16 Die Gräber von Kor

Nachdem man die Gefangenen fortgebracht hatte, winkte Ayesha mit der Hand, und die Zuschauer machten kehrt und krochen wie eine Herde Schafe durch die Höhle davon. Sobald sie sich jedoch ein gehöriges Stück von der Plattform entfernt hatten, erhoben sie sich und eilten hinaus, so daß, abgesehen von den Stummen und einigen Wächtern, nur die Königin und ich zurückblieben. Ich hielt dies für eine gute Gelegenheit, ihr von Leos schlechtem Befinden zu erzählen und sie zu bitten, sich seiner anzunehmen, doch sie lehnte ab und sagte, er werde bestimmt nicht vor der Nacht sterben, denn an diesem Fieber stürbe man stets nur bei Einbruch der Nacht oder am frühen Morgen. Auch meinte sie, es sei besser, der Krankheit so weit als möglich ihren Lauf zu lassen, bevor sie ihn heilte. Als ich mich daraufhin zurückziehen wollte, gebot sie mir, ihr zu folgen; sie wolle mit mir reden und mir die Wunder der Höhlen zeigen.

Ich war bereits viel zu sehr in ihren verhängnisvollen Bann verstrickt, um abzulehnen, selbst wenn ich es gewollt hätte, was indes nicht der Fall war. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und stieg, den Stummen einige Zeichen gebend, von der Plattform. Vier der Mädchen ergriffen Lampen und stellten sich - je zwei - vor und hinter uns, während die anderen sowie die Wächter sich entfernten.

»Nun«, fragte sie, »möchtest du jetzt einige der Wunder dieses Ortes sehen, o Holly? Sieh dir diese große Höhle an. Hast du dergleichen je erblickt? Sie wurde, wie viele andere, von dem ausgestorbenen Geschlecht, das einst hier in der Stadt auf der Ebene lebte, mit den Händen aus dem Fels herausgeschlagen.

Sie müssen ein großes und wundervolles Volk gewesen sein, diese Korer, doch wie die Ägypter dachten sie mehr an die Toten als an die Lebenden. Wie viele Männer, glaubst du, und wie viele Jahre waren notwendig, um diese Höhlen und all die Gänge zwischen ihnen zu schaffen?«

»Zehntausende«, erwiderte ich.

»So ist es, o Holly. Dieses Volk war bereits ein altes Volk, bevor die Ägypter waren. Ein wenig kann ich seine Inschriften lesen, denn ich fand den Schlüssel dazu - siehst du, dies war eine der letzten Höhlen, die sie gruben«, und sie wies, den stummen Mädchen bedeutend, ihre Lampen hochzuheben, auf die Felswand hinter sich. Hinter der Plattform befand sich das gemeißelte Bild eines alten Mannes, der in einem Stuhl saß und einen elfenbeinernen Stab in der Hand hielt. Mir fiel sogleich auf, daß seine Züge erstaunlich jenen des Mannes glichen, welcher auf den Bildern in der Kammer, in der wir unsere Mahlzeiten einnahmen, einbalsamiert wurde. Unter dem Stuhl, der übrigens genauso geformt war wie der, in dem Ayesha zu Gericht gesessen hatte, befand sich eine kurze Inschrift in den bereits erwähnten merkwürdigen Buchstaben, die eine starke Ähnlichkeit mit chinesischen Schriftzeichen hatten. Langsam und stockend las Ayesha mir diese Inschrift vor und übersetzte sie sodann. Sie lautete wie folgt:

»Im Jahre viertausendzweihundertneunundfünfzig nach Gründung der Hauptstadt des kaiserlichen Kor wurde diese Höhle (oder Begräbnisstätte) von Tisno, dem König von Kor, vollendet, nachdem das Volk und seine Sklaven drei Menschenalter gearbeitet hatten, ein Grab für seine Bürger von Rang zu schaffen, die später kommen werden. Möge der Segen des Himmels über den Himmeln auf ihrem Werke ruhen und den Schlaf Tisnos, des mächtigen Herrschers, dessen Bildnis hier verewigt ist, zu einem gesunden und glücklichen Schlaf machen bis zum Tage des Erwachens[13], und ebenso den Schlaf seiner Diener und seiner Nachkommen, die dereinst ihre Häupter ebenso tief in den Staub legen werden.«

