18 »Hinweg mit dir, Weib!«

Es folgte ein Schweigen von etwa einer Minute, in der >Sie< sich, nach ihrem fast engelhaft entrückten Gesichtsausdruck zu schließen - zuweilen sah sie wirklich wie ein Engel aus -, in einem wahrhaften Glücksrausch zu befinden schien. Plötzlich jedoch kam ihr ein neuer Gedanke, und gleich darauf war ihr Gesicht alles andere als engelhaft.

»Fast hätte ich dieses Weib, diese Ustane, vergessen«, sagte sie. »Was ist sie für Kallikrates - ist sie seine Dienerin, oder -?« Sie hielt inne.

Ich zuckte die Achseln. »Soviel ich weiß, ist sie ihm nach dem Brauch der Amahagger angetraut«, erwiderte ich, »doch genau weiß ich's nicht.«

Ihr Gesicht wurde finster wie eine Gewitterwolke. Trotz ihres Alters schien ihr Herz immer noch voll Eifersucht.

»Das muß ein Ende haben«, sagte sie, »sie muß sterben, und das auf der Stelle!«

»Aber was hat sie denn verbrochen?« fragte ich bestürzt. »Sie hat sich keines anderen Vergehens schuldig gemacht als du selbst, o Ayesha. Sie liebt ihn, und er erwidert ihre Liebe. Worin liegt ihre Sünde?«

»Wahrhaftig, o Holly, du bist ein Tor«, rief sie fast ärgerlich. »Worin ihre Sünde liegt? Darin, daß sie zwischen mir und meinem Verlangen steht. Ich weiß sehr wohl, daß ich ihn ihr entreißen könnte - denn welcher Mann auf Erden könnte mir wohl widerstehen? Männer sind nur so lange treu, wie Versuchungen an ihnen vorübergehen. Ist die Versuchung jedoch nur stark genug, so gibt der Mann ihr nach, denn jeder Mann hat, gleich einem Seil, eine schwache Stelle, und Leidenschaft ist für einen Mann, was Gold und Macht für das Weib ist - das Gewicht, dem er erliegt. Glaube mir, übel wird es den sterblichen Frauen in jenem Himmel, von dem du sprichst, ergehen, wenn dort die Geister schöner sind als sie, denn ihre Männer werden keinen Blick an sie verschwenden, und ihr Himmel wird ihnen zur Hölle werden. Mit Frauenschönheit, wenn sie nur groß genug ist, läßt jeder Mann sich kaufen; und Frauenschönheit läßt sich mit Geld kaufen, wenn es nur Geld genug ist. So war es zu meiner Zeit, und so wird es bis ans Ende aller Tage sein. Die Welt ist ein großer Markt, mein Holly, auf dem der, welcher in der Währung unserer Begierden am meisten bietet, alles kaufen kann.«

Diese Bemerkungen, deren Zynismus mich bei einer Frau von Ayeshas Alter und Erfahrung nicht verwunderte, ärgerten mich dennoch, und ich erwiderte gereizt, daß es in unserem Himmel keine Ehen und kein Freien gäbe.

»Du meinst, sonst wäre es kein Himmel?« warf sie ein. »Schäme dich, Holly, daß du so schlecht von uns Frauen denkst! Macht denn nur die Ehe den Unterschied zwischen deinem Himmel und deiner Hölle aus? Doch genug davon. Es ist jetzt keine Zeit für geistreiche Dispute. Warum mußt du nur immer disputieren? Bist du einer von diesen neuen Philosophen? Was dieses Weib betrifft, so muß sie sterben; denn wenn ich ihr den Geliebten nur nähme, könnte er, solange sie lebt, voll Zärtlichkeit ihrer gedenken, und das wäre mir unerträglich. Kein anderes Weib darf in den Gedanken meines Herrn wohnen; mein Reich soll ganz mein eigen sein. Sie hat das Ihre gehabt, soll sie damit zufrieden sein; denn eine Stunde der Liebe ist besser als ein Jahrhundert der Einsamkeit. Die Nacht soll sie verschlingen.«

