ustane legten ihn auf das Tuch einer Sänfte, deren Stangen sie entfernten, und trugen ihn mit Billalis Hilfe in den Schatten am Eingang der Höhle, aus der man übrigens unterdessen alle Spuren des nächtlichen Kampfes entfernt hatte. Dort frühstückten wir alle und verbrachten den Tag und auch den größten Teil der beiden folgenden Tage.

Am dritten Morgen waren Job und ich wieder einigermaßen hergestellt. Da es auch Leo wesentlich besser ging, erfüllte ich Billalis immer wieder vorgebrachte Bitte und erklärte mich bereit, sogleich die Reise nach Kor, wie der Wohnort der geheimnisvollen >Sie< hieß, anzutreten, obwohl ich nachteilige Folgen für Leo fürchtete, dessen kaum verheilte Wunde durch die Bewegung wieder aufbrechen konnte. Hätte Billali nicht so ängstlich gedrängt, diesen Platz zu verlassen, und uns dadurch mit der Befürchtung erfüllt, es könnten uns, wenn wir noch länger blieben, neue Gefahren drohen, so hätte ich nicht eingewilligt.

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