»Wie du siehst, o Holly«, sagte sie, »gründete dieses Volk die Stadt, deren Ruinen heute die Ebene bedecken, viertausend Jahre vor Fertigstellung dieser Höhle. Und dennoch war vor zweitausend Jahren, als ich sie zum erstenmal erblickte, alles schon so wie jetzt. Wie alt muß diese Stadt demnach sein! Nun folge mir, und ich will dir zeigen, wie dieses Volk untergegangen ist, als die Zeit für seinen Untergang kam«, und sie führte mich zur Mitte der Höhle und blieb vor einem runden Felsblock stehen, der in ein großes Loch im Boden eingelassen war. »Rate, was das ist«, sagte sie.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich, worauf sie zur linken Seite der Höhle ging und den stummen Mädchen befahl, ihre Lampen hochzuhalten. An der Wand befand sich eine Inschrift in roter Farbe, deren Buchstaben jenen unter dem Bildnis Tisnos, des Königs von Kor, glichen. Sie lautete:

»Ich, Junis, ein Priester des Großen Tempels von Kor, schreibe dies auf den Fels der Begräbnisstätte im Jahre viertausendhundertunddrei nach der Gründung von Kor. Kor ist gefallen! Nie mehr werden die Mächtigen in seinen Hallen Feste feiern, nie mehr wird es die Welt regieren, nie mehr werden seine Schiffe die Meere befahren und mit der Welt Handel treiben. Kor ist gefallen! All seine mächtigen Werke und all die Städte und Häfen und Kanäle, die es baute, sind für den Wolf und die Eule und den wilden Schwan und die Barbaren, die nach ihm kommen. Vor fünfundzwanzig Monden senkte sich eine Wolke auf Kor und die hundert Städte von Kor nieder, und aus der Wolke kam eine Pest und raffte das Volk hinweg, Alte wie Junge, einen um den anderen, und schonte keinen. Einer wie der andere wurde schwarz und starb - die Jungen und die Alten, die Reichen wie die Armen, Männer wie Weiber, Prinzen wie Sklaven. Die Pest wütete bei Tag und Nacht, und wer ihr entkam, erlag dem Hunger. Der Toten waren so viele, daß ihre Körper nicht mehr nach altem Brauch erhalten werden konnten, und so warf man sie durch das Loch im Boden dieser Höhle hinunter in den tiefen Abgrund. Dann endlich konnte sich ein Rest dieses großen Volkes, dieses Lichtes der ganzen Welt, an die Küste retten, ein Schiff besteigen und nach Norden segeln, und nun bin ich, der Priester Junis, der dieses schreibt, der letzte, der von dieser großen Stadt noch lebt, und ich weiß nicht, ob auch in den anderen großen Städten noch Menschen am Leben sind. Ich schreibe dies in tiefem Kummer, ehe auch ich sterbe.

Das kaiserliche Kor ist nicht mehr, und niemand ist mehr, der in seinen Tempeln betet, all seine Paläste stehen leer, und all seine Fürsten und Krieger und Händler und schönen Frauen sind vom Antlitz der Erde verschwunden.«

Ich stieß einen Seufzer des Erstaunens aus - die in diesen unbeholfenen Worten ausgedrückte Verzweiflung war überwältigend, der Gedanke an diesen Mann, der als einziger von einem mächtigen Volke übriggeblieben war und dessen Schicksal aufgezeichnet hatte, entsetzlich. Was muß der alte Mann empfunden haben, als er in grauenhafter Einsamkeit beim schwachen Schein einer Lampe in wenigen kurzen Zeilen die Geschichte des Untergangs seines Volkes an die Wand der Höhle schrieb? Was für ein Thema für einen Moralisten, für einen Maler, ja für jeden, der denken kann!