»Nein, nein«, rief ich, »das wäre ein schweres Verbrechen, und ein solches zieht stets nur Böses nach sich. Um deiner selbst willen, tu es nicht.«

»Ist es denn ein Verbrechen, o du törichter Mann, hinwegzuräumen, was zwischen uns und unseren Zielen steht? Dann ist unser Leben ein einziges Verbrechen, mein Holly; denn Tag um Tag zerstören wir um dieses Lebens willen, weil in dieser Welt nur die Stärksten sich durchsetzen können. Die Schwachen müssen untergehen; die Erde und ihre Früchte sind nur für die Starken. Für einen Baum, der wächst, verdorren zwanzig andere, damit er Raum hat. Über die Leichen derer hinweg, die schwach sind und fallen, eilen wir zu Macht und Ruhm; ja wir entziehen die Nahrung, die wir essen, dem Munde hungernder Kinder. Das ist der Plan der Welt. Du sagst, ein Verbrechen zeugt Böses, doch darin fehlt dir die Erfahrung; denn aus Verbrechen kommt oft Gutes, und aus Gutem oft Böses. Der grausame Zorn des Tyrannen kann zu einem Segen werden für Tausende, die nach ihm kommen, und die Güte eines Heiligen kann ein Volk versklaven. Dieses und jenes tut der Mensch aus Güte oder Bosheit und weiß doch nie, was daraus erwachsen wird; denn wenn er zum Schlag ausholt, weiß er nicht, wohin der Schlag fallen wird, noch kann er die hauchdünnen Fäden zählen, welche die Umstände weben. Gut und Böse, Liebe und Haß, Nacht und Tag, Süßes und Bitteres, Mann und Frau, der Himmel über und die Erde unter uns - all dies ist notwendig, eins fürs andere, doch wer kennt von allem das Ende? Glaube mir, es gibt eine Schicksalshand, die, ihrem Zweck zu dienen, all diese Fäden zusammenflicht zu jenem großen Band, zu dem all diese Dinge notwendig sind. Deshalb steht es uns nicht an zu sagen, dieses ist gut und jenes böse, oder das Dunkel ist häßlich und das Licht schön; denn anderen Augen als den unseren mag das Böse gut und das Dunkel schöner als der Tag erscheinen, oder alles gleich schön. Hörst du, mein Holly?«

Es schien mir hoffnungslos, solcher Kasuistik zu widersprechen, die, bis zu ihrem logischen Ende fortgeführt, jegliche Moral, wie wir sie verstehen, vernichten mußte. Doch ihre Worte erfüllten mich erneut mit Angst, denn was konnte man nicht alles erwarten von einem Wesen, das nicht nur ungehemmt von menschlichem Gesetz, sondern auch ohne jedes moralische Empfinden für Recht und Unrecht war, welches, so parteiisch und konventionell es auch sein mag, dennoch, wie unser Gewissen uns sagt, jenes große Fundament individueller Verantwortung bildet, die den Menschen vom Tier unterscheidet?

Ich war jedoch ehrlich bestrebt, Ustane, die ich schätzte und achtete, vor dem grausigen Geschick, das ihr aus der Hand ihrer mächtigen Rivalin drohte, zu bewahren, und so unternahm ich einen neuen Versuch.

