28 Über den Berg

Das nächste, dessen ich mich entsinne, ist, daß ich mich schrecklich zerschlagen fühlte und daß mich in meiner Benommenheit einen Augenblick der seltsame Gedanke durchzuckte, ich sei ein Teppich, den man soeben fest durchgeklopft hatte. Als ich die Augen öffnete, fiel mein Blick auf das würdevolle Gesicht unseres alten Freundes Billali, der neben meinem improvisierten Lager saß und sich nachdenklich seinen langen Bart strich. Sein Anblick rief mir sogleich alles, was wir durchgemacht hatten, ins Gedächtnis zurück, und als ich gleich darauf das nahezu zu Mus zerschlagene Gesicht des mir gegenüberliegenden Leo und seine schneeweißen, einst so herrlich goldenen Locken[25] sah, schloß ich stöhnend wieder meine Augen.

»Du hast lange geschlafen, mein Pavian«, sagte der alte Billali.

»Wie lange, mein Vater?« fragte ich.

»Einen Lauf der Sonne und einen Lauf des Mondes, einen Tag und eine Nacht hast du geschlafen, und der Löwe ebenfalls. Siehe, er schläft noch immer.«

»Gesegnet sei der Schlaf«, erwiderte ich, »denn er verschlingt die Erinnerung.«

»Berichte mir«, sagte er, »was euch widerfahren ist und was es mit dieser seltsamen Geschichte vom Tode der unsterblichen >Sie< auf sich hat. Bedenke, mein Sohn; wenn es wahr ist, dann seid ihr, du und der Löwe, in größter Gefahr - ja dann ist zu befürchten, daß der Topf, mit dem ihr getötet werden sollt, bereits glüht und daß die Mägen derer, die euch essen wollen, schon nach dem Festschmaus gieren. Weißt du nicht, daß die Amahagger, meine Kinder, diese Höhlenbewohner, euch hassen? Sie hassen euch, weil ihr Fremdlinge seid, und noch mehr hassen sie euch, weil >Sie< ihre Brüder euretwegen foltern ließ. Sobald sie erfahren, daß sie den Zorn Hiyas, der schrecklichen Herrscherin, nicht mehr zu fürchten brauchen, werden sie euch bestimmt mit dem Topf töten. Doch nun erzähle, mein armer Pavian.«

So begann ich denn zu erzählen - nicht alles freilich, denn das hielt ich nicht für ratsam, sondern nur so viel, wie nötig war, ihm begreiflich zu machen, daß >Sie< wirklich nicht mehr am Leben war; da er die Wahrheit nicht verstanden hätte, sagte ich ihm, sie sei in ein Feuer gefallen und darin verbrannt. Auch einige von unseren schrecklichen Erlebnissen auf dem Rückweg erzählte ich ihm und beeindruckte ihn damit tief. Ich merkte jedoch deutlich, daß er an Ayes-has Tod nicht glaubte. Er glaubte lediglich, daß wir sie für tot hielten, doch schien er überzeugt, es habe ihr nur gefallen, für eine Weile zu verschwinden. Bereits zu Lebzeiten seines Vaters, so sagte er, sei sie einmal für zwölf Jahre verschwunden, und nach einer alten Überlieferung sei sie vor vielen Jahrhunderten einmal ein ganzes Menschenleben lang nicht gesehen worden; dann sei sie jedoch plötzlich wieder erschienen und habe ein Weib, das sich die Stellung der Königin angemaßt hatte, getötet. Ich sagte nichts darauf, sondern schüttelte nur traurig den Kopf. Ach, nur zu gut wußte ich, daß Ayesha nicht wieder erscheinen oder daß zumindest Billali sie nie wiedersehen würde. Vielleicht würden wir ihr dereinst in einer anderen Welt begegnen; in dieser ganz sicher nicht.

»Und was gedenkst du nun zu tun, mein armer Pavian?« fragte Billali.