»Kommt dir nicht der Gedanke, o Holly«, sagte Ayesha, ihre Hand auf meine Schulter legend, »daß diese Männer, die nordwärts segelten, die Väter der ersten Ägypter gewesen sein könnten?«

»Wer kann das wissen«, sagte ich; »es scheint, die Welt ist sehr alt.«

»Ja, alt ist sie in der Tat. Seit Urzeiten sind Völker, reiche und starke Völker, in allen Künsten bewandert, immer wieder untergegangen und vergessen worden, so daß kein Andenken an sie blieb. Dies war nur eins von vielen; denn die Zeit verzehrt des Menschen Werke, es sei denn, er gräbt Höhlen, wie das Volk von Kor, und selbst diese kann das Meer verschlingen oder ein Erdbeben verschütten. Wer weiß denn, was auf Erden schon gewesen ist oder sein wird? Es gibt nichts Neues unter der Sonne, wie einst schon der weise Hebräer schrieb. Und doch glaube ich nicht, daß dieses Volk gänzlich vernichtet wurde. Einige wenige blieben in den anderen Städten verschont, denn es gab viele Städte. Doch die Barbaren aus dem Süden, vielleicht gar mein eigenes Volk, die Araber, kamen über sie und freiten ihre Weiber, und so mag das heutige Volk der Amahagger ein Mischlingsgeschlecht der Söhne Kors sein, das in den Gräbern seiner Ahnen wohnt.[14] Doch sicher weiß ich's nicht - wer könnte es auch wissen? So weit in den finsteren Schoß der Zeit vermag ich nicht zu blicken. Auf jeden Fall waren sie ein großes Volk. Sie eroberten ein Land nach dem anderen, bis es keins mehr zu erobern gab, und dann lebten sie friedlich inmitten ihrer Felsenwände mit ihren Knechten und Mägden, ihren Sängern, Künstlern und Konkubinen und trieben Handel und zankten, zechten, schliefen und vergnügten sich, bis der Tag ihres Unterganges kam. Doch komm, ich will dir den tiefen Abgrund unter der Höhle zeigen, den die Inschrift erwähnt. Niemals wieder werden deine Augen ein solches Bild schauen.«

Ich folgte ihr durch einen Seitengang, der von der Haupthöhle abzweigte, und sodann eine lange Treppe hinab und durch einen unterirdischen Schacht, der etwa sechzig Fuß unter der Oberfläche des Felsens verlief und durch merkwürdige, nach oben führende Löcher belüftet wurde. Plötzlich endete der Gang, und Ayesha blieb stehen und befahl den Stummen, die Lampen hochzuhalten, worauf ich in der Tat, wie sie es vorhergesagt hatte, ein Bild sah, wie es sich mir wohl kaum je wieder bieten wird. Wir standen in einem ungeheuren Abgrund oder, besser gesagt, am Rande eines solchen, denn er reichte noch tief - wie tief, weiß ich nicht - hinab und war von einer niedrigen Felsmauer umschlossen. Soweit ich es beurteilen konnte, mochte dieser Abgrund so groß sein wie die Kuppel der St. Pauls-Kathedrale, und als die Stummen ihre Lampen in die Höhe hielten, sah ich, daß er ein einziges riesiges Beinhaus darstellte, angefüllt mit Tausenden menschlicher Skelette, welche zu einer ungeheuren bleichen Pyramide aufgehäuft waren, entstanden durch das Hinabgleiten der zuoberst liegenden Leichen, wenn von oben neue hineingeworfen wurden. Etwas Grausigeres als diesen wirren Haufen von Gebeinen eines ausgestorbenen Volkes kann ich mir nicht denken, und noch gräßlicher wurde das Bild dadurch, daß in dieser trockenen Luft eine beträchtliche Zahl von Leichen mit der Haut auf den Knochen ausgedörrt waren und uns nun in jeder nur denkbaren Stellung aus dem Berg weißer Knochen heraus anstarrten - Karikaturen auf das Menschenalter von grotesker Schrecklichkeit. In meinem Erstaunen stieß ich einen Schrei aus, und das vielfältige Echo meiner Stimme, welches in dem Gewölbe widerhallte, störte einen der Schädel auf dem Gipfel der Pyramide aus seiner vieltausendjährigen Ruhe auf.