»Ayesha«, sagte ich, »du bist für mich zu spitzfindig; doch du selbst sagtest mir, jeder Mensch solle sich selbst sein Gesetz errichten und dem Rufe seines Herzens folgen. Ist in deinem Herzen kein Mitleid für die, deren Platz du einnehmen möchtest? Bedenke doch: wie du sagst, ist - obwohl mir das Ganze unglaublich erscheint - der Mann, den du ersehntest, nach so langer Zeit zu dir zurückgekehrt, und soeben erst hast du ihn, wie du ebenfalls sagst, dem Rachen des Todes entrissen. Willst du seine Ankunft durch den Mord an dem Mädchen feiern, das ihn liebt und das vielleicht auch er liebt - eines Mädchens, das für dich sein Leben rettete, als deine Sklaven ihm mit ihren Speeren ein Ende bereiten wollten? Du sagtest auch, daß du vor langen Jahren diesem Mann bitter Unrecht tatest, daß du ihn mit deiner eigenen Hand erschlugst, weil er die Ägypterin Amenartas liebte.«

»Woher weißt du das, o Fremdling? Woher kennst du diesen Namen? Ich habe ihn dir nicht gesagt«, schrie sie auf und packte mich am Arm.

»Vielleicht habe ich es geträumt«, entgegnete ich; »in diesen. Höhlen von Kor hat man seltsame Träume. Doch dieser Traum scheint eine Spur Wahrheit zu enthalten. Was hat dieses tolle Verbrechen dir eingebracht? Zweitausend Jahre des Wartens, habe ich nicht recht? Und du willst das Ganze wiederholen? Sag, was du willst - ich bin überzeugt, es kann nur Böses daraus kommen; denn wer Gutes tut, erntet Gutes, und wer Böses tut, erntet Böses, wenn auch in späteren Zeiten aus dem Bösen Gutes kommen mag. Ärgernis muß sein; doch wehe dem, durch den das Ärgernis kommt. So sprach jener Messias, von dem ich dir erzählte, und er hat wahr gesprochen. Wenn du dieses unschuldige Weib erschlägst, so wirst du verflucht sein und von dem alten Baum deiner Liebe keine Frucht pflücken. Was denkst du nur? Glaubst du, dieser Mann wird dich nehmen, wenn du mit Händen, die mit dem Blute jener, die ihn liebte und pflegte, befleckt sind, vor ihn trittst?«

»Was das betrifft«, erwiderte sie, »so hast du meine Antwort bereits gehört. Selbst wenn ich dich wie sie erschlüge, würde er mich dennoch lieben, Holly, weil er sich davor ebensowenig retten könnte wie du dich vor dem Tode, wenn es mir einfiele, dich zu erschlagen, o Holly. Und doch mag ein wenig Wahrheit in deinen Worten liegen, denn irgendwie machen sie Eindruck auf mich. Wenn es sein kann, so will ich dieses Weib schonen - habe ich dir nicht gesagt, daß ich nicht um der Grausamkeit willen grausam bin? Ich liebe es nicht, Leid zu sehen oder es hervorzurufen. Hole sie her - rasch, bevor ich mich anders besinne«, und sie bedeckte hastig ihr Gesicht mit dem dünnen Schleier.

Befriedigt, wenigstens dies erreicht zu haben, eilte ich auf den Gang hinaus und rief Ustane, deren weißes Gewand ich einige Schritte von mir erblickte. Sie kauerte weinend unter einer der irdenen Lampen, die in bestimmten Abständen an der Wand des Ganges angebracht waren. Sogleich erhob sie sich und lief mir entgegen.

»Ist mein Gebieter tot? Oh, sage nur ja nicht, daß er tot ist!« rief sie, indem sie mit ihrem edelgeschnittenen und von Tränen überströmten Antlitz zu mir aufblickte und mich mit einem flehentlichen Blick ansah, der mir tief zu Herzen ging.

»Nein, er lebt«, erwiderte ich. »>Sie< hat ihn gerettet. Tritt ein.«

Tief seufzend trat sie ein und fiel nach der Sitte der Amahagger vor der gefürchteten Herrscherin auf Hände und Knie.

»Steh auf«, sprach Ayesha mit eisiger Stimme, »und komme hierher.«

Ustane gehorchte und trat mit gesenktem Kopf vor sie hin.

Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann sagte Ayesha, auf den schlafenden Leo deutend: »Wer ist dieser Mann?«

»Er ist mein Gatte«, erwiderte Ustane leise.

