14 Eine Seele in der Hölle

Es war fast zehn Uhr nachts, als ich mich auf mein Lager warf und meine Gedanken zu sammeln und über das, was ich gesehen und gehört, nachzudenken versuchte. Doch je mehr ich nachdachte, um so weniger begriff ich. War ich von Sinnen oder betrunken, träumte ich oder war ich nur das Opfer eines ungeheuerlichen Schabernacks? Wie war es möglich, daß ich, ein Mann von klarem Verstand, nicht unvertraut mit den wichtigsten Tatsachen der Menschheitsgeschichte und bisher hinsichtlich all des Hokuspokus, der in Europa unter der Flagge des Übernatürlichen segelt, ein gänzlich Ungläubiger, daß ich glauben konnte, ich hätte mich vor wenigen Minuten mit einer mehr als zweitausend Jahre alten Frau unterhalten? Es war gegen jede menschliche Vernunft und ganz und gar unmöglich. Es mußte ein Schabernack sein, doch wenn es einer war, wie ließ er sich erklären? Und welche Bewandtnis hatte es mit den Bildern auf dem Wasser, mit dem außerordentlichen Wissen der Frau über fernste Zeiten und ihrer Unkenntnis oder angeblichen Unkenntnis aller späteren Geschichte? Was hatte es mit ihrem wundervollen und doch so unheimlichen Liebreiz auf sich? Dieser zumindest war eine unumstößliche Tatsache und doch völlig unfaßbar. Kein gewöhnliches sterbliches Weib konnte eine solch übernatürliche Schönheit ausstrahlen. Und in einem hatte sie jedenfalls recht gehabt - es war gefährlich für einen Mann, so viel Schönheit zu schauen. Ich war ein Weiberfeind, abgesehen von einem schmerzlichen Erlebnis in meiner zarten Jugend, und hatte das schwächere Geschlecht (das, wie ich manchmal denke, diesen Namen gar nicht verdient) fast völlig aus meinen Gedanken verbannt. Doch jetzt wurde mir zu meinem unbeschreiblichen Entsetzen klar, daß ich diese wundervollen Augen nie mehr würde vergessen können; und ach! gerade die Dämonie dieses Weibes, so schrecklich und abstoßend sie war, machte sie nur noch begehrenswerter. Ein Wesen mit einer Erfahrung von zweitausend Jahren, das über solche ungeheuren Kräfte verfügte und um ein Geheimnis wußte, mit dem der Tod sich bannen ließ, war es wohl kein anderes Weib wert, geliebt zu werden. Doch ach! es ging nicht darum, ob sie es wert war oder nicht - soweit ich dies mit meiner geringen Erfahrung in solchen Dingen beurteilen konnte, hatte ich, Dozent eines Colleges, allgemein bekannt als Weiberfeind, ein angesehener Mann in mittleren Jahren, mich Hals über Kopf und hoffnungslos in diese weiße Zauberin verliebt. Unsinn; es konnte nur Unsinn sein! Sie hatte mich eindringlich gewarnt, und ich hatte ihre Warnung in den Wind geschlagen. Fluch über die verhängnisvolle Neugier, die den Mann je und je treibt, das Weib zu entschleiern, Fluch über den natürlichen Impuls, der sie auslöst! Sie ist die Ursache der Hälfte - ach, mehr als der Hälfte unseres Mißgeschicks. Warum kann der Mann sich nicht damit zufriedengeben, allein und glücklich zu leben und auch die Frauen allein und glücklich sein zu lassen? Doch vielleicht wären sie nicht glücklich, und ich bin nicht sicher, ob wir es wären. Ich, in meinem Alter, einer modernen Circe zum Opfer gefallen! Doch sie war ja gar nicht modern, nach allem, was sie gesagt hatte. Sie war fast ebenso alt wie die wirkliche Circe.

Ich raufte mir das Haar und sprang von meinem Lager auf, denn ich wußte, wenn ich nicht irgend etwas tat, würde ich den Verstand verlieren. Was war mit diesem Skarabäus? Er gehörte Leo und stammte aus dem alten Koffer, den Vincey vor fast einundzwanzig Jahren in meiner Wohnung hinterlassen hatte. Sollte diese ganze Geschichte wirklich wahr sein, die Inschrift auf der Scherbe keine Fälschung, keine Erfindung eines verrückten, längst vergessenen Individuums?