Er sprang herab, hüpfte in lustigen Sätzen auf uns zu und riß dabei eine Lawine anderer Gebeine mit sich, so daß ihr Geklapper die ganze Höhle erfüllte und es fast aus - sah, als erhöben sich die Skelette, um uns zu begrüßen.

»Komm«, sagte ich, »ich habe genug gesehen. Sicher sind das die Leichen jener, die der großen Seuche zum Opfer fielen, nicht wahr?« fügte ich hinzu, als wir uns abwandten.

»Ja. Das Volk von Kor hat seine Toten stets einbalsamiert, wie es die Ägypter taten, doch seine Kunst war größer als die der Ägypter, denn während die Ägypter die Eingeweide und das Gehirn entfernten, spritzten die Korer eine Flüssigkeit in die Adern, die jeden Körperteil erreichte. Doch halt - sieh es dir selbst an«, und sie blieb vor einer der Öffnungen in der Wand des Ganges, durch den wir schritten, stehen und bedeutete den Stummen, uns zu leuchten. Wir traten in eine kleine Kammer, die jener ähnelte, in welcher wir bei unserem ersten Aufenthalt geschlafen hatten; nur standen statt einer zwei steinerne Bänke oder Betten darin. Auf den Bänken lagen Gestalten, gehüllt in gelbe Leinwand, auf der sich im Lauf der Jahrhunderte ein feiner Staub angesammelt hatte, doch längst nicht so viel, wie man erwartet hätte, denn in diesen tiefen Höhlen gab es kein zu Staub zerfallendes Material. Neben den Körpern auf den Steinbänken und auf dem Boden der Grabkammer standen zahlreiche bemalte Krüge, doch sah ich in diesen Höhlen nur sehr wenige Schmuckstücke oder Waffen.

»Hebe die Tücher auf, o Holly«, sagte Ayesha, und ich streckte meine Hand aus, zog sie jedoch gleich wieder zurück. Es erschien mir wie ein Sakrileg, und, um die Wahrheit zu sagen: der düstere Ernst des Ortes und die vor uns liegenden Gestalten erfüllten mich mit Furcht. Da zog sie, über meine Scheu lächelnd, selbst die Tücher fort, und zum Vorschein kamen weitere, noch feinere. Sie entfernte auch diese, und zum erstenmal seit aber Tausenden von Jahren schauten lebende Augen das Gesicht dieses Leichnams. Es war eine Frau; sie mochte etwa fünfunddreißig Jahre oder ein wenig jünger gewesen sein und sicherlich von großer Schönheit. Selbst jetzt noch waren ihre ruhigen, reinen Züge mit den zarten Augenbrauen und langen Wimpern, welche kleine Schatten auf die elfenbeinerne Haut warfen, überaus schön. Da lag sie, in ein weißes Gewand gehüllt, über das ihr blauschwarzes Haar herabfloß, in ihrem letzten langen Schlaf, und in ihrem Arm, das Gesicht an ihre Brust gepreßt, ruhte ein kleines Kind. So reizend und dabei so schrecklich war dieser Anblick, daß ich - ich gestehe es ohne Scham - meine Tränen kaum zurückzuhalten vermochte. Dieses Bild führte mich zurück durch die düstere Schlucht der Zeit in das glückliche Heim im toten kaiserlichen Kor, in dem diese anmutige, schöne Frau lebte und starb und sterbend ihr Letztgeborenes mit sich ins Grab nahm.

Nun lagen Mutter und Kind vor uns, fahle Zeugen einer vergessenen menschlichen Geschichte, die mehr zu Herzen gingen als irgendeine geschriebene Darstellung ihres Lebens.

Ehrfürchtig breitete ich die Grabtücher wieder über sie, und seufzend über den unerforschlichen Willen des Schöpfers, der solche Blumen nur blühen läßt, auf daß im Grabe sie verwelken, wandte ich mich der Gestalt auf der anderen Steinbank zu und enthüllte sie behutsam. Es war ein Mann in fortgeschrittenen Jahren mit einem langen grauen Bart, gleichfalls in Weiß gekleidet - wahrscheinlich der Gatte jener Frau, der, nachdem er sie um viele Jahre überlebt, sich endlich an ihrer Seite zur letzten ewigen Ruhe gebettet hatte.

