12 >Sie<

Nachdem wir Leo versorgt hatten, war es Jobs und meine erste Sorge, uns zu waschen und unsere Kleider zu wechseln, denn seit dem Untergang der Dhau hatten wir keine Gelegenheit gehabt, uns umzuziehen. Zum Glück war, wie ich wohl erwähnte, der größte Teile unserer persönlichen Sachen in dem Walboot verstaut und deshalb gerettet und von den Trägern hierhergebracht worden, während sämtliche als Tauschobjekte und Geschenke für die Eingeborenen vorgesehenen Dinge verlorengegangen waren. Fast unsere ganze Kleidung bestand aus sehr festem grauen Flanell, der sich für Reisen in jenen Gegenden ausgezeichnet eignete. Obwohl nämlich Jackett, Hemd und Hose aus diesem Stoff nur etwa vier Pfund wogen - in tropischen Ländern, wo man jede zusätzliche Unze spürt, ein sehr wesentlicher Umstand -, schützte er sehr gut vor den Sonnenstrahlen, doch auch vor der Kälte, die bei plötzlichen Temperaturwechseln eintreten kann.

Nie werde ich das angenehme Gefühl vergessen, das mich erfüllte, nachdem ich mich gewaschen und die reinen Flanellkleider angezogen hatte. Das einzige, was zu meiner vollen Zufriedenheit fehlte, war ein Stück Seife, das wir leider nicht besaßen.

Später fand ich heraus, daß die Amahagger, zu deren vielen unsympathischen Eigenschaften wenigstens nicht Unreinlichkeit gehört, zum Waschen eine Art gebrannter Erde benützten, die anfangs zwar ziemlich unangenehm für die Haut ist, doch einen recht guten Seifenersatz darstellt.

Als ich mich angekleidet und meinen schwarzen Bart gekämmt und gestutzt hatte, dessen ungepflegter Zustand Billali nicht ganz zu Unrecht veranlaßt hatte, mich >Pavian< zu nennen, verspürte ich einen wahren Heißhunger. Ich war deshalb nicht böse, als ohne jedes vorherige Geräusch der Vorhang vor dem Eingang meiner Kammer zurückgeschlagen wurde und lautlos ein junges Mädchen eintrat, das mir durch eine nicht mißzuverstehende Gebärde - sie öffnete den Mund und deutete mit dem Finger darauf -, kundtat, daß etwas zum Essen bereit sei. Ich folgte ihr in die nächste Kammer, die ich noch nicht betreten hatte, und fand dort Job vor, welcher ebenfalls - zu seiner großen Verlegenheit - von einer schönen Stummen dorthin geführt worden war. Job hatte die Gunstbeweise der anderen Amahaggerdame nicht vergessen und verdächtigte nun jedes Mädchen, das ihm nahe kam, ähnlicher Absichten.

»Einfach unverschämt, wie diese Weiber einen anglotzen«, sagte er zu seiner Entschuldigung.

Diese Kammer war etwa zweimal so groß wie unsere Schlafräume, und ich erkannte auf den ersten Blick, daß sie früher einmal als Speisezimmer und vermutlich auch als Einbalsamierungsraum für die Totenpriester gedient hatte. Ich möchte gleich hier erwähnen, daß diese in den Fels geschlagenen Höhlen nichts anderes als riesige Katakomben darstellten, in denen man viele Jahrhunderte lang die sterblichen Überreste der Angehörigen jenes großen ausgestorbenen Volkes, dessen Denkmäler uns umgaben, mit unvorstellbarer Kunstfertigkeit konserviert und sodann für alle Zeiten beigesetzt hatte. Auf jeder Seite dieser Felsenkammer stand ein langer, etwa drei Fuß breiter und sechs Fuß hoher Tisch, der aus dem Fels herausgemeißelt und am Boden noch mit ihm verbunden war. Diese Tische waren leicht ausgehöhlt oder nach innen gebogen und boten so Platz für die Knie der Personen, welche auf zwei Fuß davon entfernten, sich die Höhlenwand entlangziehenden Bank saßen. Außerdem befand sich über jedem Tisch ein Schacht, durch den Licht und Luft eindrangen. Als ich die Tische näher untersuchte, bemerkte ich jedoch einen Unterschied zwischen ihnen, der mir zuerst entgangen war: der links vom Eingang stehende hatte offenbar nicht zum Essen, sondern zum Einbalsamieren gedient. Man sah dies ganz deutlich an den fünf flachen Vertiefungen in seiner Oberfläche, die wie menschliche Körper geformt waren, sowie an den kleinen runden Vertiefungen jeweils an ihrem einen Ende, die zweifellos für den Kopf bestimmt gewesen waren. Die Vertiefungen waren von verschiedener Größe, von der eines Erwachsenen bis zu der eines Kindes, und sie hatten in Abständen kleine Löcher, durch welche Flüssigkeiten ablaufen konnten. Zur Bestätigung meiner Vermutung genügte übrigens ein Blick auf die Wand der Höhle. Sie war mit überaus gut erhaltenen Skulpturen bedeckt, die den Tod, die Einbalsamierung und die Bestattung eines alten langbärtigen Mannes darstellten, wahrscheinlich eines einstigen Königs oder anderen Großen dieses Landes.