»Wer gab ihn dir zum Gatten?«

»Ich nahm ihn gemäß dem Brauch unseres Landes.«

»Es war unrecht von dir, Weib, diesen Mann zu nehmen, der ein Fremdling ist. Er ist kein Mann deines Volkes, und deshalb gilt der Brauch nicht. Höre mich an: Mag sein, daß du dies aus Unwissenheit getan hast, und so werde ich dich schonen, anderenfalls wärest du des Todes gewesen. Höre weiter. Gehe fort von hier und zurück zu deinem Haushalt, und wage es nicht, mit diesem Mann je wieder zu sprechen oder deinen Blick auf ihn zu richten. Er ist nicht für dich. Höre, was ich dir als drittes zu sagen habe. Sowie du dieses mein Gesetz brichst, mußt du sterben. Hinweg!«

Doch Ustane rührte sich nicht.

»Hinweg mit dir, Weib!«

Da blickte sie auf, und ich sah, daß ihr Gesicht von Leidenschaft verzerrt war.

»Nein, o Herrscherin, ich gehe nicht«, antwortete sie mit erstickter Stimme, »dieser Mann ist mein Gatte, und ich liebe ihn - ich liebe ihn und will ihn nicht verlassen. Mit welchem Recht befiehlst du mir, meinen Gatten zu verlassen?«

Ich sah, wie ein Schauder Ayesha überlief, und auch ich erschauderte, das Schlimmste befürchtend.

»Sei gnädig«, sagte ich auf lateinisch, »sie spricht ja nur, was ihr das Herz eingibt.«

»Ich bin gnädig«, erwiderte sie kalt in derselben Sprache. »Wäre ich nicht gnädig, so würde sie bereits tot sein.« Und dann zu Ustane gewandt: »Weib, ich sage dir, gehe, bevor ich dich auf der Stelle zerschmettere!«

»Ich gehe nicht! Er ist mein!« rief Ustane in höchster Verzweiflung. »Ich nahm ihn und rettete ihm das Leben! Zerschmettere mich denn, wenn es in deiner Macht steht! Ich gebe dir meinen Gatten nicht - niemals - niemals!«

Ayesha machte eine so rasche Bewegung, daß ich ihr kaum folgen konnte, doch es schien mir, als habe sie das arme Mädchen leicht mit der Hand auf den Kopf geschlagen. Ich starrte Ustane an und taumelte dann entsetzt zurück, denn auf ihrem Haar, mitten auf den bronzenen Flechten, sah ich drei Fingerspuren, weiß wie Schnee. Das Mädchen hatte seine Hände an den Kopf gelegt und blickte wie betäubt drein.

»Großer Gott!« rief ich, zutiefst bestürzt über diesen furchtbaren Beweis einer unmenschlichen Macht, doch >Sie< lachte nur leise.

»Denkst du, arme unwissende Närrin«, sagte sie zu dem verwirrten Mädchen, »ich hätte nicht die Macht, dich zu töten? Dort liegt ein Spiegel«, und sie deutete auf Leos runden Rasierspiegel, den Job zusammen mit anderen Dingen auf seinen Koffer gelegt hatte; »gib ihn diesem Weib, mein Holly, damit sie das Zeichen auf ihrem Haar sieht und weiß, ob ich die Macht habe zu töten oder nicht.«

Ich nahm den Spiegel und hielt ihn Ustane vor die

Augen. Sie blickte hinein, griff nach ihrem Haar, blickte wieder hinein und sank plötzlich schluchzend zu Boden.

»Nun, willst du jetzt gehen, oder muß ich dich ein zweites Mal zeichnen?« fragte Ayesha spöttisch. »Siehe, ich habe dir mein Siegel aufgeprägt, damit ich dich wiedererkenne, bis dein ganzes Haar so weiß ist. Sollte ich dich noch einmal hier sehen, so sei gewiß, daß deine Knochen bald weißer sein werden als mein Zeichen auf deinem Haar.«

Völlig gebrochen richtete das arme Geschöpf sich auf und kroch bitterlich schluchzend, gezeichnet mit diesem schrecklichen Mal, hinaus.