Wir verließen die Kammer und besichtigten noch andere. Es würde zu weit führen, die vielen Dinge, welche ich in ihnen sah, zu beschreiben. Jede hatte ihre Bewohner, denn die über fünfhundert Jahre, die zwischen der Fertigstellung der Höhle und dem Untergang des Volkes verstrichen waren, hatten offenbar ausgereicht, diese Katakomben, so zahllos sie waren, zu füllen, und alle Toten schienen seit dem Tage, an dem man sie darin bestattet hatte, nicht gestört worden zu sein.

Die Kunst, mit der man sie behandelt hatte, stand in so hoher Blüte, daß nahezu sämtliche Körper noch ebenso erhalten waren wie am Tage ihres Todes vor Tausenden von Jahren. Nichts hatte sie in der tiefen Stille dieses Felsens beschädigt; weder Hitze noch Kälte noch Feuchtigkeit hatte ihnen etwas anhaben können, und die Wirkung der aromatischen Stoffe, mit denen sie durchtränkt waren, schien ewig anzuhalten. Da und dort sahen wir jedoch auch eine Ausnahme, und in diesen Fällen zerfiel das Fleisch, so gesund es auch von außen aussah, bei der Berührung und enthüllte die Tatsache, daß die Gestalt nichts als ein Häufchen Staub war. Dies kam, wie Ayesha mir erklärte, daher, daß man diese Toten, sei es aus Eile oder anderen Gründen, lediglich in die konservierende Flüssigkeit[15] getaucht hatte, statt ihnen diese zu injizieren.

Ein Wort jedoch noch über das letzte Grab, das wir besichtigten, denn sein Inhalt rührte noch stärker ans Herz als der des ersten. Es hatte nur zwei Bewohner, die zusammen auf einer Bank lagen. Als ich die Grabtücher entfernte, fiel mein Blick auf einen jungen Mann und ein blühendes Mädchen, die sich in enger Umarmung aneinander schmiegten. Ihr Kopf ruhte auf seinem Arm, und seine Lippen waren an ihre Stirn gepreßt. Ich öffnete das leinene Gewand des Mannes und entdeckte über seinem Herzen eine Dolchwunde, und eine gleiche befand sich unter der schönen Brust des Mädchens, aus der ihr Lebensblut verströmt war. Auf der Felswand über ihnen stand eine Inschrift von nur drei Worten. Ayesha übersetzte sie. Sie lautete: Im Tode vereint.

Was mochte die Geschichte dieser beiden gewesen sein, die, wahrhaft schön im Leben, der Tod nicht hatte trennen können?

Ich schloß die Augen, und die Phantasie nahm den Gedankenfaden auf, spann ihn zurück durch die Jahrhunderte und webte vor ihrem dunklen Hintergrund ein Bild, das in allen Einzelheiten so lebensvoll erschien, daß ich einen Augenblick fast vermeinte, ich hätte über die Vergangenheit triumphiert und mit meinem geistigen Auge das Geheimnis der Zeit durchdrungen.

Mir war, als sähe ich dies schöne Mädchen lebend vor mir - ihr blondes Haar floß schimmernd über ihr schneeweißes Gewand hernieder, und ihr Busen war noch weißer als dieses, so daß vor seinem Glanz sogar die Geschmeide aus schimmerndem Gold verblaßten. Die große Höhle schien gefüllt mit Kriegern, bärtig und in glänzender Rüstung, und auf der Erhebung, wo Ayesha Gericht gehalten hatte, stand ein feierlich gewandeter Mann, umgeben von den Symbolen seines Priesteramtes. Und durch die Höhle schritt ein Mann, gehüllt in Purpur, umgeben von Sängern und schönen Mädchen, die ein Hochzeitslied anstimmten. Weiß stand das Mädchen vor dem Altar, schöner als die Schönsten, reiner als eine Lilie und kälter als der Tau, der in ihrem Herzen funkelte. Doch als der Mann sich ihr näherte, überlief sie ein Schauder. Da plötzlich sprang aus dem Gedränge ein dunkelhaariger Jüngling hervor und legte seinen Arm um die langvergessene Geliebte und küßte ihr bleiches Antlitz, in welches das Blut schoß wie die roten Strahlen der scheidenden Sonne übers stille Firmament. Aufruhr und Lärm erhoben sich, Schwerter blitzten, man entriß den Jüngling ihren Armen und erstach ihn, doch mit einem Schrei riß sie den Dolch aus seinem Gürtel, stieß ihn sich bis tief ins Herz durch die schneeweiße Brust und sank zu Boden, und dann entschwand mit lautem Wehgeschrei der Festzug meinem Blick, und die Vergangenheit hatte wiederum ihr Buch geschlossen.