»Ich weiß es nicht, mein Vater«, sagte ich. »Können wir nicht aus diesem Lande fliehen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Das ist sehr schwer. Den Weg über Kor dürft ihr nicht nehmen, denn wenn diese Wilden euch sehen und entdecken würden, daß ihr allein seid, dann -«, und er lächelte bedeutsam und machte eine Geste, als setze er sich einen Hut auf den Kopf. »Es gibt jedoch, wie ich dir schon einmal erzählte, einen Weg über die Berge, über den man das Vieh auf die Weide treibt. Jenseits der Weiden müßt ihr drei Tagesmärsche weit durch Sümpfe, und wie es dann weitergeht, weiß ich nicht. Angeblich soll sieben Tagesmärsche weiter ein großer Fluß sein, der in das schwarze Wasser fließt. Wenn ihr dorthin gelangt, könntet ihr vielleicht entkommen - aber wie dort hingelangen?«

»Billali«, sagte ich, »du weißt, ich rettete dir einmal das Leben. Nun vergilt es mir, mein Vater, und rette mir das meine und das meines Freundes, des Löwen. Wenn einst deine letzte Stunde kommt, wird es ein tröstlicher Gedanke für dich sein, und es wird das Böse, das du vielleicht in deinem Leben getan hast, aufwiegen. Und wenn du recht hast und >Sie< sich nur verborgen hält, dann wird sie dich bei ihrer

Rückkehr sicherlich dafür belohnen.«

»Mein Pavian, mein Sohn«, entgegnete der Alte, »du sollst mich nicht für undankbar halten. Ich entsinne mich sehr wohl, wie du mich rettetest, als ich zu ertrinken drohte und diese Hunde keine Hand rührten. Maß für Maß will ich's dir vergelten, und wenn du gerettet werden kannst, will ich sicherlich das Meine dazu tun. Höre: Haltet euch morgen vor Sonnenaufgang bereit; dann wird man euch mit Sänften abholen und über die Berge und jenseits davon durch die Sümpfe tragen. Ich werde sagen, >Sie< habe es befohlen und wer ihr nicht gehorche, solle den Hyänen zum Fräße vorgeworfen werden. Wenn ihr jedoch die Sümpfe hinter euch habt, müßt ihr selbst zusehen, wie ihr weiterkommt, und wenn ihr Glück habt, werdet ihr vielleicht das schwarze Wasser, von dem du mir erzähltest, erreichen. Doch siehe, der Löwe ist erwacht; eßt jetzt das Mahl, das ich euch bereitet habe.«

Als Leo richtig zu sich gekommen war, stellte sich sein Befinden als nicht so schlecht heraus, wie man nach seinem Aussehen hätte annehmen können, und wir ließen es uns herzhaft schmecken, was zu unserer Kräftigung auch dringend nötig war. Danach hinkten wir hinab zur Quelle und badeten, und dann schliefen wir wiederum bis zum Abend, um darauf erneut ein ausgiebiges Mahl zu verzehren. Billali ließ sich den ganzen Tag nicht blicken; offenbar traf er Vorkehrungen wegen der Sänften und Träger, denn mitten in der Nacht wurden wir durch die Ankunft einer ansehnlichen Zahl Männer geweckt.

Vor Tagesanbruch erschien auch Billali selbst und berichtete uns, daß es ihm, wenngleich nicht ohne

Schwierigkeiten, unter Hinweis auf den gefürchteten Namen der Herrscherin >Sie<, gelungen sei, die nötigen Träger sowie zwei Führer, die uns durch die Sümpfe geleiten sollten, zu gewinnen. Er riet uns, sogleich aufzubrechen, und erbot sich, uns zu begleiten und vor Verrat zu schützen. Diese freundliche Geste eines verschlagenen alten Barbaren gegenüber zwei völlig hilflosen Fremden rührte mich zutiefst. Ein Marsch von drei - oder in seinem Falle, da er zurückkehren - mußte - sechs Tagen durch jene tödlichen Sümpfe war für einen Mann seines Alters kein leichtes Unterfangen, doch um für unsere Sicherheit zu sorgen, nahm er es mit Freuden auf sich. Dies beweist, daß es selbst unter jenen schrecklichen Ama-haggern - mit ihrem düsteren Wesen und ihren satanischen, wilden Bräuchen gewiß die weitaus fürchterlichsten Barbaren, von denen ich je hörte - gutherzige Menschen gibt. Natürlich mag es sein, daß auch ein wenig Eigennutz dabei im Spiel war. Vielleicht fürchtete er, >Sie< könnte plötzlich erscheinen und von ihm Rechenschaft über uns verlangen, doch trotz allem war es wesentlich mehr, als wir unter diesen Umständen erwarten durften, und ich kann nur sagen, daß ich den alten >Vater< Billali mein Leben lang in liebevollstem Andenken behalten werde.

Nachdem wir rasch noch ein paar Bissen zu uns genommen hatten, bestiegen wir, nach dem langen Schlaf körperlich wunderbar ausgeruht, die Sänften und brachen auf. Sich unseren Gemütszustand auszumalen, wird dem Leser gewiß nicht schwerfallen.