Und wenn dem so war, konnte es sein, daß Leo der Mann war, auf den >Sie< wartete - der Tote, der neugeboren werden sollte? Unmöglich! Das Ganze war zu absurd! Wer hätte je von einem Mann gehört, der neugeboren wurde?

Doch wenn es möglich war, daß eine Frau zweitausend Jahre lebte, dann war auch dies möglich - dann war alles möglich. Vielleicht war ich selbst die Rein-karnation irgendeines anderen, längstvergessenen Ich oder der letzte einer langen Reihe von Ichs, die meine Vorfahren waren. Topp, vive la guerre! Das Dumme war nur, daß ich mich an diese früheren Existenzen nicht erinnern konnte. Der Gedanke erschien mir so komisch, daß ich laut auflachte und dem Bild eines düster dreinblickenden Kriegers an der Wand zurief: »Wer weiß, alter Bursche? - vielleicht war ich dein Zeitgenosse. Bei Jupiter! vielleicht war ich du, und du bist ich«, und ich lachte wieder laut über meine Verrücktheit, und das Echo hallte unheimlich von der gewölbten Decke zurück, als erwidere der Geist des Kriegers mein Lachen.

Dann fiel mir ein, daß ich noch nicht nach Leo gesehen hatte, und so nahm ich eine der Lampen, die neben meinem Lager brannten, streifte meine Schuhe ab und kroch durch den Gang zum Eingang seiner Kammer. Der Luftzug bewegte leise den Vorhang, als zupften Geisterhände daran. Ich schlüpfte in das gewölbeähnliche Gemach und blickte mich um. Es brannte eine Lampe, und in ihrem Schein sah ich, daß Leo schlafend, doch sich ruhelos in seinem Fieber herumwälzend, auf seinem Bett lag. Neben ihm, halb auf dem Boden liegend, halb an das Bett gelehnt, ruhte Ustane. Sie hielt seine Hand in der ihren und schlummerte ebenfalls, und die beiden boten ein hübsches, sehr rührendes Bild. Armer Leo! Seine Wange war glutrot, unter seinen Augen lagen dunkle Schatten, und er atmete mühsam. Er war sehr, sehr krank; und wieder packte mich die schreckliche Angst, er könnte sterben und mich allein zurücklassen. Doch wenn er am Leben bliebe, würde er womöglich bei Ayesha mein Nebenbuhler werden; selbst wenn er nicht jener Mann war - welche Aussichten hatte ich häßlicher Mann gegen seine strahlende Jugend und Schönheit? Doch dem Himmel sei Dank, meine Redlichkeit war noch nicht erstorben. >Sie< hatte sie noch nicht getötet; und als ich so dastand, betete ich zum Allmächtigen, daß mein Junge, den ich mehr liebte als einen Sohn, am Leben bleiben möge - selbst wenn er dieser Mann sein sollte.

Dann schlich ich ebenso leise, wie ich gekommen war, zurück, doch ich fand immer noch keinen Schlaf, und der Anblick des so elend darniederliegenden Leo hatte meine Unruhe nur noch gesteigert. Mein erschöpfter Körper und mein überreizter Geist spornten meine Phantasie zu unnatürlicher Tätigkeit an. Gedanken, Bilder, ja fast Inspirationen stiegen mit erstaunlicher Lebendigkeit in mir auf. Die meisten waren überaus grotesk, einige unheimlich, und andere lösten Gedanken und Gefühle in mir aus, die jahrelang in den Tiefen der Vergangenheit begraben waren. Doch hinter und über allem schwebte die Gestalt dieses furchtbaren Weibes, glomm die Erinnerung an ihre hinreißende Schönheit. Auf und nieder schritt ich in meiner Kammer - auf und nieder.

Plötzlich bemerkte ich etwas, das mir bis jetzt entgangen war: in der Felswand war eine schmale Öffnung. Ich hob die Lampe auf und untersuchte sie. Die Öffnung führte in einen Gang. Nun war ich immer noch hinreichend bei Vernunft, um mir zu sagen, daß es in einer Situation wie unserer nicht gerade angenehm war, wenn ein Gang, von dem man nicht wußte, woher er kam, in die Kammer führte, in der man schläft. Durch einen solchen Gang können ja, während man schlummert, Leute kommen. Teils, um zu sehen, wohin er führte, teils getrieben von einem unruhigen Verlangen, irgend etwas zu unternehmen, folgte ich dem Gang. Er führte zu einer steinernen Treppe, die ich hinunterstieg; die Treppe endete in einem anderen Gang oder besser Tunnel, der gleichfalls aus dem Fels herausgeschlagen war und nach meiner Schätzung genau unter dem Gang verlief, der zu unseren Kammern und durch die große Haupthöhle führte. Ich schritt durch ihn weiter. Grabesstille herrschte in ihm, und auch meine nur bestrumpften Beine machten auf - dem glatten, festen Felsboden kein Geräusch. Nach etwa fünfzig Metern stieß ich auf einen rechtwinklig verlaufenden Quergang, und an dieser Stelle geschah etwas Schreckliches. Der scharfe Luftzug traf meine Lampe und löschte sie aus, so daß ich an diesem unheimlichen Ort in völliger Finsternis stand.