Der Leser möge mir die Einflechtung eines Traumes in die wahre Geschichte verzeihen. Doch er überfiel mich so plötzlich, ich sah dies alles in einem Augenblick so deutlich, daß es mir wie Wirklichkeit schien; und überdies - wer vermag zu sagen, wieviel Wirklichkeit aus Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft die Phantasie heraufbeschwören kann? Was ist Phantasie? Vielleicht der Schatten unantastbarer Wahrheit, vielleicht das Denken der Seele.

Binnen eines kurzen Moments war diese ganze Szene an meinem geistigen Auge vorübergezogen, und Ayesha sprach mich an.

»Das ist des Menschen Los«, sagte die verschleierte Ayesha, indem sie die Leichentücher wieder über die toten Liebenden breitete, mit feierlicher Stimme, die mit einem Traum im Einklang stand: »Ins Grab und ins Vergessen, welches das Grab umhüllt, müssen einst wir alle! Ja, selbst ich, die ich so lange lebe. Selbst mir, o Holly, wird in aber Tausenden von Jahren, Tausende von Jahren, nachdem du das Tor durchschritten hast und im Nebel entschwunden bist, ein Tag dämmern, an dem ich sterben und sein werde wie du und diese hier. Was wird es dann schon besagen, daß ich ein wenig länger gelebt und den Tod durch mein der Natur entrungenes Wissen abgewendet habe, wenn schließlich auch ich sterben muß? Was ist schon eine Spanne von zehntausend oder zehnmal zehntausend Jahren im Zeitenlauf? Ein Nichts - gleich dem Nebel, der vor der Sonne schwindet; vergänglich wie eine Stunde Schlaf, ein Hauch des Ewigen Geistes. Das ist des Menschen Los! Mit Gewißheit wird es uns ereilen, und wir werden schlafen. Doch ebenso gewiß werden wir erwachen und wieder leben und wieder schlafen, und so geht es fort durch alle Zeiten, von Äone zu Äone, bis die Welt stirbt und alle Welten jenseits der Welt sterben und nichts mehr lebt als der Geist, der das Leben ist. Doch wird für uns beide und für diese Toten hier das Ende des Endes Leben sein oder Tod? Bis jetzt ist der Tod nur die Nacht des Lebens, doch aus der Nacht wird der Morgen neu geboren, und ihm folgt wiederum die Nacht. Aber wenn Leben und Tod, Tag und Nacht enden und eingehen in das, woraus sie kamen - was wird dann unser Los sein, o Holly? Wer kann so weit schauen? Nicht einmal ich!«

Und dann änderten sich plötzlich ihr Gehaben und ihr Ton: »Hast du nun genug gesehen, mein fremder Gast, oder soll ich dir noch mehr von den Wundern dieser Gräber zeigen, die meine Palasthallen sind? Wenn du willst, so kann ich dich dorthin führen, wo Tisno, der mächtigste und tapferste König von Kor, in dessen Tagen diese Höhlen vollendet wurden, in einem Prunk bestattet liegt, der aller Nichtigkeit zu spotten und den leeren Schatten der Vergangenheit Demut vor seiner in Stein verewigten Eitelkeit abzufordern scheint!«

»Ich habe genug gesehen, o Königin«, erwiderte ich. »Mein Herz ist überwältigt von der Allmacht des Todes. Die Lebenskraft ist schwach und könnte leicht zusammenbrechen unter dem Gefühl, mit dem mich der Anblick dessen, was meiner am Ende harrt, erfüllt. Führe mich fort von hier, o Ayesha!«

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