Bald erreichten wir die Berge, und es folgte ein schrecklicher Aufstieg, teils über natürliche Pfade, teils über einen gewundenen Weg, der zweifellos einst von den alten Korern angelegt worden war. Angeblich treiben die Amahagger darauf einmal im Jahr ihr Vieh auf die jenseits gelegenen Weiden; wenn dies stimmt, so muß dieses Vieh überaus gut zu Fuß sein. Natürlich konnten wir die Sänften hier nicht benützen, sondern mußten zu Fuß gehen.

Gegen Mittag langten wir endlich auf dem großen flachen Gipfel der mächtigen Felswand an, und uns bot sich eine prächtige Aussicht auf die Ebene von Kor, in deren Mitte deutlich die verfallenen Säulen des Tempels der Wahrheit zu erkennen waren. Dahinter erstreckte sich das unermeßliche, düstere Sumpfland. Diese Felswand, einst zweifellos der Rand des Kraters, war etwa eineinhalb Meilen breit und immer noch mit Lava übersät. Nichts wuchs hier, und das einzige, was die Eintönigkeit belebte, waren Wassertümpel, die sich bei einem kürzlich niedergegangenen Regen da und dort in Vertiefungen gebildet hatten. Wir überschritten den Kamm dieses mächtigen Bollwerks, und dann kam der Abstieg, der etwas leichter als der Aufstieg, doch immer noch genügend halsbrecherisch war und bis zum Sonnenuntergang dauerte. Die Nacht über kampierten wir auf dem weiten Hang, der unten in die Sümpfe überging.

Am nächsten Morgen gegen elf Uhr begann unser schrecklicher Marsch durch das bereits geschilderte gräßliche Sumpfgebiet.

Drei ganze Tage lang schleppten sich unsere Träger durch Gestank, Morast und die überall schwelenden Fieberdünste, bis wir endlich das weite, feste, gänzlich unbebaute, doch von allerlei Wild bevölkerte Land erreichten, das jenseits dieser ohne Führer völlig undurchdringbaren Ödnis liegt. Hier nahmen wir am nächsten Morgen, nicht ohne Bedauern, Abschied von unserem guten alten Billali, der sich seinen weißen Bart strich und uns feierlich segnete.

»Leb wohl, mein Sohn, mein Pavian«, sprach er, »und auch du lebe wohl, o Löwe. Weiter kann ich euch nicht helfen. Solltet ihr wirklich eure Heimat wiedersehen, so hört auf meinen Rat und wagt euch niemals wieder in Länder, welche ihr nicht kennt, sonst werdet ihr nicht mehr zurückkehren, und eure bleichen Knochen werden zeigen, wie weit ihr auf euren Reisen gekommen seid. Nochmals, lebt wohl; ich werde eurer oft gedenken, und auch du wirst mich nicht vergessen, mein Pavian, denn so häßlich dein Gesicht ist, so treu ist dein Herz.« Und dann wandte er sich ab und schritt, begleitet von den großen, düster dreinblickenden Amahaggern, davon. Mit den leeren Sänften zogen sie den gewundenen Weg hinan gleich einer Prozession, die tote Krieger aus einer Schlacht fortträgt; und wir blickten ihnen nach, bis die vom Sumpf aufsteigenden Nebel sie umhüllten und unserem Blick entzogen, um uns dann, völlig verlassen in der endlosen Wildnis, umzuwenden und einander anzusehen.

Vor rund drei Wochen waren vier Männer in die Sümpfe von Kor vorgedrungen, und nun waren zwei von ihnen tot, und die anderen zwei hatten Abenteuer erlebt und Erfahrungen gesammelt, so seltsam und schrecklich, daß selbst das Antlitz des Todes nicht grauenvoller sein konnte. Drei Wochen - nur drei Wochen! Wahrhaftig, nach Ereignissen sollte man die Zeit messen, nicht nach der Zahl der Stunden. Es schien, als seien dreißig Jahre verstrichen, seit wir zum letztenmal unser Walboot gesehen.

»Wir müssen auf den Sambesi zuhalten, Leo«, sagte ich, »doch nur Gott weiß, ob wir ihn je erreichen werden.«

Leo, der in letzter Zeit sehr schweigsam geworden war, nickte, und mit nichts als den Kleidern, die wir am Leib trugen, einem Kompaß, unseren Revolvern und Expreßgewehren und etwa zweihundert Schuß Munition brachen wir auf, und so endete die Geschichte unserer Expedition zu den Ruinen des einst so mächtigen kaiserlichen Kor.