Ich machte einige weitere Schritte geradeaus, um nicht in den Quergang zu geraten und mich zu verirren, und blieb dann stehen, um nachzudenken. Was sollte ich tun? Ich hatte keine Zündhölzer bei mir, und der Gedanke, mich durch die völlige Finsternis diesen langen Gang zurückzutasten, war mir entsetzlich. Doch konnte ich auch nicht die ganze Nacht hier stehenbleiben, und selbst wenn ich dies tat, würde es mir nicht helfen, denn im Innern des Felsens war es zu Mittag sicherlich ebenso finster wie um Mitternacht. Ich blickte über meine Schulter zurück - kein Lichtschein, kein Laut. Ich starrte nach vorn ins Dunkel - und wirklich, in weiter Ferne sah ich etwas wie einen schwachen Feuerschein. Vielleicht war es eine Höhle, wo ich meine Lampe wieder anzünden konnte - jedenfalls schien es lohnenswert, nachzusehen. Langsam und vorsichtig kroch ich durch den Tunnel, mich mit der Hand die Wand entlangtastend und bei jedem Schritt den Boden mit dem Fuß untersuchend, bevor ich ihn niedersetzte, um nicht in einen Abgrund zu stürzen. Nach dreißig Schritten sah ich tatsächlich ein Licht, ein helles Licht, das auf und nieder flackernd durch einen Vorhang schimmerte! Fünfzig Schritte, und es war ganz nahe! Sechzig - o großer Himmel!

Ich stand vor den Vorhängen, und da sie nicht ganz geschlossen waren, konnte ich deutlich die kleine Höhle dahinter sehen. Sie sah aus wie eine Grabkammer und war erhellt von einem Feuer, das rauchlos und mit weißlicher Flamme in ihrer Mitte brannte. Ja, dort zur Linken war eine steinerne Bahre mit einem etwa drei Zoll hohen Rand, und darauf schien ein Leichnam zu liegen, bedeckt mit einem weißen Tuch. Rechts befand sich eine ähnliche Bahre, auf der einige bestickte Decken lagen. Über das Feuer beugte sich die Gestalt einer Frau; sie wandte mir die Seite und das Gesicht dem Leichnam zu und war in einen schwarzen Mantel gehüllt wie eine Nonne. Sie schien in die flackernde Flamme zu starren. Plötzlich, während ich noch nachdachte, was ich tun sollte, richtete die Frau, wie von einer ungeheuren Energie getrieben, sich auf und warf den schwarzen Mantel ab.

Es war Ayesha!

Sie trug wie vorhin, als sie sich entschleiert hatte, das makellos weiße, über ihrem Busen weit ausgeschnittene Gewand, um die Taille zusammengehalten von der barbarischen doppelköpfigen Schlange, und ihr gewelltes schwarzes Haar fiel auch jetzt lose über ihren Rücken. Was meinen Blick anzog und mich bannte, doch diesmal nicht durch die Macht seiner Schönheit, sondern durch die Furchtbarkeit seines Ausdrucks, war ihr Gesicht. Es war schön wie je, doch in den bebenden Zügen, in den nach oben verdrehten Augen lag eine Qual, eine blinde Leidenschaft und eine grauenvolle Rachsucht, die ich nicht zu schildern vermag.

Während sie einen Augenblick regungslos verharrte, die Hände hoch über den Kopf erhoben, glitt ihr weißes Gewand hinab bis zu dem goldenen Gürtel und enthüllte die blendende Schönheit ihres Leibes. So stand sie mit geballten Fäusten da, und der schreckliche Ausdruck ihres Gesichts nahm immer mehr an Bosheit zu.