»Blicke nicht so entsetzt drein, mein Holly«, sagte Ayesha, als sie fort war. »Ich sagte dir doch, ich befasse mich nicht mit Magie - dergleichen gibt es gar nicht. Es handelt sich nur um eine Kraft, die du nicht verstehst. Ich zeichnete sie, um sie zu schrecken; sonst hätte ich sie töten müssen. Und nun will ich meine Diener anweisen, meinen Herrn Kallikrates in eine Kammer neben der meinen zu bringen, damit ich über ihn wachen und ihn begrüßen kann, wenn er erwacht; und auch du, mein Holly, sollst dorthin kommen mit dem weißen Mann, deinem Diener. Hüte dich aber, eines zu vergessen. Du darfst Kallikrates nicht sagen, wie dieses Weib von hier fortging, und auch von mir sollst du so wenig wie möglich sprechen. Ich habe dich gewarnt!« - und sie eilte hinaus, ihre Befehle zu erteilen, und ließ mich tiefer bestürzt denn je zurück. Ich war in der Tat so verwirrt und von meinen Gefühlen derart hin und her gerissen, daß ich fast fürchtete, den Verstand zu verlieren. Zum Glück blieb mir jedoch wenig Zeit zum Nachdenken, denn gleich darauf erschienen die Stummen, um den schlafenden Leo und unsere Habseligkeiten zu dem anderen Gang jenseits der Haupthöhle zu tragen, wo unmittelbar hinter dem Raum, den ich Ayeshas Boudoir nennen möchte, unsere neuen Wohnräume lagen. Wo sich Ayeshas Schlafgemach befand, wußte ich damals noch nicht, doch mußte es ganz in der Nähe sein.

Ich verbrachte jene Nacht in Leos Zimmer, doch er schlief tief wie ein Toter und rührte sich kein einziges Mal. Auch ich schlief recht gut, was mir wirklich sehr not tat, doch mein Schlaf war voller Träume von den Schrecken und Wundern, die ich erlebt hatte. Vor allem verfolgte mich das Teufelsstück, mit dem Ayesha die Spuren ihrer Finger auf dem Haar ihrer Rivalin hinterlassen hatte. An ihrer raschen, schlangenhaften Bewegung und dem sofortigen Erbleichen des Haares an drei Stellen war etwas so Schreckliches, daß ich wohl kaum tiefer beeindruckt gewesen wäre, wenn das Ganze für Ustane noch schlimmere Folgen gehabt hätte. Bis zum heutigen Tage träume ich oft von dieser grauenvollen Szene und sehe vor mir, wie das weinende, gleich Kain gezeichnete Weib, einen letzten Blick auf ihren Geliebten werfend, vor ihrer furchtbaren Königin davonkriecht.

Ein anderer Traum, der mich in jener Nacht quälte, hatte seinen Ursprung in der riesigen Knochenpyramide. Ich träumte, daß all die Skelette sich erhoben und an mir vorbeimarschierten - zu Tausenden und aber Tausenden, in Schwadronen, Kompanien und Armeen -, wobei durch ihre hohlen Rippen das Sonnenlicht schien. Vorwärts stürmten sie über die Ebene dem kaiserlichen Kor entgegen; ich sah die Zugbrük-ken vor ihnen niedergehen und hörte ihre Knochen klappernd durch die ehernen Tore ziehen. Und weiter marschierten sie durch die prächtigen Straßen, vorbei an Brunnen und Palästen und Tempeln, wie sie keines Menschen Auge je sah. Doch kein Mann trat ihnen auf dem Marktplatz entgegen, sie zu begrüßen, kein Frauenantlitz zeigte sich hinter den Fenstern - nur eine körperlose Stimme eilte ihnen voraus und rief: »Gefallen ist das kaiserliche Kor! - gefallen!