Das erste Bild zeigte den Sterbenden. Er ruhte auf einem Lager, dessen vier kurze, geschwungene, in einen Knauf auslaufende Füße Musiknoten ähnelten, und hauchte offenbar soeben seinen Geist aus. Um das Lager waren weinende Frauen und Kinder versammelt; ersteren fiel das Haar lose auf den Rücken. Auf dem nächsten Bild war die Einbalsamierung des Toten dargestellt, der nackt auf einem Tisch lag, welcher die gleichen Vertiefungen hatte wie jener vor uns; vielleicht war es sogar die Abbildung dieses Tisches. Drei Männer waren an der Arbeit - einer beaufsichtigte die Prozedur, ein zweiter hielt eine Art Trichter in der Hand, dessen Spitze in einem Einschnitt in der Brust - wahrscheinlich in der großen Brustschlagader - steckte, und der dritte, welcher mit gespreizten Beinen über der Leiche stand, goß aus einem großen Krug eine dampfende Flüssigkeit in den Trichter. Das Seltsamste an dieser Skulptur war, daß der Mann mit dem Trichter und der Mann mit dem Krug sich die Nasen zuhielten - vermutlich, um nicht den von der Leiche ausströmenden Gestank oder die aromatischen Dämpfe der heißen Flüssigkeit, die sie in die Adern des Toten füllten, einzuatmen. Ein weiterer Umstand, für den ich keine Erklärung weiß, war, daß alle drei Männer ihr Gesicht mit einem Leinentuch verhüllt hatten, in dem sich Öffnungen für die Augen befanden.

Die dritte Skulptur zeigte die Bestattung. Der Tote lag steif und kalt, in ein leinenes Gewand gekleidet, auf einer Steinplatte, die jener ähnelte, auf der ich während unseres ersten Aufenthalts geschlafen hatte.

Zu seinem Haupt und seinen Füßen brannten Lampen, und neben ihm standen mehrere der von mir bereits erwähnten schön bemalten Krüge, die vielleicht Speisen und Getränke enthielten. In der kleinen Kammer drängten sich Leidtragende und Musiker, die auf einem lyraartigen Instrument spiel-ten, und zu Füßen des Toten stand ein Mann, der sich soeben anschickte, ein Tuch über die Leiche zu breiten.

Diese Skulpturen waren, allein als Kunstwerk betrachtet, so bemerkenswert, daß ich eine derart ausführliche Beschreibung durchaus berechtigt finde. Doch davon abgesehen erschienen sie mir auch deshalb überaus interessant, weil sie anscheinend mit größter Genauigkeit die Totengebräuche eines gänzlich verschollenen Volkes darstellten, und ich konnte selbst in diesem Augenblick nicht umhin, daran zu denken, wie neidisch einige mir befreundete Altertumsforscher in Cambridge auf mich sein würden, wenn es mir beschieden sein sollte, ihnen von diesen wunderbaren Funden zu berichten.

Doch zurück zu unserer Geschichte. Nachdem ich diese Skulpturen, die übrigens, wie ich wohl noch nicht erwähnt habe, in Relief ausgeführt waren, eilends betrachtet hatte, setzten wir uns zu einem ausgezeichneten, aus gekochtem Ziegenfleisch, frischer Milch und Mehlkuchen bestehenden Mahl nieder, welches uns auf sauberen Holztellern serviert wurde.