Was unsere darauffolgenden Abenteuer betrifft, so habe ich mich, so merkwürdig und mannigfaltig sie auch sein mögen, nach reiflicher Überlegung entschlossen, sie hier nicht zu schildern. Es war lediglich mein Bemühen, auf diesen Seiten einen kurzen, klaren Bericht von einem meines Erachtens unvergleichlichen Erlebnis zu geben, und ich tat dies nicht im Hinblick auf eine rasche Publikation, sondern nur in der Absicht, die Einzelheiten unserer Reise und ihr Ergebnis zu Papier zu bringen, solange sie uns noch frisch im Gedächtnis sind, denn ich bin überzeugt, daß sie, sollten wir uns je zu einer Veröffentlichung entschließen, auf weitgehendes Interesse stoßen werden. Es ist jedoch nicht unsere Absicht, dies zu tun, solange wir noch beide am Leben sind.

Unsere weiteren Erlebnisse dürften kaum von allgemeinem Interesse sein, denn sie unterscheiden sich wenig von jenen, die schon viele andere Reisende im Inneren Afrikas hatten. Es genügt zu sagen, daß wir nach unglaublichen Strapazen und Entbehrungen etwa einhundertsiebzig Meilen südlich der Stelle, wo Billali uns verließ, den Sambesi erreichten. Dort wurden wir von einem wilden Stamm, der uns, vor allem wegen Leos jugendlichen Gesichtes und seines schneeweißen Haares, für übernatürliche Wesen hielt, sechs Monate lang gefangengehalten. Endlich gelang es uns zu entfliehen, und wir wanderten, den Sambesi überschreitend, südwärts, bis wir, dem Hungertode nahe, das Glück hatten, einem Elefantenjäger, einem Portugiesenmischling, zu begegnen, der eine Elefantenherde weiter als je zuvor ins Landesinnere verfolgt hatte. Dieser Mann erwies sich als äußerst gastfreundlich, und mit seiner Hilfe gelangten wir schließlich nach zahllosen weiteren Leiden und Abenteuern, über achtzehn Monate nach Verlassen der Sümpfe von Kor, zur Delagoa-Bucht und gingen am Tag darauf an Bord eines der Dampfer, die um das Kap herum nach England fahren. Nach einer glücklichen Heimfahrt setzten wir genau zwei Jahre, nachdem wir zu unserer leichtfertigen und vielleicht unsinnig erscheinenden Reise aufgebrochen waren, unseren Fuß auf den Kai von Southampton, und nun schreibe ich, während Leo mir über die Schulter blickt, in meinem alten Collegezimmer, dem gleichen, in das vor zweiundzwanzig Jahren in der denkwürdigen Nacht seines Todes mein armer Freund Vincey mit dem eisernen Kasten wankte, diese letzten Worte.

Dies ist das Ende dieser Geschichte, soweit sie die Wissenschaft und die Außenwelt angeht. Wie sie für Leo und mich enden wird, vermag ich nicht zu sagen, doch haben wir beide das Gefühl, daß sie noch nicht zu Ende ist. Eine Geschichte, die vor mehr als zweitausend Jahren begonnen hat, kann noch weit in die ferne, dunkle Zukunft reichen. Ist Leo wirklich eine Reinkarnation des alten Kallikrates, von dem die Inschrift spricht? Oder ließ Ayesha sich durch eine seltsame ererbte Ähnlichkeit täuschen? Und eine weitere Frage: Verband Ustane irgendeine Verwandtschaft mit der Amenartas ferner Zeiten? Möge der Leser sich hierüber wie über vieles andere sein eigenes Urteil bilden. Mein Urteil steht fest: >Sie< hat sich, was Leo betrifft, nicht getäuscht.

Oft sitze ich des Nachts allein und suche mit den Augen des Geistes das Dunkel der noch ungeborenen Zeit zu durchdringen und frage mich, wie wohl dereinst dies große Drama enden und welches der Schauplatz seines nächsten Aktes sein wird. Und wenn dieses Ende schließlich kommt, wie es gemäß einem vorbestimmten Schicksal und einem unabänderlichen Lauf der Dinge einmal kommen muß - welche Rolle wird dann wohl die schöne Ägypterin Amenartas spielen, die Prinzessin aus dem königlichen Geschlecht der Pharaonen, der zuliebe der Priester Kallikrates sein der Isis abgelegtes Gelübde brach und, verfolgt von der erbarmungslosen Rache der erzürnten Göttin, gen Libyens Küste floh, wo in Kor sein Verhängnis ihn ereilte?

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