- gefallen! - gefallen!« Und mitten durch die Stadt marschierten diese bleich schimmernden Phalangen, und das Rasseln ihrer Knochen erfüllte die tiefe Stille. Sie durchquerten die Stadt und erklommen die Mauer und zogen oben auf der Mauer weiter, bis sie erneut die Zugbrücke erreichten. Dann kehrten sie, die Sonne ging schon unter, zurück zu ihrer Gruft, und ihre leeren Augenhöhlen glühten in dem Licht, in welchem ihre Knochen riesige Schatten warfen, die wie gigantische Spinnenbeine über die Ebene krochen. Dann kamen sie zur Höhle und stürzten sich in endlosen Reihen einer nach dem anderen durch das Loch in die Beinschlucht, und ich erwachte schaudernd und sah >Sie<, die anscheinend zwischen meinem und Leos Lager gestanden hatte, wie einen Schatten aus dem Zimmer gleiten.

Bald darauf fiel ich in einen gesunden Schlaf, aus dem ich am Morgen erfrischt erwachte. Ich stand sogleich auf. Endlich nahte die Stunde, in der Leo laut Ayeshas Ankündigung erwachen sollte, und mit ihr erschien auch >Sie<, wie gewöhnlich verschleiert.

»Du wirst sehen, o Holly«, sagte sie, »gleich wird er mit klarem Kopf und ohne Fieber erwachen.«

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, da drehte Leo sich um, streckte seine Arme, gähnte und schlug die Augen auf, und als er bemerkte, daß eine weibliche Gestalt sich über ihn beugte, schlang er, anscheinend in dem Glauben, es sei Ustane, seine Arme um sie und küßte sie. Dann sagte er auf arabisch: »Hallo, Ustane, warum hast du denn den Kopf so verbunden? Hast du etwa Zahnschmerzen?«, und auf englisch fügte er hinzu: »Mein Gott, ich habe einen Riesenhunger. Sage einmal, Job, wo sind wir denn eigentlich?«

»Wenn ich das wüßte, Mr. Leo«, sagte Job und blickte dabei mißtrauisch auf Ayesha, vor der er immer noch tiefste Furcht empfand, denn offenbar war er sich nicht sicher, ob es sich nicht doch um ein Gespenst handelte; »doch Sie dürfen nicht sprechen, Mr. Leo, Sie sind sehr krank gewesen, und wir haben uns große Sorgen um Sie gemacht. Vielleicht würde diese Dame jetzt so freundlich sein, ein wenig beiseite zu treten«, er sah Ayesha an, »dann bringe ich Ihnen Ihre Suppe.«

Dies lenkte Leos Aufmerksamkeit auf die >Dame<, die schweigend dastand. »Nanu!« sagte er, »das ist ja nicht Ustane - wo ist Ustane?«

Da sprach Ayesha ihn zum ersten Male an, und ihre ersten Worte waren ein Lüge. »Sie ist fortgegangen, um einen Besuch zu machen«, sagte sie, »und ich vertrete sie.«

Ayeshas silberhelle Stimme schien Leos halberwachten Verstand ebenso zu erstaunen wie ihr leichentuchähnliches Gewand. Er sagte jedoch nichts, sondern aß gierig seine Suppe, und dann drehte er sich um und schlief wieder bis zum Abend. Als er zum zweitenmal erwachte, fiel sein Blick auf mich, und er fragte mich, was geschehen sei, doch ich vertröstete ihn, so gut es ging, auf den nächsten Morgen, an dem er auf geradezu wunderbare Weise erholt erwachte. Nun erzählte ich ihm ein wenig von seiner Krankheit und meinen Erlebnissen, doch da Ayesha anwesend war, konnte ich ihm nichts weiter sagen, als daß sie die Königin dieses Landes und uns wohlgeneigt sei, und daß sie stets verschleiert gehe; denn obwohl ich natürlich englisch sprach, fürchtete ich, sie könnte von unseren Gesichtern ablesen, was wir sagten, und überdies gedachte ich ihrer Warnung.