Nachdem wir gegessen hatten, begaben wir uns zu Leo, um nach seinem Befinden zu sehen, während Billali sagte, er müsse jetzt der Herrscherin >Sie< seine Aufwartung machen und ihre Befehle entgegennehmen. Leo ging es sehr schlecht. Er war aus seiner Betäubung erwacht, phantasierte von einem Bootsrennen auf dem Cam und schlug wild um sich. Als wir in seine Kammer traten, beugte sich Ustane eben über ihn, um ihn festzuhalten. Ich sprach auf ihn ein, und meine Stimme schien ihn zu besänftigen; jedenfalls wurde er ruhiger und ließ sich dazu überreden, eine Dosis Chinin zu nehmen.

Ich mag etwa eine Stunde bei ihm gesessen haben -es wurde inzwischen so dunkel, daß ich auf dem aus einem Sack und einer Decke improvisierten Kissen kaum noch seinen Kopf und seine goldenen Locken erkennen konnte -, als plötzlich mit feierlicher Miene Billali eintrat und mir mitteilte, daß >Sie< den Wunsch auszusprechen geruht habe, mich kennenzulernen -eine Ehre, die, so fügte er hinzu, nur wenigen zuteil werde.

Er schien ziemlich bestürzt über die Gelassenheit, mit der ich diese Ehre hinnahm, doch ich fand es nicht im mindesten verlockend, Bekanntschaft mit einer wilden, dunkelhäutigen Königin zu schließen, so mächtig und geheimnisvoll sie auch sein mochte, zumal ich mir große Sorgen um den lieben Leo machte. Als ich trotzdem aufstand, um ihm zu folgen, fiel mein Blick auf etwas Glänzendes, das am Boden lag, und ich hob es auf. Der Leser wird sich vielleicht entsinnen, daß in dem Kästchen außer der Tonscherbe auch ein Skarabäus lag, der mit sonderbaren Hieroglyphen bedeckt war, und daß diese Zeichen >Suten se Ra< oder >Königlicher Sohn der Sonne< bedeuteten.

Diesen Skarabäus, der sehr klein war, hatte sich Leo in London in einen goldenen Siegelring fassen lassen; und dieser Ring war es, den ich jetzt vom Boden aufhob. Leo hatte ihn sich vermutlich in einem Fieberanfall vom Finger gerissen und fortgeworfen. Damit er nicht verlorenging, steckte ich ihn an meinen kleinen Finger und folgte dann Billali, während Job und Ustane bei Leo blieben.

Wir gingen durch den Gang, durchquerten die große Vorhalle und schritten auf den entsprechenden Gang auf der anderen Seite zu, vor dem die Wächter wie zwei Statuen standen. Als wir uns näherten, neigten sie grüßend den Kopf und hoben dann ihre langen Speere und legten sie quer über die Stirn wie die Anführer der Soldaten, die uns abgeholt hatten, ihre Elfenbeinstäbe. Wir gingen zwischen ihnen hindurch und traten in einen Gang, welcher genau jenem glich, der zu unseren Kammern führte, nur daß dieser hell beleuchtet war. Nach wenigen Schritten traten uns vier Stumme - zwei Männer und zwei Frauen -entgegen, die sich tief verneigten und uns dann begleiteten, die Frauen vor uns und die Männer hinter uns gehend. So gingen wir an mehreren mit Vorhängen verhängten Türen vorbei, hinter denen, wie ich später herausfand, die Kammern lagen, in denen die stummen Diener der Herrscherin >Sie< wohnten. Nach einigen weiteren Schritten stießen wir wiederum auf eine Türöffnung, welche das Ende des Ganges zu bilden schien. Auch hier standen zwei weiß oder eher gelb gekleidete Wächter, die sich ebenfalls tief verneigten, salutierten und uns durch schwere Vorhänge in einen großen Vorraum treten ließen, der etwa vierzig Fuß im Quadrat messen mochte. Darin saßen auf Kissen acht oder zehn Frauen, die meisten jung und hübsch und blondhaarig, und arbeiteten mit elfenbeinernen Nadeln an Gestellen, die wie Stickrahmen aussahen. Auch sie waren taubstumm. Auf der anderen Seite dieses großen, mit Lampen erhellten Raumes befand sich eine zweite Türöffnung, die mit schweren, orientalisch aussehenden Vorhängen verhängt war, die jenen vor den Türen unserer Kammer nicht im mindesten glichen. Davor standen, den Kopf tief geneigt und die Hände in tiefster Demut gekreuzt, zwei besonders hübsche stumme Mädchen. Als wir uns näherten, streckten beide einen Arm aus und schlugen die Vorhänge zurück. Daraufhin tat Billali etwas Sonderbares. Der ehrwürdige alte Herr warf sich auf Hände und Knie nieder und kroch in dieser unwürdigen Haltung, seinen langen weißen Bart über den Boden schleifend, in das dahinterliegende Gemach. Als ich ihm aufrecht folgte, blickte er sich um und rief:

»Nieder, mein Sohn; nieder, mein Pavian; nieder auf Hände und Knie. Wir nähern uns der Herrscherin >Sie<, und wenn du keine Demut zeigst, wird sie dich ohne Zögern niederschlagen.«

Erschrocken blieb ich stehen und wollte schon unwillkürlich die Knie beugen. Doch dann besann ich mich rechtzeitig. Ich war ein Engländer; warum, so fragte ich mich, sollte ich mich kriechend so einem wilden Weibe nähern, als wäre ich nicht nur dem Namen nach, sondern wirklich ein Affe? Ich konnte und durfte dies nicht tun, zumindest so lange nicht, bis ich völlig überzeugt war, daß mein Leben oder mein Wohlergehen davon abhing. Erniedrigte ich mich einmal dazu, auf den Knien zu kriechen, so würde ich es immer tun müssen, und dies wäre ein deutliches Eingeständnis meiner Unterlegenheit gewesen. Deshalb folgte ich Billali kühn in aufrechter Haltung und fand mich gleich darauf in einem anderen Gemach, das wesentlich kleiner als der Vorraum war. Seine Wände waren mit prächtigen Vorhängen bedeckt, wie ich später erfuhr, dem Werk der stummen Mädchen, die sie im Vorraum zu Streifen knüpften, welche später zusammengenäht wurden. Da und dort standen in dem Gemach Ruhebänke aus schönem schwarzen Ebenholz mit eingelegten Elfenbeinverzierungen, und den Boden bedeckten Teppiche. Am Ende dieses Gemaches befand sich eine Art Alkoven, ebenfalls verhängt mit Vorhängen, durch welche ein Lichtschimmer drang. Außer uns befand sich niemand in dem Gemach.

Langsam und schwerfällig kroch der alte Billali durch den ganzen Raum, und ich folgte ihm so würdevoll wie möglich. Dabei war mir jedoch bewußt, daß ich keine sehr glänzende Figur machte. Es ist, wie man verstehen wird, nicht ganz einfach, würdevoll zu wirken, wenn man hinter einem alten Mann hergeht, der wie eine Schlange auf dem Bauch kriecht; und noch dazu mußte ich, um mich langsam genug zu bewegen, mein Bein bei jedem Schritt einige Sekunden in der Luft halten oder nach jedem Schritt eine Pause machen. Billali fiel das Kriechen, wohl infolge seines Alters, ziemlich schwer, und so kamen wir nur sehr langsam voran. Ich hielt mich dicht hinter ihm, und einige Male geriet ich ernstlich in Versuchung, ihm mit einem tüchtigen Fußtritt weiterzuhelfen. Es war gar zu absurd, sich einer Kannibalenkönigin wie ein Bauer zu nähern, der ein Schwein zu Markte treibt, und ich mußte bei diesem Gedanken beinahe laut auflachen. Es gelang mir, diese gefährliche Neigung zu unziemlicher Heiterkeit zu unterdrücken, indem ich mir die Nase schneuzte, was Billali zutiefst entsetzte. Er drehte sich um, starrte mich fassungslos an und murmelte: »Oh, mein armer Pavian!«

Endlich erreichten wir die Vorhänge. Billali warf sich davor der Länge nach auf den Boden und streckte die Hände vor sich aus, als ob er tot sei, wäh-rend ich betreten um mich blickte. Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß mich jemand hinter den Vorhängen anschaute. Ich sah niemanden, spürte aber ganz deutlich einen Blick auf mir ruhen, der eine ganz sonderbare Wirkung auf meine Nerven ausübte. Ohne daß ich wußte, warum, stieg Angst in mir auf. Es war freilich ein seltsamer Raum, der trotz der prächtigen Vorhänge und des sanften Lampenlichts merkwürdig leer und verlassen wirkte. Tiefe Stille herrschte, und Billali lag wie tot vor den schweren Vorhängen, durch die der Duft eines Parfüms zu der dunklen gewölbten Decke emporzuschweben schien. Minute um Minute verging, und immer noch gab es kein Lebenszeichen, rührte sich der Vorhang nicht; doch ich spürte, wie dieser Blick immer tiefer in mich eindrang und mich mit namenlosem Entsetzen erfüllte, bis mir Schweißperlen auf der Stirn standen.