Plötzlich fragte ich mich, was wohl geschehen würde, wenn sie mich entdeckte, und bei diesem Gedanken wurde mir ganz übel. Doch ich glaube, selbst wenn ich gewußt hätte, daß es meinen Tod bedeutete, wenn ich stehenblieb, hätte ich mich nicht von der Stelle gerührt - so fasziniert war ich. Dabei war ich mir der Gefahr, in der ich mich befand, durchaus bewußt. Wenn sie mich hörte oder durch die Vorhänge sah, wenn ich nur nieste oder ihre Zauberkraft ihr meine Anwesenheit verriet, so war mein Schicksal besiegelt.

Nun ließ sie die geballten Hände sinken und streckte sie dann wieder hoch über den Kopf, und so wahr ich ein Ehrenmann bin - die weiße Flamme schlug ihnen nach, fast bis zur Decke, und warf einen wilden, unheimlichen Schein auf >Sie<, die weiße Gestalt auf der Bahre und das Felsgestein.

Wieder senkten sich die Elfenbeinarme, und dabei sprach oder besser zischte sie etwas auf arabisch, in einem Ton, der mein Blut erstarren und für einen Augenblick mein Herz stillstehen ließ.

»Fluch über sie, möge ewig sie verflucht sein.«

Die Arme fielen herab, und die Flamme sank. Dann hoben sie sich wieder, und die breite Feuerzunge schoß hoch und dann wieder nieder.

»Fluch ihrem Andenken - Fluch dem Andenken der Ägypterin.«

Arme und Flamme hoben sich und fielen.

»Fluch über sie, die Tochter des Nils, wegen ihrer Schönheit.

Fluch über sie und ihre magische Kraft, die mich besiegt hat.

Fluch über sie, weil sie mir meinen Geliebten entrissen hat.«

Und wieder sank die Flamme in sich zusammen.

Sie schlug die Hände vor die Augen und rief:

»Was nützt das Fluchen? - Sie hat gesiegt und ist entkommen.«

Dann begann sie wieder, in noch zornigerem Ton:

»Fluch über sie, wo sie auch sein mag. Mögen meine Flüche sie erreichen und ihre Ruhe stören.

Fluch über sie durch alle Sternensphären. Verflucht sei ihr Schatten.

Möge meine Macht sie selbst dort finden.

Möge sie selbst dort mich vernehmen. Möge sie sich in der Finsternis verbergen.

Möge sie in den Abgrund der Verzweiflung stürzen, denn eines Tages werde ich sie finden.«

Wieder fiel die Flamme, und wieder schlug sie die Hände vor die Augen.

»Ach, es ist sinnlos, sinnlos«, schluchzte sie. »Wer kann denn jene erreichen, die schlafen? Nicht einmal ich kann es.«

Und dann begann sie wieder mit ihrem schrecklichen Ritus.

»Fluch über sie, wenn sie noch einmal geboren werden sollte. Möge sie verflucht geboren werden.

Möge sie zutiefst verflucht sein von der Stunde ihrer Geburt, bis der Schlaf sie findet.

Ja, verflucht möge sie sein; denn dann wird meine Rache sie erreichen und gänzlich vernichten.«

Und so ging es weiter. Die Flamme stieg und fiel und spiegelte sich in ihren qualvollen Augen; das Zischen ihrer furchtbaren Verwünschungen rollte die Wände entlang und erstarb, immer leiser widerhal-lend, und abwechselnd fielen grelles Licht und tiefer Schatten auf die unheimliche weiße Gestalt, die auf der Bahre lag.

Schließlich jedoch schien sie erschöpft und hielt in-ne. Sie setzte sich auf den steinigen Boden nieder, ließ die Woge ihres schönen Haares über Gesicht und Brust fallen und verfiel in herzzerreißendes, verzweifeltes Schluchzen.

»Zweitausend Jahre«, stöhnte sie, »zweitausend Jahre habe ich gewartet und ausgeharrt; doch obgleich Jahrhundert in Jahrhundert fließt und Zeit um Zeit verstreicht, hat doch der Schmerz der Erinnerung nicht nachgelassen, und das Licht der Hoffnung wird nicht heller. Oh, zweitausend Jahre habe ich gelebt, und stets fraß die Leidenschaft an meinem Herz, stets stand die Sünde vor meinen Augen. Oh, daß das Leben mir nicht Vergessen bringen kann! Oh, über all die trostlosen Jahre, die gewesen sind und noch kommen werden und immer wieder kommen, ewig und ohne Ende!