Am nächsten Tag war Leo fast gänzlich wiederhergestellt und konnte aufstehen. Die Fleischwunde an seiner Seite war verheilt, und dank seiner freilich sehr kräftigen Konstitution hatte er die seinem schrecklichen Fieber folgende Erschöpfung mit einer Schnelligkeit abgeschüttelt, die sicherlich der Wirkung der geheimnisvollen Medizin, welche Ayesha ihm eingegeben hatte, zuzuschreiben war, und wohl auch dem Umstand, daß seine Krankheit zu kurz gedauert hatte, um ihn allzusehr zu entkräftigen. Mit seiner Gesundheit kehrte auch die Erinnerung an all seine Abenteuer bis zu dem Zeitpunkt zurück, da er in den Sümpfen die Besinnung verlor, und natürlich auch an Ustane, für die er, wie ich feststellte, eine starke Zuneigung empfand. Er bestürmte mich förmlich mit Fragen nach dem armen Mädchen, die zu beantworten ich nicht wagte, denn nach Leos erstem Erwachen hatte >Sie< mich zu sich befohlen und mich nochmals feierlich gewarnt, Leo irgend etwas von der Geschichte zu enthüllen, wobei sie mir zart andeutete, daß ich es sehr zu bereuen haben würde, wenn ich ihrem Wunsche zuwider handelte. Auch verbot sie mir zum zweitenmal, Leo mehr als unbedingt notwendig über ihre Person mitzuteilen; sie werde sich ihm zu gegebener Zeit selbst offenbaren.

Eine Wandlung ging mit ihr vor sich. Nach all meinen Erlebnissen hatte ich erwartet, sie werde die erste Gelegenheit nützen, den Mann, welchen sie für ihren einstigen Geliebten hielt, für sich zu beanspruchen, doch aus irgendeinem mir unbekannten Grund tat sie dies nicht. Sie sorgte lediglich ruhig und freundlich für ihn, richtete in einer Demut, die in krassem Gegensatz zu ihrem früheren herrischen Gebaren stand, das Wort an ihn und hielt sich so viel wie möglich in seiner Nähe auf. Natürlich reizte dieses rätselhafte Weib sehr seine Neugier, wie es bei mir der Fall gewesen war, und ganz besonders verlangte es ihn danach, ihr Gesicht zu sehen, von dem ich ihm, ohne auf Einzelheiten einzugehen, erzählt hatte, daß es ebenso schön sei wie ihre Gestalt und Stimme. Dies allein hätte wahrscheinlich genügt, die Erwartungen jedes jungen Mannes in einem gefährlichen Grad anzuspannen, und wäre er von seiner Krankheit nicht doch noch ein wenig erschöpft gewesen und hätte er sich nicht solche Sorgen um Ustane gemacht, von deren Zuneigung und tapferer Aufopferung er in bewegenden Worten sprach, so wäre er ihr zweifellos ins Garn gegangen und hätte sich rasch in sie verliebt. So jedoch war er überaus neugierig, zugleich jedoch gleich mir von tiefer Scheu erfüllt, denn obgleich Ayesha ihm gegenüber keinerlei Andeutung über ihr ungeheures Alter gemacht hatte, erkannte er doch in ihr das Weib, von dem auf der Tonscherbe die Rede war. Durch seine beständigen Fragen, mit denen er mich am dritten Morgen während des Ankleidens förmlich überschüttete, in die Enge getrieben, verwies ich ihn schließlich an Ayesha und sagte ihm wahrheitsgetreu, daß ich nicht wüßte, wo Ustane sei. So begaben wir uns denn, nachdem Leo ein herzhaftes Frühstück eingenommen hatte, zur Königin, welche ihre stummen Bedienten angewiesen hatte, uns jederzeit vorzulassen.