Endlich bewegte sich der Vorhang. Wer mochte hinter ihm verborgen sein - eine nackte Kannibalenkönigin, eine schmachtende orientalische Schönheit oder eine junge Dame aus dem neunzehnten Jahrhundert, die ihren Nachmittagstee trank? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung und würde mich über nichts gewundert haben. Mich konnte nichts mehr so leicht in Staunen versetzen. Der Vorhang also bewegte sich ein wenig, und plötzlich erschien zwischen seinen Falten eine wunderschöne Hand, weiß wie Schnee, mit langen schlanken Fingern und rosenroten Nägeln. Die Hand ergriff den Vorhang und schob ihn zur Seite, und zugleich vernahm ich eine Stimme, die silberhellste und doch sanfteste Stimme, die ich je gehört. Sie erinnerte mich an das Murmeln eines Baches.

»Fremdling«, sagte die Stimme auf arabisch - doch es war ein viel reineres Arabisch, als es die Amahagger sprachen -, »Fremdling, warum fürchtest du dich so sehr?«

Da ich mir einbildete, trotz meines inneren Entsetzens meine Fassung recht gut bewahrt zu haben, setzte mich diese Frage ein wenig in Erstaunen. Bevor mir jedoch eine Antwort einfiel, wurde der Vorhang ganz zurückgeschlagen, und eine schlanke Gestalt stand vor uns. Ich sage Gestalt, denn nicht nur der Körper, sondern auch das Gesicht war in einen weichen weißen schleierartigen Stoff gehüllt, so daß ich im ersten Augenblick eine Leiche im Grabgewand zu sehen glaubte.

Dennoch weiß ich nicht, wie ich auf diesen Gedanken kam, denn das Gewand war so dünn, daß darunter deutlich der Schimmer rosigen Fleisches sichtbar war - vermutlich war die Art, wie das Tuch drapiert war, schuld daran. Jedenfalls erschrak ich zutiefst vor dieser geisterhaften Erscheinung, und das Haar auf meinem Kopf sträubte sich, während mich ein Gefühl beschlich, als stünde ich einem Spukbild gegenüber. Dabei konnte ich genau erkennen, daß die eingehüllte, mumienhafte Gestalt vor mir die einer schlanken, lieblichen Frau von vollkommener Schönheit und einer merkwürdigen, schlangenhaften Anmut war, wie ich sie noch nie gesehen hatte.

»Warum fürchtest du dich so sehr, Fremdling?« fragte die süße Stimme noch einmal - eine Stimme, die mir wie wohlklingende Musik tief zu Herzen ging. »Ist etwas an mir, das einem Manne Angst macht? Dann müssen die Männer sich sehr verändert haben!«

Und mit einer kleinen koketten Bewegung wandte sie sich ein wenig zur Seite, hob ihren Arm und zeigte mir ihre ganze Lieblichkeit und ihr volles rabenschwarzes Haar, das in sanften Wellen über ihr weißes Gewand fast bis zu ihren mit Sandalen bedeckten Füßen hinabwallte.

»Deine Schönheit ist es, die mir Angst macht, o Königin«, erwiderte ich demütig, ohne mir meiner Worte recht bewußt zu sein, und mir war, als hörte ich den alten Billali, der immer noch lang ausgestreckt auf dem Boden lag, leise murmeln: »Gut, mein Pavian, gut gesagt!«