Mein Geliebter! Mein Geliebter! Mein Geliebter! Warum mußte dieser Fremdling mich an dich erinnern? Fünfhundert Jahre habe ich nicht so gelitten. Oh, wenn ich mich an dir versündigt habe, löschte ich die Sünde denn nicht aus? Wann wirst du zurückkehren zu mir, die alles hat und ohne dich doch nichts hat? Was kann ich tun? Was? Was? Was? Und vielleicht weilt sie, die Ägypterin, bei dir, dort, wo du bist, und spottet meines Andenkens. Oh, warum konnte ich nicht mit dir sterben, ich, die dich tötete? Ach, daß ich nicht sterben kann! Ach! Ach!« Und sie warf sich der Länge nach auf den Boden und schluchzte und weinte, bis ich dachte, das Herz müsse ihr brechen.

Plötzlich verstummte sie, erhob sich, ordnete ihr Gewand und stürzte, ihre langen Locken ungeduldig zurückwerfend, zu der Gestalt, die auf der steinernen Bahre lag.

»O Kallikrates!« rief sie, und ich erbebte bei dem Namen. »Ich muß wieder dein Gesicht schauen, so schmerzvoll es auch für mich sein mag. Ein Menschenalter ist es her, seit ich dich, den ich erschlug, ja, mit meiner Hand erschlug, zuletzt anblickte«, und mit zitternden Fingern ergriff sie den Saum des Tuches, das die Gestalt umhüllte, und hielt dann inne. Als sie wieder sprach, tat sie es in einem furchtsamen Flüstern, als sei selbst ihr der Gedanke allzu schrecklich.

»Soll ich dich erwecken«, sagte sie, offenbar den Toten anredend, »auf daß du wieder vor mir stehst wie einst? Ich kann es tun«, und sie hielt ihre Hände über den umhüllten Leichnam, und eine schrecklich anzusehende Starre befiel ihren ganzen Körper, und ihre Augen wurden trüb und leblos. Ich zuckte entsetzt hinter dem Vorhang zusammen, und die Haare sträubten sich mir auf dem Kopf, und - ich weiß nicht, war es Einbildung oder Wirklichkeit - es schien mir, als erbebe die reglose Gestalt unter dem Tuche, als rege sich dieses wie auf der Brust eines Schlafenden. Plötzlich zog sie die Hände zurück, und mir war, als höre der Leichnam auf, sich zu bewegen.

»Was soll's?« sagte sie düster. »Was nützt es, die irdische Hülle ins Leben zurückzurufen, wenn nicht der Geist wiedererweckt werden kann? Selbst wenn du vor mir stündest, würdest du mich nicht kennen und könntest nur tun, was ich dir befehle. Das Leben in dir wäre mein Leben, und nicht das deine, Kal-likrates.«

Einen Augenblick stand sie sinnend da, dann sank sie neben der Gestalt auf die Knie, drückte ihre Lippen auf das Tuch und weinte. Es war so schrecklich anzusehen, wie diese furchteinflößende Frau sich ihrer Leidenschaft zu dem Toten hingab - so viel schrecklicher als alles, was bisher geschehen war -, daß ich es nicht länger ertrug. Ich wandte mich ab und kroch, an allen Gliedern zitternd, durch den pechschwarzen Gang zurück, wobei ich tief in meinem bebenden Herzen ahnte, daß ich eine Seele in der Hölle geschaut hatte.

Vorwärts stolperte ich, ich weiß kaum, wie. Zweimal stürzte ich, und einmal bog ich in den Quertunnel ein, entdeckte jedoch zum Glück meinen Irrtum noch rechtzeitig. Zwanzig Minuten oder länger kroch ich dahin, bis mir schließlich bewußt wurde, daß ich an der kleinen Treppe, die ich hinabgestiegen war, schon vorbei sein mußte. Zutiefst erschöpft und zu Tode geängstigt, sank ich auf den Steinboden nieder und verlor das Bewußtsein.

Als ich wieder zu mir kam, bemerkte ich in dem Gang gleich hinter mir einen schwachen Lichtschimmer. Ich kroch auf ihn zu und stellte fest, daß es die kleine Treppe war, über die sich die Dämmerung stahl. Ich stieg hinauf und erreichte sicher meine Kammer, wo ich mich auf mein Lager warf und bald in Schlummer oder eher tiefe Betäubung sank.

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