Wie immer saß sie in dem Raum, den wir in Ermangelung einer besseren Bezeichnung ihr Boudoir nannten, und als man die Vorhänge zurückgezogen hatte, erhob sie sich von ihrem Ruhelager und trat uns mit ausgestreckten Händen entgegen, um uns, oder besser Leo zu begrüßen; denn ich wurde, wie man sich denken kann, nun von ihr weitgehend ignoriert. Es war schön anzusehen, wie ihre verschleierte Gestalt auf den in einen grauen Flanellanzug gekleideten stattlichen jungen Engländer zuglitt; denn Leo ist, obgleich halb griechischer Abstammung, abgesehen von seinem Haar der Engländer in Person. Er hat nichts von der zarten Gestalt und dem flotten Gebaren der heutigen Griechen, obgleich er vermutlich seine außerordentliche Schönheit von seiner ausländischen Mutter erbte, deren Porträt er nicht wenig ähnelt. Er ist sehr groß und breitschultrig und dabei doch nicht plump wie viele große Männer, und er trägt seinen Kopf so stolz und selbstbewußt, daß die Amahagger ihn nicht zu Unrecht den >Löwen< nannten.

»Sei gegrüßt, mein junger fremder Herr«, sagte sie mit ihrer sanftesten Stimme. »Es freut mich, dich auf den Beinen zu sehen. Glaube mir, hätte ich dich nicht im letzten Augenblick gerettet, so hättest du nie wieder auf diesen Beinen gestanden. Doch nun ist die Gefahr vorüber, und es soll meine Sorge sein« - und sie legte eine tiefe Bedeutung in diese Worte -, »daß sie nicht wiederkehrt.«

Leo verneigte sich vor ihr und dankte ihr dann in seinem besten Arabisch für die Güte und Freundlichkeit, die sie einem Unbekannten erwiesen hätte.

»Nein«, erwiderte sie leise, »einen Mann wie dich könnte die Welt nur schwer entbehren. Schönheit ist auf ihr allzu selten. Danke mir nicht, dein Kommen hat mich sehr glücklich gemacht.«

»Donner und Doria, alter Junge«, flüsterte Leo mir auf englisch zu, »die Dame ist aber liebenswürdig. Wir scheinen es ja gut getroffen zu haben. Ich hoffe nur, du hast die Gelegenheit gut genützt. Beim Jupiter! Was hat sie doch für herrliche Arme!«

Ich stieß ihn in die Rippen, um ihn zum Schweigen zu bringen, denn ich merkte, wie die Augen Ayeshas, die mich neugierig ansah, hinter dem Schleier aufblitzten.

»Ich hoffe«, fuhr Ayesha fort, »meine Diener haben dich gut versorgt; was dieser armselige Ort an Behaglichkeit bietet, soll dir zur Verfügung stehen. Gibt es noch irgend etwas, das ich für dich tun kann?«

»Ja, o Königin«, erwiderte Leo rasch. »Ich wüßte gern, wo die junge Dame ist, die mich gepflegt hat.«

»Ach«, sagte Ayesha, »dieses Mädchen - ja, ich habe es gesehen. Nein, ich weiß es nicht; es sagte, es wolle fortgehen, wohin, weiß ich nicht. Vielleicht wird es zurückkommen, vielleicht auch nicht. Es ist sehr lästig, einen Kranken zu pflegen, und diese wilden Weiber sind sehr unzuverlässig.«

Leo blickte verärgert und betrübt drein.

»Sehr sonderbar«, sagte er auf englisch zu mir und wandte sich dann wieder an >Sie<. »Ich begreife das nicht«, sagte er; »die junge Dame und ich - nun -kurz gesagt, wir mochten uns sehr gern.«

Ayesha ließ ein leises, sehr wohlklingendes Lachen hören und wechselte sodann das Thema.

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