»Wie ich sehe, versteht ihr Männer es immer noch, uns Frauen durch Schmeicheleien zu betören. Nein, Fremdling«, erwiderte sie mit einem Lachen, das wie fernes Läuten silberner Glocken klang, »du fürchtest dich, weil mein Blick in dein Herz drang - deshalb fürchtest du dich. Doch da ich eine Frau bin, verzeihe ich dir, denn du hast nur aus Höflichkeit gelogen. Aber jetzt sage mir: Wie kamst du hierher ins Land der Höhlenbewohner - ins Land der Sümpfe und der bösen Mächte und der Schatten der Toten? Was sucht ihr hier? Warum ist euch euer Leben so wenig wert, daß ihr es in die Hand Hiyas, in die Hand der Herrscherin >Sie< legt? Erzähle mir, woher du meine Sprache kennst? Es ist eine uralte Sprache, ein anmutiges Kind des Syrischen. Ist sie noch am Leben in der Welt? Wie du siehst, wohne ich inmitten von Höhlen und Toten und weiß nichts von den Angelegenheiten der Menschen - will auch gar nichts davon wissen. Ich lebe nur meinen Erinnerungen, o Fremdling, und meine Erinnerungen liegen in einem Grab, das ich selbst mit meinen Händen geschaufelt habe, denn wahrlich: das Menschenkind schafft sich selbst sein Geschick«, und ihre schöne Stimme zitterte und brach ab mit einem Laut, der wie Vogelzwitschern klang. Ihr Blick fiel plötzlich auf die lang hingestreckte Gestalt Billalis, und sie schien sich zu besinnen.

»Ah, du bist ja auch da, Alter. Sag mir, warum kannst du in deinem Haushalt nicht Ordnung halten? Mir scheint, diese meine Gäste sind überfallen worden. Ja, und einer von ihnen wäre beinahe mit dem heißen Topf getötet und von diesen Ungeheuern, deinen Kindern, gegessen worden, und hätten die anderen nicht tapfer gekämpft, so wären auch sie erschlagen worden, und nicht einmal ich hätte ihnen das aus dem Körper entwichene Leben zurückgeben können. Was soll das heißen, Alter? Was hast du mir zu sagen, damit ich dich nicht jenen übergebe, die meine Rache vollziehen?«

Sie hatte voll Zorn ihre Stimme erhoben, und sie hallte klar und kalt von den Felswänden wider. Auch war es mir, als sähe ich durch den verhüllenden Schleier ihre Augen aufblitzen, und ich bemerkte, wie der arme Billali, den ich für einen überaus furchtlosen Mann gehalten hatte, vor Angst erzitterte.

»O Hiya! O Sie!« sagte er, ohne seinen weißen Kopf vom Boden zu erheben. »O Sie, sei so gnädig wie du groß bist, denn ich bin wie immer dein gehorsamer Diener. Es war nicht meine Absicht oder Schuld, o Sie - schuld sind jene Bösen, die sich meine Kinder nennen. Von einem Weibe aufgehetzt, welches dein Gast, das Schwein, abgewiesen hatte, wollten sie gemäß der alten Sitte unseres Landes den fetten schwarzen Fremdling verzehren, der mit deinen anderen Gästen, dem Pavian und dem kranken Löwen, hierherkam, denn hinsichtlich des Schwarzen hattest du keinen Befehl erteilt. Doch als der Pavian und der Löwe ihr Vorhaben erkannten, töteten sie das Weib und ihren Diener, um ihn vor den Schrecken des Topfes zu retten. Da befiel diese Bösen, diese Kinder des Bösen, der in dem Abgrund haust, ein Blutrausch, und sie stürzten sich auf den Löwen, den Pavian und das Schwein. Doch diese setzten sich tapfer zur Wehr. O Hiya! Sie kämpften wie wahre Männer und töteten viele und wichen nicht zurück, und dann kam ich und rettete sie und schickte die Übeltäter hierher nach Kor, auf daß du, o Sie, in deiner Größe sie richten mögest.«

»Ich weiß, Alter, und morgen werde ich in der großen Halle zu Gericht über sie sitzen - sei unbesorgt. Was dich betrifft, so will ich dir, wenngleich schweren Herzens, verzeihen. Sieh zu, daß du deinen Haushalt besser in Ordnung hältst. Nun geh.«

Billali erhob sich mit erstaunlicher Behendigkeit auf seine Knie, verneigte sich dreimal und kroch, seinen weißen Bart über den Boden schleifend, durch das Gemach zurück, bis er schließlich zwischen den Vorhängen verschwand und mich zu meiner nicht geringen Bestürzung mit diesem unheimlichen und doch höchst faszinierenden Weib zurückließ.

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